Die Verwandlung der Carola Huflattich in „Das Schulgespenst“

Das ist sie, Carola Huflattich. Wie sie Peter Abraham 1978 in seinem Kinderbuch „Das Schulgespenst“ erfand und Regisseur Rolf Losansky sie in dem gleichnamigen Film 1985 in Szene setzte. So manche Arnstädter können sich gewiss noch an die aufregenden Dreharbeiten für die ebenso poesievolle wie witzige Rollentausch-Komödie erinnern. Die Geschichte von der vorlauten, um keine Antwort verlegene Viertklässlerin Carola, die mit den alltäglichen Pflichten wie Lernen und Hausaufgaben machen so gar nichts am Hut hat, dafür aber mit jeder Menge Phantasie ausgestattet ist, entsprach ganz Losanskys Intentionen. „Es müssen Verrückte sein, die sich um den Kinderfilm kümmern, sonst macht man Erwachsenen-Film“, sagte er mir in einem unserer vielen Gespräche.

Rolf Losansky  wird 80.
Mein erstes Interview mit  Rolf Losansky hatte ich im Januar 2011. Er führte mich durch seine ehemalige Arbeitsstätte, die DEFA-Studios Babelsberg © York Maecke

Und er war so ein Verrückter. Sich runterneigen, wie Leute in den Kinderwagen gucken, das mochte er nicht. „Ich mache keine Killekille-Filme.  Meine Filme sind so, dass der Sohn den Vater fragt: Warum hast du an der Stelle gelacht?  Und der Vater entgegnet: Und warum hast du an der Stelle gelacht? – Man muss nachfragen, sich hinterher über das Gesehene unterhalten, das ist mir wichtig.“ Rolf Losansky konnte mit Kindern nicht nur phanstastisch umgehen, er wusste auch, was sie an Spaß, Überraschungen, Spannung und Phantastischem auf der Leinwand erwarteten.

Nicole alias Carola 35 Jahre später
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Unverkennbar Carola Huflattich. Nicole Richter, die die Rolle spielte, ist heute 45 Jahre und hat inzwischen selbst zwei Kinder. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet als Grafikdesignerin © Nicole Richter

Es ist erstaunlich, wie wenig sie sich verändert hat. Das Lachen, die Augen – unverkennbar  Carola Huflattich. „Den Namen fand ich lustig.“ Nicole Richter, vor 35 Jahren hieß sie Lichtenheldt, denkt gern an ihre Zeit als Filmkind zurück. Inzwischen hat sie selbst Kinder, zwei Söhne, acht und fünf Jahre alt. Ihren Text hat sie noch immer drauf. „Wenn ich den Film sehe, kann ich noch jedes Wort mitsprechen“, sagte sie, als ich sie 2011 interviewte. Die SUPERillu veröffentlichte damals in ihrer Reihe DEFA-Kultfilme die DVD „Das Schulgespenst“, ich schrieb einen Begleitbeitrag.

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2011 besuchte ich Nicole Richter, damals hieß sie noch Förster, und ließ mir von Dreharbeiten für „Das Schulgespenst“ erzählen © André Kowalski

Vor einigen Wochen fiel mir der Film wieder in die Hände. Ich rief Nicole an, und wir kamen ins Plaudern. Ich habe sie gefragt, ob sie hin und wieder den Film mit ihren  Kindern anschaut oder ob er in der Versenkung verschwunden ist. Sie lacht.  „Das ist ja lustig, dass du jetzt danach fragst. Unsere Nachbarn haben sich den Film gerade erst angesehen, die Kinder sind teilweise schon im Teenageralter. Sie fanden ihn richtig cool.“ Erstaunlich, wo es da doch absolut analog zugeht. Oder ist es gerade das, was sie cool fanden?

