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Waltraut Pathenheimer – Sie war die erste Filmfotografin der DEFA

Vom 20. November 2021 bis 23. Januar 2022 ist im Neuen Atelierhaus Panzerhalle in der Waldsiedlung in Groß Glienicke eine Fotoausstellung zum Werk der Filmfotografin Waltraut Pathenheimer zu sehen. Sie war die erste Frau, die den Beruf einer Stand- bzw. Filmfotografin im DEFA-Studio für Spielfilme ausübte. Die Ausstellung ist eine Hommage an eine Frau, deren Fotos untrennbarer Teil des DEFA-Erbes sind wie die Filme, bei denen sie die Standfotografin war. Vor 75 Jahren wurde die DEFA gegründet, 1992 aufgelöst. Waltraut Pathenheimer hat wichtige Filmproduktionen seit 1954 mit der Kamera begleitet. Am 17. Februar 2022 wäre sie 90 Jahre alt geworden. Ich hatte das besondere Glück, mit ihr kurz vor ihrem 85. Geburtstag 2017 zu sprechen. Sie starb am 21. Dezmeber 2018.

Immer sind es zuerst die Fotos auf einem Filmplakat, in einem Schaukasten, auf einem Flyer, in einem Kinoprogramm, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, Erwartungen wecken und uns animieren, in einen Film zu gehen. Manche Fotos sind zu Ikonen der Filmgeschichte geworden – Filmposter mit James Dean oder Marilyn Monroe etwa.

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Gojko als Tokei-ihto in „Die Söhne der großen Bärin“, 1965 ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

Ebenso Gojko Mitić – unser aller Held der DEFA-Indianerfilme, der als Häuptling „Tokei-ihto“, „Chingachgook, die große Schlange“ oder „Weitspähender Falke“ die Sammelalben seiner Fans füllt, wurde von Waltraut Patheheimer in Szene gesetzt. Ganz bescheiden und klein steht auf den Fotos ihr Signum DEFA-Pathenheimer. Selten wird der Vorname genannt, so dass bislang kaum jemand wusste, wer sich dahinter verbirgt.

Mir ging es da nicht anders. Wie oft habe ich ihre Bilder benutzt, wenn ich über einen DEFA-Film berichtet habe, wenn ich mit Schauspielern wie Klaus-Peter Thiele über „Die Abenteuer des Werner Holt“ gesprochen habe oder mit Annekathrin Bürger über „Königskinder“. Die Liste ließ sich unendlich fortsetzten und enthielte dann große Schauspielernamen wie Erwin Geschonneck, Armin Mueller-Stahl, Manfred Krug, Jessy Rameik, Jutta Hoffmann, Jutta Wachowiak, Hermann Beyer… Sie alle haben vor ihrer Kamera gestanden.

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Annekathrin Bürger in „Königskinder“, 1962. In der Großaufnahme spiegeln sich Gedanken und Gefühle der Figur. Mut, Angst, Wachsamkeit. Für das Foto kroch die Schauspielerin nach dem Dreh so lange durch Matsch und Regen, bis die Fotografin zufrieden war. ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

Mit ihrem Buch „Pathenheimer: Filmfotografin. DEFA-Movie Stills“ haben die Medienwissenschaftlerin Anna Luise Kiss und der Kameramann Dieter Chill das Geheimnis gelüftet. „Mich haben ihre Fotos fasziniert, und ich wollte wissen, wer das ist“, erzählt Anna Luise Kiss. „Wir haben in den Archiven des Filmmuseums Potsdam, bei der DEFA-Stiftung und in Waltraut Pathenheimers Privatarchiv zigtausend Fotos, wahre Schätze, entdeckt.“ Das knapp 200 Seiten starke Buch zeigt erstmals eine Auswahl des umfangreichen künstlerischen Œuvres der Fotografin, die am 17. Februar 85 Jahre alt geworden ist.

„Sie war schon so etwas wie eine kleine Göttin“, schwärmt Dieter Chill, der sie 1988 bei den Dreharbeiten des Kinderfilms „Das Herz des Piraten“ kennengelernte und als Kamera-Assistent mit ihr zusammen gearbeitet hat. „Waltraut ist in dem aufgegangen, was ihre Aufgabe am Drehort war. Sie war integer gegenüber den Regisseuren und ihren Absichten. Es war ihr Ziel, mit der Aussage ihrer Bilder das Anliegen des Films zu verdeutlichen. Sie hat sich nie herausgestellt. Wenn am Ende ihre Bilder dem Film ein besseres Antlitz verliehen, als tatsächlich dahinter war, dann war es Zufall“, sagt Dieter Chill.

Das Buch ist nicht chronologisch nach Jahreszahlen oder Filmen angelegt, sondern nach Themen: „Wir wollten damit den besonderen Blick der Fotografin auf Menschen in  Situationen, ihre Reaktionen und Beziehungen zeigen.“ So kamen die Autoren auf Genres wie „Küssen“, „Tanz“, „Kontraste“, „in Landschaften“, „in Städten“, „Krieg“, „Klassenfeindschaft und Kalter Krieg“, „Widerstand“ oder „Bewegung“. In diesem Kapitel ist eins der wichtigsten Bilder von Waltraut Pathenheimer zu sehen.

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Jürgen Strauch spielte das Kind in „Nackt unter Wölfen“, 1962. Waltraut Pathenheimer fing diesen emotionalen Moment bei der Fahrt mit dem Kamerawagen ein. ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

Eine Szene aus dem DEFA-Film „Nackt unter Wölfen“. Erfasst in einem unwiederholbaren Moment. Männer in Häftlingskleidung. Nur verschwommen zu erkennen. Sie rennen. Einer presst ein Kind unter seinem Arm fest. Der Fokus liegt auf dem Gesicht des kleinen Jungen. Er schreit seine ganze kindliche Angst heraus.

Die Fotografin war Waltraut Pathenheimer. Sie wurde für diese Aufnahme auf dem II. Internationalen Filmfotografie-Wettbewerb 1964 in Karlovy Vary ausgezeichnet. Sie berührt, zeigt den Widerspruch. Als Standfotografin hatte sie die Dreharbeiten 1962 im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, dem originalen Schauplatz der Geschichte des Buchenwaldkindes, begleitet. Es war nach „Königskinder“ ihre zweite Arbeit mit Regisseur Frank Beyer, Kameramann Günter Marczin­kowsky, Szenenbildner Alfred Hirschmeier und Schauspieler Armin Mueller-Stahl. Das junge Team, alle um die 30, einte der Gedanke, Menschlichkeit zu zeigen, wo Unmenschlichkeit herrscht. Die Fotos von „Nackt unter Wölfen“ gehören zu den eindrucksvollsten mit dem Signum DEFA-Pathenheimer, gleichsam ein Siegel für besondere Fotokunst.

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Waltraut Pathenheimer beim Spaziergang mit ihrer Enkelin ©Daniel Pathenheimer

Gerade 22 Jahre war die am 17. Februar 1932 geborene Berlinerin, als sie 1954 ihre Tätigkeit bei der DEFA aufnahm und als erste Frau in die von Männern dominierte Welt hinter der Kamera kam. Die Berufswahl nach dem Abitur 1950 war eher Zufall als geplant. Die zur Zeit unseres Interviews im Februar 2017 85-Jährige erzählte, wie es dazu kam. „Ich suchte einen Platz, auf dem ich nützlich sein konnte. Auf der Suche nach einem Beruf habe ich viele Annoncen gelesen. In einer stand, dass die Fotoabteilung der DEFA eine Fotografenausbildung anbietet. Das schien mir interessant zu sein, schon wegen des Filmbetriebes. Ich hatte bis dahin nie fotografiert oder mich mit Film beschäftigt. Da bin ich hin und habe mich dem Chef vorgestellt. Ich habe ihm erzählt, dass ich gern zeichne und mich für künstlerische Dinge interessiere. Ich schien ihm geeignet für den Beruf und machte eine vierjährige Lehre. Gleich nach der Prüfung wurde ich zu einer Filmproduktion geschickt.“

Mit finanzieller Hilfe ihrer Mutter erwarb Waltraut Pathenheimer eine gebrauchte Mentor-Kamera (9×12-Format) und eine Contax für das Kleinbildformat. „Das Stativ musste ich mir selbst basteln, weil es keins zu kaufen gab“, erinnert sie sich. Ihre ersten Szenenfotos machte sie für den Film „Wer seine Frau lieb hat…“. Das war grundsolides Studiokino mit gebauten und perfekt ausgeleuchteten Bildern. Für die Anfängerin eine gute Schule, das fotografische Sehen zu lernen. Ein Film folgte dann dem nächsten, zwei, drei wurden es jedes Jahr.

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Das Buch erschien 2016 im Ch. Links Verlag

Es dauerte, bis das Fräulein, das sich mit der schweren Ausrüstung abbuckelte, von den „alten Hasen“ anerkannt wurde. Waltraut Pathenheimer weiß noch, wie Regisseur Erich Engel 1958 am Set für „Geschwader Fledermaus“ spöttelte: „Bitte Ruhe, unsere Kleine will ein Foto machen…“ Doch die ließ sich nicht beirren, vertraute auf ihr Können. Und die Qualität ihrer Arbeiten sprach sich unter Regisseuren und Schauspielern herum. „Sie hatte einen hochprofessionellen Anspruch, dem sie sich mit ihren Bildern verpflichtet fühlte“, sagt Peter Bernhardt, der als 1. Kamera-Assistent bei 15 Filmen mit ihr zusammengearbeitet hat. „Sie kannte die Drehbücher, jede Szene, und war immer perfekt vorbereitet. Waltraut überließ nichts dem Zufall. Sie legte sich ihre Fotos im Kopf zurecht und inszenierte mit den Schauspielern die Szenen neu. Dabei verlangte sie von ihnen die gleiche Intensität wie beim Drehen.“

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Waltraut Pathenheimer 1988. Der Barkas war ihr Dienstwagen. ©Dieter Chill

Das stieß nicht immer auf Gegenliebe. Bei der Realisierung der Szenenfotos für den Film „Die Verlobte“ passierte ihr das mit Jutta Wachowiak. Die Schauspielerin, die die Rolle der Widerstandskämpferin Hella Lindau spielte, weigerte sich, nach dem Abdrehen noch einmal für ein Foto tief in die Szene einzutauchen. „Waltraut nutzt gern extreme Lichtverhältnisse. Es waren die ersten Einstellungen in der Wäscherei. Wir drehten auf einem Dachboden. Hella Lindau öffnet ein vernageltes Fenster und wird von dem Licht geblendet. Das wollte Jutta Wachowiak nicht wiederholen, weil es sie emotional sehr angespannt hatte. Waltraut gab kein Pardon, wenn es um die Aussage ihrer Fotos ging. Aber sie suchte Lösungen, um die Schauspieler zur Mitarbeit zu bewegen.“ Jutta Wachowiak war am Ende sehr zufrieden mit den Aufnahmen, und es gab nie wieder Probleme. Krieg und antifaschistischer Widerstand sind für Waltraut Pathenheimer immer relevante Themen und Motivation für außergewöhnliche Standfotos gewesen. Unvergessen darunter „Die Abenteuer des Werner Holt“, „Pugowitza“, „Der Traum des Hauptmann Loy“, „Wo andere schweigen“…

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Badeszene in dem Film „Hilde, das Dienstmädchen“, 1986 ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

„Ich habe von dem beabsichtigen Foto eine feste Vorstellung.… Meine Absicht kann ich aber nur verwirklichen, wenn ich mein Foto selbständig arrangiere und inszeniere. Durch Umstellen der Schauspieler, durch die Wahl eines anderen Kamerastandpunktes, als ihn die Filmkamera hatte, durch Lichtveränderungen erreiche ich mein gewolltes und überlegtes Fotos“, beschrieb Waltraut Pathenheimer 1964 ihre Arbeitsweise, die sich sehr von der anderer Standfotografen unterschied. Es entstanden dabei Fotos, wie diese Badeszene zum Film „Hilde, das Dienstmädchen“, die mit ihrer impressionistischen Bildsprache kleine Kunstwerke waren und eine eigene Geschichte erzählten.

