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Angelica Domröse: Mit Petticoat, engem Pulli und Pferdeschwanz zum Film

Seit dem Tod ihres Mannes Hilmar Thate vor zwei Jahren ist es still um Angelica Domröse geworden. Am 4. April feierte die Schauspielerin ihren 77. Geburtstag. Die „Berliner Pflanze“ gehört zu den auserwählten Größen des deutschsprachigen Films der letzten hundert Jahre, die einen Stern auf dem „Boulevard der Stars“ am Potsdamer Platz bekommen haben. Ihre Karriere begann vor 60 Jahren mit der DEFA-Liebeskomödie „Verwirrung der Liebe“.

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Im April 2011 wurde Angelica Domröse mit einem Stern auf dem Berliner „Bolulevard der Stars“ geehrt. Ihr Mann Hilmar Thate starb im September 2016. Quelle: SUPERillu ©Adolph Press/Welscher

Mancher mag für sie  für divenhaft, kapriziös halten, was Ausdruck ihres Anspruchs ist, den sie sich im Laufe ihres Lebens erarbeitet hat. Hartnäckig, unbeirrbar. „Ich bin in der Banalität groß geworden, aber ich hatte immer eine tiefe Abscheu dagegen.“ Sie wollte weg aus diesem Milieu. Studieren, Filme machen. Mit 14 Jahren schon hatte sie diese ganz feste Lebensvorstellung. Heute kann jeder sehen, dass sie sich ihre Träume erfüllt hat. Auf dem Berliner „Boulevard der Stars“ glänzt ein goldener Stern mit ihrem Namen, neben anderen Filmgrößen wie Marlene Dietrich, Hildegard Knef, Romy Schneider, Hanna Schygulla, Billy Wilder, Rainer Werner Fassbinder. Nicht zuletzt wegen solcher Filme wie dem DEFA-Kultstreifen „Die Legende von Paul und Paula“ oder „Die zweite Haut“ und „Hanna von acht bis acht“  sowie ihrer herausragenden Theaterleistungen. Sie spielte am Berliner Ensemble die Hure Betty in der „Dreigroschenoper“ und die Näherin Babette in Brechts Parabelstück Die Tage der Pariser Commune“. 1966 wurde Angelica Domröse in der DDR zur „Besten Schauspielerin des Jahres“ gewählt. Im selben Jahr wechselte die damals 25-Jährige zu Benno Besson an die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz und wurde als Cleopatra“ und Die schöne Helena“ gefeiert. In einer Inszenierung von George Tabori brillierte sie 1987 als „Stalin“ und 2001 mit ihrem Mann Hilmar Thate im Theater am Kurfürstendamm in „Josef und Maria“.

Sie war gerade mal 17 Jahre, als sie bei Slatan Dudow in ihrer ersten Filmrolle vor der Kamera stand und noch heute bezaubert sie als Siegi in der DEFA-Liebeskomödie „Verwirrung der Liebe“ mit einer Mischung aus unschuldiger Naivität und verführerischem Sexappeal. In einem Interview mit mir blickte Angelica Domröse noch einmal hinter die Kulissen von damals.

Angelica Domröse
 Schauspielerin Angelica Domröse im Spetember 2010 ©Jürgen Weyrich

Welche Erinnerungen haben Sie  noch an jenen Mai 1958?
Er war aufregend. Ich hatte in der „Berliner Zeitung“ eine Annonce entdeckt, mit der die DEFA für eine Hauptrolle in einem heiteren Spielfilm eine natürliche, fröhliche 16- bis 20-Jährige suchte, Größe ca. 1,60.  Für mich war klar: Die meinen mich!

Wie Sie dachten 1500 Mädchen…
Natürlich, solche Annoncen erschienen ja nicht jeden Tag. Das war etwas Besonderes. Am Tag der Vorstellungsgespräche saßen Hunderte Mädchen in der S-Bahn zum Griebnitzsee. Wie eine Schar Gänse sind wir den Weg zum DEFA-Studio geflattert.

Und wie hat diese Schar versucht, den Regisseur zu beeindrucken?
Wir haben alle unsere Vorzüge hervorgehoben (lacht). Hatten die Taille ganz eng geschnürt, Petticoats unterm Rock, enge Pullis, die langen Haare offen oder als Pferdeschwanz. Ja, und dann saßen wir da und warteten. Regisseur Slatan Dudow hat mit jedem Mädchen gesprochen.

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Regisseur Slatan Dudow mit Angelica Domröse und Stefan Lisewski bei den Dreharbeiten für die Hochzeitsszene in „Verwirrung der Liebe“ 1958 ©DEFA-Stiftung/Icestorm/E. Neufeld

Wie war Ihr erster Eindruck vom Studio?
Das war alles gigantisch für mich und neu. Respekteinflößend. Und es hat mich angezogen. Aber es ist alles mehr über den Bauch gegangen als über den Intellekt. Ich war ein Kinofreak, sah auch gern Theaterstücke. Aber es hatte mich eigentlich nie interessiert, wie das zustande kommt. Schmerzliche Erfahrung habe ich erst beim Drehen gemacht.

Was ist passiert?
Szenen, die wir oft geprobt haben, sind mir beim Drehen dann sehr schwer gefallen. Da gab es einen Tag, an dem ich anfing zu weinen. Mich hat plötzlich die Stille im Atelier gestört, als es hieß: Kamera läuft, Ton ab. Ich hörte mich selbst. Alles war auf mich fokussiert. Das hat mir Angst eingejagt. Dudow hat dann alle aus dem Atelier geschickt und mich ausheulen lassen. Es war für mich mit einem Mal ganz schwer, auf die Rolle zu kommen. Später habe ich das beim Theater öfter erlebt, dass ich nach der xten Vorstellung vollkommen neben der Rolle lag. Und das ist die Schwierigkeit in unserem Beruf: die Abrufbarkeit des Handwerklichen, die Genauigkeit beim Spiel und gleichzeitig muss es wie gerade geboren wirken.

Verwirrung der Liebe Filmspielgel

Für die Zeitungen waren Sie die Favoritin. „Junge Welt“ und „Filmspiegel“ schrieben über Sie. Warum hat sich Slatan Dudow für Sie entschieden?
Er hat es mir später mal gesagt.  Ich hatte die unschuldige Naivität und Natürlichkeit, die er sich für die Rolle der Siegi vorgestellt hatte. Es ist eben etwas anderes, wenn eine 17-Jährige vor der Kamera steht, die noch nie gedreht hat, als wenn es eine 25-jährige Schauspielerin ist. Und dass ich die Rolle bekam, verdanke ich auch Annekathrin Bürger. Sie spielte die Kunststudentin Sonja, deren Freund sie beim Fasching mit Siegi  verwechselt. Das ist ja der Ausgangpunkt der Geschichte. Und ich hatte die gleiche Statur wie sie.

