Archiv der Kategorie: DDR-Fernsehen

Ein Abschiedslied für Regisseurin Christa Mühl

Am 22. Oktober bekam ich folgende Mail:
Sehr verehrte, liebe Bärbel Beuchler,
ich wende mich heute mit einer großen Bitte an Sie, auch im Namen von Christa Mühls Tochter Susanne Hecht. Ich war zu DDR-Zeiten bei allen Filmen, die Christa Mühl bei der DEFA gedreht hat, ihre Regie-Assistentin. Daraus ist in 40 Jahren eine tiefe, intensive und enge Freundschaft entstanden. Nachdem wir beide kurz hintereinander Witwen wurden, vertiefte sich die Freundschaft noch. Nun ist Christa Mühl sehr schnell und plötzlich verstorben, und wir befinden uns alle noch in einer Art Schockstarre. Meine Bitte an Sie ist, ihr einen Nachruf zu widmen.
Mit sehr herzlichen Grüßen Barbara Häselbarth-Pietsch“

Es war für mich keine Frage, dieser Bitte zu entsprechen. Christa Mühl und ich hatten uns befreundet, als ich 2014 für die SUPERillu einen Beitrag über ihren Film „Die Rache des Kapitän Mitchell“ geschrieben habe.

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Im Juni und im August 2019 war Christa Mühl (3.v.r.) mit dem ehemaligen ZDF-Traumschiff, der „MS Berlin“, auf Lesereise © Privatarchiv Mühl

Christa Mühl war 72 Jahre und mitnichten bereit zu gehen, als ein heimtückischer Krebs sie in den frühen Morgenstunden des 14. Oktober 2019 aus dem Leben riss. Die Diagnose bekam sie nur vier Wochen zuvor. Sie war gerade von einer erfolgreichen Lesereise auf der „MS Berlin“, dem einstigen ZDF-Traumschiff, zurückgekehrt. Für zwei Folgen der Reihe hatte sie die Drehbücher verfasst, „Argentinien“ 1998 und „Tahiti“ 1999. Man hatte die Autorin nicht vergessen und zum 40-jährigen Jubiläum des Kreuzfahrtschiffes als Stargast für das Unterhaltungsprogramm eingeladen.

Wer Christa Mühl kannte, weiß, dass sie nie ohne ein Mitbringsel kam. So hatte sie denn auch neben ihren beiden Krimis „Seniorenknast – wir kommen!, der Fortsetzung „Seniorenknast – da sind wir!“ und ihrem Buch „Action! – im Traunsee-Märchenland“ als Geschenk eine extra für diese Reise geschriebene Geschichte im Gepäck: „Ich war noch niemals in New York“. Darin erzählt sie, wie Produzent Wolfgang Rademann sie angeheuert hat und wie ihre Filme für das „Traumschiff“ entstanden sind. Als die Regieaufträge ausblieben, gab sie nicht auf und hat aus drei nicht angenommenen Drehbüchern ihre Krimi-Bücher erarbeitet, mit denen sie dann auf Lesereise gehen konnte. Marianne Conrad, eine langjährige Mitarbeiterin ihres Mannes Werner Hecht, die sie bei der Digitalisierung und Drucklegung der Bücher unterstützte, erzählte mir: „Aus dem Alten schöpfen, aufschreiben, was sich in vier Jahrzehnten Filmemachen zugetragen hat, Geschichten, die keiner kannte, dieser Gedanke hat sie in der letzten Zeit wieder aktiviert. Darin hatte sie noch einmal eine Perspektive gesehen“.

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Am 10. Juli 1971 haben Christa Mühl (1947-2019) und Werner Hecht (1926-2017) geheiratet. Das Foto zeigt sie 1982.  © Privatarchiv Mühl

Werner Hechts Tod im Februar 2017, er war im Dezember 90 Jahre alt geworden, hatte die fröhliche, voller Energie und Pläne steckende Regisseurin lange innerlich gelähmt. Ein halbes Jahrhundert waren sie sich nicht nur in Liebe zugetan, sondern lebten auch eine große schöpferische Partnerschaft. „Werner fand meine Arbeit viel spannender als seine. Es gefiel ihm auch sehr, dass wir zwei Dokumentarfilme miteinander machen konnten. Er hätte gern den Brecht hingeschmissen und nur noch Drehbücher geschrieben, am liebsten Krimis“, schreibt Christa Mühl in ihren privaten Aufzeichnungen.
Die Chemiefacharbeiterin und der Dramaturg des Berliner Ensembles hatten sich im März 1968 kennengelernt, als Werner Hecht im Hallenser Klub der Intelligenz einen Vortrag über Brechts Theatermethode hielt. Die damals 21-Jährige  folgte seinen Ausführungen begierig, wollte sie doch seit ihrem 16. Lebensjahr Regisseurin werden. Während der Schulzeit in Halle hatte sie im Dramatischen Zirkel gearbeitet, Artikel über Theateraufführungen geschrieben, sich mit den deutschen Klassikern befasst – Feuchtwanger, die Brüder Mann, Heine und was die Bibliothek an großer Literatur noch so hergab. „In Gedanken sah ich viel Gelesenes als Film vor mir“, notierte sie.  Aber wie wird man Regisseurin?  Was braucht man dafür?

Christa Mühl erzählte dem erfahrenen Theatermann von ihren Ambitionen. Es entwickelte sich schnell eine intensive Beziehung, die über die gemeinsamen Theaterinteressen hinausging. Werner Hecht ließ sich scheiden und heiratete 1971 die zwei Jahrzehnte Jüngere. 1973 bekamen sie ihre Tochter Susanne. Christa Mühl studierte und arbeitete weiter unter ihrem Mädchennamen. Sie wollte nicht vom Ruhm ihres Mannes profitieren. Werner Hecht fand es völlig in Ordnung, wenn ihn Leute, die nichts mit Brecht zu tun hatten, mit „Herr Mühl“ ansprachen.

 


Als ihr erstes gemeinsames Projekt entstand 1970 Christa Mühls Hochschulfilm Die Kollwitz und ihre Kinder“. Ein amüsantes zehnminütiges Filmfeuilleton über das Treiben der Kinder auf dem Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg, die das Denkmal von Käthe Kollwitz unbekümmert als Spielplatz in Besitz nehmen, wie die Fotos zeigen. „Wir wohnten in der Nähe und amüsierten uns im Vorbeigehen, wie die Kinder darauf herumtobten“, erzählt die Regisseurin 2018 in einem Interview, als sie hier noch einmal mit Kamera und Mikrophon unterwegs war. Der Bildhauer Gustav Seitz, dem Werner Hecht geschrieben hatte, was seiner Plastik so jeden Tag widerfährt, war sehr froh darüber. „Der Sockel ist extra breit und niedrig gehalten, mit der Absicht, dass Kinder darauf spielen und herumkraxeln können. Sollten Sie mal Fotos mit den Kindern an der Kollwitz-Plastik machen können, dann würde es mich freuen“, antwortete er im Oktober 1969. Christa Mühl legte die Sätze über die letzten Sequenzen ihres Films (siehe oben). „Aus unserem kleinen Film ist ein richtig großes Ding geworden“, erinnerte sie sich. Nach seiner Ausstrahlung im Fernsehen, was bei Studentenfilmen nicht üblich war, löste er eine riesige öffentliche Debatte über den „Gebrauchswert“ von Kunst aus. Das war noch nie vorgekommen.

