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Schauspieler Jan Spitzer – Ein Leben lang unangepasst und gelassen

Er hatte verpennt, weil ihn niemand geweckt hat. Jan Spitzer hörte nie allein den Wecker. Das war sein Fluch. Schon immer. Wirklich zu schaffen gemacht hatte ihm das nicht. Nicht einmal, als er sich zum Abitur verspätete. Zu einem Glücksumstand geriet ihm das im Herbst 1967. Er studierte das letzte Jahr an der Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“. An einem Morgen hatte er es mal wieder nicht rechtzeitig aus dem Bett geschafft. Er kam in den Hörsaal, lümmelte sich in Jeans und Lederjacke wie immer desinteressiert in die Bank. Doch etwas war anders als sonst. „Ich wunderte mich, dass alle so aufgekratzt waren“, erinnerte sich Jan Spitzer 45 Jahre später in unserem ersten und einzigen Interview. Die Lederjacke ist mit ihm alt geworden. Er trug sie auch, als wir uns im Sommer 2012 an der Dahme im historischen Café Liebig trafen.

Im Januar 1968 begann Regisseur Egon Günther (r.) mit den Dreharbeiten für den DEFA-Film „Abschied“. Die Hauptrolle, den Bürgersohn Hans Gastl, spielt der damals 20jährige Schauspielstudent Jan Spitzer. Foto: ©DEFA-Stiftung/Peter Dietrich, Wolfgang Ebert, Repro: André Kowalski

Die Unruhe verursachten zwei Herren, die vorn neben dem Dozenten saßen. DEFA-Regisseur Egon Günther und Produktionsleiter Herbert Ehler suchten unter den Studenten nach dem Hauptdarsteller für die Verfilmung von Johannes R. Bechers autobiografischem Roman „Abschied“. Er gehörte in der DDR zur Pflichtlektüre an den Erweiterten Oberschulen. Die Handlung spielt in der Zeit zwischen der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914. Hans Gastl, Sohn des Münchener Oberstaatsanwaltes, rebelliert gegen Verlogenheit, Scheinmoral und vor allem die Weltsicht seines militaristisch eingestellten Vaters. Er will anders sein, als es die gesellschaftlichen Normen seiner Klasse vorgeben, sucht sich Freunde außerhalb seines Standes und lehnt den Krieg ab. Schließlich bricht er als 18jähriger mit seiner Familie und aus seinem bisherigen Leben aus.

„Abschied“ – der Film und seine Folgen

Der Versuch, in der Filmerzählung der Chronologie des Romans zu folgen, funktionierte nicht. Zu schwer, zu langatmig. Dank seiner Erfahrung als Dramaturg und Szenarist fand Regisseur Egon Günther den Ausweg. In Episoden lässt er Hans Gastl in heiter-überlegener, ironisch-distanzierter Sicht auf die eigene konfliktreiche Entwicklung zurückblicken. Dieser Hans Gastl hatte nichts mehr mit der Becherschen Romanfigur, dem Alter Ego des Dichters, zu tun. Günther zeigt die Situation sehr junger Leute, die ihren Weg finden müssen, als sich das wilhelminische Deutschland in einem nationalistischen Kriegstaumel befindet. Gedacht ist der Film für ein ebenso junges Publikum ein halbes Jahrhundert später. „Gastl war ein Aussteigertyp, nonkonformistisch“, beschrieb Jan Spitzer seine Rolle.

Hans Gastl widertrebt das Leben seiner Familie © DEFA-Stiftung/ Peter Dietrich, Wolfgang Ebert

Nicht, weil er zu spät kam, hatte der 20jährige an jenem Morgen die Aufmerksamkeit des Regisseurs auf sich gezogen. Sein ganzer Habitus entsprach dem Typ, den sich Egon Günther vorstellte. Eine Mischung aus Lässigkeit und Widerspruch, ein bisschen provokant. Von schmaler Statur, mit feinen, jungenhaften Gesichtszügen konnte Jan Spitzer sowohl den Vierzehnjährigen wie auch den fast 20jährigen Hans Gastl verkörpern. So genau definierte Jan Spitzer den Grund dafür nicht, dass Egon Günther ihn zu Probeaufnahmen nach Babelsberg bat. Er vermutete, es seien eher seine längeren Haare gewesen.

Im Januar 1968 wurden die Dreharbeiten begonnen und im Mai beendet. Jan Spitzer lieferte ein brillantes Schauspieldebüt ab. „Ich bekam einen Höhenflug durch die Rolle“, gestand er rückblickend. Es war ihm nicht zu verdenken. Man sah ihn überall in der Republik auf großen Plakaten, mit Heidemarie Wenzel, die die Rolle der Prostituierten Fanny spielt, und ihm im Bett. Er war das Gesicht des Films, der noch vor der Veröffentlichung mit dem „Staatlichen Prädikat Besonders wertvoll“ ausgezeichnet wurde. Erstmalig in der DEFA-Geschichte durfte die Nachricht von der Auszeichnung vorab auf der Plakatwerbung erscheinen. „Wir hatten einen phantastischen Kino-Anlauf mit ausverkauften Vorstellungen in den großen Filmtheatern. 607 000 Besucher in nur sechs Wochen!“ Es war ihm anzumerken, dass er stolz darauf war, diese Rolle bekommen zu haben.

Jan Spitzer traf sich mit mir im Sommer 2012 zum Interview an der Dahme André Kowalski

Bei allen Bezirkspremieren und Sondervorführungen bekamen die Künstler frenetischen Applaus. Nur im Haus der Offiziere in Strausberg erregte es Unmut bei der hochdekorierten Generalität, dass der jugendliche Held unbekümmert in Jeans auf die Bühne sprang. Jeans oder Nietenhosen, wie man damals noch sagte, waren als „Bekleidungstextil des Klassenfeindes“ unerwünscht, an den Schulen oft gar verboten. Die 60er Jahre waren ein unablässiger Kampf des sozialistischen Systems gegen westliche Einflüsse. Jeans wurden als ideologisches Bekenntnis ihres Trägers gewertet. Ein solches Statussymbol waren sie für Jan Spitzer nicht. Als solches galt ihm seine Lederjacke. „Sie war für mich in der DDR ein Stück Unangepasstheit.“

Jan Spitzer kam am 16. Mai 1947 in Sangerhausen zur Welt. Der Krieg war gerade zwei Jahre vorbei. Die stark zerstörte Stadt im Aufbau begriffen. Der Vater arbeitete in der nahen Kupferschieferzeche, als hier die Förderbänder ab 1951 wieder liefen. Die Eltern hatten bereits zwei Töchter, fast schon junge Mädchen. Der Junge war ein Nachzügler und genoss den Vorzug, besonders umsorgt zu werden. Schon als Kind zeigten sich sein Talent und seine Leidenschaft für Musik. „Ich habe acht Jahre Klavierunterricht genommen, mir das Gitarrespielen beigebracht und kleine Stücke und Lieder komponiert.“ Mit anderen Jungs aus Sangerhausen gründete er 1963 die Amateurband THE SOUNDS. Sie spielten Beatles und Stones hoch und runter, Kinks, Procol Harum… „Rocksongs wurden ganz persönlich genommen, je nach Befindlichkeit.“ Verliebt war er damals in ein Mädchen aus seiner Straße, die später seine Frau und Mutter seiner Töchter Juschka und Johanna–Julia wurde. Beide sind dem Beruf des Vaters gefolgt. Sie wollten es so.

Eigentlich hätte Jan Spitzer anstatt Schauspieler ebenso gut Musiker werden können. Aber es gab eine Sehnsucht, die die Weiche anderswohin stellte. „Immer, wenn ich in meinem Heimatkino im Zuschauerraum saß, habe ich mir als kleiner Junge gewünscht, auch einmal oben auf der Leinwand sein.“ Am 13. Oktober 1968 hat sich sein Wunsch erfüllt. Das Filmtheater Sangerhausen lud ihn und das „Abschied“-Filmteam zu einer feierlichen Vorstellung ein. Einer seiner glücklichsten Momente.

Eine Woche nach der 9. Tagung des ZK der SED im November 1968, verschwand der Film jedoch aus den Kinos. Ihm wurde Skeptizismus und Subjektivismus vorgeworfen, nachdem Staats- und Parteichef Walter Ulbricht in seinem Referat mit einem Seitenhieb auf die Kunst aufgewartet hatte: „Das humanistische Erbe ist für uns weder museales Bildungsgut noch Tummelplatz subjektivistischer Auslegungen“, zitierte das Zentralorgan Neues Deutschland am 25. Oktober 1968.

Hans Gastl findet in der Prostituierten Fanny (Heidemarie Wenzel) eine Freundin und Geliebte © DEFA-Stiftung/Peter Dietrich, Wolfgang Ebert

Von allen Seiten wurde nun heftig gegen den Film polemisiert. Organisierte Leserzuschriften im ND verrissen ihn. Vergeblich intervenierte Bechers Witwe Lilly im Kulturministerium und beim SED-Zentralkomitee. Jan Spitzer bekam eine Ausgabe des „Sonntag“ zugeschickt, in dem ein Foto von ihm und Heidemarie Wenzel mit entblößten Brüsten abgedruckt war. Daneben eine Randnotiz von Lotte Ulbricht: „Das soll unser Hans sein?!“ Ein direktes Aufführungsverbot für den Film gab es allerdings nicht. Er durfte auf Anforderung in Filmklubs, Filmkunsttheatern und Sonderveranstaltungen gezeigt werden. Erweiterte Oberschulen nahmen ihn in den Literaturunterricht der Abiturklassen als Ergänzung zu Bechers Roman auf.

Er passte in viele Schubfächer

Mit dem Film setzte ein, was Jan Spitzer so erklärte. Im Grunde genommen sei er ein phlegmatischer Typ, immer auch ein bisschen faul. Ihm sei alles in den Schoß gefallen. So wie die Rolle des Hans Gastl und alle, die danach kamen. „Ich habe mich für eine Rolle nie verbiegen müssen“, reflektierte er als 65-Jähriger.

Jan Spitzer 1968 als Dorfschmied Ruprecht mit Monika Gabriel als Ev in der DEFA-Komödie „Jungfer, sie gefällt mir“ © DEFA-Stiftung/Herbert Krois, Peter Schlaak

Er hatte das Studium gerade abgeschlossen, als ihn Regisseur Günter Reisch für sein turbulentes Spektakel „Jungfer, sie gefällt mir“ als Dorfschmied Ruprecht vor die Kamera holte. In der Adaption von Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ schlägt sich der frischgebackene Schauspielabsolvent wacker neben Wolfgang Kieling – als sein Widersacher Dorfrichter Adam – und Rolf Ludwig als Schreiber Licht. Die Dreharbeiten mit Monika Gabriel als Ev hätten Spaß gemacht, ein filmisches Highlight sei das DEFA-Stück aber nicht geworden, urteilte er im Rückblick.

Jan Spitzer als Leutnant Gerd von Ducherow in der 1968 von Egon Günther gedrehten Romanverfilmung „Junge Frau von 1914“, Erstsendung 17. Januar 1970 Foto: Screenshot © DFF/Erich Gusko

Die Arbeit und die Freundschaft mit Egon Günther haben ihn geprägt, in seinen künstlerischen Ansichten und Ansprüchen, vor allem in seinem politischen Denken – die Grauzonen zwischen dem Schwarz und Weiß zu erkennen, zu wissen, wo man steht und warum. Der „Prager Frühling“ 1968 in der ČSSR hatte auch in der DDR bei vielen Menschen Zweifel und Kritik an der Parteipolitik der SED hervorgerufen. Die Kunst stand unter ideologischer Beobachtung. Zu sehen, wie man dieses Korsett mit künstlerischen Mitteln durchbrechen kann, darin war der DEFA-Regisseur Egon Günther ein Avantgardist, geriet jedoch häufig in Konflikt mit den künstlerisch und politisch Verantwortlichen. Seine Literaturverfilmungen waren jedoch immer ein Erfolg, an dem Jan Spitzer ein weiteres Mal im Sommer 1968 teilhaben durfte. Wenn auch nur in einer kleinen Rolle. Er spielte in Günthers Fernsehfilm „Junge Frau von 1914“, dem zweiten Teil der Arnold-Zweig-Trilogie Der große Krieg der weißen Männer“, den adligen Leutnant von Ducherow.

Single 1970 „Wer bist du“

Nach Abschluss der Filmarbeiten trat Jan Spitzer sein erstes Theaterengagement in Altenburg an, das ihm Freiraum ließ für seine Musik. Er profilierte sich ziemlich erfolgreich als Sänger. Es entstanden Rundfunkaufnahmen wie „Mädchen aus Berlin“ und Wer bist du?“, komponiert von Walter Kubiczek. Mit seinem Song „Ich warte noch“, nahm er am Schlagerwettbewerb 1970 teil. Anlässlich des 20. Jahrestages der Gründung der DDR am 7. Oktober 1969 stand in Altenburg Horst Salomons Lustspiel „Ein Lorbaß“ auf dem Spielplan mit Jan Spitzer in der Titelrolle. Es war seine Idee, das an vielen Theater gern gespielte Gegenwartsstück als Musical auf Bühne zu bringen. Er übernahm Komposition und Arrangement. Was ihm in gewisser Weise später „auf die Füße fallen“ sollte.

Nach seinem 18monatigen Wehrdienst bei der NVA in Leipzig ist er im November 1971 ans Landestheater Halle gewechselt. Inzwischen mit seiner Jugendliebe aus Sangerhausen verheiratet und Vater der zweijährigen Juschka, hatten sie in Halle eine Wohnung bekommen. Regisseur Horst Schönemann inszenierte 1972 Ulrich Plenzdorfs Die Leiden des jungen W.. Jan Spitzer hätte gern die Titelrolle gehabt. Sein Pech: Horst Schönemann hatte von seinem Erfolg als Komponist und Sänger gehört und wollte von ihm lieber die Bühnenmusik. Die Figur des aufsässigen 17jährigen Ausreißers Edgar Wibeau, der seine Lehre abbricht, einer unglücklichen Liebe verfällt und am Ende tödlich verunfallt, bekam Reiner Straube.

Für die Rolle des Edgar Wibeau in der Hallenser Theateraufführung „Die neuen Leiden des jungen W.“ war Spitzers Ausstrahlung zu westlich elitär, er wirkte nicht proletarisch © Tassilo Leher

Tatsächlich ging Jan Spitzer die Rolle jedoch verlustig, die genau seins gewesen wäre, weil ihm das Proletarische fehle, er wirke zu westlich elitär, klärte ihn die Dramaturgin auf. Er musste lächeln, als er das erzählte. Es wäre für ihn kein Akt gewesen, beides zu tun, zu spielen und die Musik für das Stück zu schreiben. Neidlos habe er damals anerkannt, dass Reiner Straube die Figur perfekt spielte, urwüchsig, komisch. Eigentlich, meinte er in unserem Gespräch, sei das ein Filmthema gewesen, die Geschichte aber für die DDR zu provokativ, zu gesellschaftskritisch. Dass in der Republik über den Umgang mit jungen Menschen, die sich die Freiheit nehmen, anders leben zu wollen, sich nicht in das soziale Gefüge einzupassen, heiß diskutiert wurde, ließ sich nicht verhindern. 1976 wurde Plenzdorfs Drehbuch in der BRD verfilmt.