Wurde Slatan Dudow nicht ungeduldig, wenn Sie beim Drehen nicht auf die Rolle kamen?
Nein, überhaupt nicht. Er hat auf mich geachtet wie auf ein rohes Ei. Ich habe ihm wirklich viel zu verdanken. Wenn er sich nicht bei der Filmhochschule für mich verwendet hätte, wer weiß, ob sie mich überhaupt genommen hätten.

Sie standen mit renommierten DDR-Schauspielern – außer Annekathrin Bürger waren das Ulrich Thein, Stefan Lisewski, Willi Schrade und Marianne Wünscher – vor der Kamera. Hatten Sie keine Hemmungen?
Meine Idole waren Weltstars aus  französischen und amerikanischen Filmen. Die Schauspieler, mit denen ich in dem Film spielte, kannte ich gar nicht. Ich sage das ohne Arroganz. Mich hat bis dahin künstlerisch niemand geleitet. Dudow war der Erste, dann  war es die Schauspielschule. Danach lernte ich am Berliner Ensemble und bei Benno Besson in seiner großen Zeit an der Berliner Volksbühne was Qualität und was Mist ist.

Wie reagierte Ihre Mutter darauf, dass Sie ausgewählt wurden?
Sie hat Sekt gekauft und mit mir und dem Produzenten angestoßen. Sie musste ja den Vertrag unterschreiben, da ich minderjährig war. Ich weiß noch, wie ihre Hand gezittert hat…

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Mit der Verwechselung der Produktionsarbeiterin Siegi auf dem Fasching der Kunsthochschule beginnt die „Verwirrung der Liebe“ ©DEFA-Stiftung/Icestorm/E. Neufeld

Warum wollten Sie eigentlich Schauspielerin werden?
Das Kino spielte in meiner Kindheit und Jugend eine enorme Rolle. Ich bin fast jeden Tag ins Kino gerannt, habe mir auch Filme zehnmal angesehen. Das war meine Lebensschule, so wie die Straße. Ich war eine Asphaltassel, bin in den Berliner Trümmern großgeworden. Als ich klein war, habe ich bei einem traurigen Filmende immer gedacht: Wenn du morgen ins Kino gehst, ist der Schluss besser. Und ich war ganz traurig, dass es wieder wie vorher ausging. Mit vierzehn, fünfzehn hatte ich dann schon eine feste Vorstellung von meinem Leben. Ich wollte raus aus dem Milieu, in dem ich lebte, studieren.  In den 50ern war das etwas Besonderes, Student zu sein.

Wie haben Sie denn gelebt?
Meine Mutter verkaufte Fahrkarten am S-Bahnhof Nordbahnhof, mein Stiefvater war Eisenbahner. Es war für mich nicht schön zu Hause. Ich wollte auf Leute mit anderen Interessen treffen. So kam es auch.

Sie waren Sachbearbeiterin beim Deutschen Innen- und Außenhandel. Und plötzlich standen Sie – gerade mal 17 – vor einer Filmkamera. Wie war das, als Sie für „Verwirrung der Liebe“ an der Ostsee die Nacktszene gedreht haben?
Ich hatte da keine Hemmungen. Die Kamera war weit weg. Damit hatte Dudow mir die Scheu genommen. Ihm schwebte bei der Szene, als ich aus dem Wasser steige,  Botticellis „Geburt der Venus“ vor.  Nun hatte ich damals keine Ahnung, wie die aussah noch wer Botticelli war.

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Angelica Dömrose und Willi Schrade als Liebespaar, dessen Herzen eigentlich anderen gehören ©DEFA-Stiftung/Icestorm/E. Neufeld

Wo wurde gedreht?
An einem FKK-Strand an der Ostsee. Wir waren angezogen, die Urlauber nackt. Das ging natürlich nicht. Wenn wir drehen wollen, hat der Produktionsassistent durchs Megaphon gerufen: Alles anziehen! Die Statisten, die meisten waren Urlauber,  stöhnten. Nach dem Dreh hieß es dann: Sie dürfen sich wieder ausziehen! Das war absurd. Wie surrealistische Malerei. Einige Szenen wurden im Studio gedreht, weil am Strand nicht das richtige Licht war. Dafür wurde tonnenweise Ostseesand ins Studio nach Babelsberg gebracht.

Nach diesem Film ging es für Sie Schlag auf Schlag weiter?
Ich bin in eine Zeit geraten, in der das Fernsehen explodiert ist. Mit Filmen wie „Papas neue Freundin“ und „Vielgeliebtes Sternchen“ entstand auch eine große Popularität.

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Filmszene mit Erwin Geschonneck 1966 in der DEFA-Komödie „Ein Lord am Alexanderplatz“ © DEFA-Stiftung/E. Schweda, H. Wenzel

Mit Erwin Geschonneck drehten Sie 1966 „Ein Lord am Alexanderplatz“.
Ich habe den Film wegen des Geldes gemacht. Am Theater, ich war damals am Berliner Enselmble, verdiente man nicht viel. Obwohl es die Weigel nicht gern sah – Film war für sie Afterkunst – wollte ich drehen. Das war mein Spielbein. Mein Standbein war das Theater. Immer. Mit Geschonneck zu spielen war ein großes Vergnügen. Ich hatte gehört, was für tolle Rollen er am BE gehabt hatte. Man bekommt  – auch wenn man so jung ist schon mit – wer Gewicht hat. Privat war er sehr lustig. Geschonneck hatte stets Stullenpakete mit, Kaffee in einer Thermosflasche  – und einen Klappstuhl. Darüber habe ich immer lachen müssen. Heute verstehe ich ihn. Eh‘ du fragst: Wo kann ich mich mal hinsetzen, sorgst du besser selbst für dich.

Sie wurden bejubelt und hoch geehrt. Was letztlich auch an Ihre Substanz ging.
Ja, kein Erfolg ohne Misserfog. Keine Lust ohne Schmerz. Ich weiß, dass mir der Beruf sehr viel gegeben hat. Durch ihn habe ich zur Literatur, zur Malerei, zur Architektur gefunden. Ich habe Menschen getroffen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Habe Länder gesehen, in die ich vielleicht nie gekommen wäre. Es ist ein ganz wunderbarer Beruf, und ich bin dem außergewöhnlichen Dudow dankbar, dass er mir das Tor dahin aufgemacht hat. Aber man muss auch mal loslassen können und mit der Biologie gehen. Mit über 70 ist doch klar, dass der größte Teil der Lebenszeit, in dem man gearbeitet und geliebt hat, mal oben, mal unten war, hinter einem liegt. Der Rest ist sehr kostbar. Ich nutze ihn nur noch für mich.