 

1973 erarbeitete sie mit Werner Hecht ein Filmporträt über Helene Weigel, für das das „Kollektiv“ Werner Hecht und Christa Mühl mit dem Fernsehpreis „Silberner Lorbeer“ ausgezeichnet wurde. Im Jahr darauf drehten sie eine szenische Rekonstruktion vom Verfahren, das 1932 zum Verbot des legendären Films von Slatan Dudow und Bertolt Brecht Kuhle Wampe: Oder wem gehört die Welt?“ geführt hatte. Durch die erhaltenen Zensurprotokolle kam ein spannendes Drehbuch zustande, mit dem sie prominente Schauspieler wie Kurt Böwe, Erika Pelikowski, Erwin Geschonneck und Wolfgang Greese für das Projekt gewinnen konnten. Die Produktion hatte das DEFA-Dokumentarfilmstudio übernommen. Für die frischgebackene Absolventin der Filmhochschule Babelsberg der erste Schritt in das Hollywood des Ostens, wie sie sagte.

Die DEFA wurde für Christa Mühl in den folgenden Jahren mit jedem Film, den sie hier für das Fernsehen drehte, mehr zur zweiten Heimat. Über diese Zeit hatte sie Material gesammelt, sich mit vielen ehemaligen DEFA-Mitarbeitern getroffen und erinnert. „Bei allen Problemen und Unzulänglichkeiten war das eine unvergessliche Zeit voller Kreativität und voller Geschichten“, erzählte sie mir einmal. Aus all dem sollte ein Buch werden, „Babelsberg – die zweite Heimat“, das nun unvollendet geblieben ist. Ebenso ein zweites, das sie den Kollegen widmen wollte, ohne die keiner ihrer Filme zustande gekommen wäre. Christa Mühl pflegte ihre intensiven Beziehungen zu Menschen, mit denen sie gearbeitet hat, auch über die Produktion eines Films hinaus.

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Ein Arbeitsfoto der Regisseurin aus den 80er Jahren

„Christa hat den Beruf ausgeübt, wie heute kaum ein Regisseur. Sie war ein Teamplayer, sie hat die Atmosphäre am Set geschaffen, jeder war für sie wichtig. Man konnte mit ihr Schmerz wegtragen, wenn etwas schiefgegangen war“, erzählt mir Schauspieler Wolfgang Stumph, der mit ihr von 1995 bis 1998 elf Filme für die ZDF-Krimi-Reihe „Stubbe – Von Fall zu Fall“ gedreht hat. „Es ist Christas Verdienst, dass wir nach dem tödlichen Unfall von Wolfgang Luderer, dem ersten Regisseur, sofort weitermachen konnten.“ Ihr warmherziger, nie aufgeregter Umgang mit allen, die an ihren Filmproduktionen beteiligt waren, selbstredend den Schauspielern, hielt auch den vor Einfällen übersprühenden Wolfgang Stumph im Zaum, der sich damals noch als Neuling auf dem Terrain bewegte. Was eine Kunst ist, wie jeder weiß, der mit dem selbstbewussten Dresdner schon zu tun hatte. Christa Mühl hatte auch ein genaues Gespür für das Anliegen der Reihe. Neben der harten Krimirealität sollte es in den Filmen menscheln. Das zu produzieren, lag in ihrem Naturell.

Viele Jahre kannte ich Christa Mühl nur vom Sehen. Es war irgendwann in den 70er Jahren, als wir uns auf dem Gelände des DDR-Fernsehens in Johannisthal über den Weg liefen. Ich war dort Redakteurin in der Redaktion „Für Freunde der russischen Sprache“. Mit einem unverwechselbaren, fröhlichen Lachen schlenderte sie mit zwei Kolleginnen zur Kantine, in knallengen Jeans, Pulli und einem Tuch um die rotblonden Haare geschlungen. Ein bisschen außergewöhnlich, fand ich, aber schick. Sie gehörte zum Bereich „Dramatische Kunst“, der eine Etage über uns angesiedelt war. Wir hatten damals keine Berührungspunkte. Ich wusste weder was sie machte, noch wie sie hieß. Da ich nun ihrem Lebensweg nachgegangen bin, weiß ich, dass sie Regie-Assistentin und ihr Mentor Thomas Langhoff war, einer der wichtigsten Regisseure der DDR. Mit ihm drehte sie 1975/76 den Fernsehfilm Die Forelle“ – und war wieder in Babelsberg. Thomas Langhoff! Das war wie ein Hauptgewinn im Lotto… Von ihm habe ich so viel gelernt, vor allem, was die Arbeit mit Schauspielern betrifft… Dass ich ihm assistieren durfte, war ein großes Glück für meine weitere Arbeit im Regie-Beruf, schreibt sie in ihren privaten Notizen.

Dieter Mann , zur DVD-Serie...
2014 besuchte ich mit Christa Mühl Schauspieler Dieter Mann, den Protagonisten ihres zweiten Brecht-Films, „Die Rache des Kapitän Mitchell“, der 1979 der am 23. 12. 1979 im DDR-Fernsehen Premiere hatte.  © Boris Trenkel

Dass ihr schon bald der Sprung von der Assistentin zur Regisseurin gelungen ist, hatte nicht nur mit handwerklichem und künstlerischem Können zu tun. Christa Mühl hatte zusammen mit ihrem Mann Werner Hecht einen Filmstoff gefunden, den die Chefs der „Dramatischen Kunst“ nicht ablehnen konnte: Bertolt Brechts knapp erzählte Kalendergeschichte „Der Arbeitsplatz“. Filmproduzent Alfried Nehring, er war damals Chefdramaturg für „Weltliteratur und Theater“, erinnert sich: „Als Voraussetzung hatte sie drei Trümpfe in der Hand: Es war die erste eigene Brecht-Verfilmung im DDR-Fernsehen, sie hatte dafür die Zustimmung der Brecht-Erben und bei der Arbeit am Drehbuch ihren Mann, den Brechtspezialisten Werner Hecht, an der Seite. Was ich im Verlauf der Drehbucharbeit und der Vorbereitung an ihr besonders schätzen lernte, war ihr klares Verständnis dafür, was dieser Film braucht. Schon ihr neuer Titelvorschlag Tod und Auferstehung des Wilhelm Hausmann gefiel mir. Dann schlug sie vor, ihn nicht in Farbe zu drehen. Sie wollte die Zeit und die soziale Situation, in der die Story spielt – der großen Weltwirtschaftskrise – so authentisch wie möglich filmisch umsetzen.“

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Christa Mühl im Herbst 2016 auf dem Baumwipfelpad in Beelitz-Heilstätten. Ihr Mann Werner Hecht befand sich hier in der Klinik © Privatarchiv Mühl

Christa Mühl war als Regisseurin etwas Besonderes. Sie besaß die Gabe, ihre Begeisterung für ein Projekt auf andere zu übertragen. So gewann sie herausragende Schauspieler wie Ursula Karusseit, Walfriede Schmitt und Kurt Böwe für die Hauptrollen, in den Nebenrollen agierten Jutta Wachowiak, Martin Trettau und Hans Teuscher. Darüberhinaus konnte sie in kritischen Situationen wunderbar improvisieren und rette zum Beispiel den ersten Drehtag für Tod und Auferstehung des Wilhelm Hausmann“.

Walfriede Schmitt, die in beinahe jedem Mühl-Film mitspielte, erzählt: „In der Nacht vor dem ersten Drehtag wurde am Drehort eingebrochen, Kostümteile, Requisiten und vieles andere gestohlen. An sich eine Katastrophe. Nicht für Christa. Sie plante um, organisierte, um Fehlendes zu ersetzen. Auch als der Zug entgleist ist, in dem wir gedreht haben, blieb sie entspannt, holte Hilfe herbei, hat das Team beruhigt, gescherzt, aufgemuntert, als wären Katastrophen ihr eigentliches Element.“ Zur Abnahme des Films lud sie Thomas Langhoff ein.  Sein zustimmendes Nicken war ihr mehr wert als die Meinung der Fernsehleitung. Das schönste Weihnachtsgeschenk für die damals 30-Jährige war die Ausstrahlung ihrer ersten eigenen Regiearbeit am 24. Dezember 1977.