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Jutta Wachowiak in „Seine Hoheit – Genosse Prinz“, 1969 ©FMP/Waltraut Pathenheimer

Von ihrer bevorzugten Arbeitsweise musste Waltraut Pathenheimer zum Teil abgehen, als sie 1965 begann, die actionreichen Indianerfilme mit Gojko Mitic zu fotografieren. „Ich musste nun bei Proben und Dreharbeiten Situationen mitschießen, weil man die Szenen nur unter höchstem Aufwand hätte nachstellen können.“ Durch ihre präzise Beobachtungsgabe und reflexhafte Schnelligkeit, im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken, gelang es Waltraut Pathenheimer, perfekte Genrefotos zu gestalten, wie man sie so heute kaum findet.
Vor diesen interessanten neuen Herausforderungen, denen sie sich zuwandte, lag ein schmerzhafter Einschnitt im Schaffen der Fotografin. Ihr zweites Jahrzehnt bei der DEFA hatte mit Gegenwartsfilmen begonnen, die unter das Diktum des 11. Plenums ZK der SED im Dezember 1965 fielen. Sie hatte an Kurt Maetzigs Film „Das Kaninchen bin ich“ (1965) mitgearbeitet, und ein paar Monate später an dem ambitionierten Spielfilm „Jahrgang 45“ (1966) des Regisseurs Jürgen Böttcher (später Strawalde). Der Film wurde noch vor der Fertigstellung verboten. Er lag Waltraut Pathenheimer besonders am Herzen, da sie das verfilmte Leben aus eigener Anschauung kannte. Es traf sie schwer, dass die Filme und auch ihre Bilder verschwinden mussten.

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„Jahrgang 45“, 1966 ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

Waltraut Pathenheimer ging der Ruf voraus, sie sei kühl, unnahbar. Vor ihr müsse man einen Riesenrespekt haben. „Vor unserem ersten gemeinsamen Arbeitstag hatte ich deshalb richtig Angst, weil ich nicht wusste, ob sie mich unterstützen würde oder nur ihre Arbeit sieht. Sie war ja am Set auch für Filmkassetten und das Filmmaterial zuständig. Aber die Angst war völlig unbegründet. Ich lernte schnell ihr Zuverlässigkeit und fachliche Kompetenz schätzen“, sagt der heute 76-jährige Peter Bernhardt. „ Waltraut ließ nicht wirklich viele Menschen nah an sich heraus, aber wir verstanden uns merkwürdigerweise sehr gut. Wir sind heute noch befreundet. Sie hat für die Fotografie gelebt, dem alles untergeordnet. Da blieb nicht viel Raum für Privates. Eine Zeit lang hatte sie eine Beziehung, über die sie nichts erzählte. 1970 kam ihr Sohn Daniel zur Welt.“ Damals war die 38-Jährige Standfotografin für den Film „Dr. med. Sommer II Film“, eine Geschichte aus dem Alltag eines DDR-Krankenhauses.

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Eine atemberaubende Szene. Gojko lässt in seinem ersten DEFA-Film als Indianerhäuptling Tokei-ihto die Stute Hanka zur Kerze aufsteigen, 1965 ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

In 36 Arbeitsjahren schuf Waltraut Pathenheimer die Szenenfotos von mehr als 80 der rund 800 DEFA-Filme für die Plakatwerbung, für die Schaukästen in den Kinos, für Presseberichte, Starpostkarten und Filmposter. Millionenfach begehrt waren ihre Fotos von Gojko Mitić. Sie hat den „Häuptling“ in fast allen Rollen fotografiert. Er kann sich gut an die agile junge Frau erinnern. „Sie hat nicht viel geredet, hielt sich dezent im Hintergrund und hatte das Geschehen mit scharfem Auge im Blick. Sie wusste genau, was sie wollte. Das war sehr angenehm. Als wir im Kaukasus die ,Bärin‘ gedreht haben, wollte sie Fotos von der Szene, in der Tokei-ihto sein Pferd zur Kerze aufsteigen lässt und schießt. Wir haben das frühmorgens nachgestellt. Ich habe Hanka, mein Pferd, geholt und sie stand schon mit ihren Kameras bereit. Es sind ziemlich schöne attraktive Aufnahmen dabei herausgekommen. Und wenn man bedenkt, dass damals analog fotografiert wurde, man erst nach dem Entwickeln das Ergebnis sehen konnte… Sie war wirklich die Beste.“

Rund 32 000 Fotos hat Waltraut Pathenheimer zwischen 1954 und 1990 bearbeitet und für die Veröffentlichungen gestaltet. Ihre Arbeiten zeichnen hohe Bildästhetik und eine außergewöhnliche Bildsprache aus. Beides zeugt von dem großen gestalterischen und handwerklichen Können der Fotografin, deren Schaffen sowohl Film- als auch Zeitgeschichte spiegelt.

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Ulrich Mühe und Ulrike Krumbiegel in „Sehnsucht“, 1989 ©FMP/Pathenheimer

Nach der Wende hat man Waltraut Pathenheimer, damals gerade 59 Jahre alt, den Lebensinhalt genommen. „Man schickte mich in den Vorruhestand. Ich habe ein Jahr gebraucht, um abzutreten, musste hart daran arbeiten, um zu akzeptieren, dass es vorbei ist. Ich habe später noch Angebote von ehemaligen DEFA-Regisseuren bekommen, die aber abgelehnt. Ich wollte nicht noch einmal von vorn anfangen.“ Waltraut Pathenheimer hat ihre Kameras nie wieder in die Hand genommen. Sie lebt immer noch in Berlin-Prenzlauer Berg.

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Ein Abschiedslied für Regisseurin Christa Mühl

Am 22. Oktober bekam ich folgende Mail:
Sehr verehrte, liebe Bärbel Beuchler,
ich wende mich heute mit einer großen Bitte an Sie, auch im Namen von Christa Mühls Tochter Susanne Hecht. Ich war zu DDR-Zeiten bei allen Filmen, die Christa Mühl bei der DEFA gedreht hat, ihre Regie-Assistentin. Daraus ist in 40 Jahren eine tiefe, intensive und enge Freundschaft entstanden. Nachdem wir beide kurz hintereinander Witwen wurden, vertiefte sich die Freundschaft noch. Nun ist Christa Mühl sehr schnell und plötzlich verstorben, und wir befinden uns alle noch in einer Art Schockstarre. Meine Bitte an Sie ist, ihr einen Nachruf zu widmen.
Mit sehr herzlichen Grüßen Barbara Häselbarth-Pietsch“

Es war für mich keine Frage, dieser Bitte zu entsprechen. Christa Mühl und ich hatten uns befreundet, als ich 2014 für die SUPERillu einen Beitrag über ihren Film „Die Rache des Kapitän Mitchell“ geschrieben habe.

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Im Juni und im August 2019 war Christa Mühl (3.v.r.) mit dem ehemaligen ZDF-Traumschiff, der „MS Berlin“, auf Lesereise © Privatarchiv Mühl

Christa Mühl war 72 Jahre und mitnichten bereit zu gehen, als ein heimtückischer Krebs sie in den frühen Morgenstunden des 14. Oktober 2019 aus dem Leben riss. Die Diagnose bekam sie nur vier Wochen zuvor. Sie war gerade von einer erfolgreichen Lesereise auf der „MS Berlin“, dem einstigen ZDF-Traumschiff, zurückgekehrt. Für zwei Folgen der Reihe hatte sie die Drehbücher verfasst, „Argentinien“ 1998 und „Tahiti“ 1999. Man hatte die Autorin nicht vergessen und zum 40-jährigen Jubiläum des Kreuzfahrtschiffes als Stargast für das Unterhaltungsprogramm eingeladen.

Wer Christa Mühl kannte, weiß, dass sie nie ohne ein Mitbringsel kam. So hatte sie denn auch neben ihren beiden Krimis „Seniorenknast – wir kommen!, der Fortsetzung „Seniorenknast – da sind wir!“ und ihrem Buch „Action! – im Traunsee-Märchenland“ als Geschenk eine extra für diese Reise geschriebene Geschichte im Gepäck: „Ich war noch niemals in New York“. Darin erzählt sie, wie Produzent Wolfgang Rademann sie angeheuert hat und wie ihre Filme für das „Traumschiff“ entstanden sind. Als die Regieaufträge ausblieben, gab sie nicht auf und hat aus drei nicht angenommenen Drehbüchern ihre Krimi-Bücher erarbeitet, mit denen sie dann auf Lesereise gehen konnte. Marianne Conrad, eine langjährige Mitarbeiterin ihres Mannes Werner Hecht, die sie bei der Digitalisierung und Drucklegung der Bücher unterstützte, erzählte mir: „Aus dem Alten schöpfen, aufschreiben, was sich in vier Jahrzehnten Filmemachen zugetragen hat, Geschichten, die keiner kannte, dieser Gedanke hat sie in der letzten Zeit wieder aktiviert. Darin hatte sie noch einmal eine Perspektive gesehen“.

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Am 10. Juli 1971 haben Christa Mühl (1947-2019) und Werner Hecht (1926-2017) geheiratet. Das Foto zeigt sie 1982.  © Privatarchiv Mühl

Werner Hechts Tod im Februar 2017, er war im Dezember 90 Jahre alt geworden, hatte die fröhliche, voller Energie und Pläne steckende Regisseurin lange innerlich gelähmt. Ein halbes Jahrhundert waren sie sich nicht nur in Liebe zugetan, sondern lebten auch eine große schöpferische Partnerschaft. „Werner fand meine Arbeit viel spannender als seine. Es gefiel ihm auch sehr, dass wir zwei Dokumentarfilme miteinander machen konnten. Er hätte gern den Brecht hingeschmissen und nur noch Drehbücher geschrieben, am liebsten Krimis“, schreibt Christa Mühl in ihren privaten Aufzeichnungen.
Die Chemiefacharbeiterin und der Dramaturg des Berliner Ensembles hatten sich im März 1968 kennengelernt, als Werner Hecht im Hallenser Klub der Intelligenz einen Vortrag über Brechts Theatermethode hielt. Die damals 21-Jährige  folgte seinen Ausführungen begierig, wollte sie doch seit ihrem 16. Lebensjahr Regisseurin werden. Während der Schulzeit in Halle hatte sie im Dramatischen Zirkel gearbeitet, Artikel über Theateraufführungen geschrieben, sich mit den deutschen Klassikern befasst – Feuchtwanger, die Brüder Mann, Heine und was die Bibliothek an großer Literatur noch so hergab. „In Gedanken sah ich viel Gelesenes als Film vor mir“, notierte sie.  Aber wie wird man Regisseurin?  Was braucht man dafür?