Einmal noch schrieb Jan Spitzer für ein Bühnenstück die Musik. Er war 1973 mit Regisseur Christoph Schroth ans Staatstheater Schwerin gegangen. Sie planten, „Romeo und Julia“ richtig groß aufzuziehen, mit ihm als Mercuzio. Dass daraus nichts wurde, bedauerte der Schauspieler schon. Doch eine „Riesenrolle“ in der Verfilmung von Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland“ zu spielen, war ein größerer Reiz. Mit ätzender Schärfe beschreibt Mann den Berliner Kulturbetrieb und die dekadente Schickeria der 1890er Jahre.

Erwin Geschonneck in der Rolle des Bankiers Türckheimer und Jan Spitzer als talentfreier Provinzliterat Andreas Zumsee 1974 in der Fernsehverfilmung von Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland“ © DDR-Fernsehen/Helmut Bergmann, Repro: André Kowalski

Der mittellose und wenig talentierte Provinzliterat Andreas Zumsee findet durch Beziehungen und Glück im Salon des reichen Bankiers James Louis Türkheimer sein Schlaraffenland. Protegiert und finanziell von dessen Ehefrau unterstützt, steigt er in der Gesellschaft hoch auf und wird am Ende von ihr zu Fall gebracht. Eine Figur, die von Jan Spitzer in ihrer Selbstüberschätzung, Arroganz und Eitelkeit überzeugend gezeichnet wird. An seiner Seite Marylu Poolmann, Katharina Thalbach, Erwin Geschonneck und Jaecki Schwarz. Der Preis dafür, dass ihn das Theater für den Film freigab, war eine Bühnenmusik für Romeo und Julia“. Er hat sie im Zug von Schwerin nach Berlin komponiert und die Lieder eingesungen. Stolz erzählte er mir, dass er nach so vielen Jahren manchmal noch Anfragen für diese Musik bekommt, aber leider die Bänder nicht mehr habe.

So sehr es ihm auch Spaß machte, zu komponieren und zu singen, ab Mitte der 70er Jahre konzentrierte sich Jan Spitzer auf die Schauspielerei. Er passte mit seiner Wandelbarkeit in viele Schubladen. Besonders wohl hat er sich in der Abteilung Kinderfilm und Märchen gefühlt. „Die Drehbücher hatten eine hohe Qualität, sprachlich und szenaristisch. Was man heute selten findet“, bedauerte er.

Der kleine Philipp (Andij Greissel) wünscht sich eine Flöte. Der Vater (Jan Spitzer) geht mit ihm in eine Musikalienhandlung. Der Verkäufer schenkt ihm ein ganz besonderes Instrument. © DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Der bekannte Kinderfilmregisseur Rolf Losansky besetzte ihn 1975 in seinem zauberhaften Kinderfilm „Philipp, der Kleine“, nach der Erzählung von Christa Kožik. Warmherzig und zärtlich spielt Jan Spitzer den alleinerziehenden Vater, der als Lokomotivführer arbeitet und seinen Sohn nachts oft allein lassen muss. Eine Situation, in die sich der mittlerweile zweifache Vater gut hineinversetzen konnte. Tochter Johanna-Julia hatte gerade das Licht der Welt erblickt. Der 28jährige liebte seine Kinder sehr. Doch wie der Lokomotivführer war er für sie häufig ein abwesender Vater.

140 Vorstellungen gab er in der frivolen Show „Ständig unanständig“ in der Kleinen Revue des Friedrichstadpalastes als Ovid, hier mit und Hildegard Alex als Venus

Der Beruf habe sein Privatleben oft torpediert, erzählt er. Die Ehe hielt den häufigen Trennungen nicht stand. „Wir haben uns getrennt, es tat weh.“ Nach dem ersten Schmerz empfand er die Zeit des Ungebundenseins schön. „Da kam das Gefühl des wieder Freisein auf, man hat alles neu empfunden.“ Auch seine zweite Beziehung ging auseinander. Er kam gerade von viermonatigen Dreharbeiten für die Verfilmung von Anna Seghers Erzählung „Überfahrt“ aus Brasilien zurück. „Meine damalige Lebensgefährtin war jung, sie hatte andere Lebensziele. Sie wollte in den Westen, ich nicht.“ Die gemeinsame Tochter Emma Hipp ist heute wie ihre Halbschwestern Schauspielerin.

Jan Spitzer spielt den ältesten Sohn des Siedlers John Ruster (Kurt Böwe ), der mit seiner Familie 1756 in Nordamerika Indianerland besiedelt. Im Wald von Eiche-Golm mussten die beiden echte Rodungsarbeiten durchführen Foto: Screenshot © DEFA-Stiftung/Otto Hanisch

In Jan Spitzers Filmbiographie finden sich nur wenige Nebenrollen. Wenn ihm das Drehbuch gefiel, nahm sie gern an. Der Grund unseres Treffens damals im Juli 2012 war Kinderfilm Blauvogel“, die Geschichte des neunjährigen Sohnes weißer Siedler 1756 in Nordamerika, der von Irokesen geraubt wird. Neben Kurt Böwe, Jutta Hoffmann, Marina Krogull spielt er den ältesten Sohn der Familie. Die DEFA hatte ihn für diese Rolle aus dem Sommerurlaub in Kühlungsborn geholt. „Das war eine echte Überraschung. Ich habe dieses Buch als Kind geliebt und mich sehr gefreut, dass Ulrich Weiß mir diese Rolle gegeben hat.“ Schmunzelnd erzählt er von den Rodungsarbeiten zu Beginn des Films. „Kurt Böwe und ich haben ziemlich große Flächen wirklich gepflügt und im Wald von Eiche-Golm Bäume gefällt, so wie man es damals gemacht hat. Ulrich Weiß war sehr auf Authentizität bedacht“.
Der größte Teil des Abenteuerfilms entstand in Rumänien. „Man fuhr über eine Stunde in die Berge. Das war eine kurvenreiche Strecke. Der Fahrer fuhr wie ein Kamikaze. Ich habe noch nie so geschwitzt bei einer Autofahrt“, lässt er die Szenen noch einmal Revue passieren. Die Bedingungen im Land waren kompliziert und die Kontrollen an den Grenzen streng. Fast wären vielen Meter Negativmaterial, das Jan Spitzer beim Rückflug im Gepäck hatte, vom Zoll vernichtet worden. „Trotz eines offiziellen Begleitschreibens wollte man meinen Koffer durchleuchten“, erzählt er. Es konnte verhindert werden. Der Film machte Furore bei internationalen Kinderfilmfestivals.

Schäfer Konrad will um die Prinzessin freien und löst mit Hilfe seiner Zauberflöte alle Aufgaben, die sie stellt ©MDR/DRA/Klaus Mühlstein

Ein wunderschöner Märchenfilm ist „Der Hasenhüter“, den Ursula Schmenger mit Jan Spitzer 1976 drehte. Sein Schäfer Konrad ist ein gewitzter, fröhlicher Bursche, der erkennt, dass Reichtum nicht das Erstrebenswerte im Leben ist. Auch in Wolfgang Hübners Adaption des Grimmschen Märchens „Gevatter Tod“ ist seine Figur, der Medicus Jörg, ein Sympathieträger. Man ist bei ihm, wenn er den Tod überlistet und das Leben eines kleinen Jungen rettet. Doch er lässt sich verführen, fällt seiner Selbstüberschätzung anheim.

Jan Spitzer als intelligenter, sich aber selbst überschätzender Medicus Jörg 1980 im Märchenfilm „Gevatter Tod“ Foto: screenshot ©DEFA-Stiftung/Karl-Ernst Sasse

Das Märchen erzählt, wie ein armer Bauer in der Zeit der Pest einen Paten für sein 13. Kind sucht. Er nimmt den Tod, weil er ihm gerecht erscheint. Er sei zu allen gleich, begründet es der Vater, der zuvor Gott und Teufel abgelehnt hatte. Der Tod öffnet dem Sohn die Türen zum Studium der Medizin an italienischen Universitäten. Als er dem Bürgermeister, der an der Pest erkrankt ist, vor dem Tod rettet, indem er seinen Paten überlistet, steigt er auf in die Bürgerschaft. Er wird selbstgefällig und hintergeht den Tod ein weiteres Mal, obwohl ihn dieser gewarnt hat. Arroganz und schließlich die Verzweiflung, dass er damit dem kleinen Jungen das Leben genommen hat, zeigt Jan Spitzer subtil. Gegen das Klischee vom klapperdürren Sensenmann besetzte Regisseur Wolfgang Hübner diese Rolle mit dem freundlich daherkommenden lebensprallen Dieter Franke. Das Märchen scheint mir eher für Erwachsene gedacht denn für Kinder, sowohl von der mittelalterlichen anmutenden Sprache her als auch dem tiefen philosophischen Hintergrund.

Jan Spitzer als Rittmeister von Rosen mit der polnischen Schauspielerin Marzena Trybała als Gräfin Cosel, die einflussreiche Mätresse August des Starken, in dem 1987 entstandenen zweiten Teil des sechsteiligen Fernsehfilms „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ © DDR-F/Siegfried Skoluda, Wolfgang Kroffke, Repro: André Kowalski

Immer waren es Filme großartiger DEFA-Regisseure, die Jan Spitzers Karriere befördert haben. Wie Hans-Joachim Kasprziks dreiteiliger Fernsehfilm „Abschied vom Frieden“ . Offensichtlich hinterließ der jnunge Schauspieler in seiner Nebenrolle einen Eindruck, der ihm zehn Jahre später in Kasprziks sechsteiligem Fernsehroman „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ die Rolle des attraktiven Rittmeisters von Rosen einbrachte. Mit seiner Hilfe versucht Gräfin Cosel letztmalig aus ihrer Haft auf Burg Stolpen zu fliehen. Die Filme wurden sogenannte Straßenfeger.

Autor und Regisseur Fritz Bornemann übertrug Jan Spitzer die Hauptrolle in dem bereits erwähnten Fernsehfilm „Überfahrt nach Anna Seghers gleichnamiger Erzählung, der 1984 in einer Koproduktion des DDR-Fernsehens mit Kuba entstand. Es ist die Geschichte des Erfurters Ernst Triebel, der zu unterschiedlichen Zeiten drei Seereisen von Deutschland nach Brasilien unternommen hat. Eine interessante Aufgabe für Jan Spitzer, der sich hier vom 14jährigen bis zum 50jährigen wandelt.

Jan Spitzer als Ernst Triebel nach dessen zweiter Reise mit Heidrun Welskop als seine Ehefrau Hertha © DDR-F, Repro: André Kowalski

Als Schuljunge flüchtet Triebel 1938 mit seinen Eltern in das südamerikanische Land, kehrt 1946 in die „Ostzone“ nach Deutschland zurück und begleitet 1951 als Portugiesisch-Dolmetscher einen Leipziger Wissenschaftler zu einer Ausstellung nach São Paulo. Die dritte Reise führt ihn in den 70er Jahren als promovierten Tropenmediziner nach Brasilien. Das Bindeglied für die Reisen ist Triebels Suche nach seiner Jugendliebe Maria Luisa. „Wir waren vier Monate mit einem Frachter der DSR unterwegs, mussten für die Dreharbeiten in Brasilien und Argentien auch an Land gehen“, erinnerte sich Jan Spitzer. Was er dort erlebt hat, hinterließ bei dem damals 37jährigen beklemmende Eindrücke.

Jan Spitzer als Friedrich Engels und Jürgen Reuter als Marx 1978 in der TV-Serie „Marx- und Engels – Stationen ihres Lebens“ © Waltraut Denger/FF.dabei

Es ist eine lange Liste der Filme, in denen Jan Spitzer bis zum Ende der DDR spielte. Nicht vergessen sei hier „Bürgschaft für ein Jahr“, der Fernsehmehrteiler „Broddi“ und die TV-Serie Marx und Engels –Stationen ihres Lebens“. Eine neue Weiche stellte die Wende für seine berufliche Laufbahn. Er verlegte sich aufs Synchronisieren. „Ich habe die Schauspielerei gern gemacht, aber es kamen keine Rollenangebote mehr mit künstlerischen Anspruch. Er drehte Episodenrollen in den Serien Klinik am Alex“, Für alle Fälle Stefanie“ und 2011 bei Bernd Böhlich einen letzten guten Film, Niemand ist eine Insel“ mit Iris Berben. Auf eine Alterskarriere vor der Kamera hat er 2012 nicht mehr gehofft. Das sah er ganz realistisch. Karriere nach der Wende machte er als Synchronsprecher. Eine Arbeit, die auch wieder Ruhe in sein bis dahin unstetes Leben brachte. Er hatte Zeit für seine neue Familie. Ende der 80er Jahre heiratete er eine Theaterpädagogin. Sie war ihm zuvor eine gute Freundin. Diese Liebe machte ihn glücklich. 1990, er war inzwischen 43 Jahre, wurde Jan Spitzer noch einmal Vater. Sein Sohn Maximilian studierte Journalistik, begann dann aber als Synchronsprecher zu arbeiten. Wenn man ihn hört klingt er wie sein Vater.

Jan Spitzer mit Kathrin Saß 1981 in dem DEFA-Film „Bürgschaft für ein Jahr“@DEFA-Stiftung/Waltraud Patheneimer

Wie diese hohe Kunst funktioniert, hat Jan Spitzer bei DEFA-Synchron Take für Take erlernt. Bald galt er in der DDR und später im Westen als einer der besten Synchronsprecher. „Die Kollegen aus dem Westen waren tolerant, sie erkannten an, dass ich das Metier beherrsche.“ Ehrfurcht beschlich ihn, als er das erste Mal mit den bekannten Synchronsprechern Arnold Marquis, die Stimme von John Wayne, Kirk Douglas und Robert Mitchum, und Michael Chevalier, die Stimme von Charles Bronson und Omar Sharif, zusammen vor dem Mikrofon stand.

Er holte alles Potenzial aus seiner enorm vielseitigen Stimme heraus. „Ich habe von Rechtsanwälten, feinsinnigen Typen über die übelsten Ganoven bis hin zum sprechenden Klodeckel in einem Comic schon alles gespielt“, umschrieb er seine Rollenprofile. Anfang der 1990er gab amerikanischen und britischen Kollegen wie Michael Rudder in „Krieg der Welten“, Robert O’Reilly in „Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert“ oder Tim Curry in der Zeichentrickserie „Mighty Ducks – Das Powerteam“ seine Stimme.

Am 23.März 2021 gab Jan Spitzer der Sprecheragentur „Die Media Paten“ ein Interview zu seiner Karriere als Synchronsprecher. Es war sein letzter Auftritt. Am 4. Novmeber 2022 ist er einer schweren Krankheit erlegen Foto: Screenshot/Die Media Paten

Chris Cooper („American Beauty“, „Die Bourne Identity“), Ted Levine und Robert Foxworth sind ebenfalls mit seiner Stimme bei uns zu hören. Geradezu geschwärmt hatte Jan Spitzer von den Zeichentrickserien, in denen er den bekannten kanadischen Sprecher Maurice LaMarche synchronisieren durfte. „Alles dreht sich um zwei Labormäuse, den etwas einfach gestrickten Pinky (LaMarche/Spitzer) und den großköpfigen, mit Intelligenz versehenen Brain, die versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Sich hier an LaMarche zu messen, hat mir unglaublichen Spaß gemacht“, erinnerte sich Jan Spitzer und gab eine stimmliche Kostprobe.