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Die Produktion des Films verlangte quasi Wunder von Szenenbildner Klaus Winkler, denn er spielte in London und musste aus Kostengründen in der DDR gedreht werden  Quelle: Superillu-shop

Nur zwei Jahre später inszenierte Christa Mühl ihren zweiten Brecht-Film, „Die Rache des Kapitän Mitchell“ , nach dem nahezu unbekannten Filmstoff „Safty First“, den Brecht 1934 in London entwickelt hatte. Dramaturg Detlef Espey hatte die Geschichte Jahre zuvor entdeckt und vergeblich versucht, von den Brecht-Erben die Rechte für seine Fernsehspielreihe „Erlesenes“ zu bekommen. Nachdem Christa Mühl mit ihrem Debütfilm „Tod und Auferstehung des Wilhelm Hausmann“ international Beachtung gefunden hatte, für den Prix Italia, dem damals höchsten europäischen Fernsehpreis, nominiert war, und gute Verkäufe im Ausland die Kassen klingeln ließen, gaben sie ihre Zustimmung. Es musste aber ein Film werden, und er musste wiederum in den Händen von Christa Mühl und Werner Hecht liegen.

„Wir fanden in der Geschichte Material für einen abenteuerlichen Film mit extremen Handlungsumschwüngen“, erzählte mir Christa Mühl, als ich 2014 mit ihr und Dieter Mann für einen Artikel in der SUPERillu über den Film sprach. Am 23. Dezember 1979 hatte die Geschichte über den Versicherungsbetrug um den britischen Luxusliner „Astoria“ im 1. Programm des DDR-Fernsehens Premiere. Der Film war wiederum mit den besten Schauspielern der Berliner Theaterszene besetzt. Die Hauptrolle spielte Dieter Mann, daneben wirkten Ekkehard Schall, Jutta Hoffmann, Walfriede Schmitt und Swetlana Schönfeld. Voller Verehrung erzählte er, wie selbstverständlich der große Wolfgang Heinz seine kleine Rolle spielte und sich in die Hände der jungen Regisseurin gab. „Christa hat mir jede Freiheit gelassen. Und wir haben mitunter schon eine gute Fassung gehabt, konnten sie aber nicht nehmen, weil die Regisseurin hinter der Kamera alles verlacht hat“, erinnert sich Dieter Mann. Bei Christa Mühl war das so. Wer sie am Set suchte, musste nicht den Kabeln zur Kamera folgen, er brauchte nur ihrem Lachen entgegenlaufen.

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Christa Mühl hatte zum Treffen bei Dieter Mann ihre Drehbuchnotizen und die Klappe mitgebracht © Boris Trenkel

Die Realisierung ist eine große Herausforderung gewesen. Nicht nur für die Regisseurin. „Das Verderben war, wir hatten nichts. Kein Schiff, keine Devisen um in England zu drehen“, erzählte Christa Mühl über vier Jahrzehnte später. Der Szenenbildner Klaus Winter hat wahre Wunder vollbracht. Auf dem DEFA-Gelände zauberten die Kulissenbauer die Londoner Hafencity. Von englischen Aufklebern über Bierdeckel, Straßenschilder bis zum „Daily Telegraph“ von 1938 ist alles Marke Eigenbau. Die Stoffe für die Ausstattung der Räume für die Innendrehs hat Winters Cousine aus England geschickt. Eine ganze Straße im Zentrum von Brandenburg wurde für die Szene, in der Mitchell aus dem Café zu Jane läuft, umgestaltet. Winters genialste Idee war es, ein altes Taxi zu bekleben, alle Schilder mit Spiegelschrift anfertigen und die Knopfleisten der Kostüme versetzen zu lassen. Dann wurde gedreht, seitenverkehrt kopiert und alles war richtig. Alle glaubten, die Aufnahmen seien in London entstanden. Mit Kosten von 1, 2 Millionen DDR-Mark war es die aufwendigste Filmproduktion, die das Fernsehen je für einen 90-Minuten-Film ausgegeben hat. Mit diesen beiden Filmen erwarb Christa Mühl in der Branche, vor allem bei den Schauspielern großes Vertrauen. Wenn sie eine Besetzung anbot, sagte niemand nein.

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Wiedersehen nach langer Zeit aus traurigem Anlass. Schauspielerin Walfriede Schmitt  drehte mit Christa Mühl  in der SAT.1-Serie „Für alle Fälle Stefanie“, Madeleine Lierck-Wien  in der Soap „Rote Rosen“ © B. Beuchler

Inhaltlich wandte sie sich ab 1980 verstärkt Gegenwartsthemen zu. Sie griff die kleinen und großen Probleme im Leben und ihrer Geschlechtsgenossinen auf. „Meine Filme sollen auch Mut machen, das Bewusstsein schärfen für die enormen Chancen, die Frauen in unserer Gesellschaft haben“, sagte sie 1987 in einem Interview mit der DDR-Frauenzeitschrift „Für Dich“. Oft genug stieß Christa Mühl dabei selbst an Mauern, musste einen Kampf gegen ideologische Engstirnigkeit bei der Fernsehoberen führen. Weil er sich ihrer Ansicht gegen die Kulturpolitik der DDR richte, verschwand ihr Film „Die Generalprobe“ nach seiner Premiere am 11. Juli 1982 im zweiten Programm des DDR-Fernsehens im Archiv. Erzählt wird darin, wie eine junge selbstbewusste Schauspielerin an einem kleinen Theater sich in ihrer Ehe und in ihrem Beruf gegen überkommene Vorstellungen von der Rolle der Frau zur Wehr setzt. Zwei Jahre später legte Christa Mühl das Drehbuch für den Film „Paulines zweites Leben“ vor, in dem sich eine Frau mit 50 aus ihrer beengenden Ehe befreit und neu anfängt. „Ein liebevoller, witziger Film über unser Leben, der anfangs gar nicht erst gedreht werden sollte. Er habe keine 20-Uhr-Qualität, hieß es vom Fernsehkomitee“, erinnert sich Walfriede Schmitt, die mit Schauspielerin Annemone Haase  die Hauptrollen spielt, in ihrer Abschiedsrede auf der Trauerfeier.

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Heidemarie Wenzel und Leon Niemczyk 1985 auf dem Titel der DDR-Fernsehzeitschrift „FF dabei“ . Sie spielten die Hauptrollen in Christa Mühls Fontane-Adaption „Franziska“ . Mit der Schauspielerin hat sie aus ihrem Krimi „Seniorenkanst – wir kommen“ gelesen © FF dabei/ Waltraud Denger

Christa Mühl schaffte es nach vielen Attacken, dass sie den Film drehen durfte. Als er nach nochmals vielen Mühen gesendet wurde, gab es große Zustimmung bei den Zuschauern. Warum werden nicht mehr solcher Geschichten gezeigt, war der Tenor der Leserbriefe an die Fernsehzeitschrift FF dabei“. Es war der nicht seltene Fall, dass die Verantwortlichen in ihren Positionen nicht wussten, was das Fernsehvolk wirklich sehen wollte. Nachdem der Film in Bulgarien mit einem Fernsehpreis ausgezeichnet worden war, zog das DDR-Fernsehen nach und verlieh der Regisseurin und den Hauptdarstellerinnen den „Silbernen Lorbeer“. Danach suchte sie sich erholsame Filmstoffe und drehte 1985 die Fontane-Adaption Franziska“ (1985) und 1986 nach einer Vorlage von Anna Seghers „Das wirkliche Blau“.