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Der Indianer-Blick-Test. Wer zuerst zwinkert, muss die Hausaufgaben des anderen machen. Willi verliert immer © DEFA-Stiftung /Siegrfried Skoluda

Carola und die anderen Kinder leben in der gleichen Welt wie die Kinder heute, nur drei Jahrzehnte früher. Ihre Alltagsrealitäten gleichen sich. Allerdings kamen die Kinder von damals ohne Handy aus – das Wort gab es noch nicht einmal. Tablet, Internet, Computerspiele, Instagram, What’s App  kannten sie nicht, ich genauso wenig. Gefehlt hat das mir und auch meinen Kindern nicht. Hinter unserem Haus gab es ein Biotop, ein Stück Wald, eine Wiese. Da trafen sie sich mit Freunden, dachten sich Spiele aus. Langweilig war ihnen nie. Sie nahmen von sich aus die Welt um sich herum wahr. Niemand musste ihnen erklären, woher Eier und Milch kommen. Noch heute, mehr als 30 Jahre später, erzählen meine Töchter von den vielen kleinen Frösche, die sich zu Tausenden vor ihrem Kindergarten tummelten und quakten. Kinder entfalten eine große Phantasie, wenn sich ihnen das Feld dafür bietet. Das erlebe ich jetzt auch bei meinen vierjährigen Enkeln, die zwar gern auf ihrem Tablet Trickfilme ansehen, aber mit noch mehr Spaß im Garten Feuerkäfer suchen, mit dem Schlauch sprengen und dabei ihre Geschichten spinnen: „Das Feuer ist gelöscht, der Baum gerettet, Feuerwehrchef!“

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Die alte Burgruine ist der Lieblingsplatz von Carola und ihrem Freund Willi (Ricardo Roth). Hier erzählt sie ihm von Buh, dem Gespenst

„Ein Vogel müsste man sein, und über die Dächer fliegen“ , träumt die 10-jährige Carola Huflattich im Film vor sich hin, während sie mit ihrem Freund Willi auf der Mauer einer alten Burg sitzt. Welchem Viertklässler käme so ein Wunsch heute noch in den Sinn, wo es Spieldrohnen gibt, mit denen man sich alles von oben ansehen kann? Technik contra Kinderträume. Rolf Losansky hat mit seinen Filmen stets ein Plädoyer für letzteres abgegeben.

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Dreharbeiten 1985 in der Altstadt von Arnstadt mit Nicole, die hier mit Blüschen und Schleifchen das verwandelte Gespenst spielt. Hinter der Kamera Regisseur Rolf Losansky, rechts Kameramann Helmut Grewald ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda
Die Geschichte:

Carola geht in die 4. Klasse. Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Wozu kämmen? Sie zwirbelt die Haare einfach zu strubbeligen Zöpfen. Statt Rock trägt sie lieber Hosen, in der Schulpause spielt sie mit einer Blechbüchse Fußball, die der Schuldirektorin an den Hintern knallt. Im Unterricht macht sie alles andere, nur nicht zuhören. Darum sind ihre Noten auch nicht die besten. Lernen macht ihr einfach keinen Spaß. Sport gefällt ihr und sich allerhand Unfug ausdenken. Darin ist sie Meister und bringt damit fast jeden Tag ihre Lehrerin zum Seufzen.

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Carola krabbelt durch die Absperrung und schleicht in den Schulkeller © DEFA-Stiftung Siegfried Skodula

Eines Tages passiert etwas schier Unglaubliches. Carola kippelt wie so oft im Unterricht mit dem Stuhl. Sie kippt um und der Stuhl bricht auseinander. Die Lehrerin, Fräulein Prohaska, schickt sie zum Hausmeister, um sich einen neuen Stuhl zu holen. Herr Potter aber ist nicht da. Carola nutzt die Gunst der Stunde und schleicht in den Keller. Sie wollte schon immer mal gucken, was es da alles gibt. Erfreut entdeckt sie einen Fernseher. Dass ein Zettel dranhängt, auf dem „defekt!“ steht, interessiert sie nicht. Sie stellt das Gerät an. Plötzlich kracht es. Staub fliegt ihr um die Ohren. Ihr Schreck hält nicht lange an. Der schummrige Keller beflügelt ihre Phantasie. Carola ruft einen „Weltgespenstertag“ aus.

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Rolf Ludwig als Hausmeister Potter und Walfriede Schmitt als Direktorin  © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Sie ist gerade mit ihren Beschwörungen zugange, als der Hausmeister zurückkommt.  Erbost über Carolas unerlaubten Zutritt, holt er die Lehrerin und die Direktorin herbei. Flux erfindet Carola ein Gespenst, das angeblich im Keller herumgeistert. Weil sie es nicht vorzeigen  kann, behauptet Carola, es sei in ihrer Hosentasche verschwunden.