Von 1999 an hat er in allen deutschen Synchronfassungen die Rollen des amerikanischen Schauspielers J. K. Simmons übernommen. Filme wie das Sportdrama „Aus Liebe zum Spiel“ (1999) mit Kevin Costner, der Tragikomödie „Up in the air(2009) mit George Clooney, der britische Thriller Schneemann“ (2017) mit Michael Fassbender oder der Action-Thriller 21 Bridges“ (2020) stehen in den Wiederholungsprogrammen des deutschen Fernsehens. Die Kriminal-Serie Goliath und die Science-Fiction-Fantasy-Komödie „Ghostbusters: Legacy waren 2021 Jan Spitzers letzten Synchronarbeiten als J. K. Simmons.

In den 30 Jahren als Synchronsprecher gab Jan Spitzer 2387 Rollenfiguren mit seiner Stimme Charakter und Emotionen. Am 4. November 2022 ist der Schauspieler nach längerer Krankheit verstorben.

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Abschied von Peter Reusse Der Eismann ist gegangen

Tagelang schob ich es vor mir her, diesen Text zu schreiben. Es fällt mir schwer, weil ich Peter Reusse so lebendig im Sinn habe. Gerade so wie hier auf dem Foto. Es entstand im Juni 2015. Ich sollte etwas über die DEFA-Filmkomödie „Ein irrer Duft von frischem Heu“ schreiben. Der Film gehört zu den besonders beliebten DEFA-Produktionen und ist die erste Adresse, die fast jeder nennt, fragt man nach Filmen mit Peter Reusse. Eine Figur, wie maßgeschneidert für den damals 35jährigen, unangepasst, ein bisschen schräg, so wie sich Reusse auch selbst beschrieb.

„Ein irrer Duft von frischem Heu“ 1976/77: Pastor Himmelknecht (Martin Hellberg) und Parteisekretär Mattes (Peter Reusse) liegen ständig im Streit. Der Kirchenmann glaubt nicht an die Wunderkräfte, die Mattes zugeschrieben werden © DEFA-Stiftung/Klaus Zähler

Das lag ganz im Sinne des Autors Rudi Strahl, dessen gleichnamiges Bühnenstück 1975 im Maxim Gorki Theater ein Publikumserfolg war. Die DEFA griff zu, und Regisseur Roland Oehme verfasste das Drehbuch für den 1976/77 produzierten Film unter Mitwirkung des Autors. Auf sehr komödiantische Weise trifft Kirche auf Partei – oder umgekehrt. Der Pastor sitzt in den Parteiversammlungen, der Parteisekretär sagt „Grüß Gott“. Ihre Info-Kästen für Mitteilungen an die Dorfbewohner stehen nebeneinander – auf Augenhöhe. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Peter Reusse kannte das Bühnenstück übrigens nicht.

Am 11. Juni 2022 holte ein heimtückischer Krebs den Schauspieler aus einem Leben, das er mir so beschrieben hat: „Es gibt gute Phasen. Glück ist das Luxuriöseste, das einem Menschen widerfahren kann. Wenn man ganz ehrlich ist, tief in sich hineinhört, ist das nicht so viel. Die Momente sind rar.“ Dahinter stehen drei Jahrzehnte Film, Theater, Hörspiel, Schallplatte, Synchron, die 1993 mit einem unerklärlichen Blackout bei einer lockeren Theaterprobe zu O’Neills Stück „Der Eismann kommt“ endeten. Danach hat Peter Reusse nie wieder eine Bühne betreten, keinen Film mehr gedreht, kein Hörspiel aufgenommen, nicht synchronisiert. Ende. Aus. Im Februar war er 81. Jahre alt geworden. Ich habe mit ihm telefoniert, ihm wie seit Jahren gratuliert. „Ach, die Beuchlerin“, freute er sich, „schön, dass Sie an mich denken.“

Peter Reusse 1997 zu Hause in der Berliner Geschwister-Scholl-Straße. In seiner Zeit als Schauspieler war die Malerei sein „Feierabendbier“ nach den Theatervorstellungen. Nach seinem Zusammenbruch 1993 wurde sie neben dem Schreiben Teil seines neuen Lebens ohne Film und Bühne © Boris Trenkel

Seit unserem ersten Interview an einem Samstagnachmittag im November 1997 nannte er mich so. Es war seine Art eines lockeren, gleichzeitig respektvollen Umgangs. Ich weiß nicht mehr genau, welches Thema ich in unserem letzten Telefonat angesprochen hatte. Ich glaube, ich erzählte, wie mich das unsägliche Gendern auf die Palme bringt. Er ging nicht darauf ein: „Komm“, lass uns den Tag nicht mit Misslichkeiten verderben.“ Es wunderte mich, weil wir sonst immer über Aktuelles unsere Meinung austauschten. Egal, ob zu Ostern oder Weihnachten, wann immer wir telefonierten. Heute verstehe ich seine Reaktion. Er brauchte seine Kraft, um der schon weit fortgeschrittenen Krankheit so lange es geht zu widerstehen. „Er wollte keine Therapie. Da hat er sich mit seinem sturen Charakter durchgesetzt. Ich bin so stolz auf ihn“, erzählte mir seine Frau. Sigrid Göhler hatte mich zwei Tage nach seinem Tod angerufen. Ich hatte gezögert, sie so kurz danach anzurufen. „Es ging mir ähnlich“, sagt sie und lacht, „ich habe den Hörer eben gerade erst noch einmal aufgelegt. Aber ich wollte es Ihnen persönlich sagen, auch Peters wegen.“ Sie erzählt ruhig. Meine Bedrückung schwindet. Drei Monate hatten die beiden nach der Diagnose noch Zeit miteinander. Die Schauspielerin war die starke Frau an seiner Seite. „Mine ist mein Halt, mein Mittelpunkt“, beschrieb er mir ihre Beziehung, die seit 1961 anhielt.

„Das Rabauken-Kabarett“ wurde 1960 in einer thüringischen Schiefergrube gedreht. Es geht um eine Lehrlingsbrigade, die mit ihren Eskapaden über die Stränge schlagen. Die 18jährigen sind disziplinlos, brechen im Betriebskonsum ein und klauen Schnaps. Peter Reusse ist hier in seiner ersten Filmrolle zu sehen Foto: © DEFA-Stiftung/Karin Blasig, Jost Dost

Aufgefallen ist mir Peter Reusse, da war ich 13 Jahre. Ich sah ihn in dem 1960 gedrehten DEFA-Film „Das Rabauken-Kabarett“. Für den damals 19-jährigen Studenten der Filmhochschule war der Lehrling „Freitag“ die erste Filmrolle. Jungenhaft, lässig, aufmüpfig, sympathisch. Diese Attribute sind ihm immer geblieben. Er war eine Frohnatur, besser ein fröhlicher Mensch, der gern alcht und herumalbert. Und nicht weniger war er jemand mit einer großen Phantasie, fähig zu philosophischen Gedanken und großem Ernst. „Ich habe meinen Schauspielerberuf sehr ernst genommen. Bin immer volle Pulle gefahren, habe mich sehr verbraucht, da ich das Produkt war. Ein komplizierter Prozess. Schon erstaunlich, wie man das hinkriegt, Betroffener in jeder Beziehung zu sein. Jetzt mache ich zum ersten Mal, was ich wirklich will, bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ich bin Einzelkämpfer. Das ist gewöhnungsbedürftig“, konstatierte er in unserem Gespräch damals im Herbst, vier Jahre nach seiner „psychischen Attacke“. Sie überfiel ihn so unerwartet wie nur irgendwas, hat ihn aus seiner Bahn geworfen, auf der er unermüdlich unterwegs gewesen war. Mehr oder weniger zufrieden.

Nach langer Pause hatte er am Deutschen Theater endlich wieder eine gute Rolle bekommen, den Hickey in O’Neills Stück Der Eismann kommt“. Er mochte das Stück. Die Arbeit machte Spaß, er war selig wie ein Kind. Glücksmomente. Bei einer lockeren Sprechprobe passierte das, wofür er nie eine wirkliche Erklärung fand. Alles lief wie am Schnürchen. Plötzlich war der Text weg. Verschwunden ins Nichts. War auch nicht wieder hervorzuholen. „Alles um mich herum war wie in Watte gepackt. Ich wollte reden. Aber irgendjemand hatte bei mir den Ton abgestellt“, beschrieb er mir seinen Zustand damals.

Es fiel ihm auch nach 22 Jahren noch schwer, über seine Angstzustände zu reden ©Nikola Kuzmanic

Angstzustände, Depressionen gegen die er allein nicht ankam. Es genügte nicht, sich selbst zu ermuntern: Du bist kerngesund, glücklicher Familienvater, noch immer verliebt in deine Frau, hast 80 Filme gedreht, 90 Hörspiele und zig Platten aufgenommen, an den besten Theatern des Landes gespielt – du hast keinen Grund zum Lamentieren. Er war ganz unten, auf der Flucht vor allem und jedem. Als er sich bei Selbstmordgedanken ertappte, begab er sich in der Bonhoeffer-Nervenklinik in psychiatrische Therapie. Fünf Monate seelische Schwerstarbeit. Ans Licht kamen viele Anlässe, die ihren Anteil daran hatten, dass sein Gehirn den Aus-Knopf drückte. Verdrängte Konflikte, nicht ausgelebter Schmerz, überspielte Trauer, berufliche Enttäuschungen. In der Summe einfach zu viel.

Gehalten und immer wieder aufgefangen, wenn es nach unten ging, hat ihn Mine, wie er seine Frau liebevoll nannte. Der Kosename blieb übrig von ihren Trauringen, auf denen eingraviert war: „Du bist min, ich bin din“, als Peter Reusse seinen Ring bei einem Autounfall verlor. Der attraktive jungenhafte Typ und das ernsthafte junge Mädchen hatten sich 1959 als Kommilitonen auf der Filmhochschule kennengelernt, gingen ins selbe Studienjahr. Bei gemeinsamen Synchronarbeiten für den bulgarischen Film „Erste Liebe“ 1961 sind sie sich nähergekommen, wie mir die Schauspielerin bei einem späteren Interview erzählte. „Wir mussten immer ein paar Tage nach Weimar ins Synchronstudio und übernachteten im Hotel Elephant. Wir konnten nicht verhindern, dass wir uns sympathisch waren.“ Im Januar 1965 heirateten sie, im Juni kamen ihre Zwillinge Bettina und Sebastian zur Welt.

Peter Reusse erzählte mir bei den Fotoaufnahmen, wie ihn seine Schiffermütze bei den Dreharbeiten für den DEFA-Film „Ein irrer Duft von frischem Heu“ das Leben gerettet hat. Rechts seine Frau Sigrid Göhler © Nikola Kuzmanic

Peter Reusse war jemand, der schwer loslassen konnte. „Ich bin ein stetiger Mensch, was ja allein schon an der biblischen Dauer seiner Ehe zu merken ist. Hopp oder topp, wie das jetzt im Filmgeschäft läuft, ist nicht meins.“ Er hat viel begraben müssen nach der Wende, in die er sich mit großem Engagement geworfen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er politisch aktiv geworden. Gemeinsam mit Kollegen des Deutschen Theaters hatte er die große Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz organisiert, hat sich für die Öffnung der Stasi-Archive eingesetzt. Es sollte anders werden. Offener, luftiger. „Am nervigsten empfand ich das Überschaubare, das Abgesteckte, das Geordnete in der DDR“. Die Visionen, die Hoffnung, das starre System zu reformieren, Freiheiten für die Menschen im eigenen Land zu schaffen, zerplatzten wie Seifenblasen, als der massenhafte Schrei nach der D-Mark zur Übernahme des westdeutschen Gesellschaftssystems führte. Mit der erzwungenen Unterordnung unter das neue Gesellschaftssystem ist dem beliebten Schauspieler weggestorben, was ihm 25 Jahre Heimat gewesen war – Rundfunk, Film, Fernsehen, Schallplatte und mit ihnen Menschen, zu denen er gehörte.

In einem DEFA-„Zeitzeugengespräch“ 2014 erinnert sich Peter Reusse an Dreharbeiten seiner wichtigsten Filme. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer zu Hause auf dem Kolberg. Die Keramikfigur ist eine seiner künstlerischen Arbeiten, die er nach seinem Ausstieg aus dem Schauspielerberuf 1993 geschaffen hat Screenshot/DEFA-Stiftung, Katrin und Ferdinand Teubner

Die Therapie war nur der erste Schritt gewesen. „Ich brauchte eine andere kreative Arbeit, um so schnell wie möglich zurück in ein normales Leben zu finden.“ Den Schauspielerberuf legt man nicht ab wie eine alte Jacke. Gerade, wenn man ihn so intensiv gelebt hat wie Peter Reusse. Dorthin zurück konnte und wollte er nicht mehr. Die Alternative war das Schreiben. Er wusste, das konnte er. Als junger Schauspieler hatte er sich unter dem Pseudonym Sascha Rüss mit Interviews, Geschichten, Reiseberichten, Zeichnungen und Fotos von Theatertourneen Geld dazu verdient. „Als Absolventen bekamen wir 425 Mark im Monat, da hat’s wirklich richtig an Geld gemangelt.“ Er schrieb für die LDZ – Zentralorgan der LDPD –, das „Neue Leben“ und das Magazin“. Bewegte sich mit seinen Geschichten auf einer Strecke, die er für „ungefährlich“ hielt. Die Selbstzensur funktionierte nicht immer. „Knock out“ titelte er eine kleine Erzählung fürs „Neue Leben“, die noch dazu frivole Liebesszenen enthielt. Er bekam einen Rüffel für einen ominösen Kerl, den keiner kannte.

1956. Peter Reuse ist in der 9. Klasse an der Weinbergschule Kleinmachnow. Hier wird er gerade für seine Rolle als Puck in der Schulaufführung „Der Sommernachtstraum“ geschminkt Foto: Privatarchiv Peter Reusse

Eigentlich wollte Peter Reusse Kunst studieren. Er hatte großes Talent fürs Zeichnen und Malen. Die Zulassung der Kunsthochschule Weißensee kam nur etwas zu spät. Da hatte er sich schon für die Schauspielerei entschieden. Nach einer Schulaufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum“, 1956, in der er den Puck spielte, fand seine Deutschlehrerin, er sei ein „Jahrhunderttalent“ und lancierte seine Bewerbung an die Filmhochschule Babelsberg. Und sie hatte gut daran getan.