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Zum Tod von Hilmar Thate: Zurück ins Universum

Die einen sehen ihn als aufmüpfigen LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ (DDR-TV-Serie 1976), die anderen behalten ihn als „König von St. Pauli“ (ARD-TV-Serie 1997), den menschelnden Besitzer des Striptease-Lokals „Blaue Banane“ auf St. Pauli, in Erinnerung. Zwei Rollen, die Hilmar Thate populär gemacht haben – auf konträre Weise in konträren Gesellschaften. In diesen hinterließ er ebenso nachhaltige Spuren auf dem Theater: in Berlin – Ost und West –, München, Hamburg, Bochum, Wien, Basel… Wenn er auf der Bühne stand, war es wie ein Sog, mit dem er die Zuschauer schier atemlos hielt. Herausragend sein Spiel als „Richard III.“ 1972 am Deutschen Theater oder als Mephisto 1990 in der „Faust“-Inszenierung des Schillertheaters.

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Mit Hilmar Thate 2006. Foto: York Maecke

Für mich war Hilmar Thate mehr als nur der brillante Schauspieler. Er war seit 2006, als wir uns für ein Interview trafen und sofort einen Draht zueinander fanden, ein Freund und ein wundervoller Gesprächspartner. Neben dem Ernst der Sache, wenn wir diskutierten über die Belange des Lebens, Politik und was uns bewegte, beim Blick auf die Welt, haben wir viel gelacht. Schon am Mittwoch, es war der 14. September, hat Hilmar Thate dieses Leben verlassen. Er war 85 Jahre alt geworden. Zurück bleiben seine Frau Angelica Domröse sowie seine Söhne Hanno und Sebastian.

8. Preisverleihung der DEFA Stiftung
Vor dem Kino Babylon mit seiner Frau Angelica 2009 Foto: André Kowalski

Er hat dieses Leben verlassen – es so zu formulieren, ist legitim. „Unsere Existenz ist ein Kreislauf. Wir haben als kleine Elementarteilchen schon beim sogenannten Urknall existiert. Ich kann mich nicht mit der Erde zufrieden geben“, philosophierte er einmal, als er gerade Stephen Hawkins Buch „Der große Wurf. Die neue Erklärung des Universums“ las.

Ich habe ihn mal gefragt, ob der Tod ihm Angst mache, und er antworte mit Schiller: „Der Körper ist der Attentäter des Geistes.  – Und das ist er in der Tat. Es gibt im Tod eine Trennung von Geist und Körper. Der Körper ist hinfällig, wird der Natur überlassen. Der Geist ist nichts Greifbares. Er ist Energie. Energie geht nicht verloren, sie hebt sich auf, verändert sich. Ich habe in diesem Sinn keine Angst.“

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Faksimile aus Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“, Lübbe 2006

Es war mir unvorstellbar, dass etwas seinen regen Geist, der so tiefgründige Gedanken hervorbrachte, auslöschen könnte. Es ging ihm schon eine Weile nicht gut, wie ich von Angelica Domröse bei meinen sporadischen Anrufen erfuhr. Als wir Ende Juli telefonierten, erzählte sie: „Er geht nicht mehr ans Telefon, aber ich frage ihn, ob er dich sprechen möchte.“ Er wollte nicht. Und wir hatten oft und lange miteinander telefoniert. „Die Krankheit schlich sich langsam ein, über drei, vier Jahre“, sagte sie.

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Mit Manfred Krug 1976 in „Daniel Druskat“, Repro aus „Neulich, als ich noch Kind war“

Und so lange ist auch mein letztes Interview mit ihm her. Damals fragte ich ihn, was ihn in seinem Alter – er war gerade 80 geworden – noch vorwärts treibe. „Das Denken“, antwortete er. „Wenn das vorbei ist, bin ich tot. Im Spiel des Lebens haben wir nicht die Hauptrolle und schon gar nicht für ewig. Aber so lange ich existiere und atmen kann, neugierig bin, habe ich diese heilige Unruhe in mir, weiterzudenken, weiterzudrängen, in Frage zu stellen oder zu verändern. Ich liebe Veränderungen.“

Zeit seines Lebens suchte er nach dem Sinn seines Daseins. „Ich weiß nicht, warum ich hier bin, ich weiß nur, dass es anfängt und wieder aufhört irgendwann. Dazwischen passieren lustige Erlebnisse, schöne Dinge, reizvolle Zustände. Es gibt Spaß und Schmerz. Das, was man Leben nennt.“ Er wollte nie lebend ein Elend ertragen und musste doch machtlos hinnehmen, dass ihn sein Körper verriet. Dass das Denken aufhörte. Angelica Domröse, mit der er 40 Jahre die Höhen und Tiefen ihres gemeinsamen Lebens durchmaß, beschützte ihn, schirmte ihn ab. Sie brachte soviel Kraft auf, wie sie nur konnte, für ein würdiges Dasein in den letzten Monaten.

img_3690Beide hatten 1980 die DDR verlassen. Nicht freiwillig. Nach der Unterzeichnung der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 gerieten sie in Konflikte mit dem Staat. Man drängte sie, die Unterschrift zurückzunehmen. Sie taten es nicht. „Wir wurden unserer Existenzgrundlage beraubt, ich bekam keine Rollen mehr. Aber ich bereue meine Unterschrift im Nachhinein nicht eine Sekunde“, stand Hilmar Thate zu der Entscheidung. Es war nicht wegen Biermann, sondern ihr Protest gegen die ideologische Gängelung der Kunst. Hilmar wurde erlaubt, in Basel zu spielen. 1978 am Theatre Nanterrre. Nach der Rückkehr wurde es immer schwieriger für beide Spitzenschauspieler. Ein Angebot vom Schiller-Theater ließ den Gedanken ans Weggehen aufkeimen.

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Als George mit Ehefrau Angelica Domröse in der Titelrolle „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Foto: Anneliese Heuer (Repro)

Eine Zerreißsituation, in der sie Rat bei einem guten Freund, dem Schriftsteller Stefan Heym, suchten. „Tut es, ihr gehört auf die Bühne, das ist hier nicht möglich“, riet er ihnen. Hilmar Thate schrieb einen Brief an des Politbüro der SED. „Auf jeden Satz kam es da an. Als ich ihn zur Poststelle des ZK am Hausvogteiplatz brachte, plagte mich eine Beklemmung“, erinnerte er sich, als wir über diese Zeit und ihren Ausreise sprachen. Aber das Angebot, in der DDR wohnen bleiben und dauerhaft im Westen arbeiten, lehnte Hilmar Thate aus moralischen Gründen ab. „Ich komme vom Dorf, mein Vater war Schlosser, ich wollte kein Privilegierter sein.“
1980 siedelten sie nach Westberlin über. „Es gibt keine  Rückkehr für euch“, gab ihnen DDR-ChefideologeKurt Hager persönlich mit auf den Weg. „Die Riege der alten Männer an der Spitze der DDR hat mit ihrer kleinbürgerlichen Beschränktheit das Land ruiniert“, war Hilmar Thate überzeugt.