Christa Mühl erzählte dem erfahrenen Theatermann von ihren Ambitionen. Es entwickelte sich schnell eine intensive Beziehung, die über die gemeinsamen Theaterinteressen hinausging. Werner Hecht ließ sich scheiden und heiratete 1971 die zwei Jahrzehnte Jüngere. 1973 bekamen sie ihre Tochter Susanne. Christa Mühl studierte und arbeitete weiter unter ihrem Mädchennamen. Sie wollte nicht vom Ruhm ihres Mannes profitieren. Werner Hecht fand es völlig in Ordnung, wenn ihn Leute, die nichts mit Brecht zu tun hatten, mit „Herr Mühl“ ansprachen.

 


Als ihr erstes gemeinsames Projekt entstand 1970 Christa Mühls Hochschulfilm Die Kollwitz und ihre Kinder“. Ein amüsantes zehnminütiges Filmfeuilleton über das Treiben der Kinder auf dem Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg, die das Denkmal von Käthe Kollwitz unbekümmert als Spielplatz in Besitz nehmen, wie die Fotos zeigen. „Wir wohnten in der Nähe und amüsierten uns im Vorbeigehen, wie die Kinder darauf herumtobten“, erzählt die Regisseurin 2018 in einem Interview, als sie hier noch einmal mit Kamera und Mikrophon unterwegs war. Der Bildhauer Gustav Seitz, dem Werner Hecht geschrieben hatte, was seiner Plastik so jeden Tag widerfährt, war sehr froh darüber. „Der Sockel ist extra breit und niedrig gehalten, mit der Absicht, dass Kinder darauf spielen und herumkraxeln können. Sollten Sie mal Fotos mit den Kindern an der Kollwitz-Plastik machen können, dann würde es mich freuen“, antwortete er im Oktober 1969. Christa Mühl legte die Sätze über die letzten Sequenzen ihres Films (siehe oben). „Aus unserem kleinen Film ist ein richtig großes Ding geworden“, erinnerte sie sich. Nach seiner Ausstrahlung im Fernsehen, was bei Studentenfilmen nicht üblich war, löste er eine riesige öffentliche Debatte über den „Gebrauchswert“ von Kunst aus. Das war noch nie vorgekommen.

 

1973 erarbeitete sie mit Werner Hecht ein Filmporträt über Helene Weigel, für das das „Kollektiv“ Werner Hecht und Christa Mühl mit dem Fernsehpreis „Silberner Lorbeer“ ausgezeichnet wurde. Im Jahr darauf drehten sie eine szenische Rekonstruktion vom Verfahren, das 1932 zum Verbot des legendären Films von Slatan Dudow und Bertolt Brecht Kuhle Wampe: Oder wem gehört die Welt?“ geführt hatte. Durch die erhaltenen Zensurprotokolle kam ein spannendes Drehbuch zustande, mit dem sie prominente Schauspieler wie Kurt Böwe, Erika Pelikowski, Erwin Geschonneck und Wolfgang Greese für das Projekt gewinnen konnten. Die Produktion hatte das DEFA-Dokumentarfilmstudio übernommen. Für die frischgebackene Absolventin der Filmhochschule Babelsberg der erste Schritt in das Hollywood des Ostens, wie sie sagte.

Die DEFA wurde für Christa Mühl in den folgenden Jahren mit jedem Film, den sie hier für das Fernsehen drehte, mehr zur zweiten Heimat. Über diese Zeit hatte sie Material gesammelt, sich mit vielen ehemaligen DEFA-Mitarbeitern getroffen und erinnert. „Bei allen Problemen und Unzulänglichkeiten war das eine unvergessliche Zeit voller Kreativität und voller Geschichten“, erzählte sie mir einmal. Aus all dem sollte ein Buch werden, „Babelsberg – die zweite Heimat“, das nun unvollendet geblieben ist. Ebenso ein zweites, das sie den Kollegen widmen wollte, ohne die keiner ihrer Filme zustande gekommen wäre. Christa Mühl pflegte ihre intensiven Beziehungen zu Menschen, mit denen sie gearbeitet hat, auch über die Produktion eines Films hinaus.

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Ein Arbeitsfoto der Regisseurin aus den 80er Jahren

„Christa hat den Beruf ausgeübt, wie heute kaum ein Regisseur. Sie war ein Teamplayer, sie hat die Atmosphäre am Set geschaffen, jeder war für sie wichtig. Man konnte mit ihr Schmerz wegtragen, wenn etwas schiefgegangen war“, erzählt mir Schauspieler Wolfgang Stumph, der mit ihr von 1995 bis 1998 elf Filme für die ZDF-Krimi-Reihe „Stubbe – Von Fall zu Fall“ gedreht hat. „Es ist Christas Verdienst, dass wir nach dem tödlichen Unfall von Wolfgang Luderer, dem ersten Regisseur, sofort weitermachen konnten.“ Ihr warmherziger, nie aufgeregter Umgang mit allen, die an ihren Filmproduktionen beteiligt waren, selbstredend den Schauspielern, hielt auch den vor Einfällen übersprühenden Wolfgang Stumph im Zaum, der sich damals noch als Neuling auf dem Terrain bewegte. Was eine Kunst ist, wie jeder weiß, der mit dem selbstbewussten Dresdner schon zu tun hatte. Christa Mühl hatte auch ein genaues Gespür für das Anliegen der Reihe. Neben der harten Krimirealität sollte es in den Filmen menscheln. Das zu produzieren, lag in ihrem Naturell.

Viele Jahre kannte ich Christa Mühl nur vom Sehen. Es war irgendwann in den 70er Jahren, als wir uns auf dem Gelände des DDR-Fernsehens in Johannisthal über den Weg liefen. Ich war dort Redakteurin in der Redaktion „Für Freunde der russischen Sprache“. Mit einem unverwechselbaren, fröhlichen Lachen schlenderte sie mit zwei Kolleginnen zur Kantine, in knallengen Jeans, Pulli und einem Tuch um die rotblonden Haare geschlungen. Ein bisschen außergewöhnlich, fand ich, aber schick. Sie gehörte zum Bereich „Dramatische Kunst“, der eine Etage über uns angesiedelt war. Wir hatten damals keine Berührungspunkte. Ich wusste weder was sie machte, noch wie sie hieß. Da ich nun ihrem Lebensweg nachgegangen bin, weiß ich, dass sie Regie-Assistentin und ihr Mentor Thomas Langhoff war, einer der wichtigsten Regisseure der DDR. Mit ihm drehte sie 1975/76 den Fernsehfilm Die Forelle“ – und war wieder in Babelsberg. Thomas Langhoff! Das war wie ein Hauptgewinn im Lotto… Von ihm habe ich so viel gelernt, vor allem, was die Arbeit mit Schauspielern betrifft… Dass ich ihm assistieren durfte, war ein großes Glück für meine weitere Arbeit im Regie-Beruf, schreibt sie in ihren privaten Notizen.

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2014 besuchte ich mit Christa Mühl Schauspieler Dieter Mann, den Protagonisten ihres zweiten Brecht-Films, „Die Rache des Kapitän Mitchell“, der 1979 der am 23. 12. 1979 im DDR-Fernsehen Premiere hatte.  © Boris Trenkel

Dass ihr schon bald der Sprung von der Assistentin zur Regisseurin gelungen ist, hatte nicht nur mit handwerklichem und künstlerischem Können zu tun. Christa Mühl hatte zusammen mit ihrem Mann Werner Hecht einen Filmstoff gefunden, den die Chefs der „Dramatischen Kunst“ nicht ablehnen konnte: Bertolt Brechts knapp erzählte Kalendergeschichte „Der Arbeitsplatz“. Filmproduzent Alfried Nehring, er war damals Chefdramaturg für „Weltliteratur und Theater“, erinnert sich: „Als Voraussetzung hatte sie drei Trümpfe in der Hand: Es war die erste eigene Brecht-Verfilmung im DDR-Fernsehen, sie hatte dafür die Zustimmung der Brecht-Erben und bei der Arbeit am Drehbuch ihren Mann, den Brechtspezialisten Werner Hecht, an der Seite. Was ich im Verlauf der Drehbucharbeit und der Vorbereitung an ihr besonders schätzen lernte, war ihr klares Verständnis dafür, was dieser Film braucht. Schon ihr neuer Titelvorschlag Tod und Auferstehung des Wilhelm Hausmann gefiel mir. Dann schlug sie vor, ihn nicht in Farbe zu drehen. Sie wollte die Zeit und die soziale Situation, in der die Story spielt – der großen Weltwirtschaftskrise – so authentisch wie möglich filmisch umsetzen.“

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Christa Mühl im Herbst 2016 auf dem Baumwipfelpad in Beelitz-Heilstätten. Ihr Mann Werner Hecht befand sich hier in der Klinik © Privatarchiv Mühl

Christa Mühl war als Regisseurin etwas Besonderes. Sie besaß die Gabe, ihre Begeisterung für ein Projekt auf andere zu übertragen. So gewann sie herausragende Schauspieler wie Ursula Karusseit, Walfriede Schmitt und Kurt Böwe für die Hauptrollen, in den Nebenrollen agierten Jutta Wachowiak, Martin Trettau und Hans Teuscher. Darüberhinaus konnte sie in kritischen Situationen wunderbar improvisieren und rette zum Beispiel den ersten Drehtag für Tod und Auferstehung des Wilhelm Hausmann“.

Walfriede Schmitt, die in beinahe jedem Mühl-Film mitspielte, erzählt: „In der Nacht vor dem ersten Drehtag wurde am Drehort eingebrochen, Kostümteile, Requisiten und vieles andere gestohlen. An sich eine Katastrophe. Nicht für Christa. Sie plante um, organisierte, um Fehlendes zu ersetzen. Auch als der Zug entgleist ist, in dem wir gedreht haben, blieb sie entspannt, holte Hilfe herbei, hat das Team beruhigt, gescherzt, aufgemuntert, als wären Katastrophen ihr eigentliches Element.“ Zur Abnahme des Films lud sie Thomas Langhoff ein.  Sein zustimmendes Nicken war ihr mehr wert als die Meinung der Fernsehleitung. Das schönste Weihnachtsgeschenk für die damals 30-Jährige war die Ausstrahlung ihrer ersten eigenen Regiearbeit am 24. Dezember 1977.

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Die Produktion des Films verlangte quasi Wunder von Szenenbildner Klaus Winkler, denn er spielte in London und musste aus Kostengründen in der DDR gedreht werden  Quelle: Superillu-shop

Nur zwei Jahre später inszenierte Christa Mühl ihren zweiten Brecht-Film, „Die Rache des Kapitän Mitchell“ , nach dem nahezu unbekannten Filmstoff „Safty First“, den Brecht 1934 in London entwickelt hatte. Dramaturg Detlef Espey hatte die Geschichte Jahre zuvor entdeckt und vergeblich versucht, von den Brecht-Erben die Rechte für seine Fernsehspielreihe „Erlesenes“ zu bekommen. Nachdem Christa Mühl mit ihrem Debütfilm „Tod und Auferstehung des Wilhelm Hausmann“ international Beachtung gefunden hatte, für den Prix Italia, dem damals höchsten europäischen Fernsehpreis, nominiert war, und gute Verkäufe im Ausland die Kassen klingeln ließen, gaben sie ihre Zustimmung. Es musste aber ein Film werden, und er musste wiederum in den Händen von Christa Mühl und Werner Hecht liegen.