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Carola hat das Gespenst sichtbar gemacht  Quelle: Youtube

Wieder im Klassenraum, hört sie plötzlich eine Stimme aus der Hosentasche: „Mam, liebste Mam, gib mir eine Gestalt, wünsch dir, dass ich irgendetwas werde, dann bin ich’s.“ Carola wäre nicht Carola, würde sie die Chance nicht erkennen, dass sich damit ja was anstellen ließe. Das Gespenst möchte sichtbar gemacht werden. Also zeichnet Carola ein Bild an die Tafel und Buh, so nennt sie es, wird lebendig und fliegt durch den Raum. Doch als sich Buh in dem Handspiegel sieht, den die Lehrerin auf dem Tisch vergessen hat, ist es traurig. Es wollte niedlich aussehen, mit Zöpfen und Schleifchen und kein Strichmännchen im Nachthemd sein. Das bringt Carola auf eine Idee. Sie schlägt Buh vor, mit ihr die Gestalt zu tauschen.

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Das Gespenst ist glücklich in seiner Rolle als Carola.  Der ahnungslose Willi denkt, er spinnt. Carola ist plötzlich eine Streberin @ DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

 Dann könnte Buh den Wunsch der Mutter erfüllen, und als Carola Röckchen und Bluse tragen, Schleifen im Haar. Sie aber würde als Gespenst machen, wozu sie Lust hat. Über der Stadt herumfliegen, unsichtbar allerlei Schabernack treiben.  Vor allem aber müsste sie nicht mehr lernen, im Unterrricht stillsitzen und aufpassen, brauchte sich von der Mutter keine Vorhaltungen mehr anzuhören. Buh ist sofort einverstanden mit dem Rollentausch. Carola stellt nur eine Bedingung: Sie möchte zu den Sportstunden und den Pausen wieder sie selbst sein. Aber wie soll der Tausch gehen? „Guck in den Spiegel und sag einfach Buh-Huh, dann bin ich du und du ich“, erklärt das Gespenstermädchen. Gesagt, getan. Es klappt. 

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© DEFA-Stiftung/Gertrud Zucker

Voller Freude fliegt Carola als Gespenst durch die Stadt, turnt auf dem Dach herum, wo ihr Vater als Dachdecker arbeitet und ist glücklich. Buh bringt als brave und wissbegierige Carola ihre Mitschüler und Lehrer zum Staunen. Carolas Freund Willi versteht die Welt nicht mehr. Die kumpelhafte Carola, die absolut keine Lust zum Lernen hat und Mathe hasst, die lieber mit ihm herumstromert, ist über Nacht zum Streber geworden, unkameradschaftlich und überheblich. Sogar den Eltern wirft sie vor, sich nicht genug angstrengt zu haben. Sonst wäre die Mutter ja Verkaufsstellenleiterin und nicht bloß Verkäuferin und der Vater hätte eine eigene Dachdeckerfirma. „Mir soll das nicht so gehen, deshalb strenge ich mich an und lerne, statt fernzusehen“, verkündet Buh.

Das geht der echten Carola zu weit. Sie ist wütend auf ihr falsches Ich. Außerdem hat das einsame Herumgeistern seinen Reiz für sie verloren. Sie will in ihren Körper zurück, und in ihrem Bett schlafen, statt im dunklen Schulkeller. Aber Buh denkt nicht daran, sich an die Abmachnung zu halten und in seine alte Gestalt zurückzukehren. Zu sehr gefällt es ihm in der Schule und richtige Eltern zu haben. Darum gibt Buh der Lehrerin den Spiegel zurück.