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Der zehnjährige Hilmar

Ein neuer Anfang in einer Welt des Kapitalismus, die eigentlich nicht ihre war. Das Eingewöhnen war schwer, die Arbeit half. Beide hatten Glück. Hilmar Thate wurde am Schillertheater engagiert, brillierte gleich in Peter Zadeks Inszenierung „Jeder stirbt für sich allein“ und zusammen mit Angelica im Schlosspark-Theater als George in Edward Albees († 16.9.2016) Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Sie bauten sich ein neues Leben auf.

Thate hatte über 30 DEFA- und Fernsehfilme in der DDR gedreht, parallel zu seiner Theaterarbeit. 1954 holte Wolfgang Staudte den  Schauspieldebütanten vom Cottbuser Theater vor die Kamera für seinen Film „Einmal ist keinmal“. 1958 gelang dem Jungschauspieler, von Helene Weigel ans Berliner Ensemble engagiert zu werden, das er bis 1970 mitgeprägt hat. „Wir traten wie Weltklasseleute auf – und vielleicht waren wir es auch dann und wann“, resümierte er die Zeit und das Theater. Für seine Darstellung des Daniel Druskat bekam er den Nationalpreis der DDR und hat ihn nicht zurückgegeben nach der Wende. Die das taten, waren für ihn Opportunisten. Er hat seine kritische Sicht auf die Gesellschaft auch im Westen behalten und dies auch in seinen Rollen spüren lassen. Er arbeitete unter der Regie von Peter Zadek, Ingmar Bergman und George Tabori, stand für Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Dieter Wedel vor der Kamera. Hilmar Thate war ein leidenschaftlicher Schauspieler, kraftvoll, hochsensibel. „Immer wieder stehe ich vor jeder neuen Rolle wie der Ochs vorm neuen Tor“, beschrieb er seine Arbeit. Er selbst zählte zu seinen schönsten Arbeiten die Rolle des Sportreporters Robert Krohn in Rainer Werner Fassbinders Film „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ an der Seite von Rosel Zech, mit der ihn bis zu ihrem Tod 2011 eine enge Freundschaft verband.

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Als Herodot 1949 am Theater Cottbus

Für den Film „Hitlerkantate“ stand Hilmar Thate 2004 das letzte Mal vor der Kamera. Er mochte nicht mehr spielen, was ihm angeboten wurde. Seine unablässige Lust, vor Publikum zu spielen, erfüllte er sich mit Soloauftritten, in denen er Lieder und Texte von Brecht und Weill vortrug oder mit Lesungen aus seiner 2006 erschienenen Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“. Der Dorfjunge, der immer wissen wollte, wie die Welt weitergeht hinter dem Ende von Dölau, hat seine Sehnsucht stillen können. Ob er den Sinn seines Daseins gefunden hat? Jetzt am Ende, wo es aufgehört hat? Als „Sternenasche“, wie er es formulierte, kehrt er zurück in den Kreislauf des Universums.

Mehr über den Schauspieler in dem Beitrag Hilmar Thate – Ein Guerillero auf der Suche 

Hilmar Thate – Ein Guerillero auf der Suche

„Die Zeit ist unerbittlich und läuft immer schneller, merkwürdigerweise. Man muss das akzeptieren. Man kann nicht unentwegt darüber sinnieren, wie viel einem noch bleibt. Das sind die großen Ungewissheiten im Leben.“

So begann mein erstes Interview vor 15 Jahren mit Hilmar Thate. Sein 70. Geburtstag hat uns damals zu einem sehr langen philosophischen Gespräch über das Leben veranlasst, das ihn wie auf einer Achterbahn rauf und runter schickte. Wir redeten darüber, welchen Sinn alles Geschehene gemacht hat. Ich weiß es noch wie heute: Mit meinem PC bin ich zu ihm nach Charlottenburg gefahren, und wir haben die Gedanken sortiert, an Fragen und Antworten gefeilt. Es war uns wichtig, dass es genau wird und einen Humor hat. Es machte großen Spaß. Der zierliche Mann mit der strubbligen Punk-Frisur, die ihm die Natur geschenkt hat, ist ein sehr witziger Mensch. Unter der Überschrift „Ich bin ein Guerillero“ erschien es am 17. April 2001 in der „Morgenpost“.

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In seinem Lieblingsitaliener stoßen wir 2006 auf seinen 75. Geburtstag an. Foto: Yorck Maecke

Damals begannen wir uns gut leiden zu können und legten das Fundament Vertrauen für spätere Begegnungen, an deren Ende ein Interview stand. An besonderen Geburtstagen waren sie gesetzt. Nur in diesem Jahr, zu seinem 85., musste die Plauderei, der Rückblick mit neuen Erkenntnissen ausfallen. „Es geht nicht“, sagt Angelica Domröse, die nur knapp zwei Wochen zuvor, am 4. April, ihren 75. Geburtstag beging. „Wir sind nicht auf der Höhe.“ Mehr ist von ihr nicht zu erfahren.

Seit 40 Jahren geht das Paar zusammen durchs Leben. Nicht ohne große Krisen, an denen ihre Beziehung jedoch nicht gescheitert ist. Im Gegenteil. „Wir haben uns geschützt und gestützt. Es ging um mehr als unsere Liebe. Die Ereignisse nach dem Verlassen der DDR haben uns vor eine ganze Problemserie gestellt. Ihre Bewältigung hat uns zu einem großen Bündnis gemacht“, beschreibt es Hilmar Thate. In diesem Bündnis ist es jetzt Angelica Domröse, die ihn, ihre  Lebensliebe schützt und stützt. Zuletzt trafen wir uns 2013 zur Premiere der Filmkomödie „Hinterm Horizont, dann links!“ über den Aufstand einer Seniorengruppe mit einer sehr aufmüpfigen Angelica. Er wirkte zerbrechlich, aber es war Freude in seinen Augen.