„Wir fanden in der Geschichte Material für einen abenteuerlichen Film mit extremen Handlungsumschwüngen“, erzählte mir Christa Mühl, als ich 2014 mit ihr und Dieter Mann für einen Artikel in der SUPERillu über den Film sprach. Am 23. Dezember 1979 hatte die Geschichte über den Versicherungsbetrug um den britischen Luxusliner „Astoria“ im 1. Programm des DDR-Fernsehens Premiere. Der Film war wiederum mit den besten Schauspielern der Berliner Theaterszene besetzt. Die Hauptrolle spielte Dieter Mann, daneben wirkten Ekkehard Schall, Jutta Hoffmann, Walfriede Schmitt und Swetlana Schönfeld. Voller Verehrung erzählte er, wie selbstverständlich der große Wolfgang Heinz seine kleine Rolle spielte und sich in die Hände der jungen Regisseurin gab. „Christa hat mir jede Freiheit gelassen. Und wir haben mitunter schon eine gute Fassung gehabt, konnten sie aber nicht nehmen, weil die Regisseurin hinter der Kamera alles verlacht hat“, erinnert sich Dieter Mann. Bei Christa Mühl war das so. Wer sie am Set suchte, musste nicht den Kabeln zur Kamera folgen, er brauchte nur ihrem Lachen entgegenlaufen.

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Christa Mühl hatte zum Treffen bei Dieter Mann ihre Drehbuchnotizen und die Klappe mitgebracht © Boris Trenkel

Die Realisierung ist eine große Herausforderung gewesen. Nicht nur für die Regisseurin. „Das Verderben war, wir hatten nichts. Kein Schiff, keine Devisen um in England zu drehen“, erzählte Christa Mühl über vier Jahrzehnte später. Der Szenenbildner Klaus Winter hat wahre Wunder vollbracht. Auf dem DEFA-Gelände zauberten die Kulissenbauer die Londoner Hafencity. Von englischen Aufklebern über Bierdeckel, Straßenschilder bis zum „Daily Telegraph“ von 1938 ist alles Marke Eigenbau. Die Stoffe für die Ausstattung der Räume für die Innendrehs hat Winters Cousine aus England geschickt. Eine ganze Straße im Zentrum von Brandenburg wurde für die Szene, in der Mitchell aus dem Café zu Jane läuft, umgestaltet. Winters genialste Idee war es, ein altes Taxi zu bekleben, alle Schilder mit Spiegelschrift anfertigen und die Knopfleisten der Kostüme versetzen zu lassen. Dann wurde gedreht, seitenverkehrt kopiert und alles war richtig. Alle glaubten, die Aufnahmen seien in London entstanden. Mit Kosten von 1, 2 Millionen DDR-Mark war es die aufwendigste Filmproduktion, die das Fernsehen je für einen 90-Minuten-Film ausgegeben hat. Mit diesen beiden Filmen erwarb Christa Mühl in der Branche, vor allem bei den Schauspielern großes Vertrauen. Wenn sie eine Besetzung anbot, sagte niemand nein.

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Wiedersehen nach langer Zeit aus traurigem Anlass. Schauspielerin Walfriede Schmitt  drehte mit Christa Mühl  in der SAT.1-Serie „Für alle Fälle Stefanie“, Madeleine Lierck-Wien  in der Soap „Rote Rosen“ © B. Beuchler

Inhaltlich wandte sie sich ab 1980 verstärkt Gegenwartsthemen zu. Sie griff die kleinen und großen Probleme im Leben und ihrer Geschlechtsgenossinen auf. „Meine Filme sollen auch Mut machen, das Bewusstsein schärfen für die enormen Chancen, die Frauen in unserer Gesellschaft haben“, sagte sie 1987 in einem Interview mit der DDR-Frauenzeitschrift „Für Dich“. Oft genug stieß Christa Mühl dabei selbst an Mauern, musste einen Kampf gegen ideologische Engstirnigkeit bei der Fernsehoberen führen. Weil er sich ihrer Ansicht gegen die Kulturpolitik der DDR richte, verschwand ihr Film „Die Generalprobe“ nach seiner Premiere am 11. Juli 1982 im zweiten Programm des DDR-Fernsehens im Archiv. Erzählt wird darin, wie eine junge selbstbewusste Schauspielerin an einem kleinen Theater sich in ihrer Ehe und in ihrem Beruf gegen überkommene Vorstellungen von der Rolle der Frau zur Wehr setzt. Zwei Jahre später legte Christa Mühl das Drehbuch für den Film „Paulines zweites Leben“ vor, in dem sich eine Frau mit 50 aus ihrer beengenden Ehe befreit und neu anfängt. „Ein liebevoller, witziger Film über unser Leben, der anfangs gar nicht erst gedreht werden sollte. Er habe keine 20-Uhr-Qualität, hieß es vom Fernsehkomitee“, erinnert sich Walfriede Schmitt, die mit Schauspielerin Annemone Haase  die Hauptrollen spielt, in ihrer Abschiedsrede auf der Trauerfeier.

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Heidemarie Wenzel und Leon Niemczyk 1985 auf dem Titel der DDR-Fernsehzeitschrift „FF dabei“ . Sie spielten die Hauptrollen in Christa Mühls Fontane-Adaption „Franziska“ . Mit der Schauspielerin hat sie aus ihrem Krimi „Seniorenkanst – wir kommen“ gelesen © FF dabei/ Waltraud Denger

Christa Mühl schaffte es nach vielen Attacken, dass sie den Film drehen durfte. Als er nach nochmals vielen Mühen gesendet wurde, gab es große Zustimmung bei den Zuschauern. Warum werden nicht mehr solcher Geschichten gezeigt, war der Tenor der Leserbriefe an die Fernsehzeitschrift FF dabei“. Es war der nicht seltene Fall, dass die Verantwortlichen in ihren Positionen nicht wussten, was das Fernsehvolk wirklich sehen wollte. Nachdem der Film in Bulgarien mit einem Fernsehpreis ausgezeichnet worden war, zog das DDR-Fernsehen nach und verlieh der Regisseurin und den Hauptdarstellerinnen den „Silbernen Lorbeer“. Danach suchte sie sich erholsame Filmstoffe und drehte 1985 die Fontane-Adaption Franziska“ (1985) und 1986 nach einer Vorlage von Anna Seghers „Das wirkliche Blau“.

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Christa Mühl auf dem Titelbild der Frauenzeitschrift „Für dich“, die die  Regisseurin anlässlich ihres 40. Geburtstages in einem Interview vorgestellt hat © Privatarchiv Mühl

Ich sah Christa Mühl 1988 wieder, als ich für die „FF dabei“ in der Hochschule der Volkspolizei an einer Diskussion mit angehenden Kriminalisten teilnahm. Ich erinnere mich, dass es um die Frage ging, wie realistisch muss die Arbeit der Kriminalisten dargestellt werden, wieviel Freiheit kann sich der Regisseur nehmen, um einen Täter für die Zuschauer spannend zu überführen. Gegenstand war Polizeiruf 110: Abschiedslied für Linda“, den Christa Mühl inszeniert und für den ihr Mann Werner Hecht das Drehbuch geschrieben hatte. Viele ihrer Einfälle wurden gestrichen, Details bis hin zu solchen Kleinigkeiten wie ein Aschenbecher im Zimmer der drei Kommissare und herumliegende Akten wurden moniert. „Danach Die jungen Polizisten fanden das übertrieben. Sie wollten spannende Krimis sehen und nicht ein Abbild der Realität. Christa Mühl gab mir damals ihre Telefonnummer. Ich hätte ja noch Fragen haben können. Was für ein Glück, dass sie sie nie geändert hat. So erreichte ich sie, als ich den Auftrag hatte, für die SUPERillu etwas über den Film Die Rache des Kapitän Mitchell“ zu schreiben.

Christa Mühls letzte Arbeit für das DDR-Fernsehen war die siebenteilige Serie Fritze Bollmann will angeln“, die von Anfang an unter einem schlechten Stern stand. Hauptdarsteller Dieter Wien erkrankte schwer, dann kam die Wendezeit und mehrere Schauspieler gingen in den Westen. Nach etlichen Umbesetzungen konnte die Serie zu Ende gedreht werden. Am Ende der DDR, des Fernsehens und der DEFA wusste die 44-Jährige, die 1988 mit dem Kunstpreis der DDR geehrt wurde und eine der wenigen erfolgreichen Filmregisseurin in der DDR gewesen ist, eigene Filme wie bisher wird sie nicht mehr machen. Von nun an lebte sie in einer westdeutsch dominierten Branche. Die gut ausgebildeten Kollegen, die da aus dem Osten plötzlich in den Markt schwemmten, waren Konkurrenz, die man nicht wollte.

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Christa Mühl mit Filmproduzent Alfried Nehring (2. v. r.) und Kameramann Franz Xaver Lederle bei  Dreharbeiten für ihren Film „Stubbe macht Urlaub“ 1995 in Ahrenshoop ©  Privatarchiv A. Nehring

Es veränderte sich aber auch etwas in der Fernsehlandschaft. Anfang der 90er Jahre brach die Epoche der Weeklys, Soaps und Telenovelas an. Für Christa Mühl tat sich ein Tor auf. Sie schrieb und inszenierte 1992-1994 für den Filmproduzenten Thomas Bürger, einen ehemaligen DEFA-Aufnahmeleiter, die Soap „Marienhof“. Anschließend drehte sie zwei Folgen für die „Lindenstraße“. Parallel zu ihrer Arbeit für die ZDF-Reihe „Stubbe – Von Fall zu Fall“ stieg sie 1996 als Regisseurin in die   die beliebte STA1.-Serie „Für alle Stefanie“ ein. Bis 2001 drehte sie 23 Folgen und schrieb 15 Drehbücher. Was immer sie  inszeniert, sie holt viele den Zuschauern im Osten vertraute DDR-Schauspieler wieder vor die Kamera. „Ich hätte mir nie träumen lassen, mal mit Theatergrößen wie Dieter Mann, Annekathrin Bürger, Barbara Dittus Horst Drinda und Christine Schorn zu spielen“, sagt Wolfgang Stumph.

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„Das Buch ist ein Oldtimer… 2003 geschrieben – nach zwei glücklichen Jahren in Gmunden“, leitet Christa Mühl ihre Erzählungen ein, die im Engelsdorfer Verlag erschienen sind

Oft wurde Christa Mühl gefragt, ob sie bei einer Staffel der Serie „Schlosshotel Orth“ Regie führen möchte. Und immer musste sie absagen, weil schon andere Verträge unterschrieben waren. 2001 hat sie endlich Zeit und erlebt im österreichischen Gmunden zwei ihrer schönsten Arbeitsjahre. Auch deutsche Fernsehproduzenten wissen inzwischen Christa Mühls Kreativität, ihr handwerkliches Können und ihren Einsatz zu schätzen. 2004 hebt sie mit „Bianca – Wege zum Glück“ die deutschen Telenovelas aus der Taufe und inszeniert bis 2011 wohl an die 200 Folgen der Reihe. Für die ARD dreht sie von 2006 bis 2010 die Dauerserie „Rote Rosen“. Was sie mit ihren DDR-Filmen angefangen hat, setzte sie in den Serien fort. Sie verwendete viel Mühe darauf, in die Geschichten, die sich wieder um das Leben von Frauen drehen, die gesellschaftlichen Verhältnisse einzubeziehen. „Wenn ich schon Serien mache, dann mit Puff“, hatte sie mal gesagt.