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Carola hat ihren Freund Willi überzeugt, dass sie im Körper des Gespensts aus dem Keller steckt © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Die echte Carola versucht alles, um dem gerissenen Gespenst beizukommen. Doch dazu braucht sie den Spiegel. Nur ihr Freund Willi kann ihr dazu verhelfen. Den muss sie aber erst einmal überzeugen, dass sie kein Gespenst, sondern die verwandelte Carola ist. Willi kann es nicht fassen, doch er glaubt dem herumfliegenden Geist, denn der kennt den „Indianerblick“. Es ist aber leichter gesagt als getan, den Spiegel zu finden und an sich zu bringen. Als die beiden ihn endlich haben, bedarf es noch einer weiteren List, damit sich das zurückverwandelte Gespenst nicht wieder des Spiegels bemächtigt.

Ein Jux mit Folgen
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Carola ist als Gespenst zu Fräulein Prohaska (Karin Düwel) in die Wohnung geschlüpft, um den Handspiegel zu suchen. Doch die Lehrerin legt sich gerade eine Schönheitsmaske auf und hält den Spiegel fest in der Hand ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Regisseur Rolf Losansky hatte  eine genaue Vorstellung, wie seine Hauptdarstellerin sein sollte. Sie zu finden war ein langes Unterfangen. Er ist quer durch die DDR gereist und hat an Schulen nach seinen Kinderdarstellern gesucht. Fündig wurde er in seiner Heimatstadt Frankfurt (Oder). Nicole  nahm mit Schulfreundinnen heimlich am Vorsprechen teil. „Wir hatten damals die Anzeige in der Zeitung gesehen und sind aus Jux hingegangen“, erinnert sie sich. Ihren Eltern hatte sie nichts erzählt. Und dann gehörte sie zur ersten und dann zur zweiten Auswahl. Die Einladung zum dritten Vorspielen kam per Post.  „Meine Mutter fiel aus allen Wolken, als das Telegramm von der DEFA kam. Was ist denn das hier?“

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Dietmar Richter-Reinick und Barbara Dittus als Vater und Mutter Huflattich, die in dieser Szenen gerade ihre Tochter nicht wiedererkennen. Carola, respektive das Gespenst, hält ihnen vor, dass sie nicht mehr aus ihrem Leben gemacht haben. Der Vater könnte einen Dachdeckerbetrieb haben und die Mutter Verkaufsstellenleiterin sein, wenn sie ehrgeiziger gewesen wären © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Zwei Mädchen hatte der Regisseur für die Rolle präferiert, weil er sich nicht entscheiden konnte. Beide hatten sich beim Vorspiel gleichermaßen geeignet gezeigt. Zuerst tendierte der Regisseur zu Emmi, einem blonden Mädchen. Sie ähnelte der Schauspielerin Barbara Dittus, die die strenge Mutter spielte.  Er wählte dann jedoch die braunäugige dunkelhaarige Nicole, weil sie vom Typ her besser zu Dietmar Richter-Reinick passte. Der Berliner Fernsehstar spielt Vater Huflattich, der für seine wilde Tochter der allerbeste Kumpel ist. Im Gegensatz zur strengen Mutter, hat er Verständnis, wenn Carola mal wieder schlechte Noten nach Hause bringt.   Die Vater-Tochter-Beziehung nimmt entsprechend Raum im Film ein.

Die Dreharbeiten in Arnstadt

Von September bis Dezember 1985 wurde im thüringischen Arnstadt gedreht.  Für die Kinder war das sehr aufregend. Zum ersten Mal hat Nicole damals in einem Hotel geschlafen. „Ich habe  die Aufmerksamkeit, die wir in dieser Zeit bekamen, sehr genossen. Wir waren drei Geschwister zu Hause und als Älteste musste ich immer ein bisschen zurückstecken“, erzählt sie.  In die Rolle von Carola Huflattich zu schlüpfen, fiel der Elfjährigen nicht schwer.  Von Natur aus brav und schüchtern gefiel es ihr, sich mal frech und rebellisch zu geben.  Das hat mich selbstbewusster gemacht, ich bin offener geworden.“ Ihre „Stunts“ hat sie selbst gemacht. Als sie mit dem Stuhl umkippte, fiel sie freilich nicht auf den harten Boden, sondern in weichen Schaumstoff. Ihr fallen viel lustige Szenen ein. „Als ich im Keller mit dem Gespenst gekämpft habe, war das wie Schattenboxen. Buh war ja nicht real vorhanden, und ich musste mich auf ihn werfen, stolpern, das hat richtigen Spaß gemacht.“ Die Flachfigur wurde später mit einem speziellen Verfahren in den Realfilm hineingebracht.