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Christa Mühl auf dem Titelbild der Frauenzeitschrift „Für dich“, die die  Regisseurin anlässlich ihres 40. Geburtstages in einem Interview vorgestellt hat © Privatarchiv Mühl

Ich sah Christa Mühl 1988 wieder, als ich für die „FF dabei“ in der Hochschule der Volkspolizei an einer Diskussion mit angehenden Kriminalisten teilnahm. Ich erinnere mich, dass es um die Frage ging, wie realistisch muss die Arbeit der Kriminalisten dargestellt werden, wieviel Freiheit kann sich der Regisseur nehmen, um einen Täter für die Zuschauer spannend zu überführen. Gegenstand war Polizeiruf 110: Abschiedslied für Linda“, den Christa Mühl inszeniert und für den ihr Mann Werner Hecht das Drehbuch geschrieben hatte. Viele ihrer Einfälle wurden gestrichen, Details bis hin zu solchen Kleinigkeiten wie ein Aschenbecher im Zimmer der drei Kommissare und herumliegende Akten wurden moniert. „Danach Die jungen Polizisten fanden das übertrieben. Sie wollten spannende Krimis sehen und nicht ein Abbild der Realität. Christa Mühl gab mir damals ihre Telefonnummer. Ich hätte ja noch Fragen haben können. Was für ein Glück, dass sie sie nie geändert hat. So erreichte ich sie, als ich den Auftrag hatte, für die SUPERillu etwas über den Film Die Rache des Kapitän Mitchell“ zu schreiben.

Christa Mühls letzte Arbeit für das DDR-Fernsehen war die siebenteilige Serie Fritze Bollmann will angeln“, die von Anfang an unter einem schlechten Stern stand. Hauptdarsteller Dieter Wien erkrankte schwer, dann kam die Wendezeit und mehrere Schauspieler gingen in den Westen. Nach etlichen Umbesetzungen konnte die Serie zu Ende gedreht werden. Am Ende der DDR, des Fernsehens und der DEFA wusste die 44-Jährige, die 1988 mit dem Kunstpreis der DDR geehrt wurde und eine der wenigen erfolgreichen Filmregisseurin in der DDR gewesen ist, eigene Filme wie bisher wird sie nicht mehr machen. Von nun an lebte sie in einer westdeutsch dominierten Branche. Die gut ausgebildeten Kollegen, die da aus dem Osten plötzlich in den Markt schwemmten, waren Konkurrenz, die man nicht wollte.

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Christa Mühl mit Filmproduzent Alfried Nehring (2. v. r.) und Kameramann Franz Xaver Lederle bei  Dreharbeiten für ihren Film „Stubbe macht Urlaub“ 1995 in Ahrenshoop ©  Privatarchiv A. Nehring

Es veränderte sich aber auch etwas in der Fernsehlandschaft. Anfang der 90er Jahre brach die Epoche der Weeklys, Soaps und Telenovelas an. Für Christa Mühl tat sich ein Tor auf. Sie schrieb und inszenierte 1992-1994 für den Filmproduzenten Thomas Bürger, einen ehemaligen DEFA-Aufnahmeleiter, die Soap „Marienhof“. Anschließend drehte sie zwei Folgen für die „Lindenstraße“. Parallel zu ihrer Arbeit für die ZDF-Reihe „Stubbe – Von Fall zu Fall“ stieg sie 1996 als Regisseurin in die   die beliebte STA1.-Serie „Für alle Stefanie“ ein. Bis 2001 drehte sie 23 Folgen und schrieb 15 Drehbücher. Was immer sie  inszeniert, sie holt viele den Zuschauern im Osten vertraute DDR-Schauspieler wieder vor die Kamera. „Ich hätte mir nie träumen lassen, mal mit Theatergrößen wie Dieter Mann, Annekathrin Bürger, Barbara Dittus Horst Drinda und Christine Schorn zu spielen“, sagt Wolfgang Stumph.

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„Das Buch ist ein Oldtimer… 2003 geschrieben – nach zwei glücklichen Jahren in Gmunden“, leitet Christa Mühl ihre Erzählungen ein, die im Engelsdorfer Verlag erschienen sind

Oft wurde Christa Mühl gefragt, ob sie bei einer Staffel der Serie „Schlosshotel Orth“ Regie führen möchte. Und immer musste sie absagen, weil schon andere Verträge unterschrieben waren. 2001 hat sie endlich Zeit und erlebt im österreichischen Gmunden zwei ihrer schönsten Arbeitsjahre. Auch deutsche Fernsehproduzenten wissen inzwischen Christa Mühls Kreativität, ihr handwerkliches Können und ihren Einsatz zu schätzen. 2004 hebt sie mit „Bianca – Wege zum Glück“ die deutschen Telenovelas aus der Taufe und inszeniert bis 2011 wohl an die 200 Folgen der Reihe. Für die ARD dreht sie von 2006 bis 2010 die Dauerserie „Rote Rosen“. Was sie mit ihren DDR-Filmen angefangen hat, setzte sie in den Serien fort. Sie verwendete viel Mühe darauf, in die Geschichten, die sich wieder um das Leben von Frauen drehen, die gesellschaftlichen Verhältnisse einzubeziehen. „Wenn ich schon Serien mache, dann mit Puff“, hatte sie mal gesagt.

Und plötzlich ist sie ausgemustert. Mit 65 zu alt, zu teuer. Sie reicht Drehbücher ein, doch keiner will sie. Ihr Krimi Seniorenknast – wir kommen!“ sollte ursprünglich ein Film werden. Da machte sie eine ähnliche Erfahrung wie beim DDR-Fernsehen. Leute jenseits der 60 sind heute zwar das Gros der Zuschauer, doch die Sender kaprizieren sich auf eine jugendlichere Zielgruppe. Die sitzt mitnichten abends vor dem Fernseher. Es hat sie tieftraurig gemacht, nicht mehr Regie führen zu dürfen, als ausschussreifes Schrottmodell stigmatisiert zu werden, wenn man es noch gar nicht ist, erfahre ich bei der Trauerfeier von ihrer Freundin, der Regisseurin Renata Kaye.

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Ihre Freundinnen Renata Kaye und Barbara Häselbarth-Pietsch führen den Trauerzug an. Allen, die Christa Mühl kannten, wird besonders eins fehlen: ihr herzerfrischendes Lachen © B. Beuchler

Am 12. November wurde Christa Mühl neben ihrem Mann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt. Begleitet von ihrer Familie, von engen Freunden und Menschen, mit denen sie gearbeitet hat, die sie als Regisseurin schätzten wie die Schauspieler Ute Lubosch, Giso Weißbach – den Hauptdarsteller im Polizeiruf 110: Abschiedslied für Linda“ – , Pierre Sanoussi-Bliss, der 1986 in Christa Mühls „Weihnachtsgeschichten“ mitspielte.  Wirklich fassen kann es jedoch noch keiner, dass sie nicht mehr da ist. „Der Tod muss gestolpert sein und hat dabei das Kreuz auf seiner Liste an die falsche Stelle gesetzt“, spricht Schauspielerin Walfriede Schmitt allen aus dem Herzen. Christa Mühl nahm den Krebs als eine vorübergehende, zu bewältigende Krankheit. Sie besaß eine unerschütterliche Zuversicht in das Leben. Der Tod musste sie schon einmal gehen lassen. Mit großer Anstrengung hatte sie eine Erkrankung überwunden, die für andere das Ende bedeutet hätte. Doch dieses eine Mal reichten Zuversicht, Optimismus und Kraft nicht.

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Wer ist eigentlich Frau Puppendoktor Pille?

Als Urte Blankenstein vor 50 Jahren im „Abendgruß“ des DFF ihre erste Sprechstunde als Puppendoktor Pille abhielt, hatte ich gerade mein Volontariat beim Fernsehen begonnen, war der Sandmännchen-Gemeinde also lange entwachsen. Eines Sonntags saß ich dann aber doch einmal justament vor dem Fernseher, als Puppendoktor Pille Dienst hatte. Ich guckte und horchte – etwas irritierte mich. Stimme, Aussehen – das passte zu meiner Erinnerung, die zehn Jahre zurück lag, und auch wieder nicht. Ist sie es oder ist sie es nicht, „meine“ Puppendoktor Pille?