Und plötzlich ist sie ausgemustert. Mit 65 zu alt, zu teuer. Sie reicht Drehbücher ein, doch keiner will sie. Ihr Krimi Seniorenknast – wir kommen!“ sollte ursprünglich ein Film werden. Da machte sie eine ähnliche Erfahrung wie beim DDR-Fernsehen. Leute jenseits der 60 sind heute zwar das Gros der Zuschauer, doch die Sender kaprizieren sich auf eine jugendlichere Zielgruppe. Die sitzt mitnichten abends vor dem Fernseher. Es hat sie tieftraurig gemacht, nicht mehr Regie führen zu dürfen, als ausschussreifes Schrottmodell stigmatisiert zu werden, wenn man es noch gar nicht ist, erfahre ich bei der Trauerfeier von ihrer Freundin, der Regisseurin Renata Kaye.

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Ihre Freundinnen Renata Kaye und Barbara Häselbarth-Pietsch führen den Trauerzug an. Allen, die Christa Mühl kannten, wird besonders eins fehlen: ihr herzerfrischendes Lachen © B. Beuchler

Am 12. November wurde Christa Mühl neben ihrem Mann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt. Begleitet von ihrer Familie, von engen Freunden und Menschen, mit denen sie gearbeitet hat, die sie als Regisseurin schätzten wie die Schauspieler Ute Lubosch, Giso Weißbach – den Hauptdarsteller im Polizeiruf 110: Abschiedslied für Linda“ – , Pierre Sanoussi-Bliss, der 1986 in Christa Mühls „Weihnachtsgeschichten“ mitspielte.  Wirklich fassen kann es jedoch noch keiner, dass sie nicht mehr da ist. „Der Tod muss gestolpert sein und hat dabei das Kreuz auf seiner Liste an die falsche Stelle gesetzt“, spricht Schauspielerin Walfriede Schmitt allen aus dem Herzen. Christa Mühl nahm den Krebs als eine vorübergehende, zu bewältigende Krankheit. Sie besaß eine unerschütterliche Zuversicht in das Leben. Der Tod musste sie schon einmal gehen lassen. Mit großer Anstrengung hatte sie eine Erkrankung überwunden, die für andere das Ende bedeutet hätte. Doch dieses eine Mal reichten Zuversicht, Optimismus und Kraft nicht.

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Annekathrin Bürger über „Die Anfängerin“, Kindheit und Familiebande

Ein kleiner Kinofilm macht gerade von sich reden. „Die Anfängerin“ – das Spielfilmdebüt der Fotografin Alexandra Sell als Regisseurin. Fasziniert vom Eiskunstlauf und inspiriert durch Interviews mit der ehemaligen DDR-Eiskunstläuferin Christine Stüber-Errath, schrieb die Hamburgerin eine berührende Dreiecks-Geschichte.

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Von ihrer unbarmherzigen Mutter Irene – mit feiner Ironie verkörpert von Annekathrin Bürger – ihres Kindheitstraumes beraubt, ist die Ärztin Annebärbel (Ulrike Krumbiegel) in ihrem Leben erstarrt. Ohne Mitgefühl für Ihre Patienten, ohne Liebe für ihren Mann, nicht einmal für sich selbst. Als ihr Mann sie verlässt, bricht ihr sorgsam errichtetes Kartenhaus zusammen. Sie begreift, dass sie sich vom Einfluss ihrer Mutter befreien muss, um endlich ein eigenes Leben führen zu können. Beim nächtlichen Bereitschaftsdienst an der Eishalle des Olympiastützpunkts erinnert sich Annebärbel ihrer Kindheit, wie sie als Achtjährige Eistanz übte. Nicht gut genug für ihre perfektionistische Mutter. Deren Bewunderung gehört der kleinen Eisläuferin Christine Errath. Annebärbel ist 58, als sie die Schlittschuhe wieder anzieht, um sich ihren Kindertraum zu erfüllen. Dabei kommt es zur schicksalhaften Begegnung mit Christine Stüber-Errath.

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Szenenfoto: Weltmeisterin Christine Stüber-Errath ging für den Film „Die Anfängerin“ zum ersten Mal wieder aufs Eis

Der Film bringt zwei DDR-Legenden ins Rampenlicht zurück. Eiskunstlauf-Weltmeisterin Christine Stüber-Errath drehte für Die Anfängerin“ nach 40 Jahren zum ersten Mal wieder ihre berühmten Pirouetten auf dem Eis. Schauspielerin Annekathrin Bürger ist seit ihrer letzten Kinohauptrolle im DEFA-Film „Hostess“ wieder in einer großen Rolle auf der Leinwand zu sehen. Seit drei Wochen sind die beiden Protagonisten auf Kinotour durch Städte in Ost und West.

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Szenenfoto: DEFA-Star Annekathirin Bürger als Dr. Irene Hanschke in Alexandra Sells Kinofilm „Die Anfängerin“

Die Anstrengung nimmt die 80-jährige Annekathrin Bürger gern auf sich. Wo immer „Die Anfängerin gezeigt wird, ist das Publikum begeistert. „Die Kinos im Osten sind immer ausverkauft. Im Westen sind Schauspieler aus dem Osten, sprich der ehemaligen DDR, auch 27 Jahre nach der Vereinigung der beiden Staaten weitgehend unbekannt. Aber es gab auch in Essen, Düsseldorf, Köln Eiskunstlauf-Fans, die Weltmeisterin Christine Stüber-Errath zwar nicht kannten, aber neugierig waren“, erzählt mir Annekathrin Bürger von unterwegs am Telefon.

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1976 im DEFA-Film „Hostess“. Foto © Icestorm/DEFA-Stiftung/Dieter Jaeger

Sie sagte immer, sie hätte kein Recht zu jammern, wenn sich keine großen Kinorollen mehr böten. Sie habe ihre Karriere gehabt mit 20 Hauptrollen in DEFA-Spielfilmen und vielen anspruchsvollen Figuren in DDR-Fernsehfilmen. Doch sie hatte das gewisse Quäntchen Glück, das einem manchmal widerfährt, wenn es aussichtslos scheint. Regisseur Hans-Werner Honert, mit dem sie bereits beim DDR-Fernsehen gearbeitet hatte, schrieb ihr für seinen Tatort „Der Fluch des Bernsteinzimmers“ die Rolle der Frederike. „Von da an war ich auf dem Bildschirm vorhanden, mit Nebenrollen in Serien wie ,Die Stein’ oder als Kräuterhexe in ,Mord mit Aussicht’. Eine Rolle, die mir sehr viel Spaß gemacht hat“, erinnert sich Annekathrin Bürger, deren Charisma ihre Figuren prägt.

2013 gehörte sie zu der ausgesuchten Besetzung der Bewohner eines Seniorenheims in der Kinokomödie „Sein letztes Rennen“. Der Erfolg des Films zog für die Schauspielerin ein Angebot nach, an das sie kaum mehr geglaubt hatte. Auf der Premierenfeier bot ihr Alexandra Sell an, ihr eine Rolle zu schreiben. Beide Frauen kannten sich bis dahin nicht. Annekathrin Bürger: „Ich war skeptisch.“ Doch 2016 hatte sie das Drehbuch für „Die Anfängerin“ auf dem Tisch, mit einer Charakterrolle, wie sie sie sich lange gewünscht hatte. „Es war mir ein großes Vergnügen, diese beherrschende Frau Mutter zu spielen, in deren Leben es keinen Platz für Abweichungen oder Gefühle gab. Die nicht über ihren Schatten springen konnte. Das nicht willkommene Kind musste funktionieren.“

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Privatfotos aus der Kindheit der Schauspielerin

In gewisser Weise musste das Annekathrin Bürger in ihrer Kindheit auch. Die Mutter war Solotänzerin an der Berliner Volksoper. Ihr Vater Heinz Rammelt verdiente als freischaffender Tiermaler und Illustrator sein Geld, manchmal auch abends als Schnellzeichner im „Cabarett der Komiker“. Doch die Bedürfnisse seiner kleinen Tochter lagen ihm immer am Herzen.  Mit großer Fürsorge und Liebe kümmerte er sich um das Kind. Als seine Kati erwachsen war, ihre Biografie schrieb, erzählte er ihr, wie sie ihm beim Wickeln einmal vom Tisch gerollt ist, er sie aber noch an einem Bein erwischte. Sie lebten damals am Ku’damm in Berlin-Charlottenburg. In der Wohnung des Kommunisten Heinz Rammelt trafen sich Schauspieler, Maler, Intellektuelle und diskutierten die Nächte durch. Auch über das, was in Deutschland vor sich ging, seit die dunklen Wolken des Nationalsozialismus aufgezogen waren und Krieg in der Luft lag. Manchmal, wenn sie in ihrem Kinderbettchen wach wurde und auf nackten Füßen zum Wohnzimmer tapste, nahm der Vater sie auf den Arm, und sie durfte dabei sein. „Ich habe ganz früh das Wort Nonkonformisten gelernt“, erinnert sich Annekathrin Bürger.

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Die Schauspielerin und ihr Bruder Olaf Rammelt im Atelier des Malers, der das Zeichentalent seines Vater Heinz Rammelt geerbt hat. Foto © Michael Handelmann

Sie hat mich nach Dessau eingeladen, wohin es Heinz Rammelt und seine Familie nach vielen Umzügen 1950 verschlagen hatte. Der passende Ort, um über Kindheit und Familie zu reden. „Meine Mutter Gerda hat meinen Vater wegen eines anderen Mannes verlassen. Nach der Scheidung erkämpfte er sich das Sorgerecht für mich“, erklärt das älteste Rammelt-Kind. 1944 heiratete der Vater wieder. Seine Frau Anneliese wurde ihre neue Mutter, die sie sehr mochte.

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Annekathrin Bürger mit ihrer Büste als Gräfin Dopf. Foto © Michael Handelmann

Annekathrin Bürger, die sich für ihren ersten Film einen anderen Namen zulegen musste und den der Großmutter annahm, steht auf der Treppe, die zu den Ateliers führt, in denen ihr Bruder Olaf Rammelt den Spuren seines Vaters Heinz Rammelt folgt. Im Rücken Olafs Bild „Traum eines Harlekins“, vor ihr eine Büste, die sie als Gräfin Dopf in der Grandguignolade „Nord“ zeigt. Eine Arbeit ihrer Schwägerin, der Bildhauerin Christine Rammelt-Hadelich. Die gewählte Optik ein Ausdruck ihrer kreativen Familienbande. Rammelt und Hadelich sind im Sächsischen und Anhaltinischen bekannte Künstlerdynastien.

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1980 mit Rolf Herricht im DEFA-Film „Der Baulöwe“. Foto © Icestorm/DEFA-Stiftung

Ich lernte Olaf und Christine Rammelt kennen, als ich mich 2008 mit Annekathrin Bürger für einen SUPERillu-Beitrag in Ahrenshoop auf die Spuren des DEFA-Films „Der Baulöwe“ begab. Seit dem Tod ihres Mannes, des Regisseurs Rolf Römer im März 2000, ist die Bindung der Schauspielerin zu ihrer Dessauer Familie enger geworden. Wir beginnen unser Gespräch mit ihrer Rolle als Dr. Irene Hanschke im aktuellen Kinofilm „Die Anfängerin“ und lassen das offizielle Sie, weil wir nunmehr 22 Jahre befreundet sind.