Gleich nach dem Abitur 1959 begann er mit dem Studium in Babelsberg. Weil die Schauspielstudenten damals gern von Film und Fernsehen engagiert wurden, blieb Peter Reusse der Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee erspart. 1961 gab es einen Zwischenfall. Die Studenten kamen aus den Ferien. Alle wetterten gegen die Mauer, fühlten sich als starke Opposition. Zur Armee wollte keiner. Doch vor die Wahl gestellt, sich für den Dienst bei der NVA bereitzuerklären oder die Schule verlassen zu müssen, war es aus mit dem Widerstand. Einzig Peter Reusse weigerte sich. Als man ihn exmatrikulieren wollte, schrumpfte auch seine Standhaftigkeit. Er wollte ja Schauspieler werden. Das Schicksal, sprich: die DEFA-Produktionsleitung, meinte es gut mit ihm. Jedes Frühjahr bekam er eine neue Besetzungskarte. So konnte er auch nach der Einführung der Wehrpflicht 1962 nie eingezogen werden. War ein Film erst einmal angefangen, ließ sich ein Darsteller nicht einfach ersetzen. Er hatte eine lange Glücksphase.

Peter Reusse als Anton Dschick und Manfred Krug als Ingenieur Tom in „Beschreibung eines Sommers“, 1962 Screenshot/© DEFA-Stiftung, Hans Heinrich

Nach dem „Rabauken-Kabarett“, das Regisseur Werner W. Wallroth 1960 mit den Studenten des ersten Studienjahrs der Filmhochschule inszenierte, folgten darauf gleich vier wichtige Filme, in denen Peter Reusse mitspielte: Er war ein Indio in dem fünfteiligen Fernsehfilm Das grüne Ungeheuer“ (1962), einer der freiwilligen jungen FDJler auf der Großbaustelle Wartha in „Beschreibung eines Sommers“ (1962), der unbekannte Kindsvater in „Monolog für einen Taxifahrer“ (1962). Der Kurzfilm wurde allerdings gleich aus dem Verkehr gezogen und erst 1990 gezeigt. Er diskreditiere und verfälsche das Bild der sozialistischen Gesellschaft, hieß es 1963 auf einer Beratung des Politbüros des ZK der SED mit Schriftstellern und Künstlern. Ein Loblied dagegen wurde auf den Jugendfilm von Rudi Kurz „Die aus der 12b“ (1962) gesungen. Peter Reusse mimt den windigen Lothar, der einen Mitschüler erpresst, ihm Westbücher zu besorgen, und von der Schule fliegen soll. Aber das Kollektiv setzt sich für ihn ein. In seinem Diplomjahr 1963 wird Peter Reusse von Frank Vogel in der Liebesgeschichte Julia lebt“ als deren Bruder Kalle besetzt.

Die aus der 12b“,1961: Lothar (Peter Reusse, l) wird von Reinhard (Justus Fritzsche) in die Mangel genommen. Er gesteht, dass er den Mitschüler Dieter erpresst hat © DEFA-Stiftung/Hans Bernd Baxmann

So brachte der junge Schauspieler nach seinem Abschluss an der Filmhochschule 1964 schon jede Menge praktische Erfahrungen mit in den Beruf. Regisseur Frank Vogel gab ihm die Hauptrolle in seinem Schwarz-Weiß-Film „Denk bloß nicht, ich heule“. Die Rolle des Oberschülers Peter Neumann, der mit seinen provokatorischen Scherzen ständig Ärger macht, und der schließlich in einem Aufsatz offen verkündet, dass er „die Republik nicht braucht“, sollte Peter Reusses „Knaller“ werden, damit wollte er starten. Gemeinsam mit „Das Kaninchen bin ich“ wurde der Film am Vorabend des 11. Plenums Mitgliedern des ZK der SED gezeigt. Beide Produktionen wurden – wie die gesamte DEFA-Produktion von 1964/65 verboten.

Nach seinem Rauswurf aus der Schule zieht Peter Neumann (Peter Reusse, r.) zu seiner Freundin Anne (Ann-Kathrein Kretzschmar) aufs Land und will sich dort aufs Abitur vorbereiten. Aber auch dort gibt es Konflikte. Annes Vater, LPG-Vorsitzender, ist gegen ihre Verbindung mit dem Republikverweigerer © DEFA-Stiftung/Jörg Erkens

„Dieser Film mit Peter Reusse in der Hauptrolle stellte unbequeme Fragen, führte einen Helden vor, wie man keinen haben wollte, eine extreme Situation. Dafür gab es das Prädikat: Besonders schädlich“, schrieb das „Neue Deutschland“ nach der Premiere von „Denk bloß nicht, ich heule“ auf der Bienale am 10. Februar 1990. Der Schauspieler selbst hatte damals gar nicht mitbekommen, dass der Film nicht ins Kino gekommen war. Peter Reusse hatte sein erstes Engagement am Theater in Brandenburg begonnen und den Fortgang aus den Augen verloren. „Das Irre ist, wir sind dann 1990 mit den Verbotsfilmen durch die ganze Republik getourt. Kurt Maetzig war dabei. Keiner konnte verstehen, was an dem Film so staatsgefährdend gewesen sein soll.“

Peter Reusse hat seine Rollen immer 1:1 genommen, wie er sagte. Ihm war daran, gelegen, seine Figuren in sozialer und gestischer Genauigkeit zu treffen. „Die Rolle war in meinem Kopf, wurde gelebt und dann gespielt, wie ich sie mir zurechtschnitt.“ Dafür beobachtete die Menschen, in deren Alltag seine Figuren angesiedelt waren. Man fand ihn auch in der Staatsbibliothek, wenn er sich auf eine historische Figur wie Peter I.“ vorbereitete. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit kamen die Rollen, die er spielte, auf diese Weise sehr nah an ihn heran. Auf einen Typ festlegen ließ sich Peter Reusse nicht, blieb als Schauspieler wandlungsfähig. Was ihm von Nutzen für die Theaterarbeit war. Sah man ihm im Fernsehen als EDV-Ingenieur, stand er im Deutschen Theater als Souffleur Nikita in Tschechows „Schwanengesang“ auf der Bühne.

„Familienbande“, 1982. Peter Reusse mit Roman Kaminski als die Brüder Markus und Frank Rabban © DEFA-Stiftung/Heinz Puhfahl

Vor allem das Fernsehen gab ihm viele Möglichkeiten, sich als Schauspieler zu profilieren. In Kriminalfilmen hatte er oft den Part zwielichtiger Gestalten und Ganoven. Meist waren es differenzierte Schicksale wie das des Westberliner Antiquitätenhändlers Markus Rabban in dem DEFA-Film „Familienbande“, die seine Spielkunst forderten. Nur nicht klischeehaft werden, war seine eigener Anspruch. „Der echte Gaukler ist nicht selbstzufrieden“, war so eine Aussage von ihm. Die von der DDR-Kunst geforderte schöpferische Ungeduld war für ihn nicht irgendein Terminus. „Das ist schon etwas, das in einem ruckelt und zuckelt.“ Mit den Jahren ist er immer besser geworden.

Peter Reusse als Wilhelm Thiele und Jenny Gröllmann als Minna 1983 in dem DEFA-Film „Es geht einer vor die Hunde“ Screenshot © DEFA-Stiftung/ Siegfried Mogel

Wie subtil er Charaktere erfassen und darstellen konnte, lässt sich gut anschauen in dem sozialkritischen Drama „Es geht einer vor die Hunde“, der 1983 nach dem einzigen Roman des Malers und Bildhauers Otto Nagel entstand. Die Handlung spielt 1924 zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Im Mittelpunkt steht das Schicksal des arbeitslosen Schweißers Wilhelm Thiele, der auf der Suche nach Arbeit durch widrige Umstände immer tiefer in das Milieu der Stadtstreicher gerät, und seiner Frau Minna. Eine tief berührende und realistische Wahrnehmung des Lebens im damaligen Berliner Wedding. Am Ende wirft sich Minna mit ihrem Baby vor einen Zug und Wilhelm wird von ihrem Exfreund, dem Gauner Emil, im Gefängnis erschossen.

Berlin 1947. Martin Stein (Peter Reusse) kommt aus sowjetischer Gefangenschaft nach Hause. Er findet seine Mutter (Lissy Tempelhof) und seine beiden jüngeren Brüder in einer Hinterhofwohnung. Screenshot © DDR-Fernsehen/Günter Eisinger

Eine ganz andere Richtung nimmt die Geschichte des Martin Stein in dem 1976 von Manfred Mosblech gedrehten dreiteiligen Fernsehfilm „Heimkehr in ein fremdes Land“. Hier spielt Peter Reusse einen jungen Wehrmachtssoldaten, der in einem sowjetischen Gefangenenlager die Grauen des Zweiten Weltkriegs überlebt hat. Er muss unter härtesten Bedingungen zwei Jahre in einem sibirischen Steinkohlebergwerk schuften. Mutlos und verbittert will er sein Leben beenden. Ein Mitgefangener verhindert das. Nach einem Gespräch mit dem Kommissar des Lagers, wird Martin nachdenklich. Er soll arbeiten, leben. Irgendwann geht es auch für ihn zurück in die Heimat, nach Deutschland. Als der in Breslau Geborene 1947 in das zerstörte und geteilte Berlin kommt, ist das nicht seine Heimat. Die Mutter und seine zwei Brüder mussten ihre Heimat Breslau verlassen und leben im Osten in einer kleinen Hinterhofwohnung. Martin muss sich zwischen zwei Welten entscheiden. Der der Schieber, die den neuen Staat hassen, und der derjenigen, die sich für den Neuaufbau engagieren. Unpathetisch zeigt Peter Reusse die innere Wandlung des Jugendlichen, der sich geschworen hatte, nie wieder eine Uniform anzuziehen. Doch als sein Freund, der alte Kommunist Hüttenrauch, bei dem er wohnt, ermordet wird, beschließt er, zur Volkspolizei zu gehen.

Ähnlich wie Martin sah sich Peter Reusse als Wanderer zwischen zwei Welten. Er erklärte es mir mit einem Blick auf seine Biografie. „Wir wohnten in Teltow-Seehof unmittelbar an der Grenze. Mein Vater arbeitete in Westberlin, er war promovierter Physiker. Ich ging vier Jahre im amerikanischen Sektor in Lichterfelde-Süd zur Schule. Für uns Kinder existierte die Grenze nicht. Es gab keinen Stacheldraht. Ich erinnere mich nur an ein paar Schilder. Wir spielten auf dem Feld Fußball, hatten unsere Abenteuer mit den Schiebern. Dann kam 1949 die Teilung in zwei Staaten. Und wir Kinder von hüben und drüben konnten nicht mehr miteinander spielen. Ich musste in die Schule nach Teltow. Als Kind verstehst du nicht, warum, was dort, wo du deine Freunde hast, plötzlich schlecht sein soll, fühlst nur einen Schmerz.“ Über die Hälfte seiner Sippe ging damals nach drüben. Auch der Vater blieb im Westen. Die Eltern ließen sich scheiden. Für den Sohn war das schwer zu verkraften, dass die Familie zerbrach, der Vater ihn, die Schwester und die Mutter verließ. Es hing ihm sein Leben lang nach. Blieb unaufgearbeitet. 1992 starb der Vater. Die Arbeit verhinderte, dass Peter Reusse Abschied an seinem Grab nehmen konnte.

Autogrammfoto von 1962 ©DEFA-Stiftung/Klaus D. Schwarz

Der Bau der Mauer 1961 war ein gravierender Einschnitt im Leben der Familie Reusse – wie bei vielen Leuten. „ Es passierte direkt hinter ihrem Haus. Wir standen dabei, als der Zaun gezogen wurde. Da war Feld und plötzlich das Ende. Es ging einfach nicht in den Kopf. Man war so verwirrt über den Vorgang. Ich hatte da ein echtes Problem. Es war ein rein menschliches, weit weg von Politik und Kommunismus. Ich konnte nicht nachvollziehen, wie man so etwas machen konnte.“ Dieses Gefühl saß wie ein Widerhaken in ihm fest, prägte seine politische Haltung. Fünf Jahre zuvor hatte Peter Reusse im Schulwettbewerb des Bezirks Potsdam für seinen kritischen Aufsatz „Unser Leben an der Grenze“ als Preis einen Fotoapparat „Perfecta“ bekommen.

„Ich habe mich nie zur DDR als Staat zugehörig gefühlt, ich habe hier gelebt, gearbeitet, hatte meine Beziehungen. Wir sind nie zu Demonstrationen gegangen, hängten keine Fahne aus dem Fenster. Aber ich hatte auch nie die Sehnsucht, Westdeutscher zu werden“, rekapitulierte er 1998 im Rückblick auf seinen Werdegang. War er „draußen“, mit dem Theater im Westen, hat er das kleine Land dennoch immer verteidigt. Den intimen Kontakt mit der Grenze hat Peter Reusse nie verloren. „Die Markierungen zwischen Ost und West funktionieren trotz schicker Glasbauten, ohne dass ein Schild dasteht. Ich bin ein Emigrant im eigenen Land. Heimat findet nur im Kopf statt“, konstatierte er.

Peter Reusse und Corinna Harfouch in der letzten DEFA-Produktion „Zwischen Zehlendorf und Pankow“, 1990/91, die von der Kritik als zu schwülstig und langatmig zerrissen wurde. Die kleinen Alltagsgeschichten kämen dabei unter die Räder. © DEFA-Stiftung/Otto Hanisch

Mit der der letzten Regiearbeit von Horst Seemann „Zwischen Pankow und Zehlendorf“, einem Ost-West-Familiendrama, das im Nachkriegsjahr 1953 spielt, endete Peter Reusses Karriere als DDR-Schauspieler. „Was danach kam, war nichts mehr, worin ich einen Sinn für mich als Schauspieler sah.“ Er hätte sich gern auf andere Weise einen neuen Weg gesucht. Aber so hat ihn Schicksals gezwungen, einen neuen Lebensanlauf zu nehmen und als Autor, Maler und Keramiker seine kreative Erfüllung zu finden. Letzteres als professioneller Dilettant – so seine Worte. Was er uns hinterlässt in seinen Büchern und Filmen sind Blicke in unsere vergangene Gegenwart.

Am 2. Juli 2022 hat die Familie den Schauspieler unter einer Kiefer im Friedwald von Hangelsberg beigesetzt.

Pavel Trávnicek wird im Märchenfilm „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ von dem Schauspieler Peter Reusse synchronisiert © DEFA-Stiftung/Filmstudio Barrandov /Jaromir Komarek

Ein Nachsatz:
Wenn in der Weihnachtszeit das beliebte DEFA-Märchen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ ausgestrahlt wird, und Prinz Pavel Trávniček nicht nur das Herz von Aschenbrödel erobert, sondern auch das der kleinen Mädchen, hat daran auch Peter Reusse seinen Anteil. Denn er ist die deutsche Stimme des tschechischen Schauspielers. So bleibt er unvergessen.