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Von 1959 bis 1963 hielt Helga Labudda als Puppendoktor Pille im Abendgruß ihre Sprechstunden ab. Die Schauspielerin starb 2014 Quelle: Privatarchiv

Es war nicht Helga Labudda, die ich als Puppendoktor Pille kannte. Ich gebe zu, dass ich im ersten Moment der Erkenntnis ein kleines bisschen traurig war. Aber so ist das, wenn sich Gewohntes plötzlich verändert. Sie hatte die Figur 1959 eingeführt und ziemlich schnell die Zuschauerkinder erobert. Wenn sie sich am Schluss der Sendung mit der freundlichen Aufforderung verabschiedete: „Habt Ihr Kummer oder Sorgen, dann schreibt gleich morgen an Frau Puppendoktor Pille mit der großen klugen Brille …“, konnte die Abendgruß-Redaktion gewiss sein, dass ihr die Briefe zuhauf auf den Tisch flatterten. Nach Helga Labudda füllte Schauspielerin Angela Brunner fünf Jahre diesen Platz aus.

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Urte Blankenstein 1968 als„Puppendoktor Pille“ im Abendgruß des DFF Foto: Privatarchiv

1968 übernahm schließlich Schauspielerin Urte Blankenstein Stethoskop und Arztkittel und hat beides bis dato nicht abgelegt. Nicht mehr auf dem Bildschirm, ihre Abendgrüße wurden 1988 eingestellt. Das tat weh. Vor allem die Begründung war makaber. „Man wollte wegen der großen Beliebtheit der Figur nicht riskieren, dass es bei meinem Ableben zu einer solchen Staatstrauer kommt wie 1976 beim Tod von Eckhart Friedrichson, der den Meister Nadelöhr gespielt hatte. Ich war damals 44!“
Trost waren ihr ihre Bühnen-Programme für Kinder, mit denen sie schon seit 1970 als Puppendoktor Pille in Schulen, Kindergärten, auf Stadtfesten aufgetreten ist. Ihre Texte und Lieder schreibt und bearbeitet sie am Computer selbst. Sie war 50, als sie sich die neue, die digitale Technik angeeignet hat. „In meinen Vorstellungen, die kleine, interaktive Theaterstück sind, geht um Gesundheit, Sport, Spiel, alles eingebettet in Musik. Ich spreche die Kinder an und nehme sie mit in eine Stunde, in der sie Spaß haben und ganz nebenbei etwas lernen. Sogar die, die sonst Rabauken sind oder schüchtern, machen mit.“ Das hält die 75-Jährige selbst fit. „Als ich 50 geworden war, dachte ich, dass ich nicht ewig Pille sein kann. Inzwischen verschwende ich daran keinen Gedanken mehr“, fügt sie hinzu.

Urte Blankenstein steht mit einem so strahlenden Gesicht in ihrer kleinen Wohnung am Berliner Sterndamm, das keinen Zweifel an dem Gesagten zulässt. Sie trägt heute nicht ihren weißen Kittel und hat auch die Zopfperücke nicht aufgesetzt. Ich erlebe „Puppendoktor Pille“ ganz privat. Mit blondem Lockenschopf statt braunen Zöpfen mit weißer Schleife, in Jeans und Bluse. So, wie sie die Leute auf der Straße und beim Einkauf sehen – und über Jahrzehnte nicht erkannt haben. Bis zur Wende wussten nicht einmal ihre Nachbarn im Haus, in dem sie seit 1978 wohnt, um ihre Profession als „Pille“.

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Schauspielerin Urte Blankenstein 2018 Foto:Uwe Toelle/SUPERillu

Auf dem Tisch steht eine verlockende Erdbeer-Bananen-Torte mit scheinbaren Sahnehäubchen. Erdbeermatsch nennt sie ihre Kreation. Unserem Versprechen, dass wir es uns schmecken lassen werden, begegnet sie mit einer Warnung. „Stellt euch nicht auf Süßes ein. Was aussieht wie Sahne ist Mozzarella, die Schokoladensoße über den Früchten ist eine Vinaigrette aus Balsamico, Ingwer und Pfeffer.“ Mental gerüstet langen wir zu und sind hin und weg. Es wird ein langer Besuch. Urte Blankenstein kramt aus ihren Erinnerungen immer mehr hervor. Ihre Gedanken springen, produzieren Lücken, die mir beim Schreiben auffallen. Viele Mails gehen hin und her. Die letzte erhielt ich eben.  Der Text war schon online. Doch nun ist wohl alles stimmig.

Ihre Kindheit begann in keiner guten Zeit. Drei Tage vor Weihnachten 1943 kam Urte Blankenstein in der ostpreußischen Hafenstadt Pillau – heute Baltisk – zur Welt. Es war das vierte Jahr des zweiten mörderischen Weltkrieges, den Deutschland entfacht hatte. Mit Beginn des Jahres 1944 ging es für die deutschen Truppen nur noch rückwärts. Im Westen stießen die Alliierten England, USA und Frankreich gegen Deutschland vor, im Osten die Rote Armee. In den deutschen Ostgebieten setzte eine riesige Fluchtwelle ein. Zehntausende verließen Haus und Hof, um ihr Leben zu retten.

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Urte und ihre zweijährige Schwester Elke im Februar 1944 Foto: Privatarchiv

Am Abend des 24. Januar 1945 drängten sich im Hafen von Pillau die Menschen zu Hunderten. Alle hofften, über die Ostsee in Sicherheit zu gelangen.  Der ausrangierte Reichspostdampfer „Pretoria“, der seit 1940 als Marine-Wohnschiff am Pier lag, diente nun als Flüchtlingsschiff.  Urtes Familie  hatte Glück und kam an Bord. Als Lotse durfte ihr Großvater seine Angehörigen in einer Kabine unterbringen und sie mussten nicht wie andere Passagiere in der Eiseskälte auf den Planken ausharren. Nach sieben Tagen und Nächten erreichten das Schiff unbeschadet Stettin. Endstation für die  Flüchtlinge aus Ostpreußen, die von da an sich selbst überlassen waren. Über 9.000 Passagiere des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“, das zur gleichen Zeit mit etwa 10.300 Menschen unterwegs war, hatten nicht so viel Glück.  Für sie wurde die Ostsee vor der Küste Pommerns am späten Abend des 30. Januar zum Grab. Russische Torpedos versenkten den Dampfer. Etwa 1200 Menschen konnten aus dem eisigen Wasser lebend geborgen werden.

Stettin war von englischen Luftangriffen schwer zerstört, die Versorgung mit Lebensmitteln schlecht, als Suselene Blankenstein mit ihren Kindern die „Pretoria“ verließ. Sie wollte zu Verwandten nach Wismar. Ihre Eltern und Schwiegereltern  flüchteten weiter nach Hamburg. Urtes Schwester Elke litt an Kinderlähmung. Sie brauchte einen Arzt und Medikamente. Zwei Wochen fanden Suselene Blankenstein und die Mädchen in Stettin Aufnahme bei einer Familie. Im Februar 1945 wurde die deutsche Bevölkerung aus der Stadt evakuiert. „Mit Hunderten anderer Flüchtlinge  quetschte sich meine Mutter mit uns in einen Güterzug in Richtung Hamburg. In Bad Kleinen sind wir ausgestiegen, dann ist sie mit uns an der Hand bis Wismar zu Fuß weiter. Im Nachhinein bewundere ich diese Frau, die sich ohne Mann durch den Krieg und das schwere Leben danach geschlagen hat“, sagt Urte Blankenstein.