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Angelica Domröse und Hilmar Thate vor dem Kino Babylon zur Preisverleihung der DEFA Stiftung 2008. Foto: André Kowalski

Gespräche mit Hilmar Thate haben mich immer bereichert. Ich profitierte von der Tiefgründigkeit seiner Gedanken, der Weisheit, seiner Suche nach dem Sinn des Daseins der Menschheit seit dem Urknall „Gegen Erdbeben ist kein Kraut gewachsen. Aber was an technischem Unfug gemacht wird, ohne die Risiken zu bedenken, grenzt an Lebensmüdigkeit.“ Thate hat sich und sein künstlerisches Tun stets in Beziehung zur Welt gesetzt. So erlernt bei Brecht am Berliner Ensemble, dem er zehn Jahre angehört hat, und mit dem er um die Welt reiste als Givola in „Arturo Ui“ (1959) oder als Aufidius in „Coriolan“. In der Erinnerung an diese Zeit schwärmt er von Helene Weigel, der Prinzipalin. „Unser Verhältnis entwickelte sich allmählich. Helli war eine Urwienierin, mit Schmäh und Verspieltheit. Sie kochte vorzüglich. Wir spielten zusammen in Mutter Courage, Coriolan, Frau Flinz. Eine grandiose Schauspielerin! Ihre Schützlinge hat sie umsorgt und war außerdem eine Frau mit Geschmack und großem ästhetischen Feingefühl. Das übertrug sich besonders auf uns junge Schauspieler. Angelica, die 1960 kam, hat ihr die Leidenschaft für Antiquitäten zu verdanken.“

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Hilmar Thate in„Wahlverwandtschaften“, 1974 Foto:  DEFA/Goldmann (Repro aus Thates Autobiografie „Neulich , als ich noch Kind war“)

In den vergangenen sechs Jahrzehnten deutscher Theater- und Filmgeschichte hat Hilmar Thate eine kräftige Spur hinterlassen mit seinen markanten Interpretationen  von Gestalten wie Shakespeares „Richard III.“ ( 1972),  Galy Gay in Bertolt Brechts „Mann ist Mann“ (1969) oder auch dem LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ (1976, DDR-Fernsehen). Seine letzte Rolle vor der Kamera ist der Komponist Hanns Broch in dem Drama „Hitlerkantate“ (2004), in dem es letztlich um die Frage geht, welche Verantwortung ein Einzelner für den Gang der Geschichte trägt. Welche Rolle dem Künstler in der Gesellschaft zukommt. Für Thate heißt künstlerische Auseinandersetzung, „wach zu sein, neugierig, hirnfähig, das mit zu verarbeiten, was ich erlebe. Doch nicht vordergründig.“

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Baby Hilmar 1932, Foto: privat

Thate kam am 17. April 1931 in Dölau zur Welt. Der Vater war Lokomotivbauer und darüber hinaus ein Musenmensch. Er mochte Wagner, Verdi, sang und hatte immer die Sehnsucht, mehr wissen zu wollen. Diesen Drang gab er an seine drei Kinder weiter. Hilmar, der sich sehr früh für Literatur interessierte, entdeckte bald den Reiz des Theaters für sich. „Ich war ein Dörfler und wollte immer die Welt hinter Dölau kennenlernen. Das Theater hatte für mich eine höchste Merkwürdigkeit. Schauspieler waren für mich besondere Menschen. Auf der Straße habe ich ihnen immer hinterher geguckt. Über die Staunerei fühlte ich mich herausgefordert, das auch zu schaffen.“

An der Staatlichen Hochschule für Theater und Musik Halle wurde der Grundstein gelegt. 1949, mit Achtzehn, stand der Dorfjunge in Cottbus auf der Bühne. Der Oberspielleiter Hans Albert Schewe erkannte sein Potenzial und schickte ihn zu Brecht nach Berlin. Diese Begegnung gehört zu den nachhaltigsten Höhepunkten in Thates Leben. „Ich saß in Brechts Wohnung in Weißensee. Er unterhielt sich eine Stunde mit mir, und wir vereinbarten für den nächsten Tag einen Vorsprechtermin. Helene Weigel, die Prinzipalin und hochgeschätzte Schauspielerin, lehnte ihn ab. „Geh, Buberl, lern’, erst ’mal sprechen“, sagte sie ihm. Er sah sich noch Mutter Courage im Theater an und fuhr dann kleinlaut nach Cottbus zurück.

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Porträt von 1949. Foto privat

Zweifel nagten, er wollte den Beruf aufgeben. Doch was dann? – Thate ging nach Berlin zurück. Seine Schule wurden das Theater der Freundschaft und das Gorki Theater. „Es war generell in meinem Leben immer eine Angststufe zu überwinden, eine sehr hohe Hürde, um dann loszulegen“ sagte im Interview 60 Jahre später. 1959, zwei Jahre nach Brechts Tod, schaffte er es, die Weigel zu überzeugen, dass er bei ihr spielen kann. Die Zeit am Berliner Ensemble prägte ihn entscheidend. Dennoch verließ er das BE 1970. „Das Theater war in seiner Weltberühmtheit erstarrt und fing an, sich selbst zu zitieren. Meine Hoffnung auf ein Team, einer Denkgemeinsamkeit, auf Übereinstimmung, was Themen betrifft, das hat sich nicht erfüllt. Ich habe mich für die freie Wildbahn entschieden und bin ein Guerillero geblieben.“

Nach einem Intermezzo an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz spielte er ab 1972 am Deutschen Theater, umjubelt als „Richard III“. Wirklich glücklich war er nicht. „Es war kein Haus, das Leute offenherzig aufnahm. Ich wurde nur schwer geduldet“, erinnerte er sich in seinem Rückblick. Aber: „Erfolg und Erfüllung von Sehnsüchten fliegen einem nicht wie gebratene Tauben in den Mund. Es gab mehr Zäsuren, Hochs und Tiefs als ich geahnt habe, mehr Feinde als Freunde. Das gehört zu dem großen Spiel, das da Leben heißt.“

In der DDR feierte Hilmar Thate vor allem auch als Filmschauspieler große Erfolge. Schon 1954 holte Regisseur Wolfgang Staudte den jungen Schauspieler vor die Kamera. „Einmal ist keinmal“  wurde Thates Leinwanddebüt. Er entwickelte sich zu einem erstklassigen Charakterdarsteller und begreift sich als politischer Schauspieler, der seinen Figuren Leidenschaft und Energie verleiht.