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Szene mit Annekathrin Bürger als Dr. Irene Hanschke und Ernst-Georg Schwill

Du hast dir immer eine Figur gewünscht hast, die knirscht. War das die Irene Hanschke?
Sie kam dem nahe. Meine bisherigen Rollen waren ja immer sympathische Figuren, was diese Mutter nun gar nicht ist. Kinobesucher, die mich kennen, waren geradezu erschüttert: „Wie können Sie nur so eine kaltherzige Frau spielen!“ Aber ich war glücklich darüber, zu zeigen: So kann ich auch. Als die achtjährige Tochter auf dem Eis versagt, wird sie abgeschrieben. Die Mutter nimmt ihr die Schlittschue weg und kritisiert sie ein Leben lang als unzulänglich. Ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich glaube, dass es solche Verhältnisse zwischen Müttern und Töchtern gibt.

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Die Autorin im Gespräch mit der Schauspielerin, ihrem Bruder Olaf und seiner Frau Christine. Foto © Michael Handelmann

Wie schwer fiel es dir, dich da hineinzufühlen?
Es fiel mir nicht schwer. Obwohl ich nicht der Typ bin, der von Ehrgeiz besessen die Ellenbogen breit macht. Es gibt die äußerlichen Kämpfer, die viel beiseite treten, und es gibt die stillen Starken. Die sich nicht unterkriegen lassen, aber sich nicht vorn etwas erkämpfen können. Die warten müssen. So ein Mensch bin ich. Nach langer Zeit kam plötzlich das Glück, dass mir eine Figur wie diese geschrieben wird, die den Film mitbestimmt.

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Annekathrin Bürger mit Stefan Lisewski 1958 bei den Dreharbeiten zu „Verwirrung der Liebe“ an der Ostsee. Foto © Icestorm/DEFA-Stiftung/Neufeld

Du selbst hast keine Kinder.
Zu meinem großen Bedauern. Das ist der Tribut, den ich als junge Frau für meinen Traum zahlen musste. Die Hochzeitsszenen für den DEFA-Film „Verwirrung der Liebe“  haben wir im Winter 1958 gedreht. Das dauerte sehr lange, und ich hatte nur das Hochzeitskleid an. Wohnwagen zum Aufwärmen gab es damals nicht. Anschließend lag ich mit Unterleibsproblemen im Krankenhaus. Und das ging so weiter. Rolf und ich hätten gern einen Sohn oder eine Tochter gehabt. Für mich ist es schön, zu erleben, wie innig Olaf, Christine und meine Nichte Henriette miteinander umgehen.

Ich finde, es gibt Parallelen zwischen deinem Leben und der Filmgeschichte. Deiner Mutter war ihre Karriere als Tänzerin wichtiger als du. Wie hast du das als Kind empfunden, und wie siehst du das jetzt?
Meine Mutter Gerda war eine erstklassige Ballett-Tänzerin. Sie kam aus proletarischen Verhältnissen und finanzierte sich ihr Ballett-Studium bei der berühmten Choreografin Mary Wigman in Leipzig mit Gelegenheitsarbeiten. 1933 gewann sie in Warschau auf einem internationalen Tanzkongress eine Bronzemedaille. Sie hat sich hochgearbeitet und wurde 1941 Solotänzerin an der Volksoper Berlin und war viel auf Tournee. Ihr Ehrgeiz bedeutete nicht, dass sie mich nicht mochte. Sie hatte einfach keine Zeit für mich. Aber es gab Lenchen, unser Dienstmädchen, und ich hatte meinen Vater. Im Grunde zog er mich groß. Und wenn es gar nicht anders ging, wurde ich zu meinen sehr lieben Großeltern nach Leipzig gebracht. Käthe Bürger war eine bekannte Landschaftsmalerin.

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Das Autogrammfoto zeigt die Schauspielerin 1956, als sie ihren ersten Film „Eine Berliner Romanze“ gedreht hat. Foto privat/Bürger

Einen Teil deiner Kindheit hast du in Kinderheimen verbracht.
Als mein Vater zum Kriegsdienst musste, wurde ich zwischen Pflegeeltern und Kinderheimen herumgereicht. Meine Mutter Gerda war mit einem österreichischen Komponisten liiert, und ich war nicht willkommen. Als ich sechs war und zur Schule musste, schickte mich meine Mutter in ein N.S.V- Kinderheim nach Brünn. Ihr neuer Mann hatte dafür gesorgt.

Wie fühlte es sich an, immer weitergereicht zu werden?
Sagen wir mal so: Ich bin ein robuster Typ und habe mich in dieser Zeit daran gewöhnt, alles mit mir allein abzumachen. Ich habe gelernt, die Dinge nüchtern zu betrachten und nicht in erster Linie emotional. Ich finde, ich habe nicht unbedingt Recht dazu, meine Mutter dafür zu hassen. Wenn ich im Kinderheim Kochfisch mit Meerrettichsoße nicht leiden konnte, war das so. Trotzdem habe mich wohlgefühlt. Aber ich wusste mich auch durchzusetzen. Zur Not wurde eben geschwindelt, ein Vergehen auf jemand anderen abgewälzt. Und dass wir „Heil, Hilter“ statt „Guten Morgen “ sagen mussten und das „Deutschlandlied“ sangen, habe ich hingenommen. Anfang 1944 wurde das Heim geschlossen und ich kam zurück nach Berlin. Mein Vater erkämpfte sich das Sorgerecht.

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Heinz Rammelt mit seinem Zeichenheft im Berliner Tierpark

Ihr wart euch sehr nahe?
Ja, er war der wichtigste Mensch für mich. Mein Vater sah mir immer an, wenn mich etwas bedrückt hat. Ihm konnte ich nichts vormachen. Ich war kein einfaches Kind und habe meine liebe Stiefmutter Anne, die für mich immer meine Mutti gewesen ist, manchmal ungewollt mit meinem Dickkopf zum Weinen gebracht. Wenn ich etwas angestellt hatte, gab es Strafpredigten, geduldige Belehrungen, aber nie Dresche. Mein Vater hat mich sehr einfühlsam gelenkt. Auch auf meinen Weg zur Schauspielerin. Er meinte, ich müsse erst einmal hinter die Bühne schauen und verschaffte mir eine Stelle im Theater Bernburg. Er kannte den Direktor – das war Hans-Joachim Preil. Ich hatte ja Gebrauchswerberin gelernt und durfte im Malsaal bei der Bühnendekoration mithelfen. Preil hat mich damals auch als Komparsin auf die Bühne gelassen. Manchmal tut es mir leid, dass ich nicht so viel Zeit mit meinem Vater verbracht habe wie meine Brüder Hans-Jörg und Olaf.

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Die Geschwister sehen sich Olafs Skizzen für das neue Ostseebuch an. Foto © Michael Handelmann

Ihr seid Halbgeschwister.
Ja, aber das spielte nie eine Rolle. Die Jungs wussten es lange nicht. Ich fand das nicht wichtig. Wir waren eine Familie. Ich habe mich um sie gekümmert. Als ich nicht mehr zu Hause lebte, habe ich ihnen geschrieben, sie ermahnt, ihre Hausaufgaben zu machen und die Eltern nicht zu ärgern, wie das eine große Schwester eben so macht.

Es ist nicht immer so, dass sich Geschwister noch als Erwachsene verstehen. Zwischen euch liegen 17 Jahre Altersunterschied.
Ich denke, bei uns geht das so gut, weil wir durch unseren Vater verbunden sind. Olaf verbrachte seine Sommerferien oft bei uns in Berlin oder besuchte uns an der Ostsee. Er hat das Talent und die Leidenschaft zum Malen unseres Vaters geerbt. Mir hat es nie Spaß gemacht, wenn ich zum Zeichnen mit meinem Vater in den Tierpark musste. Im Nachhinein beneide ich meinen kleinen Bruder, der durch seine Malerei viel enger mit ihm verbunden war. Und auch dadurch, dass Olaf und Christine mit den Eltern zusammen gewohnt haben, war er ihm näher als ich es sein konnte.

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Der  63-Jährige bei der Arbeit. Foto © Michael Handelman

Olaf wirft ein: Es war für uns alle immer etwas Besonderes, wenn Kathrin nach Hause kam. Sie konnte uns ja nur selten besuchen, weil sie so viel gedreht hat. Ich war ein bisschen verschüchtert als Kind und froh, eine große Schwester zu haben. Als meine Jugendweihe 1968 anstand, war sie schon eine bekannte Schauspielerin und wohnte in Berlin. Sie ist mit mir in die Jugendmode in die Brüderstraße gefahren, ich bekam einen braunen Cordanzug und Jeans. Was ich nie vergessen werde, ist eine Begegnung mit Armin Mueller-Stahl. Kathrin hatte mich mit in die Volksbühne genommen, wo sie mit ihm für „Orpheus und Eurydike“ probte. Ich saß im Zuschauerraum und habe ihn gezeichnet.  Das Bild hat ihm gefallen. Er holte mich auf die Bühne, setzte mich in einen Sessel und spielte nur für mich Geige. Ich war damals Sechzehn. Als wir uns im vergangenen Sommer auf seiner Vernissage hier in Berlin wiedersahen, wusste er das noch ganz genau.

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Ein kreatives Team: Annekathrin Bürger, ihr Bruder Olaf und ihre Schwägerin Christine. Foto © Michael Handelmann

Annekathrin, ist der Zusammenhalt mit Olaf nach dem Tod von Rolf Römer enger geworden?
Manches lässt sich allein schwer bewältigen. Rolf fehlt mir sehr. Fürs Herz, für den Kopf und mit seinen handwerklichen Fähigkeiten für Haus und Garten. Ich habe das Glück, eine Familie zu haben, auf die ich mich verlassen kann, die frisch im Kopf ist, klug im Geist, politisch diskutiert und da ist, wenn ich sie brauche. Olaf war immer ein kluger Gesprächspartner, schon als Junge.

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Hochzeit von Annekathrin Bürger und Rolf Römer 1966 in Moritzburg

Bist du jetzt ein Familienmensch geworden? Du hast immer gesagt, dass du das eigentlich nie so warst wie dein Mann.
Ja,  Rolf war derjenige, der immer darauf gedrungen hat, dass wir so oft es ging zu unseren Eltern fuhren. Es war ihm wichtig, den persönlichen Kontakt eng zu halten. Mehr als mir. Ich habe meinen Eltern sehr viele Briefe geschrieben. Es ist bei mir auch heute noch so, dass ich nicht alle Nase lang bei Olaf und Tine aufschlage. Ich würde mich nie bei ihnen einquartieren. Es ist gut, wenn wir alle zwei Tage telefonieren, um zu wissen, was los ist, und ich ab und zu – so wie jetzt – zu ihnen nach Dessau fahre.

Nach einem Familienweihnachten bei Rolfs Eltern 1964 in Moritzburg musstest du für eine Abendvorstellung von „Schloß Gripsholm“ nach Berlin. Obwohl Rolf dir abgeraten hatte, weil es angefangen hatte zu schneien, hast du dich nach der Vorstellung ins Auto gesetzt, um zu deinen Eltern nach Dessau zu fahren. Dort bist du aber nicht  angekommen.
Ich geriet auf der Autobahn bei Belzig ins Schlingern und bin gegen die Leitplanke geknallt. Damals fuhr man noch ohne Gurt. Ich wurde aus dem Wagen geschleudert. Doppelter Schulterblattbruch und angeknackste Wirbel … Ein Autobahnmeister, der mir auf der anderen Seite der Autobahn entgegengekommen war, wunderte sich, dass die Lichter meines Auto plötzlich verschwunden waren. Er hielt an und fand mich bewusstlos auf einem Acker zwischen abgehackten Baumstümpfen. Der Mann hat mir das Leben gerettet.