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Wismar 1946. Urte (l.) und ihre Schwester Elke (r.) spielten mit einem kleinen Nachbarskind in den Trümmern. Foto: Privatarchiv

Irgendwann kamen sie in Wismar an. Eigentlich hätte sich Suselene Blankenstein mit ihren KIndern wie alle Kriegsflüchtlinge auf dem Land ansiedeln müssen. Doch da es dort an medizinischer Versorgung fehlte, auf die die dreijährige Elke angewiesen war, bekamen sie in der Stadt ein Zimmer mit Kochstelle. Toilette und den Ausguss zum Abwaschen musste sich Suselene Blankenstein mit etlichen anderen Mietern auf dem Flur teilen. „Eine Schlimme Zeit. Wir aßen vergammeltes Gemüse, weil es kaum etwas zu essen gab. Und dann hat jemand unseren einzigen Kochtopf geklaut“, weiß Urte von ihrer Mutter. Sie sprach mit ihren Töchtern oft über die Ereignisse, die ihr Leben und das der Mädchen gelenkt hatten. „Das war Elke und mir auch wichtig, weil wir wissen wollten, was unsere Kindheit geprägt hat.“ Urte war damals anderthalb Jahre. Zu klein, um sich selbst zu erinnern. Aber eins hat sich ihr ins Gedächtnis gepflanzt. Der Duft und der Geschmack von Bratäpfeln. „Im obersten Stock des Hauses wohnte ein alter Zahnarzt. Zu ihm durften wir Kinder manchmal hoch. Er hat dann für uns Bratäpfel gemacht.“

Die schweren anglo-amerikanischen Luftangriffe auf Wismar in der Nacht vom 14. zum 15. April 1945 überlebte Suselene Blankenstein mit ihren Kindern unversehrt. Nach Kriegsende erhielten sie eine Zwei-Zimmerwohnung mit Küche unterm Dach. Oft stand Urte auf einem Küchenstuhl und guckte mit ihrer Schwester durch die Dachluke. „Elke zeigte nach draußen und sagte zu mir: Da, das ist die Welt! Das werde ich nie vergessen: Ich sah aus der Dachluke die Welt.“

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Elke und Urte im September 1949. „Wir hatten eine glückliche Kindheit“, sagen die Schwestern heute. Foto: Privatarchiv

Suselene Blankenstein hatte in Wismar eine Stelle als Schreibkraft am Gericht bekommen, weil sie perfekt Sütterlin lesen und Maschine schreiben konnte. Fast alle Dokumente waren damals in dieser Schreibschrift verfasst.  Urte und ihre Schwester wusste die Mutter im Kindergarten gut aufgehoben. Von der Not der Nachkriegszeit bekamen die Mädchen nichts mit. Es gab zu essen, sie spielten. Verschmitzt erzählt die Schauspielerin von ihren seltsamen Berufswünschen, die sie damals hatte. „Ich verliebte mich in einen kleinen dicken Jungen, den Sohn vom Bäcker. Eines Tages hatte er sich ein Bein gebrochen, und ich habe für ihn geweint. Irgendwann stand für mich fest, ich werde Bäckersfrau. Dann wollte ich Förstersfrau werden, um den kleinen Rehen die Flasche zu geben. Ich weiß gar nicht mehr, was ich mir noch alles aussuchte.“ Sie hält einen Moment inne. „Aber ich wollte immer Frau werden, fällt mir gerade auf.“ Nun ja, irgendwie hat sich das auch erfüllt. Sie wurde Frau Puppendoktor.

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Ihre Abendgrüße hat sie auf Videos gesammelt Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Der Vater spielte in Urtes Leben keine Rolle. Er arbeitete während des Krieges als Bauingenieur in München und kehrte nicht zu seiner Familie zurück. Die Eltern wurden geschieden, und Suselene Blankenstein sorgte so gut sie konnte für ihre Kinder. „Meine Mutter hatte von zu Hause einen Koffer voll Wolle mitgenommen, aber die Stricknadeln vergessen. Mit Fahrradspeichen strickte und häkelte sie für uns, verkaufte Wollsocken an die Russen. Die Kaserne war auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir waren arm, haben uns aber nie so gefühlt.“ Urte erinnert sich, wie sie auf der Straße gekreiselt und Ball gespielt haben. Als sie vier oder fünf Jahre alt war, schenkte ihr die Mutter eine Puppe mit einem Porzellankopf. Der hatte mitten durch das Gesicht einen Riss. „Zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekam die Puppe neue Strickkleidchen. Das waren unsere Geschenke. Und wir haben uns darüber gefreut. Ein Fahrrad hätten Elke und ich gerne gehabt, aber das konnte sich Mutti nicht leisten.“ Die Schauspielerin kann bis heute nicht Radfahren.

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Oktober 1951. Die Schwestern leben im Kinderheim Salzemen, nahe Magdeburg, wo ihre Mutter studiert.  Foto. Privatarchiv

Suselene Blankenstein war eine selbstbewusste, gebildete Frau. Sie wusste, dass sie nur mit einem Beruf das Leben für sich und Kinder ohne Sorgen gestalten kann. Wie die meisten jungen Mädchen aus gut bürgerlichem Hause hatte sie Hauswirtschaft gelernt und war auf die Ehe vorbereitet worden. In der DDR standen ihr die Wege nun offen, etwas zu lernen, das für sie einen Sinn machte. Im Januar 1951, da war sie 36 Jahre alt, nahm sie ein Studium an der Medizinischen Fachschule in Magdeburg auf und machte eine Ausbildung zur Krebsfürsorgerin. Da es keine Verwandten oder sonst jemanden gab, der sich um ihre Kinder kümmern konnte, verbrachten Urte und Elke die vier Jahre während des Studiums der Mutter im Kinderheim. Zuerst in Elbenau, wo sie ein Jahr blieben, weil die Dorfschule nur drei Klassen hatte. „Im September 1951 kam meine Schwester in die vierte Klasse, und wir zogen um nach Salzelmen“, erinnert sich Urte. Das Heim gibt es nicht mehr. Die Schwestern haben es in bester Erinnerung. „Es ging uns dort sehr gut. Wir hatten Schweine, Schafe und Hühner. Ich habe Schafe gehütet, und für die Hühner haben wir Engerlinge gesammelt. Es fehlte uns an nichts.“

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Das Kinderheim Elbenau mit dem Dorteich davor. Urte Blankenstein erinnert sich gut daran, wie sie im Winter über den Teich geschlittert sind. Foto frei: Quelle http://www.elbenau.de/geschichte/

An den Wochenenden fuhren die Schwestern mit der Straßenbahn nach Magdeburg und besuchten ihre Mutter im Studentenwohnheim. Die Leiterin des Kinderheims in Salzelmen, in dem 30 Kinder lebten, hieß Frau Heuer. „Ihr verdanken wir unsere erste musische Bildung. Wir hatten einen Chor, in dem Elke und ich solo oder zweistimmig sangen. Bei Ausscheiden heimste unser Chor immer Preise ein“, schwärmt Urte. So legten die vier Jahre, die die Schwestern in Salzelmen verbrachten, den Grundstein für ihre Zukunft. Elke studierte Opernregie und Urte ist Schauspielerin geworden.