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Mit Raimond Schelcher in „Das Lied der Matrosen“ 1958 (Repro aus Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“)

Es sind ausnahmslos jene, die sich  positionieren, meistens fortschrittlich-revolutionär, idealistisch: 1958 im DEFA-Film „Das Lied der Matrosen“, 1960 in „Professor Mamlock“, 1974 in Goethes „Wahlverwandtschaften“, 1976 den LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ im gleichnamigen TV-Fünfteiler. Für diese Rolle wurde er mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Später, im Westen, fasziniert er auch auf der Seite des Bösen. Er verleiht dem Kindermörder im Tatort „Ein mörderisches Märchen“ eine menschliche Gestalt voller Widersprüche wie auch dem Zuhälter in der TV-Serie „Der König von St. Pauli“. Thate ist der Mephisto, nie der Faust. Er sagt dazu: „Mich fasziniert die Kraft, ,die stets das Böse will und stets Gutes schafft’, von der Mehrdeutigkeit, die in diesem Gedanken steckt, mal ganz abgesehen.“

Das Jahr 1976 war auch das Schicksalsjahr für Hilmar Thate und Angelica Domröse. Im Juli heirateten sie. Das gehört zu den schönen Ereignissen. Die schlimmen folgten, nachdem sie die Petition kritischer DDR-Künstler gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann unterzeichnet hatten. „Es ging uns nicht um die Person. Aber man kann nicht einen rausschmeißen und Tausende nicht rauslassen. Deshalb haben wir das gemacht.“ Man hat sie bedrängt, ihre Unterschrift zurückzunehmen. Die Oberen der DDR wollten das bekannte Schauspielerpaar nicht verlieren. Der Chefideologe Kurt Hager selbst bemühte sich um sie. Als man merkte, dass sie nicht widerrufen würden, kam die Strafe. Die Theater versagten Hilmar Thate Rollen, auch Filmangebote bekam er nicht mehr. Der Fernsehfilm „Fleur Lafontaine“ 1978 war für ihn die letzte Arbeit in der DDR.

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1978 in „Fleur Lafontaine“ mit seiner Frau Angelica (Repro aus  Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“)

„Es war nicht unser Trachten, die DDR zu verlassen. Weder Angelica noch ich mochten das kapitalorientierte System im Westen. Aber man hatte uns die Existenzgrundlage genommen, und wir wollten uns nicht verbiegen lassen. Wir waren genötigt, eine Entscheidung zu treffen.“ 1980 siedelten sie nach Westberlin über. Das Eingewöhnen war schwer, die Arbeit half. Beide hatten Glück. Hilmar Thate wurde am Schillertheater engagiert, brillierte gleich in „Jeder stirbt für sich allein“, Angelica drehte „Don Quichottes Kinder“. Sie bauten sich ein neues Leben auf. Und sie stehen viel zusammen auf der Bühne. Am Schlosspark-Theater in „Virginia Woolf“ oder in George Taboris Inszenierung „Stalin“ 1988. ein Zwei-Personen-Stück von Gaston Salvatore. Tabori besetzte Angelica Domröse in der Titelrolle, Thate spielte den jüdischen Schauspieler, der als Spielball für den Diktator herhalten muss. Das ungleiche Duell zweier hochintelligenter Männer trieb die Spiellust der Beiden zur Grandiosität. „Diese Arbeit gehört durch den hohen Grad ihrer Ungewöhnlichkeit zu den wertvollsten in meinem Theaterleben“, resümiert Thate in seiner Autobiografie.

Thate arbeitete unter Regie-Größen wie George Tabori, Peter Zadek, Ingmar Bergman unter anderem in Wien und Salzburg. Mit Rainer Werner Fassbinder drehte er „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ und ist den Fernsehzuschauern im Westen als schillernder Bordellbesitzer Rudi Kranzow in Dieter Wedels Fernsehserie „Der König von St. Pauli“ bekannt geworden. 2004 stand er für den Film „Hitlerkantate“ das letzte Mal vor der Kamera. Es lag an den Angeboten. Er mochte sie nicht spielen. Es sind nun mehr seine Soloauftritte mit Liedern und Texten von Brecht und Weill oder Lesungen aus seiner 2006 erschienenen Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“, mit dem er seine Freude an Auftritten vor Publikum stillt.

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Die Autobiografie erschien 2006

Zu seinem 80. Geburtstag  2011 habe ich ihn gefragt, was ihn noch vorwärts treibt. Er antwortete: „Das Denken. Wenn das vorbei ist, bin ich tot. Im Spiel des Lebens haben wir nicht die Hauptrolle und schon gar nicht für ewig. Aber so lange ich existiere und atmen kann, neugierig bin, habe ich diese heilige Unruhe in mir, weiterzudenken, weiterzudrängen, in Frage zu stellen oder zu verändern. Ich liebe Veränderungen.

Thate 2011 zu Fragen seines Lebens

Erstaunt es Sie, so alt zu sein?
Ja. Ich habe nie gedacht, dass ich mal diesen Geburtstag erlebe. Ganz lange Zeit war ich immer der Jüngste, jetzt bin ich plötzlich einer der Ältesten. Das ist komisch. Es ist ein gewisser Glückszustand, dass ich mich fühle wie jetzt. Man merkt natürlich, dass die Energie kürzer zu fassen ist, dass man eher ermüdet. Aber man muss sich diesen Zustand an die Brust ziehen und sagen: Sei mein!

Was, wenn’s mal anders wird?
Ich möchte nie nicht lebend ein Elend ertragen. Meinem Hausarzt und Freund habe ich gesagt: „Wenn ich in einer dreckigen Situation bin, halt den Schierlingsbecher bereit.“

War der Gang in den Westen nicht eine Befreiung von Zwängen, wenn auch unfreiwillig?
Aber ja. Du kannst Leute nicht unentwegt abgrenzen, ohne dass sie dabei Schaden nehmen. Wir müssen die Welt in Gänze wahrnehmen können. Sonst wird man unfähig, mit Realität umzugehen. Das ist in der DDR leider passiert. Ich habe als positiv angenommen, dass ich die Welt sehen konnte, Leute wie Rainer Werner Fassbinder, Rosl Zech und Ingmar Bergman kennenlernte. Andererseits ist die Freiheit hier, auch nicht der letzte Schrei. Wir sind ebenso Zwängen unterworfen. Nur wie die Goldfische in der Flasche merken wir nicht, dass es keine Freiheit ist, sondern eine große Flasche.

Dahinter steckt aber viel Ironie.
Ja, natürlich. Sonst hätte ich keine Freunde. Und ich habe wirklich Freunde.

Was würden Sie anders machen, wären Sie noch mal jung?
Ich habe neulich erst gedacht, dass ich heute wahrscheinlich nicht mehr in diesen Beruf gehen würde. Theater war immer ein Seismograph für die Befindlichkeit der Gesellschaft. Heute stehen Schauspieler aufgereiht an der Rampe mit einem Fragezeichen über dem Bauch. Und gestellt wird auch nur die Bauchfrage – die keineswegs abendfüllend ist: Wer bin ich? Ohne Beziehung zur Welt, deren Gefährlichkeit, deren sozialen Verwerfungen. Theater ist abgesackt in die Beliebigkeit. Es kommt nicht mehr zu dem, was wir uns leisten konnten – über eine Theorie, ein Modell nachzudenken. Da war übrigens das weltberühmte Berliner Ensemble in der DDR eine Enklave.