Rolf Hoppe – er lebte aus dem Körper heraus

Gespräche mit Rolf Hoppe wird es nicht mehr geben. Es waren viele in den 21 Jahren, die wir uns kannten. Und es war uns gegenseitig immer eine Freude, uns in seinem Refugium, einer kleiner Blockhütte in seinem Garten, gegenüber zu sitzen und zu reden oder am Telefon miteinander zu plaudern. So hielten wir zuletzt Kontakt, nachdem er sich aus dem Schauspielerleben zurückgezogen hatte. Am 14. November ist der wunderbare Mensch und hochverehrte Schauspieler von dieser Welt gegangen. Still und leise im Einklang mit sich und den geliebten Menschen, die er zurückließ. „Ich bin ein Harmonisierer, ich will keine Aggressivität“, beschrieb er mir seine Art zu leben. In drei Wochen hätte er seinen 88. Geburtstag gefeiert. Die Kraft reichte nicht mehr bis dahin und weiter. Wie ich es ihm vor einem Jahr noch gewünscht hatte. Er entgegnete mir mit dem ihm eigenen Realitätssinn: „Ach, weißt du, man darf nicht vergessen, dass es doch ein schönes Alter ist, 87 zu sein. Und so lange es so geht, wie es geht, ist es gut. Da arbeite ich auch noch ein bisschen. Und wenn es nicht mehr weitergeht, werde ich es schon merken.“ Er lachte und sagte mit seiner sanften Stimme „Tschüss, danke für den Anruf“.

Im Sommer 2015 habe ich Rolf Hoppe anlässlich seines 85. Geburtstages interviewt. Wie immer fand das Gespräch in seinem Refugium statt. Im Hintergrund Bilder seiner Rollen. © York Maecke

Zu Ostern telefonierten wir noch einmal. Es klang nicht, als wäre es das letzte Mal. Er freute sich, dass es in seinem Garten wieder zu grünen und zu blühen begann. Jeden Strauch, jeden Apfelbaum, jedes Pflänzchen sind ein Stück von ihm. Er hat sie selbst gepflanzt, im Laufe der Jahre eine Steingartenlandschaft mit seinen Mitbringseln aus aller Herren Länder angelegt. Das Blockhaus mit dem Garten im Schönfelder Hochland bei Dresden war so ein Traum von ihm, den er sich mit 61 Jahren erfüllt hat. „Ein Irrsinn, sich als alter Zausel noch ein solches Haus zu bauen“, erklärte er mir mit einem Schmunzeln und Leuchten in den Augen, als ich ihn 1997 das erste Mal besuchte. Wir wanderten damals durch seine grüne Oase, und er erzählte mir von seiner Kindheit im Harzstädtchen Ellrich, wo er am 6. Dezember 1930 wie ein  Nikolausgeschenk für seine Eltern zur Welt kam.

Am Rande von Dresden schuf Rolf Hoppe für sich und seine Familie eine grüne Oase. © York Maecke

Der Vater besaß eine Bäckerei, die der Sohn übernehmen sollte. So wie der Vater von seinem Vater. Der Gedanke, sein Leben lang Teig zu kneten, war dem Kind aber ein Graus. „In mir steckte schon als kleiner Junge eine große Lust zum Spielen.“ Dennoch lernte er das Handwerk. Rolf Hoppe war acht Jahre als der zweite Weltkrieg in das Leben der Menschen eingriff und es für immer veränderte. „Da, wo ich aufgewachsen bin“, erinnerte er sich. „in Ellrich, war eins der brutalsten Arbeitslager. Dort wurde die V2 hergestellt. Was wirklich passiert ist, wusste ich nicht. Tagtäglich haben die Schornsteine des Krematoriums geraucht. Und nur 500 Meter von meinem Geburtshaus entfernt, im Bürgergarten, war ein KZ. Es ist für mich grauenvoll, wenn ich daran denke.“

Ohne Bart fühlte sich Rolf Hoppe nackt. 2010 musste er ihn für die Rolle eines Stasi-Oberst abnehmen. © Boris Trenkel

Das sind Dinge, die er gern vergessen wollte, es aber nicht konnte. Ellrich war einst eine lebendige Stadt. Der Krieg hatte ihren Menschen das Lachen genommen. Auch ihm selbst. „Ich bin dem Lachen nachgerannt, ich wollte wieder lachen und dass sich die Menschen wieder am Leben erfreuen.“ Darum wollte er Clown werden, aber seine Neigung zum Schauspiel war stärker. „Das Clowneske in mir habe ich behalten. Lachen ist Lebenshilfe, ohne Humor kann der Mensch nicht sein“, sagte er. 

Viele Kämpfe focht er auf in den DEFA-Indianerfilmen mit Gojko Mitic aus. Im Leben waren sie gute Freunde. © Boris Trenkel

Ihn machte es glücklich, wenn die Menschen zu ihm kamen,  ihm zuhörten. Jenseits von Bühne und Kamera liebte er es, in der Erde zu buddeln. Er tat es, solange die Kraft dafür noch da war. „Es ist noch so viel Platz in meinem Garten, ich müsste wieder etwas pflanzen“, sinnierte er, wenn ich ihn bei unseren Telefonaten nach seinem Lieblingsort fragte. Leise, fast ein bisschen traurig, erklärte er dann: „Ich genieße es lieber, in der Sonne zu sitzen, dem leisen Rauschen der Bäume zu lauschen.“ Vor zwei Jahren sprachen wir noch darüber, dass ich im Frühling mit ihm zusammen buddele. Mittlerweile umgibt ein dichter Rasenteppich die zwei Birken vor dem Haus. Er nannte sie Josephine und Christine. Es sind die Lebensbäume seiner beiden Töchter.

Zärtlich drückt Rolf Hoppe seine Friederike an sich. Am 19. August haben sie noch ihren 55. Hochzeitstag gefeiert © York Maecke

Die starke Kiefer ein Stück weiter hinten im Garten taufte er Friederike. „Sie ist stark wie meine Frau, kein Sturm kann sie brechen“, erklärte er mir. Denn ohne seine Frau hätte es sein Leben so, wie es war, nicht gegeben. „Sie war mein Rückhalt, hat unsere Mädels großgezogen, war für ihre Sorgen und Nöte da, während ich durch die Welt schwirrte.“ Wochenlang hat er für die DEFA-Indianerfilme in der Sowjetunion gedreht, in der Mogolei, in Rumänien. Er war in China und Japan, spielte schon zu DDR-Zeiten sieben Jahre in Salzburg den Mammon im „Jedermann“. „Mein Riekchen“, wie er seine Frau liebevoll rief, „hat sich nie beschwert.“ Es war ihm wichtig, dies zu sagen. Rolf Hoppe hat seine Verantwortung für das Glück seiner Familie immer ernst genommen. Dafür hat er viel gearbeitet. Aber das Spielen war ihm auch eine Lust. Wie einem Kind, das sich daran erfreut, wenn es andere mit seinem Spiel begeistert. „Ich will den Menschen, die mir zuschauen, etwas geben, das ihnen hilft, wenigstens eine kurze Zeit den Druck des Alltags zu vergessen, ein bisschen Kraft für sich ziehen.“

Im Juni 2007 besuchte ich Rolf Hoppe bei den Dreharbeiten für die ARD-Serie „Commissario Laurenti“ in Triest, in der er den Pathologen Calvano spielte © York Maecke

Über 400 Rollen füllte Rolf Hoppe Zeit seines Lebens auf der Bühne und vor der Kamera aus. Prall gefüllte Jahre von der Kindheit im Harzstädtchen Ellrich bis zum vielfach geehrten Schauspieler. Zuerst war es das Puppentheater, das er mit zehn Jahren von seinen Eltern geschenkt bekam und das er vor dem Laden des Vaters aufstellte. Mit einem Freund spielte er Grimms Märchen, später wirkte er im Laienzirkel der Antifa-Jugend mit. Zuvor durfte er seiner Leidenschaft für Pferde nachgehen, indem er nach der Befreiung 1945 als Panje-Kutscher für die sowjetische Kommandantur arbeitete. 1951 begann sein Weg auf die Theaterbühnen der DDR und bald zum Film. Nach der Wende erfüllte er sich noch einen dritten großen Traum: Er kaufte einen Dreiseithof und schuf in Weißig das Hoppesche Hoftheater. „Ich wollte ein Theaterchen, ganz klein, wo das Leben nur eine Stufe ist: das gespielte Leben, das geträumte Leben und das wirkliche Leben im Parkett, das ineinander überfließt.“

1983 drehte Rolf Hoppe unter der Regie von Peter Schamoni „Frühlingssinfonie“.  In dem Film geht es um die Liebe zwischen Robert und Clara Schumann. Als ehrgeiziger Vater vereinnahmt er die Tochter (Nastassja Kinski)  @DEFA-Stiftung/Sybille U. Werner

Rolf Hoppe überraschte nicht nur die Zuschauer mit der Vielseitigkeit seines schauspielerischen Talents, das von der diffizilen Darstellung des Generals Göring über Künstler, Professoren und Jidden mit ihrem speziellen Humor bis hin zu gutherzigen Märchenfiguren wie den König in „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ oder „Hans Röckle und der Teufel“ reicht. Rolf Hoppe verfügte über die Gabe einer schönen Ironie. Süffisanz mischte sich mit Verletzlichkeit. Er verstand es, das Boshafte im Guten zu verstecken. „Jeder Mensch besitzt diese zwei Seiten“, sage er, „die Gefährlichkeit liegt darin, dass sich das Böse mit Menschlichkeit tarnt.“

1974 spielte Rolf Hoppe die Titelfigur in dem DEFA-Märchenfilm „Hans Röckle und der Teufel“ © Icestorm/DEFA-Stiftung/Uwe Fleischer

Man wusste bei ihm nie so genau, was Hoppe und was Rolle ist. Er war in den kleinsten Auftritten authentisch. Ich fragte ihn einmal, ob er es denn wüsste. Da grinste er mich an. „Nee, das ist ja meine Lebensaufgabe, das herauszukriegen. Ich bin ja immer wieder erstaunt und neugierig, wie der Hoppe sich verhält. Ich lebe aus dem Körper heraus, der immer wieder neu ist.“ Nach seinem oscarprämierten Erfolg in István Szabós „Mephisto“ standen dem damals 51-Jährigen die Türen in Amerika offen. Doch es war keine Option für ihn. „Ich kann nur dort leben und spielen, wo ich mit meiner Sprache und meinen Gefühlen zu Hause bin. Ich versuche immer, den Menschen in einer Rolle zu finden. Ich muss in der Sprache auch denken können“, sagte er. Wie ein Hochstapler habe er sich gefühlt, als er mit Volker Schlöndorff 1998 in Florida auf englisch den Psychokrimi „Palmetto“ gedreht hat.

Im Februar 2008 besuchten wir Schloss Wackerbarth bei Radebeul. Im Weinkeller spielte eine Szene des DEFA-Films „Orpheus in der Unterweltmit Rolf Hoppe in der Titelrolle © York Macke

Rolf Hoppe hat den Tod nie aus seinen Gedanken verdrängt. „Ich habe mich in meinem Beruf immer mit der Frage beschäftigt, wo komme ich her, was will ich hier, wo gehe ich hin? Das ist der Kreislauf des Lebens. Der Tod gehört zum Leben. Woher wissen wir, dass er nicht zum Schönsten im Leben gehört? Nur die Frage wie beantworte ich nicht. Vor solchen Gedanken habe ich Angst.“ In den vergangenen beiden Jahren hat er, der immer unermüdlich unterwegs war, ohne Arbeit nicht sein konnte, sich gestattet, sich alle Zeit für sich, für sein Dasein zu nehmen. „Der Beruf war mein Leben, aber mit dem Alter muss man bescheidener werden. Die Zeit wird wertvoller.“  Und dann fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu: „Ich würde sogar mit den Engeln auf Wolke Sieben ein Theater aufziehen. Zu meiner Freude und der der Leute.“

Schauspieler Rolf Hoppe im Porträt von York Maecke

Herzlichen Glückwunsch, Rolf Hoppe! Mit 87 wohl auf

Am Nikolaustag das Licht  der Welt zu erblicken, ist ein Glück. Als Kind bekommt man etwas in die feingeputzten Schuhe gesteckt und einen Gabentisch mit Geburtstagsgeschenken darf man auch noch erwarten. Ein solcher Glückspilz ist Rolf Hoppe. Er begeht heute seinen 87. Geburtstag. Um meine Gratulation an den alten Freund zu bringen,  brauchte es Geduld. Ich musste mich quasi in der Warteschleife anstellen. „Ja, ich habe viele Anrufe bekommen“, erklärt er mit seiner warmen Stimme, als ich ihn endlich erreichte. Der Bäckerssohn aus dem Harzstädtchen Ellrich hat es auf der Bühne und vor der Kamera mit seiner Lust am Spielen und dem unbändigen Wunsch, Freude, Abwechslung und Nachdenken zu erzeugen, zu einem der bedeutendsten deutschen Schauspieler gebracht. Er erfuhr internationale Anerkennung in seiner Rolle als General in István Szabós Film „Mephisto“ ( wurde 1982 als bester fremdsprachiger Film mit dem Oscar ausgezeichnet). In jüngerer Zeit wurde er mit dem deutschen Schauspielerpreis für sein Lebenswerk geehrt und erhielt den PAULA-Ehrenpreis für besondere künstlerische Verdienste um den deutschen Film. Der Bundesverdienstorden 1. Klasse liegt neben dem Nationalpreis der DDR 1. Klasse für Kunst und Literatur. „Ich bin stolz auf beide Auszeichnungen“, sagte er mir mal. Den DDR-Preis zurückzugeben, wie es andere Kollegen getan haben, käme ihm nie in den Sinn. Der Wahl-Dresdner gehört nicht zu denen, die sich von ihrem Leben vor 1990 distanzieren. „Dieses kleine Land DDR hat mir Großes ermöglicht. Die Jahre gehören zu meinem Leben“, betonte er auf derlei Fragen immer.

Zärtlich drückt Rolf Hoppe seien Frau an sich. Seit 55 Jahren sind sie zusammen
Rolf Hoppe und seine Frau Friederike c/o York Maecke

An diesem Tag heute ist die ganze Familie im Hoppeschen Blockhaus in Dresden-Weißig versammelt. Er genießt die Zeit mit ihr. Selbst durch Telefon spüre ich sein Strahlen, als er erzählt, dass auch sein Enkel Oscar da ist. „Dass er meinetwegen aus Berlin hergekommen ist, das ist eine große Freude“. Der 21-Jährige tritt in die Fußstapfen seines berühmten Großvaters. Er studiert an der Hochschule „Ernst Busch“ Schauspiel und Regie. „Natürlich bin ich stolz. Auf alle meine Kinder und Enkel bin ich stolz“, sagt der zweifache Vater und dreifache Großvater. Meinem Wunsch für ihn, noch viele Jahre gesund zu erleben, begegnet er mit dem ihm eigenen Realitätssinn: „Also 87 ist schon ein schönes Alter, muss man schon sagen. Und so lange es so geht, wie es geht, ist es gut. Da arbeite ich auch noch ein bisschen. Die Zeit der großen, langen Rollen ist vorbei“, meint er nun, da er 87 geworden ist. Am 13. November sah man ihn in einer kleinen stillen Szene im Spreewald-Krimi „Zwischen Leben und Tod“. Hoffen wir, es gibt noch viele solche Momente auf dem Bildschirm.