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Carola soll einen Stuhl aus dem Keller holen. Weil der Hausmeister nicht da ist, setzt sie sich in das Rednerpult an der Treppe. Hierhin verzog sich Nicole in einer Drehpause und schlief ein ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

In einer längeren Drehpause – man muss beim Film viel warten – hatte sich Nicole in das Rednerpult gesetzt, in dem sie sich als Carola vor dem Hausmeister versteckt, und ist eingeschlafen. Typisch Carola, könnte man sagen. „Die Rolle hatte auf mich wohl schon etwas abgefärbt“, lacht Nicole. Als weiter gedreht werden sollte, war die Hauptdarstellerin verschwunden. „Alle haben mich gesucht und nicht gefunden. Das war eine ganz schöne Aufregung. Rolf Losansky machte sich richtig Sorgen. Es hätte ja was passiert sein können. Er hatte die Verantwortung für uns Kinder.“ Trotzdem hat ihr niemand die Leviten gelesen, als sie nach einer Stunde hervorgekrochen kam.

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Kamermann Helmut Grewald (liegend) und Kamera-Assistent Wolfgang Kroffke filmen die Karussellszene ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Ein gleichermaßen großes Vergnügen waren die Dreharbeiten auch für die Schauspieler. Rolf Losansky hatte mit Rolf Ludwig, Dietmar Richter–Reinick, Barbara Dittus, Walfriede Schmitt, Günter Schubert und Karin Düwel die perfekte Wahl getroffen. Besonders mit Rolf Ludwig und Dietmar Richter-Reinick spielte Nicole gern.  „Sie machten mit uns immer Quatsch, wenn wir auf den nächsten Einsatz warten mussten“, erinnert sie sich. „Kinder sind keine Schauspieler, man muss sich als Erwachsener beim Spielen auf sie einlassen“, sagte Rolf Losansky immer. Wenn die Texte nicht wortwörtlich kamen, aber zur darzustellenden Situation passten, ließ er es zu. Von seinen Schauspielern erwartete er, dass sie das akzeptierten und darauf eingingen. Nicole erinnert sich noch mit Grausen an die Szenen auf dem Rummel, als sie Kettenkarussell fahren mussten. „Uns war hundeübel. Wir sind da wohl 100 Runden gefahren, ehe der Dreh im Kasten war. Dass uns schlecht war, mussten wir nicht spielen.“

Ein unerfüllter Traum

Im Februar 1987 kam der Film in die Kinos. „Es war Wahnsinn, sich als Kind auf der Leinwand zu sehen“, sagt Nicole. Weil ihr das so einen Spaß gemacht hatte, ging sie zum Casting für die Rolle der Anette in dem Kinderfilm „Die Weihnachtsgans Auguste“. „Ich wurde abgelehnt.  Stefanie Stappenbeck  hat damals die Rolle bekommen.“ Bei Rolf Losansky durfte sie noch einmal „Schauspielerin“ sein. Er besetzte Nicole 1988 in seinem Film „Abschiedsdisko“. Acht Jahre später, nach dem Abitur 1993, bewarb sich Nicole an der Schauspielschule. Zu jung, hieß es, sie solle es im nächsten Jahr erneut versuchen. „Ich hatte es vor“, sagt Nicole, „aber ich war nicht hartnäckig genug.“ Die Wartezeit überbrückte sie als Aupair-Mädchen in London. „Ich hatte eine super Familie erwischt. Sie schlug mir vor, einen Grafikkurs zu besuchen. Anschließend habe ich dann drei Jahre Grafikdesign in London studiert.“ Sie bekam dort dann eine Stelle in der weltweit arbeitenden Designagentur Pentagram. Nach 15 Jahren in London kehrte Nicole zurück nach Berlin und arbeitet seitdem in der Berliner Dependance von Pentagram. Sie entwirft Kreditkarten für Kunden in ganz Europa,  Firmenlogos, Plakte, Poster… Viele ihrer Arbeiten kann man im Filmmuseum Potsdam sehen. So schließt sich der Kreis.