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Repro aus der Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“

Das heutige Theater liegt nicht mehr auf Ihrer Wellenlänge?
So ist es. Ich will nicht mehr Theater spielen. Wirkliche Ensemblearbeit gibt es nicht mehr, jeder bewegt sich gegen jeden. Wie in der Gesellschaft. Es müsste eine ganz neue Denkweise einsetzen, um etwas zu verändern. Ich trete gern auf, aber allein. Singe meine Lieder, lese Brecht oder aus meinem eigenen Buch. Das macht mir Spaß. Und es gefällt dem Publikum, das gern Frage- und Antwortspiel treibt

Der gelernte DDR-Bürger hat sich gemeinhin für einen politischen Menschen gehalten.
Wir waren vermeintlich politisch. Genau genommen waren wir aber Duckmäuser, haben uns mit einer gewissen niedrigen Anspruchsweise identifiziert. Sonst hätten wir etwas getan. Die DDR und der Westen hatten einiges gemeinsam – das deutsche Kleinbürgertum. Das hat es immer gegeben. Hüben wie drüben.

Der sozialistische Gesellschaft war eine Utopie. 
Wir Menschen brauchen Utopien, Träume, Hoffnungen. Die DDR ist ja nicht vom Himmel gefallen. Es war ja ein Ereignis, das historisch entstanden ist. Das wird nie erwähnt. Für mich war das Land lange Zeit ein historisches gesellschaftliches Experiment. Etwas Neues nach dem fürchterlichen Krieg.Ohne Wirtschaftswunder. Durch Verkrustung und Verfilzung mutierte die DDR zu einem kleinbürgerlichen Laubenpiepergebilde. doch der Marxismus ist nach wie vor eine Denkleistung, die nicht einfach in den Wind gehauen werden kann.

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Angelica Domröse, 2009. Foto: Jürgen Weyrich

Seit 1976 sind Sie mit Angelica Domröse verheiratet. Eine so lange Ehe ist unter Schauspielern nicht die Norm. Worin liegt Ihr Geheimnis?
Wir haben immer wieder entdeckt, dass wir uns doch wichtiger sind, wesentlicher als die Alternativen. Ich habe für mich keinen wesentlicheren Menschen gefunden. Und sie wohl auch nicht.

Sind Sie sich eigentlich sehr ähnlich?
Ja, was den künstlerischen und Lebensanspruch betrifft. Und in den Gefühlen liegen wir auf fast gleichem Niveau.

Was unterscheidet Sie?
Ich bin radikaler als Angelica. Ich habe erfahren müssen, dass Frauen praktischer sind als Männer, und in dem Sinn auch intelligenter. Sie durchschauen schneller als wir. Männer – nicht alle natürlich – neigen zur Spinnerei.

Halten Sie sich für einen erotischen Mann?
Na und ob! Meine Schärfe hat etwas mit der Gegenseite der Medaille zu tun, mit meiner Liebesfähigkeit. Weil ich eigentlich Innigkeit suche. Ich umarme gern, will Neigung spüren. Wenn ich Angelica in den Arm nehme, ist sie glücklich. Wir gehen gern Hand in Hand.

Was brauchen Sie, um glücklich zu sein?
Ich vertrage keinen Ärger mehr, keine Reizungen. Ich brauche gute Laune, Spaß. Früher konnte ich sehr böse werden, ich war jähzornig. Das ist einer Grundfreundlichkeit gewichen, weil ich gemerkt habe, dass es mir damit körperlich besser geht. Schlicht und einfach. Der Kreislauf sackt bei mir sofort ab, wenn ich schlechte Laune habe. Das ist für mich ein Maßstab geworden für Lebenshaltung.

Verspüren Sie Angst vor dem Tod?
Schiller hat mal gesagt: Der Körper ist der Attentäter des Geistes. Und das ist er in der Tat. Es gibt im Tod eine Trennung von Geist und Körper. Der Körper ist hinfällig, wird der Natur überlassen. Der Geist ist nichts Greifbares. Er ist Energie. Energie geht nicht verloren, sie hebt sich auf, verändert sich. Ich habe in diesem Sinn keine Angst. Schiller hat ja auch poetisiert Freude schöner Götterfunken…

 

 

Von Brecht bis C. U. Wiesner – zum Tod von Stefan Lisewski

Es macht traurig. Schauspieler Stefan Lisewski ist tot. Er starb am 26. Februar im Alter von 82 Jahren. Unerwartet für alle. Ich habe ihn weniger auf der Bühne des Berliner Ensembles erlebt, wo er in nahezu allen Brecht-Stücken Hauptrollen spielte, als vielmehr in zahlreichen DEFA- und Fernsehfilmen. Rothaarig, sportliche 1,90 Meter hochgewachsen und mit einer einprägsamen, ausdrucksstarken Stimme, war er ein besonderer Typ. Überzeugend in seinen künstlerischen Darstellungen und von Kollegen, insbesondere Filmpartnerinnen, zudem wegen seiner humorvollen Art, seiner Jungenhaftigkeit besonders gemocht. „Mit ihm zu drehen war stets ein Vergnügen“, erinnerte sich Annekathrin Bürger in einem unserer vielen Interviews. In den Erinnerungen an ihren ersten Film „Verwirrung der Liebe“ (1959) verriet mir Angelica Domröse, dass ihr Stefan Lisewski imponiert habe. „Er hat am BE gespielt!“

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Stefan Lisewski 2009 beim Filmtreff in Quedlinburg c/o Hans-Jürgen Furcht

Da, wo sie hin wollte, gehörte Lisewski von 1957 an zu den wichtigsten Schauspielern. Mit der Übernahme der Intendanz des BE durch Claus Peymann 1999 schied er – inzwischen 65 Jahre – aus dem Ensemble aus. Doch er blieb dem Theater bis zu seinem Tod verbunden. Mehr als 500 Mal hat er als Mackie Messer in der „Dreigroschenoper“ das Publikum im Theater am Schiffbauerdamm und bei Auslandsgastspielen wie in Griechenland und Italien begeistert. Man sah den Charakterdarsteller in „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Die Gewehre der Frau Carrar“, in „Das Leben des Galiliei“, „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ oder im „ Kaukasischen Kreidekreis“. Noch am 21. Februar verkörperte er den Dogsborough in Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Weit mehr als 300 Mal stand er in dieser Rolle in der Inszenierung von Heiner Müller seit der Premiere 1995 auf der Bühne.

Ursprünglich war das Theater, die Schauspielerei nicht Lisewskis Lebensziel. Geboren am 6. Juli 1933 im polnischen Tczew (Dirschau), war er, elfjährig, mit seiner Familie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wie viele deutsche Umsiedler aus Pommern in Schwerin gelandet. Als Statist am Theater frönte er schon als Schüler seiner Leidenschaft fürs Schauspielen. Als ernsthaften Beruf für sich sah er das aber nicht. Er wollte Hütteningenieur werden und bewarb sich nach dem Abitur an der Bergakademie Freiberg. Doch die Lust zum Spielen war stärker, und so sprach er an der Berliner Schauspielschule vor – und wurde abgelehnt. Er ging als Praktikant ins Schwermaschinen-Kombinat Magdeburg und arbeitete dort am Schmelzofen.