 

Zwei großartige Schauspieler feiern Geburtstag – Christel Bodenstein und Dieter Wien

Es ist mir wichtig, nach persönlichen Glückwünschen hier noch einmal zwei Schauspielern zu gratulieren, die ich seit vielen Jahren kenne. Christel Bodenstein, die stolze Prinzessin Tausendschön aus dem DEFA-Märchenklassiker „Das singende, klingende Bäumchen“, feierte am 13. Oktober ihren 79. Geburtstag. Als der Märchenklassiker von 1957 für die ARD im vorigen Jahr neuverfilmt wurde, hat man extra für sie eine Rolle hineingeschrieben: „Ich spiele eine Kräuterfrau, die ursprünglich nicht vorkommt. Das fand ich sehr schön und hat mir viel Freude gemacht“, erzählte sie mir. Der Clou an der Geschichte ist, dass im Thronsaal ein Gemälde von Tausendschön hängt, das die Mutter der (neuen) Prinzessin zeigen soll.  „Zweimal ich, nur liegen 60 Jahre dazwischen“, sagt die einstige DEFA-Märchenprinzessin.  Fragt sie nach ihrem Lieblingsfilm, hört man: „Ich habe über 30 Spielfilme gedreht und alle Rollen gern gespielt, aber ich war sehr, sehr gern die Prinzessin. Ein sehr wichtiger Film für mich war Beschreibung eines Sommers mit Manfred Krug.“
Aber am Herzen liegt ihr die Verfilmung von Saint-Exupérys Geschichte „Der kleine Prinz“, die einzige Arbeit mit ihrem damaligen Mann, Konrad Wolf. Sie spielt die Titelfigur, den kleinen Prinzen.

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Christel Bodenstein mit ihrem Mann Hasso von Lenski und der neuen DVD „Der kleine Prinz“ (kommt am 27. Oktober in den Handel) c/o privat

In diesem Jahr ging ihr größter Wunsch in Erfüllung. Der 1966 für eine Millionen DDR-Mark produzierte Film durfte endlich gezeigt werden. „Er war nicht unter die kulturpolitischen Räder gekommen“, erzählt Christel Bodenstein, „sondern das DDR-Fernsehen hatte schlichtweg versäumt, einen Lizenzvertrag mit Exépurys Buchverlag Editions Gallimard abzuschließen.“ Konrad Wolfs Verfilmung des Romans „Der kleine Prinz“ sollte zur Premiere des DDR-Farbfernsehens laufen. Der Zeitpunkt war zu Beginn der Planungen für den Film 1965 noch unklar. So kam es, dass die aufwendige Produktion einmalig und ohne Vorankündigung am 21. Mai 1972 um 20 Uhr im Zweiten Programm des DDR-Fernsehens „versendet wurde. Die Ausstrahlung blieb zwar ohne rechtliche Folgen, doch das Risiko, juristisch belangt zu werden, wurde vom DDR-Fernsehen nie wieder eingegangen. Seit dem 1. Januar 2015 ist die 70-jährige Schutzfrist des Urheberrechts für das Werk von Antoine de Saint-Exupéry abgelaufen, denn er starb im Jahr 1944. Der Film konnte vom Deutschen Rundfunkarchiv zur Nutzung frei gegeben werden.

„Die DEFA-Stiftung hat sehr viel Geld in die Digitalisierung des Films gesteckt, der ja eine Koproduktion zwischen dem Fernsehen und der DEFA war, und hat uns das wunderbar aufgearbeitete Master zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt“, sagt Brigitte Miesen, Produktmanagerin der Studio Hamburg Enterprises GmbH. Gerade habe ich eine WhatsApp-Nachricht von Christel Bodenstein erhalten: „Ich bin sooo glücklich. Am 27. Oktober kommt er ans Licht und alle können ihn sehen!!!!“

Abgesehen von der Freude, die ihr ins Gesicht geschrieben steht, was macht sie noch glücklich? „Nach wie vor gestalte ich meine Bilder und Figuren – das ist Ausgleichsgymnastik für meine Seele. Und ich bin mit einer bebilderten Lesung meiner Buches Einmal Prinzessin – immer Prinzessin unterwegs. Ich kann es eben doch nicht lassen und dem Publikum macht es Spaß und mir auch!“
Mit Dieter Wien 6727
Schauspieler Dieter Wien wurde am selben Tag 83 Jahre. Als ich ihn fragte, wie es ihm geht, lachte er und meinte: „Über meinem Schreibtisch hängt ein Plakat auf dem steht: Es ist wie es ist“. 1934 in Gdansk geboren, hat er miterlebt, was Krieg bedeutet. Im Winter 1945 flohen seine Eltern mit ihm vor den Bombenangriffen. „Mit dem Schiff ging es nach Rostock, von dort mit einem Güterzug nach Halle. Mein Vater hatte eine Cousine dort. Hier kam ich zum Schauspiel“, erzählt er.  „Die Frau des Klempners im Vorderhaus hatte ein Puppentheater, da spielte ich mit, war dann in der Kinderkomparserie am Theater Halle. Es machte Spaß.“  Während seiner Buchdrucker-Lehre war er im Laienspiel des Betriebes. „Der Leiter fragte mich, ob ich Schauspiel studieren möchte. Es war in Leipzig an der Schauspielschule des Theaters gerade ein Platz frei geworden. Aber ich hatte nur ein paar Stunden Unterricht bei dem großen Martin Flörchinger, weil die Schule aufgelöst und daraus die Hochschule für Theater und Musik wurde.“

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Dieter Wien als Kohlweis in dem Kinderfilm „Käuzchenkuhle“ 1969 c/o DEFA-Stiftung

In dem DEFA-Kinderfilm „Käuzchenkuhle“ stand er 1969 seinem großen Vorbild Martin Flörchinger als Widersacher gegenüber. „Ich spielte einen ehemaligen SS-Mann, der kurz vor Ende des 2. Weltkrieges den Fischer eines mecklenburgischen Dorfes gezwungen hatte, ein Fass mit Raubkunst in der Käuzchenkuhle zu versenken. Er hatte sich in den Westen gerettet und kam nun in die DDR, um seine Beute zu holen.“ Durch Flörchinger hatte der Film für Wien eine besondere Bedeutung.  Dass er sein großes Vorbild schlagen musste, kostete ihn nur kurz Überwindung. „Wir waren ja beide Profis, und es gehörte zur Rolle.“ 1976 ging der mittlerweile 67-jährige Flörchinger zurück in seine Heimat nach Bayern. Er starb 2004.

Dieter Wien hat sich sein schauspielerisches Können dann als Autodidakt erarbeitet Ein erstes Engagement erhielt er im August 1952 am Theater der jungen Garde in Halle. Danach folgten Zeitz, Gera, Plauen und Erfurt. Von 1964 bis 2001 war er festes Ensembles-Mitglied am Maxim-Gorki-Theater Berlin, ab 2003 einer der Hauptdarsteller des Tournee-Theaters Theater des Ostens unter der Intendantin Vera Oelschlegel. „2012 habe ich den Vorhang für immer fallen lassen“, erzählt er. „Ich habe an meine beiden Söhne übergeben Matti und Fabian übergeben.“ Seine Kreativität lebt er in seinem Garten aus. „Dass er oft allein zu Hause ist, weil seine Frau Madeleine Lierck-Wien in Lüneburg seit vielen Jahren in der Serie „Rote Rosen“ spielt, stört ihn nicht. „Ich bin glücklich, dass sie es ist.“

 

Ehrung für Rolf Hoppe

Weißig. Auszeichnungen sind Rolf Hoppe nicht wichtig. Aber wenn sie denn kommen, steht doch ein Leuchten in seinen Augen. Ein ganz besonderer Moment war für den großartigen und beliebten Schauspieler seine Ernennung zum ordentlichen Ehrenmitglied der Europäischen Kulturwerkstatt Berlin-Wien, der internationalen Gesellschaft zur Förderung von Musik, Theater und Kunst, am 16. September.

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Schauspieler und Prinzipal Rolf Hoppe im Foyer seines Hoftheaters

Bewegt stand er auf der Bühne seines kleinen Hoftheaters in Dresden-Weißig und nahm die Urkunde aus den Händen des EKW-Präsidenten, Kammersänger Heiko Reissig, entgegen. „Getreu seinem Motto: Das Gute im Bösen sichtbar machen und das Böse im Guten, ist Rolf Hoppe ein unverrückbarer Garant für höchste Darstellungskunst im wahrsten Sinne des Wortes, ein Garant für packende Unterhaltung, für sprachliche Nuancen und Raffinessen, für ironisch feinen Witz oder derben Humor“, heißt es in der Laudatio. Ja, für all das liebt und verehrt ihn sein zahlreiches wie treues Publikum. Rolf Hoppe ist in seinem langen und ausgefüllten Künstlerleben zu einem wahrhaftigen Volksschauspieler avanciert. Die Reaktion des Geehrten ist typisch für ihn, den Harzer Jungen, einem Kriegskind, das den Wunsch hatte, den Leuten Freude zu bringen und bis jetzt danach lebt. „Dass Menschen an einen denken, denen man mit seiner Arbeit Freude gebracht hat, ist das eine. Aber dass meine Arbeit so hoch geschätzt wird, macht mich alten Mann glücklich. Man wird ja schnell vergessen, wenn man nicht mehr so dabei ist. Ich habe immer für die Menschen gespielt und möchte immer noch in ihre ernsten Gesichter ein Lächeln zaubern. Darum habe ich mir die Kindheit in die Tasche gestopft und hole sie heraus, wann immer mir danach ist“, sagt er. Und lacht.

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September 2016. Kammersänger Heiko Reissig, ehrenamtlicher Präsident der Europäischen Kulturwerkstatt Berlin-Wien, überreicht Rolf Hoppe (neben ihm Tochter Josephine) die Urkunde für die Ehrenmitgliedschaft. Foto: EKW-Archiv

Für den 85-Jährigen gibt es immer noch etwas zu tun. Nicht nur in seinem Garten, den er hegt und pflegt und sich daran erfreut. Manchmal steht der Prinzipal auf der Bühne seines Hoftheaters, hin und wieder ruft der Film. Vor ein paar Tagen stand für er den neuen „Spreewaldkrimi: Die Rückkehr des Schlangenkönigs“ vor der Kamera. Tochter Christine, eine der wichtigsten Schauspielerinnen Dresdens, hat ihn begleitet. „Wir haben in einem Hotel in Burg gedreht. Es ist die Fortsetzung der ,tödlichen Legende‘, in der ich wieder den verwirrten alten Mann spiele. Es war nur ein Tag, aber ich merke inzwischen die Anstrengungen“, erzählt Rolf Hoppe. Nach über 60 Jahren eines prallen Arbeitslebens, das ihn auch in hohem Alter noch in die weite Welt geführt hat – bis nach Australien – braucht sein Akku mehr Zeit zum Aufladen. „Ich schlafe viel. Doch Kopf und Körper müssen immer noch etwas zu tun haben, sonst ist bald Schluss“, sagt er und hat sein schelmisches Lächeln im Gesicht – wie immer, wenn wir mit einander reden.

 

Zum Tod von Hilmar Thate: Zurück ins Universum

Die einen sehen ihn als aufmüpfigen LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ (DDR-TV-Serie 1976), die anderen behalten ihn als „König von St. Pauli“ (ARD-TV-Serie 1997), den menschelnden Besitzer des Striptease-Lokals „Blaue Banane“ auf St. Pauli, in Erinnerung. Zwei Rollen, die Hilmar Thate populär gemacht haben – auf konträre Weise in konträren Gesellschaften. In diesen hinterließ er ebenso nachhaltige Spuren auf dem Theater: in Berlin – Ost und West –, München, Hamburg, Bochum, Wien, Basel… Wenn er auf der Bühne stand, war es wie ein Sog, mit dem er die Zuschauer schier atemlos hielt. Herausragend sein Spiel als „Richard III.“ 1972 am Deutschen Theater oder als Mephisto 1990 in der „Faust“-Inszenierung des Schillertheaters.

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Mit Hilmar Thate 2006. Foto: York Maecke

Für mich war Hilmar Thate mehr als nur der brillante Schauspieler. Er war seit 2006, als wir uns für ein Interview trafen und sofort einen Draht zueinander fanden, ein Freund und ein wundervoller Gesprächspartner. Neben dem Ernst der Sache, wenn wir diskutierten über die Belange des Lebens, Politik und was uns bewegte, beim Blick auf die Welt, haben wir viel gelacht. Schon am Mittwoch, es war der 14. September, hat Hilmar Thate dieses Leben verlassen. Er war 85 Jahre alt geworden. Zurück bleiben seine Frau Angelica Domröse sowie seine Söhne Hanno und Sebastian.

8. Preisverleihung der DEFA Stiftung
Vor dem Kino Babylon mit seiner Frau Angelica 2009 Foto: André Kowalski

Er hat dieses Leben verlassen – es so zu formulieren, ist legitim. „Unsere Existenz ist ein Kreislauf. Wir haben als kleine Elementarteilchen schon beim sogenannten Urknall existiert. Ich kann mich nicht mit der Erde zufrieden geben“, philosophierte er einmal, als er gerade Stephen Hawkins Buch „Der große Wurf. Die neue Erklärung des Universums“ las.

Ich habe ihn mal gefragt, ob der Tod ihm Angst mache, und er antworte mit Schiller: „Der Körper ist der Attentäter des Geistes.  – Und das ist er in der Tat. Es gibt im Tod eine Trennung von Geist und Körper. Der Körper ist hinfällig, wird der Natur überlassen. Der Geist ist nichts Greifbares. Er ist Energie. Energie geht nicht verloren, sie hebt sich auf, verändert sich. Ich habe in diesem Sinn keine Angst.“

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Faksimile aus Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“, Lübbe 2006

Es war mir unvorstellbar, dass etwas seinen regen Geist, der so tiefgründige Gedanken hervorbrachte, auslöschen könnte. Es ging ihm schon eine Weile nicht gut, wie ich von Angelica Domröse bei meinen sporadischen Anrufen erfuhr. Als wir Ende Juli telefonierten, erzählte sie: „Er geht nicht mehr ans Telefon, aber ich frage ihn, ob er dich sprechen möchte.“ Er wollte nicht. Und wir hatten oft und lange miteinander telefoniert. „Die Krankheit schlich sich langsam ein, über drei, vier Jahre“, sagte sie.