Wie das Gespenst das Fliegen lernte

Seit 35 Jahren treibt Das Schulgespenst“ immer noch mit großem Erfolg sein Unwesen und ist inzwischen sowohl im Osten als auch im Westen populär.  Wie mit all seinen Kinderfilmen wurde Rolf Losansky († 2016) in all den Jahren von Schulen und Bibliotheken eingeladen. Die Kinder fanden insbesondere an den Szenen Spaß, in denen das Gespenst agiert. Wie es geschmeidig und wendig über die Dächer der Stadt tanzt, Fußball spielt, durch Schlüssellöcher schlüpft oder sich mit Carola im Keller einen Ringkampf liefert. Das Erstaunen der Kinder groß, wenn Rolf Losansky ihnen erzählte, dass all die lustigen Handlungen der Trickfigur nicht am Computer entstanden sind, sondern von Kameramänner, Filmtechnikern und Animatoren ausgeklügelt und ausgeführt worden sind.

Es waren vor allem Regisseure und Autoren von Kinder- und Märchenfilmen, die nach phantastischen Gestaltungsmöglichkeiten suchten. Als Rolf Losansky mit Peter Abraham das Drehbuch für „Das Schulgespenst“ schrieb, schwebte ihm vor, dass sich das Gespenst wie ein Geist in den Spielszenen bewegt, zugleich aber mit den Darstellern interagiert. Was so leicht aussieht, hat es filmtricktechnisch in sich. Wie schon bei seinen Kinderfilmen „Moritz in der Litfaßsäule“ (1982) und „Ein Schneemann für Afrika“  (1976/77) fand Rolf Losansky in der  DEFA-Trickabteilung begeisterte „Mittäter“.

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Trickabsprache zum DEFA-Film „Der Froschkönig“ 1987. v. l.n. r.: Trickfilmarchitekt Frank Wittstock, Kameramann Wolfgang Braumann, Trickkameramann Erich Günther und Regisseur Walter Beck ©DEFA-Stiftung/Dieter Jaeger
„Der Froschkönig“ wurde von ihnen 1987 zu einer sprechenden und agierenden Animationsfigur gemacht. V. l. Erich Günter, Wolfgang Chevallier, Frank Wittstock und Heiko Ebert Repro/SUPERillu/Jürgen Weyrich

„Mich hat schon immer gereizt, die Möglichkeiten des Animationsfilms mit denen des Realfilms zu kombinieren“, sagt Erich Günther, der Chefkameramann der Trickabteilung, den ich  2010 zusammen mit Trickfilmarchitekt und Modellgestalter Frank Wittstock, Chefanimator Heiko Ebert und Tricktechniker Wolfgang Chevallier bei meinen Recherchen zum DEFA-Märchenfilm „Der Froschkönig“ (1987) kennenlernte.  Sie haben tatsächlich wahre Wunder vollbracht. Sie brachten den Frosch zum Hüpfen und Sprechen, Schere und Nadel im Märchenfilm „Hans Röckle und der Teufel“ 1974 zum Schneidern, die Glühwürmchen in der „Geschichte vom goldenen Taler“ 1983 zum Tanzen und hauchten dem „Schneemann für Afrika“ 1976 Leben  ein.

Für den Film „Das Schulgespenst“ war wiederum ihre außergewöhnliche Kreativität gefordert. „Die Schülerin Carola hat das Gespenst mit Kreide an die Wandtafel gemalt und zum Leben erweckt. Wir entschlossen uns, das Gespenst als eine in sich variable Flachfigur aufzunehmen und direkt ins Negativ einzubelichten“, erzählt Erich Günther. Regisseur Rolf Losansky gefiel die Idee, da sie seinen Vorstellungen entsprach.  Frank Wittstock baute die Figur. Damit die Bewegungen des Gespenstes im Film fließend erschienen, gliederte er die Fläche der Figur schuppenartig in Segmente auf. So konnte sie bei der Animation einzelbildweise in sich verändert und bewegt werden. 