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Dieses Zeitungsfoto zeigt Urte (r.) und ihre Schwester Elke (M) im Ferienlager. Sie hat es aufbewahrt. Faksimile / Privatarchiv

1954 zog Suselene Blankenstein mit ihren Kindern nach Schwerin. Sie arbeitete für die Stadt als Krebsfürsorgerin. Ihre neue Wohnung lag in der Straße zum Theater. Urte ging in die 5. Klasse, als sie das erste Mal daran dachte, Schauspielerin zu werden. Erzählt hat sie das keinem. Sie zog es vor, als Berufswunsch Dramaturgin anzugeben, wenn sie gefragt wurde. „Das klang nicht so versponnen. Außerdem war ich so naiv zu glauben, dass man mich schon entdecken würde, wenn ich erst mal am Theater bin“, erklärt sie. „Hätte ja sein können.“
Dass sie das Zeug zur Dramaturgin hatte, erschien weder Lehrern noch Mutter abwegig. Urte glänzte in der Schule mit ihren Aufsätzen, beeindruckte in Geschichte durch ihre sehr lebendigen Erzählungen. Sie inszenierte mit ihren Mitschülern  Sketche, die sie selbst schrieb. Einige hat sie noch und lacht: „Die waren grauenhaft.“

Mit fünfzehn begann sie im Schweriner Arbeitertheater „Kolonne Links“ mitzuspielen, war mit Feuereifer dabei. Hier konnte sie erste Bühnenerfahrung sammeln, ihr schauspielerisches Talent testen. „Wir spielten Stücke von Hans Sachs, ,Anne Frank‘, Brechts  Mutter Courage“, erzählt sie. Als sie im Sommer 1960 ihren Schulabschluss in der Tasche hatte und sich in Berlin bei der Schauspielschule „Ernst Busch“ meldete, musste sie jedoch eine große Enttäuschung hinnehmen. Die Aufnahmegespräche für das Studienjahr 1960/61 waren schon abgeschlossen. „Ich musste nun auf die Termine im Jahr darauf warten.“ Lang wurde ihr die Zeit nicht. Die Arbeit am Theater nahm sie voll in Anspruch. „Wir probten oft bis spät abends, bauten anschließend noch die Kulissen für die Aufführungen.“ Da ihre Mutter nach Kleinmachnow umgezogen war,  musste die 17-Jährige allein zurechtkommen. Ihre Schwester Elke studierte inzwischen an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Berlin. Ihren Unterhalt verdiente sich Urte im „VEB Vorwärts“, einem großen Autoreparaturbetrieb. Manchmal war sie tagsüber so müde, dass sie während der Arbeit heimlich aufs Klo verschwand, um mal kurz zu schlafen.

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Vier Stunden erzählte mir Urte Blankenstein aus ihrem Leben. Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

1961 packte  Urte Blankenstein ihre Sachen und zog zur Mutter nach Kleinmachnow. Sie wagte einen neuen Versuch an der Schauspielschule in Berlin, diesmal rechtzeitig. Ihre Hoffnung auf das Schauspielstudium zerschlug sich nach dem Vorspielen. Sie wurde abgelehnt. Ungeeignet, sagte man ihr. Doch so ganz hatte sie ihren Traum nicht begraben. „Ich blieb bei meiner Mutter in Kleinmachnow und habe dort ein Dreivierteljahr im Säuglingsheim gearbeitet. Die Kinder waren Waisen oder von ihren Eltern zurückgelassen worden, als die vor Grenzschließung 1961 in den Westen geflüchtet sind. Unvorstellbar! Manche wurden in letzter Minute gefunden.“ Urte holt tief Luft, bevor sie sagt: „Wir waren glücklich, wenn ein Kind adoptiert wurde. Deshalb erbost es mich, wenn heute nur von Zwangsadoptionen und schlimmen Zuständen in DDR-Heimen gesprochen wird. Das gab es, und man soll es nicht vom Tisch wischen. Nur haben viele Heimkinder, wie meine Schwester und ich, andere Erfahrungen gemacht.“

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Hunderte Frösche bevölkern die Wohnung der Schauspielerin. Mitbringsel und Geschenke ihrer Fans  Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Eine Geschichte berührt sie noch immer. Tränen stehen ihr in den Augen, wenn sie sie erzählt. 1984 bis 1988 moderierte sie die Fernsehsendung „Von Polka bis Parademarsch“. Dabei lernte sie den Dirigenten des Orchesters des Wachregimentes kennen. „Ein sympathischer Mann Ende Dreißig. Seine Mutter ist in den Westen abgehauen. Ihn und seine kleine Schwester hatte sie zu Hause eingeschlossen. Die Wohnung lag im dritten Stock, er konnte nicht aus dem Fenster klettern, um Hilfe zu holen. Weil sie nichts zu essen hatten, zerkaute er Papier und steckte es seiner Schwester in den Mund. Zum Glück wurde ein paar Tagen später ein Gerüst vor dem Haus aufgebaut. Darüber ist er rausgeklettert. Die beiden kamen ins Heim. Ihm wurde ermöglicht ein Instrument zu erlernen und Musik zu studieren. Von solchen Geschichten hört und liest man in den Medien so gut wie nichts. Das macht mich wütend.“

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Diese Käthe-Kruse-Puppe bekam Urte Blankenstein von einem Fan geschenkt. Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Nun ist Kleinmachnow mit seiner Nähe zu Berlin ein Ort, der immer schon Intellektuelle, Künstler, Schauspieler und Schriftsteller angezogen hat. Das Einwohnerverzeichnis nennt aus der Zeit, in der Urte Blankenstein dort wohnte, prominente Namen wie Herbert Köfer, Agnes Kraus, Helga Göhring, Gisela Steineckert, Christa und Gerhard Wolf, Maxi und Fred Wander. Urte Blankenstein weiß nicht mehr, wer ihr den Tipp gab, sich doch beim Nachwuchsstudio des Fernsehens in Adlershof zu bewerben. Gereift, mit mehr Lebenserfahrung, stellte sie sich dort vor und begann 1964 endlich die langersehnte Schauspielausbildung. Sie zog nach Berlin und lernte ziemlich bald den 16 Jahre älteren Rundfunkjournalisten Günther Kuhfeld kennen. Er imponierte ihr mit seinem Wissen. „Ich hörte ihm staunend zu, wenn er mir die Welt erklärte, die Sterne, die Natur.“ So, wie es vielleicht ihr Vater getan hätte. Sie heirateten, 1965 kam ihr Sohn Mathias zur Welt.

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Im Kleist Theater Frankfurt/Oder spielte sie 1966 das „Aschenputtel“ Pressefoto/Privatarchiv

Ihr erstes Engagement bekam die junge Mutter 1966 am Kleist-Theater in Frankfurt/Oder. Ihre erste Rolle war das „Aschenputtel“. Sie spielte damals schon gern für Kinder. „Sie sind in Reaktionen so direkt, gehen mit den Figuren mit. Jede Vorstellung brachte Überraschungen“, erinnert sich die Schauspielerin. Dennoch, wirklich glücklich war die damals 23-Jährige  nicht. „Manchmal fühlte ich mich überfordert. Ich hatte meinen kleinen Sohn bei mir und musste für die Vorstellungen jemanden finden, der ihn abends betreut.“  Einmal war sie so fertig, dass sie heulte, weil sie sich auf der Bühne eine Laufmasche geholt hatte. Bei ihrem Mann fand sie keine Ermutigung, keine Hilfe. Im Gegenteil. Er redete alles klein, was sie machte. Die psychische Belastung wollte sie sich und ihrem Sohn, der sehr unter den Spannungen litt, nicht auf Dauer antun. Sie trennte sich von ihrem Mann. 1969 wurden sie geschieden.

Im Sommer 1967 war Urte Blankenstein nach Berlin zurückgekehrt. Günter Puppe, ein Regisseur des Kinderfernsehens, auf der Suche nach einer jungen Schauspielerin für die Hauptrolle seiner Sendung „Eine Reise mit Hein Pöttgen“, hatte sie als Aschenputtel gesehen und fand, sie würde passen. „Er lud mich zum Vorsprechen ein, was eher ein Vorsingen war, bei dem ich vor Aufregung kaum einen Ton herausbracht“, erinnert sich die Schauspielerin.  Sie bekam die Rolle der Puppe Kathrinchen trotzdem. Mit Helga Piur und Horst Torka als Spielgefährten und Dieter Perwitz, später Klaus Bergatt, als Hein Pöttgen, ging sie im Studio Adlershof auf lustige Seefahrt. Nun war sie da, wo sie eigentlich hingewollt hatte: beim Fernsehen.