Die Bühne lockte den damals 20-Jährigen jedoch sehr. Immer wieder übernahm er am Theater der Stadt Komparsenrollen und startete 1955 einen neuen Versuch an der Berliner Schauspielschule. Es klappte. Sein zweieinhalbjähriges Studium schloss er 1957 während der Dreharbeiten zu seinem ersten Film, „Das Lied der Matrosen“, ab und erlangte anschließend ein Engagement am Berliner Brecht-Ensemble. Er hat noch mit Helene Weigel und Ernst Busch zusammen gearbeitet und war sehr dankbar für die großartige Zeit, die ihn über die Grenze der DDR hinaus in die ganze Welt geführt hat, wie er in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag sagte.

Ich weiß nicht mehr, in welchem Film ich Stefan Lisewski zum ersten Mal gesehen habe. Es könnte „Das Lied der Matrosen“, der Musikfilm „Eine Hand voll Noten“ oder „Maibowle“ gewesen sein. Mittags, in einer der Halbzwei-Uhr-Testsendungen des DDR-Fernsehens in den 60er Jahren. Vielleicht war es auch „Die Jagd nach dem Stiefel“, ein Kinderfilm von Konrad Petzold, oder „Chronik eines Mordes“.

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Jedenfalls hat er sich mir eingeprägt. Sein Gesicht, seine Stimme, die ich sofort im Ohr habe, wenn ich den Namen höre oder lese. Auch Szenen, wie die mit Hildegard Alex beim Versuch zusammen in eine Badewanne zu steigen. Was praktisch ein Ding der Unmöglichkeit war, denn der Einsneunzig-Mann passte ja allein schon kaum hinein. „Wir hatten viel Spaß beim Probieren, wie das gehen soll“, erzählte mir Hilde Alex, als ich ihr meine Erinnerung einmal schilderte. Ich glaube, die Fernseh-Reihe hieß „Rund um die Uhr“. Das Komödiantische war die andere Seite des Charakterdarstellers, die populäre, die ihn beim Publikum so beliebt machte.

In den 70er und 80er Jahren hat der Schauspieler das Filmen zugunsten des Theaters zurückgefahren und sich mehr oder weniger auf Rollen in Kinderfilmen beschränkt. Diese Arbeit machte dem zweifachen Vater und Großvater sehr viel Freude. Regisseur Günter Meyer fand in dem Hünen die ideale Besetzung für den Riesen Otto in seiner Fernsehserie „Spuk unterm Riesenrad“, Drehbuch „Eulenspiegel“-Autor C. U. Wiesner.

Spuk unterm Riesenrad
Die Autorin mit Stefan Lisewski (M) im August 2013 im Treptower Park sowie mit Regisseur Günter Meyer (r.) und den Filmkindern Katrin Raukopf (2.v.r.) und Henning Lehmbäcker. c/o Boris Trenkel

Ihr verdanke ich, dass ich Stefan Lisewski im August 2013 persönlich kennenlernen durfte. Natürlich im Treptower Park unterm Riesenrad. Sein voller roter Haarschopf war ergraut, und es ging dem Schauspieler auch nicht gut. Er kämpfte mit Atemnot, aber seinen Humor hatte er nicht verloren. An den Film hatte er glänzende Erinnerungen. „Der ist losgegangen wie eine Rakete. Und geht es noch. Als ich jetzt längere Zeit im Krankenhaus war, haben mich die Schwestern kurz vor der OP gefragt: „Sind Sie nicht der Riese?“ – Erwachsene Leute, die damals Kinder waren. Es war ja auch eine tolle Geschichte dadurch, dass die uralten Märchenfiguren mit dem prallen Leben der DDR konfrontiert wurden. Daraus ergab sich wundervoll Satirisches. Wenn man älter wird und mal Revue passieren lässt, was man so gemacht hat, gehört das mit zu den schönsten Arbeits- und Urlaubserlebnissen, die ich hatte. Wir haben im Harz gedreht, auf der Burg Falkenstein. Wir haben an der Rappbodetalsperre gewohnt. Das war toll. Und wenn wir nachts gedreht haben, sind wir früh zu einem Bauern gefahren und haben warme Milch getrunken.“

Es war so einiges passiert bei den Dreharbeiten, das ihm im Nachhinein ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte. „Auf dem Hexentanzplatz sollte ich auf ein fahrendes Auto springen. Das hat meinen sportlichen Ehrgeiz angestachelt. Aber es real zu versuchen, wäre dann doch zu gefährlich gewesen. Deshalb wurde es am Schneidetisch geschickt zusammenmontiert.“ Für die Anfangsszenen, in denen der Riese groß ist, hatte Stefan Lisewski bei einem Artisten Stelzen laufen gelernt. „Günter Meyer fand mich mit meinen 1,88 noch zu klein als Riese. Ich musste auf einen Stuhl steigen, damit er sehen konnte, wie das mit Stelzen sein würde.“

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Die Geister in der Spree. Szene aus der Serie „Spuk unterm Riesenrad“

Dass er bei der Flucht der Geister mit Boot auf der Spree einen Moment Todesangst hatte, ist auch so eine Geschichte. In der Hektik, die Szene noch vor Sonnenuntergang „in den Kasten“ zu kriegen, hatte niemand an die Eisengewichte in dem Ruderboot gedacht, die als Lastenausgleich für die Schauspieler, insbesondere den schweren Stefan Lisewski, in den Bug gelegt worden waren. Als das im Film nicht zu sehende Motorboot den Geisterkahn am Schlepptau in Bewegung setzte, neigte sich plötzlich der Bug des Ruderboots gen Wasser, immer tiefer, bis es schließlich versank – und mit ihm die Geister. „Ich hatte einen schweren Schafspelz an, der sich voll Wasser sog. Katja Paryla, die Hexe, und Siegfried Seibt, Rumpi, konnten ja schwimmen in ihren Sachen, ich nicht. Da war mir schon komisch, bis ich merkte, ich habe Boden unter den Füßen. Wir standen auf einer Sandbank mitten in der Spree.“ Mit seinem trockenen Witz würzte er als Hausmeister den „Spuk im Hochhaus“ und wirkte als Graf Bärenfels auch in der Serie „Spuk von draußen“ mit.

Für das Berliner Ensemble werden die Inszenierungen mit Stefan Lisewski wichtige Abschnitte in der Geschichte des Theaters sein. In seinen großen wie kleinen Filmrollen wird er lebendig bleiben, sich den vielleicht auch nachfolgenden Generationen einprägen.