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Mit Manfred Krug 1976 in „Daniel Druskat“, Repro aus „Neulich, als ich noch Kind war“

Und so lange ist auch mein letztes Interview mit ihm her. Damals fragte ich ihn, was ihn in seinem Alter – er war gerade 80 geworden – noch vorwärts treibe. „Das Denken“, antwortete er. „Wenn das vorbei ist, bin ich tot. Im Spiel des Lebens haben wir nicht die Hauptrolle und schon gar nicht für ewig. Aber so lange ich existiere und atmen kann, neugierig bin, habe ich diese heilige Unruhe in mir, weiterzudenken, weiterzudrängen, in Frage zu stellen oder zu verändern. Ich liebe Veränderungen.“

Zeit seines Lebens suchte er nach dem Sinn seines Daseins. „Ich weiß nicht, warum ich hier bin, ich weiß nur, dass es anfängt und wieder aufhört irgendwann. Dazwischen passieren lustige Erlebnisse, schöne Dinge, reizvolle Zustände. Es gibt Spaß und Schmerz. Das, was man Leben nennt.“ Er wollte nie lebend ein Elend ertragen und musste doch machtlos hinnehmen, dass ihn sein Körper verriet. Dass das Denken aufhörte. Angelica Domröse, mit der er 40 Jahre die Höhen und Tiefen ihres gemeinsamen Lebens durchmaß, beschützte ihn, schirmte ihn ab. Sie brachte soviel Kraft auf, wie sie nur konnte, für ein würdiges Dasein in den letzten Monaten.

img_3690Beide hatten 1980 die DDR verlassen. Nicht freiwillig. Nach der Unterzeichnung der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 gerieten sie in Konflikte mit dem Staat. Man drängte sie, die Unterschrift zurückzunehmen. Sie taten es nicht. „Wir wurden unserer Existenzgrundlage beraubt, ich bekam keine Rollen mehr. Aber ich bereue meine Unterschrift im Nachhinein nicht eine Sekunde“, stand Hilmar Thate zu der Entscheidung. Es war nicht wegen Biermann, sondern ihr Protest gegen die ideologische Gängelung der Kunst. Hilmar wurde erlaubt, in Basel zu spielen. 1978 am Theatre Nanterrre. Nach der Rückkehr wurde es immer schwieriger für beide Spitzenschauspieler. Ein Angebot vom Schiller-Theater ließ den Gedanken ans Weggehen aufkeimen.

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Als George mit Ehefrau Angelica Domröse in der Titelrolle „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Foto: Anneliese Heuer (Repro)

Eine Zerreißsituation, in der sie Rat bei einem guten Freund, dem Schriftsteller Stefan Heym, suchten. „Tut es, ihr gehört auf die Bühne, das ist hier nicht möglich“, riet er ihnen. Hilmar Thate schrieb einen Brief an des Politbüro der SED. „Auf jeden Satz kam es da an. Als ich ihn zur Poststelle des ZK am Hausvogteiplatz brachte, plagte mich eine Beklemmung“, erinnerte er sich, als wir über diese Zeit und ihren Ausreise sprachen. Aber das Angebot, in der DDR wohnen bleiben und dauerhaft im Westen arbeiten, lehnte Hilmar Thate aus moralischen Gründen ab. „Ich komme vom Dorf, mein Vater war Schlosser, ich wollte kein Privilegierter sein.“
1980 siedelten sie nach Westberlin über. „Es gibt keine  Rückkehr für euch“, gab ihnen DDR-ChefideologeKurt Hager persönlich mit auf den Weg. „Die Riege der alten Männer an der Spitze der DDR hat mit ihrer kleinbürgerlichen Beschränktheit das Land ruiniert“, war Hilmar Thate überzeugt.

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Der zehnjährige Hilmar

Ein neuer Anfang in einer Welt des Kapitalismus, die eigentlich nicht ihre war. Das Eingewöhnen war schwer, die Arbeit half. Beide hatten Glück. Hilmar Thate wurde am Schillertheater engagiert, brillierte gleich in Peter Zadeks Inszenierung „Jeder stirbt für sich allein“ und zusammen mit Angelica im Schlosspark-Theater als George in Edward Albees († 16.9.2016) Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Sie bauten sich ein neues Leben auf.

Thate hatte über 30 DEFA- und Fernsehfilme in der DDR gedreht, parallel zu seiner Theaterarbeit. 1954 holte Wolfgang Staudte den  Schauspieldebütanten vom Cottbuser Theater vor die Kamera für seinen Film „Einmal ist keinmal“. 1958 gelang dem Jungschauspieler, von Helene Weigel ans Berliner Ensemble engagiert zu werden, das er bis 1970 mitgeprägt hat. „Wir traten wie Weltklasseleute auf – und vielleicht waren wir es auch dann und wann“, resümierte er die Zeit und das Theater. Für seine Darstellung des Daniel Druskat bekam er den Nationalpreis der DDR und hat ihn nicht zurückgegeben nach der Wende. Die das taten, waren für ihn Opportunisten. Er hat seine kritische Sicht auf die Gesellschaft auch im Westen behalten und dies auch in seinen Rollen spüren lassen. Er arbeitete unter der Regie von Peter Zadek, Ingmar Bergman und George Tabori, stand für Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Dieter Wedel vor der Kamera. Hilmar Thate war ein leidenschaftlicher Schauspieler, kraftvoll, hochsensibel. „Immer wieder stehe ich vor jeder neuen Rolle wie der Ochs vorm neuen Tor“, beschrieb er seine Arbeit. Er selbst zählte zu seinen schönsten Arbeiten die Rolle des Sportreporters Robert Krohn in Rainer Werner Fassbinders Film „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ an der Seite von Rosel Zech, mit der ihn bis zu ihrem Tod 2011 eine enge Freundschaft verband.

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Als Herodot 1949 am Theater Cottbus

Für den Film „Hitlerkantate“ stand Hilmar Thate 2004 das letzte Mal vor der Kamera. Er mochte nicht mehr spielen, was ihm angeboten wurde. Seine unablässige Lust, vor Publikum zu spielen, erfüllte er sich mit Soloauftritten, in denen er Lieder und Texte von Brecht und Weill vortrug oder mit Lesungen aus seiner 2006 erschienenen Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“. Der Dorfjunge, der immer wissen wollte, wie die Welt weitergeht hinter dem Ende von Dölau, hat seine Sehnsucht stillen können. Ob er den Sinn seines Daseins gefunden hat? Jetzt am Ende, wo es aufgehört hat? Als „Sternenasche“, wie er es formulierte, kehrt er zurück in den Kreislauf des Universums.

Mehr über den Schauspieler in dem Beitrag Hilmar Thate – Ein Guerillero auf der Suche 

Von Brecht bis C. U. Wiesner – zum Tod von Stefan Lisewski

Es macht traurig. Schauspieler Stefan Lisewski ist tot. Er starb am 26. Februar im Alter von 82 Jahren. Unerwartet für alle. Ich habe ihn weniger auf der Bühne des Berliner Ensembles erlebt, wo er in nahezu allen Brecht-Stücken Hauptrollen spielte, als vielmehr in zahlreichen DEFA- und Fernsehfilmen. Rothaarig, sportliche 1,90 Meter hochgewachsen und mit einer einprägsamen, ausdrucksstarken Stimme, war er ein besonderer Typ. Überzeugend in seinen künstlerischen Darstellungen und von Kollegen, insbesondere Filmpartnerinnen, zudem wegen seiner humorvollen Art, seiner Jungenhaftigkeit besonders gemocht. „Mit ihm zu drehen war stets ein Vergnügen“, erinnerte sich Annekathrin Bürger in einem unserer vielen Interviews. In den Erinnerungen an ihren ersten Film „Verwirrung der Liebe“ (1959) verriet mir Angelica Domröse, dass ihr Stefan Lisewski imponiert habe. „Er hat am BE gespielt!“

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Stefan Lisewski 2009 beim Filmtreff in Quedlinburg c/o Hans-Jürgen Furcht

Da, wo sie hin wollte, gehörte Lisewski von 1957 an zu den wichtigsten Schauspielern. Mit der Übernahme der Intendanz des BE durch Claus Peymann 1999 schied er – inzwischen 65 Jahre – aus dem Ensemble aus. Doch er blieb dem Theater bis zu seinem Tod verbunden. Mehr als 500 Mal hat er als Mackie Messer in der „Dreigroschenoper“ das Publikum im Theater am Schiffbauerdamm und bei Auslandsgastspielen wie in Griechenland und Italien begeistert. Man sah den Charakterdarsteller in „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Die Gewehre der Frau Carrar“, in „Das Leben des Galiliei“, „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ oder im „ Kaukasischen Kreidekreis“. Noch am 21. Februar verkörperte er den Dogsborough in Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Weit mehr als 300 Mal stand er in dieser Rolle in der Inszenierung von Heiner Müller seit der Premiere 1995 auf der Bühne.

Ursprünglich war das Theater, die Schauspielerei nicht Lisewskis Lebensziel. Geboren am 6. Juli 1933 im polnischen Tczew (Dirschau), war er, elfjährig, mit seiner Familie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wie viele deutsche Umsiedler aus Pommern in Schwerin gelandet. Als Statist am Theater frönte er schon als Schüler seiner Leidenschaft fürs Schauspielen. Als ernsthaften Beruf für sich sah er das aber nicht. Er wollte Hütteningenieur werden und bewarb sich nach dem Abitur an der Bergakademie Freiberg. Doch die Lust zum Spielen war stärker, und so sprach er an der Berliner Schauspielschule vor – und wurde abgelehnt. Er ging als Praktikant ins Schwermaschinen-Kombinat Magdeburg und arbeitete dort am Schmelzofen.

Die Bühne lockte den damals 20-Jährigen jedoch sehr. Immer wieder übernahm er am Theater der Stadt Komparsenrollen und startete 1955 einen neuen Versuch an der Berliner Schauspielschule. Es klappte. Sein zweieinhalbjähriges Studium schloss er 1957 während der Dreharbeiten zu seinem ersten Film, „Das Lied der Matrosen“, ab und erlangte anschließend ein Engagement am Berliner Brecht-Ensemble. Er hat noch mit Helene Weigel und Ernst Busch zusammen gearbeitet und war sehr dankbar für die großartige Zeit, die ihn über die Grenze der DDR hinaus in die ganze Welt geführt hat, wie er in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag sagte.

Ich weiß nicht mehr, in welchem Film ich Stefan Lisewski zum ersten Mal gesehen habe. Es könnte „Das Lied der Matrosen“, der Musikfilm „Eine Hand voll Noten“ oder „Maibowle“ gewesen sein. Mittags, in einer der Halbzwei-Uhr-Testsendungen des DDR-Fernsehens in den 60er Jahren. Vielleicht war es auch „Die Jagd nach dem Stiefel“, ein Kinderfilm von Konrad Petzold, oder „Chronik eines Mordes“.

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Jedenfalls hat er sich mir eingeprägt. Sein Gesicht, seine Stimme, die ich sofort im Ohr habe, wenn ich den Namen höre oder lese. Auch Szenen, wie die mit Hildegard Alex beim Versuch zusammen in eine Badewanne zu steigen. Was praktisch ein Ding der Unmöglichkeit war, denn der Einsneunzig-Mann passte ja allein schon kaum hinein. „Wir hatten viel Spaß beim Probieren, wie das gehen soll“, erzählte mir Hilde Alex, als ich ihr meine Erinnerung einmal schilderte. Ich glaube, die Fernseh-Reihe hieß „Rund um die Uhr“. Das Komödiantische war die andere Seite des Charakterdarstellers, die populäre, die ihn beim Publikum so beliebt machte.

In den 70er und 80er Jahren hat der Schauspieler das Filmen zugunsten des Theaters zurückgefahren und sich mehr oder weniger auf Rollen in Kinderfilmen beschränkt. Diese Arbeit machte dem zweifachen Vater und Großvater sehr viel Freude. Regisseur Günter Meyer fand in dem Hünen die ideale Besetzung für den Riesen Otto in seiner Fernsehserie „Spuk unterm Riesenrad“, Drehbuch „Eulenspiegel“-Autor C. U. Wiesner.

Spuk unterm Riesenrad
Die Autorin mit Stefan Lisewski (M) im August 2013 im Treptower Park sowie mit Regisseur Günter Meyer (r.) und den Filmkindern Katrin Raukopf (2.v.r.) und Henning Lehmbäcker. c/o Boris Trenkel

Ihr verdanke ich, dass ich Stefan Lisewski im August 2013 persönlich kennenlernen durfte. Natürlich im Treptower Park unterm Riesenrad. Sein voller roter Haarschopf war ergraut, und es ging dem Schauspieler auch nicht gut. Er kämpfte mit Atemnot, aber seinen Humor hatte er nicht verloren. An den Film hatte er glänzende Erinnerungen. „Der ist losgegangen wie eine Rakete. Und geht es noch. Als ich jetzt längere Zeit im Krankenhaus war, haben mich die Schwestern kurz vor der OP gefragt: „Sind Sie nicht der Riese?“ – Erwachsene Leute, die damals Kinder waren. Es war ja auch eine tolle Geschichte dadurch, dass die uralten Märchenfiguren mit dem prallen Leben der DDR konfrontiert wurden. Daraus ergab sich wundervoll Satirisches. Wenn man älter wird und mal Revue passieren lässt, was man so gemacht hat, gehört das mit zu den schönsten Arbeits- und Urlaubserlebnissen, die ich hatte. Wir haben im Harz gedreht, auf der Burg Falkenstein. Wir haben an der Rappbodetalsperre gewohnt. Das war toll. Und wenn wir nachts gedreht haben, sind wir früh zu einem Bauern gefahren und haben warme Milch getrunken.“

Es war so einiges passiert bei den Dreharbeiten, das ihm im Nachhinein ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte. „Auf dem Hexentanzplatz sollte ich auf ein fahrendes Auto springen. Das hat meinen sportlichen Ehrgeiz angestachelt. Aber es real zu versuchen, wäre dann doch zu gefährlich gewesen. Deshalb wurde es am Schneidetisch geschickt zusammenmontiert.“ Für die Anfangsszenen, in denen der Riese groß ist, hatte Stefan Lisewski bei einem Artisten Stelzen laufen gelernt. „Günter Meyer fand mich mit meinen 1,88 noch zu klein als Riese. Ich musste auf einen Stuhl steigen, damit er sehen konnte, wie das mit Stelzen sein würde.“

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Die Geister in der Spree. Szene aus der Serie „Spuk unterm Riesenrad“

Dass er bei der Flucht der Geister mit Boot auf der Spree einen Moment Todesangst hatte, ist auch so eine Geschichte. In der Hektik, die Szene noch vor Sonnenuntergang „in den Kasten“ zu kriegen, hatte niemand an die Eisengewichte in dem Ruderboot gedacht, die als Lastenausgleich für die Schauspieler, insbesondere den schweren Stefan Lisewski, in den Bug gelegt worden waren. Als das im Film nicht zu sehende Motorboot den Geisterkahn am Schlepptau in Bewegung setzte, neigte sich plötzlich der Bug des Ruderboots gen Wasser, immer tiefer, bis es schließlich versank – und mit ihm die Geister. „Ich hatte einen schweren Schafspelz an, der sich voll Wasser sog. Katja Paryla, die Hexe, und Siegfried Seibt, Rumpi, konnten ja schwimmen in ihren Sachen, ich nicht. Da war mir schon komisch, bis ich merkte, ich habe Boden unter den Füßen. Wir standen auf einer Sandbank mitten in der Spree.“ Mit seinem trockenen Witz würzte er als Hausmeister den „Spuk im Hochhaus“ und wirkte als Graf Bärenfels auch in der Serie „Spuk von draußen“ mit.

Für das Berliner Ensemble werden die Inszenierungen mit Stefan Lisewski wichtige Abschnitte in der Geschichte des Theaters sein. In seinen großen wie kleinen Filmrollen wird er lebendig bleiben, sich den vielleicht auch nachfolgenden Generationen einprägen.

 

Rolf Hoppe – Der Mann mit den vielen Gesichtern

Er ist einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler und für mich ein ganz besonderer Mensch. In wenigen Tagen, genauer, am 6. Dezember, feiert Rolf Hoppe seinen 85. Geburtstag. Die Geschichten über sein Leben hat er in zwei Büchern erzählt – und einiges davon mir, seit wir uns  1997 für ein Porträt kennengelernt haben. Seitdem telefonieren wir so zwei-, dreimal im Jahr oder auch öfter. Es sind stets vergnügliche Plaudereien, bei denen hin und wieder eine Verabredung herauskommt. Wie im Mai, weil man sich gern wieder sieht.