Urte Blankenstein
So kennen die Kinder heute Urte Blankenstein alias Puppendoktor Pille Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Die Sendung lief immer am Sonntagnachmittag. Der Zufall wollte es, dass in dieser Zeit die Schauspielerin Angela Brunner als Puppendoktor Pille im Abendgruß des Sandmanns abgelöst werden sollte. Unter 150 jungen Schauspielerinnen wurde Urte Blankenstein ausgesucht, eine zierliche 24-Jährige mit großem Schmollmund und einer sehr sanften, aber markanten Stimme. „Unser Casting bestand darin, dass wir Hustentropfen auf einen Teelöffel Zucker träufeln mussten. Ich habe dabei so gezittert, dass ich erstaunt war, dass man mich genommen hat.“

Dass aus ihren kleinen Abendgruß-Auftritten eine lebenslange Liebe werden würde, hätte die Schauspielerin nimmermehr erwartet, als sie am 12. Juni 1968 zum ersten Mal als Puppendoktor Pille vor der Kamera stand. Im Nachhinein muss man Günter Puppe für sein gutes Gespür loben. Urte Blankenstein war den Kindern 20 Jahre lang in mehr als tausend Sendungen eine tröstende, Rat gebende und vertrauensvolle Freundin. Doch nicht nur für die kleinen Fernsehzuschauer. Oft baten Eltern um pädagogische schreibt dieHilfe per Bildschirm. Dann hat die Redaktion die Abendgruß-Sprechstunde auf das Problem zugeschnitten. „Am Anfang“, sagt die Schauspielerin, „war es nur eine Rolle, die ich gespielt habe, die mir Spaß machte, weil ich gern mit Kindern umgehe. Doch mit jedem Jahr mehr ist sie tiefer in mein Leben eingeflossen. Sie macht mich aus.“ Schon deshalb kann sie  „Pille“ „Pille“ nicht sein lassen.

Urte Blankenstein
Von 1967 bis 1969 lief die Sendung „Reise mit Hein Pöttgen“ im DDR-Kinderfernsehen mit Urte Blankenstein als Kathrinchen und Klaus Bergatt als Hein Pöttgen Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Als die Sendereihe „Reise mit Hein Pöttgen“ 1969 auslief, hatte sie außer den Dreharbeiten zwei-, dreimal im Jahr für den Abendgruß nichts. Die inzwischen alleinerziehende Mutter brauchte ein regelmäßiges Einkommen. Und wieder war es Regisseur Günter Puppe, der ihr eine Perspektive gab. Als Regie-Assistentin drehte sie mit ihm die wöchentliche Satire-Sendung „Tele“-BZ“ (lief bis 1971), in der sie auch als Schauspielerin in Tochterrollen agierte. Andere Unterhaltungssendungen kamen dazu. „Ich habe als Assistentin die Kuss-Umfrage für die Unterhaltungssendung ,Außenseiter – Spitzenreiter‘ gemacht, einmal im Jahr Tele-Lotto moderiert. Es war alles sehr abwechslungsreich“, erzählt Urte Blankenstein. Nur in Fernsehfilmen hat  man die Schauspielerin nicht besetzt. Die Zuschauer würden in ihr nicht die Rollenfigur sehen, sondern Puppendoktor Pille, hieß es. Zwei Unterhaltungssendungen machten sich ihre Popularität zu nutze. Von Mitte der 80er Jahre bis zum Ende des DDR-Fernsehens 1991 führte Urte Blankenstein als Moderatorin durch die Sendungen „Von Polka bis Parademarsch” und die Operettensendung „Musikalisches Intermezzo“. „Ich habe dabei unglaublich viel über Musik gelernt“, schwärmt sie.

Urte Blankenstein
 Lieder und Texte schreibt sie selbst Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

1969 hatte sie begonnen, sich ein Live-Programm für „Puppendoktor Pille“ zu erarbeiten. Ein Jahr hat es gedauert, dann ging sie damit auf die Bühne. Lampenfieber, Herzklopfen und die bange Frage: Wie nehmen die Kinder die Fernsehfigur in der Realität an? Die Premiere konnte nicht besser laufen. Was danach folgte, hätte sie sich nicht schöner erträumen können. Keine Veranstaltung, nach der die Kinder nicht am Bühnenausgang auf ihre Puppendoktor Pille warteten, sie mit Fragen löcherten. Das beflügelte Urte Blankenstein, und sie wagte 1981 den Schritt in den Westen. Zuerst in einer gemeinsamen Show mit Dr. Peter Kersten, dem berühmten Zauberpeter. Doch sie merkte sehr schnell, dass sie es auch allein schafft.

Urte Blankenstein
Frosch Quaki ist Urte Blankensteins Spielpartner, der den Kindern im Saal nur Unsinn beibringen will. Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

„Zunächst hatte ich Angst vor den antiautoritär erzogenen Westkindern“, blickt sie zurück. „Aber ich habe das große Glück, für ein Alter zu spielen, in dem sie noch ganz offen sind, unverbildet, wissbegierig und zutraulich. Die Kinder im Westen waren nicht anders als die bei uns. Heute sehe ich es als großes Geschenk, dass mir die Rolle gegeben wurde.“ Allerdings durfte Urte Blankenstein außerhalb der DDR nicht als Puppendoktor Pille auftreten. Also nannte sie sich Frau Puppendoktor Spiel-Spaß. Den Kindern war es egal. Durch ihre guten Verbindungen zu Veranstaltern in der alten BRD blieb der damals 57-Jährigen nach der Wende Arbeitslosigkeit erspart. „In den ersten zwei Jahren bin ich mit meinem Kinderprogramm verstärkt in die Städte im Westen gegangen, in denen ich schon zu DDR-Zeit aufgetreten war. Ich hatte zwar mein zweites Standbein beim DDR-Fernsehen als Moderatorin für die Musiksendungen „Von Polka bis Parademarsch“ und „Klassisches Intermezzo,“ doch damit war’s mit dem Aus des DFF 1991 vorbei. Pille hat überlebt.“ Sie lacht. „Das hätte ich nie geglaubt.“ In den heimischen Gefilden fasste sie wieder Fuß, als Veranstalter Mario Behnke vom Show Express Könnern sie entdeckte.

Ein böser Traum ereignete sich 2014, als Helga Labudda, die erste Puppendoktor Pille, starb. In großen Lettern prangte auf der Titelseite einer Zeitung: „Puppendoktor Pille ist tot“. Da stand zwar Helga Labudda in der Unterzeile, aber kaum jemand wusste, dass die heutige Puppendoktor Pille Urte Blankenstein heißt. „Anfangs habe ich noch lachen können“, sagt sie, „später bin ich erschauert. Die Reaktionen der Menschen waren überwältigend und beängstigend zugleich. Menschen haben auf Facebook über mich so emotional und bewegend geschrieben, dass es mir sehr nahe ging. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, denn es wurden auch Veranstaltungen abgesagt. Ich musste beweisen, dass ich noch am Leben bin.“

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Urte Blankenstein zeigt uns den Zeitungsartikel, der sie von den Toten auferstehen ließ. Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Ein befreundeter Journalist aus dem Schwarzwald, mit dem sie viele Benefizveranstaltungen für krebskranke Kinder gemacht hat, rückte mit einem Artikel bei DPA alles wieder zurecht. Immer wieder spürt Urte Blankenstein, wie sehr sie, respektive Pille, in den Kindheitserinnerungen vieler Erwachsener verankert ist. „Ein Taxifahrer sagte mir neulich, dass er mich an meiner Stimme und den Augen erkannt hätte.“ Puppendoktor Pille ist über die fast 50 Jahre, die Urte Blankenstein in dieser Rolle unterwegs ist, zu ihrer Bestimmung geworden. Eltern und Großeltern geben die Liebe zu ihr an Kinder und Enkelkinder weiter. Nach vielen Mühen ist die Zeit der Ernte gekommen.

Urte Blankenstein
Urte Blankenstein heute und in ihrer Rolle als Kathrinchen 1969 Foto: Uwe Toelle/SUPERillu