 Worüber denkst du nach, wenn du dich einam fühlst?
Solche Momente gibt es hin und wieder. Dann überlege ich, was sein würde, wenn ich eines Tages mein Haus verkaufen muss. Wohin dann? Wie gesagt, würde ich mich nicht in das Universum von Olaf und Tine drängen. Ich wünsche mir einen guten Freund, den man einfach an die Hand nimmt und sagt: Lass uns drei Wochen verreisen. Es geht nicht  um Sex. Ich möchte nur nicht mehr allein an einem Zweiertisch sitzen und alle gucken dich mitleidig an. So wie jetzt bei der Kur.

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Das Buch, wie alle anderen auch, kann in Olafs und Christines Verlag „FederEdition“ erworben werden

Eure familiäre Einheit hat schöne kreative Auswirkungen. Von eurem gemeinsamen Buch „Geliebte Ostsee“ gibt es bereits die fünfte Auflage. Wie bist du eigentlich zum Schreiben gekommen?
Angefangen hat es mit meiner Biografie „Der Rest, der bleibt“, die leider vergriffen ist. Da habe ich das, was ich konnte, selbst geschrieben. Vor ein paar Jahren hatten Olaf und Tine die Idee für ein Ostsee-Buch. Erst wollte ich nicht mitmachen. Aber die beiden haben mich praktisch gezwungen, etwas aufzuschreiben. Auf dem Fischland und dem Darß haben wir als Kinder mit unseren Eltern in den die sogenannten Künstlerkolonien die Ferien verlebt. Dort trafen sich Maler, Schauspieler, Schriftsteller und Intellektuelle. Das war eine tolle Zeit. Die Ostsee blieb auch später immer unserer Urlaubsziel. Für Rolf und mich war eine alte Holländer-Windmühle in Wustrow viele Jahre unser Domizil. Ein befreundeter Chirurg aus Rostock hatte sie uns überlassen. Ein Mekka für meinen liebend gern handwerkernden Mann. Wir haben nur Aktiv-Urlaube gemacht, weil Rolf die ganze Mühle saniert hat.
Olaf: Dass Kati wunderbar erzählen kann, war klar, als sie für einen Katalog, cen wir unserem Vater schenken wollten, eine Hommage an ihn geschrieben hat. Der Lektor war ganz begeistert.
Annekathrin: Als Tine und Olaf mit dem Ostsee-Buch anfingen, saß ich mit einem Gipsbein zu Hause und hatte Langeweile. Ich dachte: Na gut, probier ich’s. Die ersten Seiten gingen stockend, dann lief es wie geschmiert.

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2015 erschienen die „Weisheiten der Liebe“

Der Gedichtband „Weisheiten der Liebe“ war euer zweites Projekt. Bis dahin hast du Verse nur für dich geschrieben. Hat dich auch wieder deine Familie überredet?
Annekathrin: Im gewissen Sinne ja.
Christine: Es war so, dass wir festgestellten, dass wir beide in unseren Gedichten die Liebe aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Das fand ich faszinierend.
Olaf: Ich habe ihre Gedichte gegeneinandergestellt und herauskam eine spannende Lyrik.
Annekathrin: Die du mit frechen Bildern illustriert hast. Es ist ein zauberhaftes unterhaltsames Buch geworden.

Jetzt arbeitet ihr an eurem zweiten Ostsee-Buch „Teilzeitfischköppe“, wieder mit Geschichten von dir, Annekathrin. Verlegst du dich jetzt aufs Schreiben?
Nein, nein. Ich werde keine Schriftstellerin, da würde ich mir die Latte zu hoch legen. Aber Gebrauchsliteratur muss ja auch nicht schlecht sein, nur weil sie emotionaler als die gehobene Literatur ist. Ich ärgere mich heute, dass ich meine Erlebnisse früher nie aufgeschrieben habe. Es gibt nur Briefe und Notizen in Kalendern. Man kommt in ein Alter, in dem man viele Dinge vergisst. Ich war im November an der polnischen Ostsee zur Kur und habe Stoff für eine neue Erzählung mitgebracht. Am Hafen habe ich einen Fuchs auf der Kaimauer gesehen. Das ist etwas Verrücktes, Geheimnisvolles. Was wollte der da?  Ich freue mich schon darauf, die Geschichte zu schreiben.

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Annekathrin und ihre Schwägerin amüsieren sich über ihre Gedichte Foto © Michael Handelmann

Wie weit seid ihr mit dem Buch?
Meine ersten 21 DIN A4-Seiten sind fertig.  Tine hat sie schon abgetippt. Ich schreibe ja alles mit der Hand. Aber manches dauert eben, weil  bei mir auch heute immer noch etwas dazwischen kommt. Das Jahr 2017 war voll mit meinen Chanson-Abenden „Weisheiten der Liebe“,  den konzertanten Lesungen „Erotische Geschichten aus Boccaccios Decamerone“. Dann habe ich das erste Mal an den Weihnachtslesungen teilgenommen, die Schauspielerkollegen seit zehn Jahren veranstalten.  Und für dieses Jahr sind auch schon wieder Veranstaltungen gebongt. Worauf mich sehr freue: Am 9. März lese ich in Olafs Ausstellung „Tiere im Atelier“ im Kulturhaus Berlin-Karlshorst aus der Erzählung zu Camille Saint-Saëns Suite „Karneval der Tiere.

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Ein Blatt aus der Reihe „Gala der Tiere“ von Olaf Rammelt

Olaf und Christine haben die Geschichte zu Camille Saint-Saëns Musikstücken in Wort und Bild neu interpretiert. Ich sehe hier faszinierende Grafiken und Lithografien. Gibt es die auch zu kaufen?
Olaf: In unserem Verlag FederEditon kann man sie als einzelnes Bild oder auch in einem Buch gebunden kaufen. Tine hat dazu sehr vergnügliche Texte geschrieben.

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Künstlerdruck aus „Karneval der Tiere“

Annekathrin,  bist ja wie eh und je unterwegs. Wird dir es nicht zu anstrengend, immer wieder herumzureisen, dir immer wieder neue Programme und Lesungen zu erarbeiten?
Ich mache das nicht mehr mit links und benötige zum Regenerieren etwas länger als früher. Aber ich brauche die geistige Bewegung. Es macht mir Freude, mich auf Neues einzulassen. Für 2019 bereite ich für die Abschlussveranstaltung des Fontane-Literaturfestivals eine musikalische Lesung aus der Kriminal-Novelle „Unterm Birnbaum vor. Auf diese Weise immer noch unter Leute zu kommen und zu spüren, dass es ihnen gefällt, was man macht, finde ich schön. Es ist ja ein Vorteil des Alters, dass man nicht mehr alles machen muss. Ich habe mich bewiesen in meinem Leben, ob das die Leute nun wissen oder nicht.

Da gibt es doch die Geschichte von der Rettung des Pöppelmann-Palais‘ in Dresden. Du hast verhindert, dass es gesprengt wird. Davon spricht kein Stadtführer.
Das Barockgebäude sollte gesprengt werden, weil die Japaner an der Stelle in der Großen Meißener Straße  ein Hotel bauen wollten. Es gab Bürgerinitiativen gegen die erneute Vernichtung von kulturhistorischem Erbe, aber es bewegte sich nichts. Ich wusste von Plänen, nach denen das alte Palais in den Neubau, integriert werden konnte und habe in meiner Eigenschaft als Mitglied des DDR-Kulturrates am 30. Dezember 1981 an Erich Honecker geschrieben. Die Sprengung sollte im Januar 1982 erfolgen. Es ist für mich heute noch wundersam, dass ich, eine Schauspielerin, das letztlich verhindern konnte. Das alte Palais macht heute den prachtvollen barocken Mittelbau des Hotels „Bellevue“ aus. Darauf bin ich stolz.

Kannst du auch sein!

Ein Besuch auf den Webseiten der Künstler lohnt sich.

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Vom singenden, klingenden Bäumchen und anderen Märchen

Märchen begleiten mich, seit ich denken kann. Eine Geschichte, die mir immer zuerst einfällt, wenn ich mich zurückbesinne, ist die vom „kleinen Häwelmann“. Wie er in seinem Bett des nachts durchs Zimmer rollt, die Wand hinauf, an der Decke entlang bis der Mond einen Strahl durchs Schlüsselloch schickt. Auf dem fährt Häwelmann hinaus und in der Weltgeschichte umher…

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Diese kleine Erzählung, die sich Theodor Storm 1849 als Gute-Nacht-Geschichte für seinen Sohn ausdachte, hat mich als Kind sehr beschäftigt und vielleicht deshalb nicht losgelassen. Ich war Fünf, als ich sie von meiner Oma hörte. Als ich die Geschichte jetzt mal gegoogelt habe, stellte ich fest, dass sie ein Klassiker ist und vielfach verlegt wurde. Bei YuoTube fand ich eine Hörspielplatte von Litera, mit Arno Wyzniewski als Erzähler. Wunderschön.

Natürlich erzählte mir meine Oma auch Märchen wie „Der Wolf und sieben Geißlein“, „Rotkäppchen“ und „Tischlein deck dich“. Als ich dann lesen konnte, wurden „Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“ zu meiner ersten Lektüre. Die vier Bände des Kinderbuchverlages Berlin, die ich 1957 geschenkt bekam, sehen ziemlich zerlesen aus, stehen jedoch immer noch griffbereit im Bücherregal. Inzwischen sind viele der Märchen verfilmt worden, und ich gebe zu: Für einen schönen Märchenfilm lasse ich jeden Krimi sausen. Verrückt.

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Christel Bodenstein war die erste DEFA-Prinzessin. ©DEFA-Stiftung/Kurt Schütt

Als Kind hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich einmal Prinzessinnen und Prinzen treffen werde, die in den Märchenfilmen mein Kinderherz erobert hatten. Dieses Glück hat mir meine Arbeit als Journalistin beschert. Zu meinen Lieblingsfilmen gehört das DEFA-Märchen „Das singende, klingende Bäumchen“. Der Film von Regisseur Francesco Stefani aus dem Jahr 1957 gilt als eine der reizvollsten und erfolgreichsten Märchenproduktionen der DEFA. Was wohl kaum jemand vermutet: Die Handlung beruht auf einem Märchenfragment der Brüder Grimm. 1964 strahlte der britische Fernsehsender BBC den DDR-Film als Miniserie in drei Teilen auf Englisch aus. Sie wurde bis 1980 mehrfach wiederholt.

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Die DEFA-Kulissenbauer zauberten einen echten See und einen Wasserfall  ins Studio. © DEFA-Stiftung/Kurt Schütt

Fasziniert bin ich bis heute von der farbenprächtigen Kulisse und den beiden Hauptdarstellern, Christel Bodenstein als wunderschöne, aber hochmütige Prinzessin und Eckart Dux als Prinz, der in einen Bären verwandelt wird. Nach Abschluss der Dreharbeiten haben sie sich nicht wiedergesehen, bis ich beide zum Interview über ihren Film einlud. Eckart Dux lebte damals in Westberlin, Christel Bodenstein im Ostteil der Stadt, in der DDR. Nach dem Mauerbau 1961 arbeitete Eckart Dux ausschließlich in Westdeutschland. Christel Bodenstein drehte und lebte in der DDR.