Mein Hausbesuch bei diesem Mimen – bei ihm ist diese Formulierung nicht zu hoch gegriffen – führte zu einer ganz besonderen Titelgeschichte in der SUPERillu (Heft 23/15). Denn zum ersten Mal war seine Frau Friederike dabei. Zur großen Freude ihres Mannes. Nachdem sie sich aber zunächst wie immer konsequent geweigert hatte, „in einem Artikel zu erscheinen“. Sie habe da nichts verloren. Punkt. Wohl aber doch, so sieht das Rolf Hoppe. Doch dazu später noch mehr.

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Rolf Hoppe war 62, als er sich seinen Traum von einem kanadischen Blockhaus erfüllte© Bärbel Beuchler

Kurz nach meinem Besuch in seinem Domizil in Weißig war Rolf Hoppe mit dem Deutschen Schauspielerpreis geehrt worden. Nicht für eine Rolle, sondern für sein Lebenswerk, für  60 Jahre darstellerisches Schaffen. Weit über 400 Rollen prägte er auf der Bühne, vor der Kamera oder in Hörspielen, jede eine Zäsur.

Schauspieler Rolf Hoppe
Das Porträt von Rolf Hoppe fotografierte York Maecke

Der Deutsche Schauspielerpreis wurde 2012 ins Leben gerufen. Eine Anerkennung von Schauspielern für Schauspieler. Im letzten Jahr wurde Senta Berger mit diesem Preis geehrt, die beiden Jahre zuvor Götz George und Katharina Thalbach. Rolf Hoppe empfindet es als große Ehre, ihn bekommen zu haben. „Du kennst mich ja. Ich bin in solchen Sachen ein Fluchttier, wie meine Frau. Aber da bin ich hingegangen, weil ich mich sehr gefreut habe über diese Anerkennung. Dass Menschen an einen denken, denen man mit seiner Arbeit Freude gebracht hat, ist das eine. Aber dass es Kollegen sind, die meine Arbeit würdigen, macht mich froh. Man wird ja schnell vergessen, wenn man alt und nicht mehr so präsent ist.“ Eine bittere Wahrheit für viele andere, nicht für den Mimen mit dem weißen Bart, der so gern lacht und Späße beim Gespräch macht. Der sich vor fast 70 Jahren die Kindheit  in die Tasche gesteckt hat.

Schauspieler Rolf Hoppe
Interview mit dem Schauspieler in seinem Refugium. Hier bewahrt er Erinnerungen an seine Kindheit als Bäckerlehrling in seinem Heimatort Ellrich und seine Filmrollen auf  ©Yoerk Maecke

Nicht mehr präsent! Davon kann bei ihm  wirklich nicht die Rede sein. Erst im Sommer stand er für den Kinofilm „Die Blumen von gestern“ vor der Kamera. Hoppe spielt einen Historiker, dessen Spezialgebiet der Holocaust ist. Im letzten Jahr hat er in Irland für den ZDF-Zweiteiler „Pfeiler der Macht“  gedreht und davor den Fernsehfilm „Ohne dich“. Es sind inzwischen die Rollen der Alten, Weisen, Intellektuellen, Juden, Familienoberhäupter mit geheimnisvollen Punkten im Leben, die den fast 85-Jährigen noch ein-, zweimal im Jahr vor die Kamera locken. „Es ist alles nicht mehr so ideal. Das ganze Drumherum bis ich vor der Kamera stehe ist anstrengender geworden“, sagt er. „Aber es ist schön, dass man mich Alten noch will.“ Inzwischen begleitet Enkel Oscar seinen Großvater bei den Produktionen. „Dann bin ich nicht so allein und habe jemanden, der weiß, wann ich wo sein muss.“

Frau Hoppe schaut zu, wie York Maecke ihren Mann fotografiert
Frau Hoppe schaut zu, wie York Maecke ihren Mann fotografiert

Schauspieler mit der Gabe eines Rolf Hoppe sind selten. Regisseur István Szabó, in dessen Film „Mephisto“ er als Nazi-General Göring 1981 international berühmt wurde – trotzdem mag er die Rolle nicht besonders – sagte über ihn: „Er ist der Mann fürs Ambivalente. Hoppe kann mächtig und zugleich zerbrechlich wirken. Das Böse verbirgt sich bei ihm hinter verführerischer Leutseligkeit, scheinbar Gutem. Das Heuchlerische und Intrigante, das Doppelbödige hinter Liebenswürdigkeit, scheinbarer Ehrlichkeit.“

Zärtlich drückt Rolf Hoppe seien Frau an sich. Seit 55 Jahren sind sie zusammen
Zärtlich drückt Rolf Hoppe seine Friederike an sich. Seit 55 Jahren sind sie zusammen © York Maecke

Hoppe hat einen klaren Anspruch an den Beruf. Für ihn bedeutet Schauspieler zu sein, Geschichten erzählen, Menschen in ihrem Widerspruch zeigen. „Wenn einer dumm wirkt, muss er einen hellen Geist haben. Wenn einer dick ist, muss er agil sein“. Populärstes Paradebeispiel ist der Indianerhasser Bashan im DEFA-Film „Spur des Falken“, in dem der schwergewichtige Hoppe mit seiner Wendigkeit beim Reiten selbst Gojko Mitic verblüffte. Die hohe Kunst des Schauspielers zeigte sich in seiner Rolle als Präfekt in „Mario und der Zauberer“ unter der Regie von Klaus Maria Brandauer. Dessen Worte: „Dieser  Hoppe ist genial. Er beherrscht die Szene ohne etwas zu sagen. Nur mit seinen Blicken, seinen Gesten.“  Seine Körpersprache, seine Mimik und vor allem seine Stimme mit den unendlich vielen Modulationen sind Hoppes Kapital, in dem das Geheimnis seines Erfolgs liegt.

Rolf Hoppe will mit seinem Spiel aufklären, nicht dogmatisch, sondern auf eine unterhaltende Weise, die zugleich den Ernst erkennen lässt. Er macht das auf so wunderbare Weise, dass selbst die Kinder es verstehen. Für sie hat er besonders gern gedreht. Zu seinen liebsten Rollen gehören für ihn der verschlagene und der gute König in dem Kinderfilm „Lorenz im Land der Lügner“ und der wundersame Schneider „Meister Röckle“.

Die Skulptur ist das Geschenk eines Bildhauers
Die Skulptur ist das Geschenk eines Bildhauers. Irgendwie hat sie Ähnlichkeit mit Hoppe © Bärbel Beuchler

Der Dresdner Filmkritiker Karl Knietzsch fand in einem Gespräch mit Hoppe für die DDR-Kinozeitschrift „Filmspiegel“ ein treffsicheres Bild. „Rolf, wenn du’n Pferd geworden wärst (Hoppe mag Pferde), dann außen ‘n Kaltblüter, aber innen todsicher ‘n Vollblut!“ Diese besondere Fähigkeit ist es, die diesen leisen, fast schüchtern wirkenden Mann so besonders und für Regisseure immer wieder anziehend macht. „Ich suche in einer Figur das, was sie menschlich macht. Frage, wovon versteht sie was, wovor hat sie Angst. Egal, wie groß oder klein eine Rolle ist. Bei den kleinen ist am schwersten, macht aber am meisten Spaß“, erzählt er mir. Das ist sein Credo.

Hoppe ist ein Weltstar, auch wenn er sich als solchen nicht empfindet. Er ist nicht der Typ, der nach vorn prescht ins Rampen- oder Scheinwerferlicht. Keiner, der immer das Sagen haben will. Mit solchen Leuten kommt er schwer zurecht. „Wenn ich merke, da hat einer das Bedürfnis an der Spitze zu sein, bin ich ganz still und lasse ihn. Henry Hübchen ist so einer – über den darf ich das sagen, der weiß es.“ Sie haben zusammen für die Krimi-Reihe „Commissario Laurenti“ in Triest gedreht. Hübchen in der Titelrolle, Hoppe spielte den alten Doktor Galvano. Eine Rolle, wie für ihn gemacht.  Und er genoss es, durch die Straßen der geschichtsträchtigen norditalienischen Hafenstadt an der Grenz zu Slowenien und Österreich zu spazieren.

Triest Italien
Im Juni 2007 besuchte ich Rolf Hoppe bei den Dreharbeiten für die ARD-Reihe „Commissario Laurenti in Triest © York Maecke

Rolf Hoppe, der am Nikolaustag 1930 im Harzstädtchen Ellrich das Licht erblickte, hat nie etwas anderes gewollt, als Schauspieler zu sein. Seit er als Kind ein Puppentheater geschenkt bekam und den Spaß am Spielen, Verwandeln entdeckte. Und – dass man den Menschen damit, wenn auch nur für kurze Zeit, ein Lachen geben kann. Der Krieg hatte es den Menschen genommen. Diesem Traum ist er nachgegangen. So intensiv, dass er 1950 im Märchenstück „Die Prinzessin und der Schweinehirt“ mit Fieber auftritt und nach mehreren Vorstellungen die Stimme verliert. „ Lähmung der Stimmlippen, weil ich mich überschrien hatte. Ich wusste nicht damit umzugehen. Das war die schlimmste Zeit, die ich erlebt habe.“

Die Bühne war passé, aber er gab nicht auf, arbeitete als Tierpfleger im Zirkus Aeros, und fand in Halle einen Professor für Logopädie. Er lernte wieder sprechen. Statt  Zigaretten zu rauchen, empfahl ihm Prof. Wizzak, es mit der Pfeife zu probieren, die schade der Stimme nicht. „Ich war baff“, sagt Hoppe. Die Pfeife wurde ihm zum unabkömmlichen Requisit.

Wie eine kleine Robbe sieht der schwarze Stein aus.  Von allen Drehorten brachte sich der Schauspieler Steine mit
Wie eine kleine Robbe sieht der schwarze Stein aus. Jeder Stein ist ein Mitbringsel von den Drehorten – Erinnerungen an den Kaukasus, China, Amerika, die Mongolei, Rumänien… er wollte und hat die Welt gesehen ©Bärbel Beuchler

1946 stand er zum ersten Mal auf einer Bühne, in der Titelrolle von  Friedrich Wolfs Stück „Prof. Mamlock“ im Laientheater in Ellrich. Es wurde für ihn ein Riesenerfolg. Sein erster. Von da an stand für ihn fest, dass er die Schauspielerei ernsthaft, als Beruf, betreiben will. Nach zwei Ablehnungen für eine Schauspielausbildung in Weimar und Halle studierte er 1949/50 an der Schauspielschule des Theaters Erfurt. Das ist ein ganz Besessener, der zerrupft sich für eine Rolle – hieß es unter den Studenten. Rolf Hoppe ist ein Perfektionist. Es muss stimmen, was er spielt. So ließ er sich nicht davon abbringen, in der Operette „Feuerwerk“ mit den zur Rolle gehörenden Clownslatschen 2,50 Meter über dem Boden auf einem Drahtseil zu balancieren. Er schaffte das bis zur Generalprobe. Da stürzte er ab und landete mit Prellungen und Platzwunden im Geraer Krankenhaus.

Das war 1960. Ein Aufenthalt mit Folgen. Die drei Jahre jüngere OP-Schwester Friederike fand Gefallen an ihm und er an ihr. Von da an wird sie ihn durchs Leben begleiten, seine Träume mittragen, in denen es auch zwei Kinder gibt. Mit großer Zärtlichkeit erzählt er von seinen Töchtern Josephine und Christine, die in seine Fußstapfen getreten sind. Christine hat die große Präsenz ihres Vaters, wenn sie am Dresdner Staatsschauspiel auf der Bühne steht. „Das Mädel spielt die ganz großen Rollen, mit großer Wirkung.“ In seiner Stimme schwingt unbändiger Stolz mit.

Der Denker hinterm Fenster
Der Denker hinterm Fenster © Bärbel Beuchler

Für Rolf Hoppe waren Träume nie Schäume. Was im Leben nicht ging – und das war wenig, denn sogar der Traum vom eigenen Hof-Theater erfüllte sich 2005 – erspielte er sich. Vor allem in seinen Filmrollen. Da ritt der Pferdenarr in den Indianerfilmen durch den Wilden Westen. Er war Gaukler, Artist, König, Lokführer. Doch das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn ihm seine Frau Friederike nicht den Alltag abgenommen hätte. Dafür hat sie ihren Beruf aufgegeben. „Wir sind seit 55 Jahren zusammen, nie konnte ich sie auch nur zu einem Foto für die Zeitung überreden, dabei gehört sie doch zu meinem Leben. Ohne sie wäre ich manchmal hilflos gewesen“, gesteht er. Es machte ihn traurig.

Frederike Hoppe hat Spaß beim Zugucken
Friederike Hoppe hat Spaß beim Zugucken © Bärbel Beuchler

Dann passierte das große Wunder. Während Fotograf York Maecke nach meinem Gespräch Aufnahmen von Hoppe machte, erzählte mir seine Frau Friederike von ihrem Leben an der Seite des Workaholics. Ja, das war Rolf Hoppe. Um so mehr genoss die Familie die Zeit mit ihm, die Ferien in Ungarn, als Szabó ihn für seinen Film gewinnen wollte. Seine Frau und die beiden Töchter Josephine und Christine begleiteten ihn nach Salzburg, wo er sieben Jahre den Mammon im „Jedermann“ spielte.

Die  kleine, resolute Frau ließ ihn seinen Beruf ausleben, der ihn glücklich macht. „Dass ich Rolf kennenlernte, war die Erfüllung einer unbestimmten Sehnsucht. Ich wollte einen Mann, der einen besonderen Beruf hatte. Aber ich wusste nicht, was für einen.“ Als Rolf wieder gesund war damals, ging sie zu ihm ins Theater und bat ihn, ihr zwei Karten zu besorgen. „Ich war hin und weg von seiner Eleganz und habe mich in ihn verliebt.“ Es war eine glückliche Fügung. Zum Abschied unseres Besuches fragte mich Rolf Hoppe noch: „Wie hast du das nur angestellt, dass sie dir so viel erzählt. Sie weiß doch, dass du Journalistin bist. Und dass sie sich auch noch fotografieren ließ! Ich bin so glücklich darüber.“

Das muss man nicht kommentieren.

PS: Wer Lust auf einen Besuch in Rolf Hoppes Hof-Theater hat, hier findet er Spielplan und Adresse.

http://www.hoftheater-dresden.com

TV Sendetermine:

′ OHNE DICH | Regie Alexandre Powelz
25.11.2015 | 20:15 Uhr |ARTE

ROLF HOPPE
Portrait zum 85. Geburtstag
06.12.2015 | 12:40 Uhr | MDR

DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL | Regie Václav Vorlíček
29.11.2015 | 12:00 Uhr | KiKa
06.12.2015 | 14:20 Uhr | WDR

MEPHISTO | Regie István Szabó
07.12.2015 | 23:40 Uhr | MDR