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Darstellung des Aufnahmesystems zum Mitfahren einer deckungsgleichen Schwarzweiß-Bildmatrize. Zeichnung: Erich Günther Quelle: „Wie haben sie’s gemacht?…“Schüren-Verlag GmbH

Die spannende Frage für mich war, wie das Gespenst in die Realszenen hineinkommt. Dafür hatte Erich Günther eine spezielle Technologie entwickelt, die er bereits für die Animation der Glühwürmchen in der „Geschichte vom goldenen Taler“ angewandt hatte. Er kombinierte auf einer Basis zwei Kameras im rechten Winkel zueinander. Die Kamera 1 nahm den Realfilm in Farbe auf. Kamera 2  lief synchron mit und nahm die Szenen über einen halbdurchlässigen Spiegel in schwarzweiß auf. Mit dieser Einrichtung wurden alle Einstellungen auf, in denen das Gespenst agieren sollte. So entstanden zwei deckungsgleiche Filmnegative, von denen Erich Günther zunächst nur das Schwarzweiß-Material – die Bildmatrize – im Kopierwerk entwickeln ließ.  Sie diente Rolf Losansky am Schneidetisch zur Ausmusterung und dem Trickteam später beim Einbelichten des Gespenstes in den Farbfilm zur Animation der Trickfigur. Da für die Bildmatrize über einen Spiegel fotografiert wurde, entstanden seitenverkehrte Bilder. So musste Rolf Losansky das Filmmaterial am Schneidetisch auch seitenverkehrt betrachten.

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Rolf Losansky beendete seine Dreharbeiten in Arnstadt im Dezember 1985. Dann begann die Arbeit der Trickleute. Das vorbelichtete ORWO-Farbmaterial kam unbesehen bis zum Gebrauch in den Kühlschrank. Bei einer Temperatur von 3 Grad Celsius konnte es ein Jahr lagern, ohne farbliche Veränderungen zu erleiden. Erich Günther erinnert sich: „Im Dezember begannen wir damit, die ersten Trickeinstellungen zu kombinieren. Im Sommer 1986 legten wir die letzten zur Abnahme am Schneidetisch vor.“ Die Einbelichtung des Gespenstes beschreibt der Trickspezialist in dem Buch „Wie haben sie’s gemacht…? Babelsberger Kameramänner öffnen ihre Trickkiste“ von Uwe Fleischer und Helge Trimpert (Schüren-Verlag GmbH, 2007). 

„In unserem Trickatelier hatten wir einen Spezialaufbau eingerichtet,  bei dem in eine Kamera das vorbelichtete Farbmaterial eingelegt wurde… Ähnlich wie der Aufnahme haben wir nun anstelle der Kamera 2 in einen Filmprojektor eingesetzt, der es möglich machte, im Einzelbild die Bildmatrize zu projizieren. Über einen halbdurchlässigen Spiegel und einen Umlenkspiegel wurde das Matrizenbild auf die Arbeitsfläche des Animators gebracht. “

Der Ablauf war dann folgender: Das Einrichtungsbild wurde von der schwarzweiß-Bildmatrize – dem Film aus Kamera zwei – projiziert, der Animator führte die Bewegung aus, die Projektion wurde ausgeschaltet, das Arbeitslicht zur Aufhellung des Schulgespenstes eingeschaltet und mit der Kamera ein Bild ausglöst. Für eine Sequenz von 10 Sekunden wurde dieser Vorgang 240mal wiederholt. „Wir hatten zwei Animationsstrecken aufgebaut, sodass wir etwa 20 Sekunden gespielte Szene pro Tag drehen konnten.“
Neun Monate dauerten es, bis der Film endgültig fertig war und am 7. Februar 1987 auf dem 5. Kinderfilmfestival „Goldener Spatz“ seine Premiere gefeiert werden konnte. Die Kinderjury zeichnete Rolf Losansky mit dem Ehrenpreis aus. Im selben Jahr gewann er in auf dem 5. Festival des Kinderfilms in Essen den „Blauen Elefanten“. 

Die DEFA-Trickfilmer galten als Perfektionisten. „Der Reiz am klassischen Trick sind die Geheimniss. Man probiert, testet aus, sagt Wolfgang Chevallier. „Mit dem Computer ist heute alles möglich.“