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Die Schauspielerin hat zu ihrem Märchen ein Spiel entwickelt. ©MatthiasB Photography

„Es war damals schwer, sich zu trennen, als es vorbei war. Die Chemie zwischen uns hat gestimmt“, gestand die heute 78-jährige Schauspielerin. „Auf die Idee aber, etwas miteinander anzufangen, kamen wir nicht. Ecki war ein schnuckeliges Kerlchen. Aber mit 18 empfindet man 30-Jährige wie Väter, außerdem  war er verheiratet“, verriet die  „Prinzessin“ und lachte. Über das Treffen nach fünf Jahrzehnten waren beide sehr glücklich. Der schöne Prinz feiert am 19. Dezember seinen 90. Geburtstag. Mit seiner Frau, einer Schnittmeisterin, und seinem Sohn lebt er in der Nähe von Wolfsburg. Manchmal arbeitet er noch als Synchron- und Hörspielsprecher.

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Glückliches Ende. Das Bäumchen singt und klingt im Zauberreich. © DEFA-Stiftung/Kurt Schütt  

Das Märchen-Traumpaar hatte bei den Dreharbeiten so einiges erlebt. „Mühevoll hatte man im Reich des Zwerges die Tauben verteilt. Dann wurde die Klappe geschlagen und alle stoben davon. Wir hatten eine sehr lange Pause…“, erinnerte sich Christel Bodenstein. Der Schecke des Prinzen war ein Zirkuspferd und rollte sich jedes Mal auf den Rücken, wenn er in die Knie ging. „Ich konnte reiten, wusste das aber nicht. Wir konnten es ihm auch nicht abgewöhnen. Also musste ich  abspringen, bevor er sein Kunststück machte.“

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Das Pferd aus dem Kunstschnee freizuschaufeln war für die Schauspielerin in Kraftakt. © DEFA-Stiftung/ Kurt Schütz

Dass „Das singende, klingende Bäumchen“ mal zum Kultfilm avancieren würde, hätte zur Produktionszeit vor 60 Jahren keiner geglaubt.  „Dass er im Zeitalter von Action- und computeranimierten Filmen noch so beliebt ist, bedeutet doch, dass sich auch die Kinder von heute gern in eine Märchenwelt hineinträumen“, meinen die beiden Hauptdarsteller. Die DEFA-Szenenbildner haben auch alles dafür getan, die Kulisse märchenhaft zu gestalten. Tief berührt hat mich der (Papp)-Fisch mit großen traurigen  Kulleraugen. Jedesmal, wenn ich den Film sehe, kommen mir die Tränen, wenn er im Eis feststeckt und das Pferd im Schnee versinkt.

Zum ersten Mal seit 1957 ist „Das singende, klingende Bäumchen“ in diesem Jahr fürs Fernsehen neu verfilmt worden. Eine Adaption der alten Geschichte mit mehr Action, umgesetzt mit den heutigen technischen Mitteln. Regie führte Wolfgang Eißler. Die Prinzessin verkörpert Jytte-Merle Böhrnsen, den Prinzen spielt Lucas Prisor und Heinz Hoenig den alten König. (Zu sehen am 25. 12. um 14.45 Uhr auf ARD)

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Christel Bodenstein und Steffi Kühnert (Amme) in der ARD-Produktion ©MatthiasB

Auch Christel Bodenstein hat darin eine kleine Rolle bekommen. „Ich bin eine Kräuterfrau, die es in unserem Film nicht gab.“ Gedreht wurde im Harz, im Potsdamer Schloss Belvedere sowie im Kloster Chorin. Für den Kinokenner bietet der Film noch ein kleines Extra, den sich die Filmemacher als Reminiszenz an die DEFA-Verfilmung haben einfallen lassen: Das im Schloss an der Wand hängende Porträtbild der verstorbenen Mutter der Prinzessin ist das Plakatmotiv der DEFA-Verfilmung. Ob der neue Film denselben Kultstatus erreicht wie das Original…? Die Kinopremiere auf dem 4. Thüringer Märchenfilm-Fest in Weimar war jedenfalls ein Erfolg.

Märchen aus Tschechien

Zu meinen absoluten Highlights gehört der Märchenfilm „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“. Die tschechische Schauspielerin Marie Kyselková, die liebreizende Lada, lernte ich in Prag zusammen mit ihrem Märchenprinzen Josef Zíma kennen. Zwei Menschen, die genauso sympathisch sind wie in ihren Rollen. Schmunzelt erzählte mir die heute 80-Jährige. „Ich wollte im Film so gern einen Kuss von Josef, aber Regisseur Martin Fric ließ sich darauf nicht ein.“ Erst ganz zum Schluss gestattete er den beiden einen Hochzeitskuss. Josef Zíma lacht und wiederholt die Kuss-Szene. Er ist in Tschechien ein beliebter Sänger und Moderator geworden.

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„Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“ mit Josef Zíma als Prinz und Marie Kyselková als Prinzessin © DEFA-Stiftung/Progressfilm

Das poesievolle Märchen, dem sein Regisseur keine große Bedeutung zumaß, ist in Tschechien Kulturerbe und dort wie in Deutschland nicht weniger Kult als Václav Vorličeks Adaption von Božena Nĕmcovás Aschenbrödel-Geschichte.
Marie Kyselková liebt ihre Rolle als Lada. Sie schwärmt: „Wenn ich unseren Film sehe, ist immer die Szene, in der wir die Ringe tauschen und uns Treue schwören, für mich der wichtigste Moment. Er weckt dieses wunderbare Gefühl des Wohlbefindens. Es ist eine starke Liebe vor der Kamera, die ans Herz geht.“

Wer ohne Märchen aufwächst, verpasst so vieles. Sie öffnen das Tor zu unserer Seele. Bringen uns dazu, uns emotional auszuleben, zu spüren, was uns berührt, was uns Angst macht. So lernen wir schon in jungen Jahren, uns mit Gut und Böse auseinanderzusetzen.
Und manchmal lernen auch Schauspieler aus ihren Märchenrollen. Wie Pavel Trávniček. Der tschechische Schauspieler spielte seine erste Rolle in der DEFA-Barrandov-Koproduktion „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Er war damals gerade 23 Jahre alt.

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Pavel Trávniček und Libuše Šafranková 1974 in dem Märchenfilm Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. ©DEFA-Stiftung/Filmstudio Barrandov/Jaromir Komarek

Heute erinnert er sich: „Ich war als junger Mann sorglos. Dachte, ich werde immer Prinzen spielen, immer schön sein. Ich habe den Ruhm genossen. Aber das Leben wird mit der Zeit komplizierter, musste ich lernen, und die Realitäten auf mich nehmen. Dennoch sollte sich jeder Mensch ein Stück Romantik in seinem Leben gönnen. Sie ist das Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann.“ Seine deutsche Stimme ist der Schauspieler Peter Reusse, was viele vielleicht nicht wissen.
Pavel Trávničeks Paradies ist das Theater Skelet, das er 1997 gegründet hat. Sein privates Paradies sind ein Haus mit großem Garten bei Prag, wo er mit seiner dritten Frau, der Sängerin Monika Trávničková lebt. Sie erwarten im Dezember ihr Baby.

Eine wunderschöne Adaption des Grimm’schen Märchens von „Dornröschen“ schuf übrigens Václav Vorliček 1977 mit seinem Film „Wie man Prinzessinnen weckt“, mit der damals 17-jährigen Marie Horáková, dem 22-jährigen Jan Hrušínský und dem 24-jährigen Jan Kraus in den Hauptrollen. Der Regisseur erzählte mir, dass er auf der Suche nach der Prinzessin durch ganz Tschechien gereist war und sie dann unter Tausenden Mädchen in Prag fand. „Marie war ideal. Fotogen, geistreich und nicht auf den Mund gefallen. Sie konnte sich wunderbar in die lebenslustige Rosenprinzessin einfühlen.“

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Jan Hrušínský und Marie Horákova 1977 in „Wie man Prinzessinnen weckt“ 

Die beiden Jungs wollten nicht nur im Film das Herz der Schönen erobern und beschlossen, Marie mit einer Mutprobe zu imponieren. „Wir kletterten nachts aus dem Fenster unserer Hotelzimmer und balancierten über den Sims. Ich rutschte ab und fiel durch das Glasdach des Artriums sechs Meter tief auf eine Theke. Ich hatte Glück im Unglück und und brach mir nur ein Bein“, erinnerte sich Jan Hrušínský, der als Prinz Jároslav längst das Herz der Prinzessin entflammt hatte. Jans Bein musste bis zur Hüfte eingegipst werden, was die Dreharbeiten sehr kompliziert hat. Für den Sturz in den Teich wurde er bis zum Bauch in einen wasserdichten Sack gesteckt. Trotzdem drang Wasser ein, und der Kran schaffte es kaum, ihn aus dem Tümpel zu ziehen. Der Sack war mit 9 Grad kaltem Wasser zu einem riesigen Ballon aufgequollen.

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Marie Horákova und Jan Hrušinský verstehen sich heute noch gut. Manchmal tritt sie in seinem Theater Na Jezerce  auf. ©Jürgen Weyrich

Heute ist Jan Hrušínský hauptsächlich Intendant, Regisseur und Schauspieler in seinem eigenen Theater, dem „Divadlo Na Jezerce“.
Maries Herz hat übrigens keiner der beiden Jans damals mit dieser waghalsigen Aktion erobert. „Es waren nette Jungs, aber zum Verlieben reichte es nicht“, erzählte Marie mit Blick zu Jan Hrušínský. Sie hat Regie und Dramaturgie für Puppentheater studiert und eine Marionettenbühne gegründet. Dass Herz der vierfachen Mutter gehört den Kindern. Oft gibt sie Vorstellungen auf Kinderstationen. „Ich habe ein reiches Leben“, sagt sie. „Schöner könnte auch ein Märchen nicht enden.“

Warum gibt es überhaupt Märchen?

Mit den Märchen halten wir einen großen Schatz in den Händen, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde. So ist es seit Jahrhunderten. Doch wer hat die Geschichten von Liebe, Abenteuer, Verwandlungen, von sprechenden Tieren, Drachen, Hexen, Prinzessinnen, Prinzen, Feen… erfunden? Woher kommen die Märchen, die uns als Große noch mit Kinderaugen in eine verwunschene Welt schauen lassen, die uns immer wieder in Bann zieht?img_6489
Sie sind uralt. Schon unsere Vorfahren schufen in ihrer Phantasie mächtige Wesen, gute und böse Geister, mit denen sie Ereignisse ihrer Umwelt zu erklären suchten. In der Zeit des Mittelalters sind es hauptsächlich Armut, Not, Hunger, Krieg, die das Leben der Menschen bestimmen und sich in den Märchen spiegeln. Verwoben darin die Sehnsucht nach Wohlstand, Glück und Gerechtigkeit. Man nannte sie Hungermärchen, erzählte sie sich in Spinnstuben und Wirtshäusern.

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Hänsel (Jürgen Micksch) und Gretel (Maren-Inken Bielenberg) in der Hubert-Schonger-Produktion 1954, Regie: Walter Janssen, ©spondo.de

Eins der bekanntesten ist „Hänsel und Gretel“. Am Ende des 17. Jahrhunderts verstand jeder, wenn Eltern in bitterster Not ihre Kinder in der Kälte aussetzten. Die Märchen in ihrer ursprünglichen Fassungen waren – wie die Welt, in der sie entstanden – alles andere als romantisch. Wie nah liegt da doch zu wünschen, es käme eine Fee und verwandele Haselnüsse in schöne Kleider, man träfe einen Königssohn, fände ein Tischleindeckdich oder einen Goldesel.

Dass uns die Welt der Märchen heute dennoch romantisch erscheint, liegt nicht zuletzt an den Brüdern Grimm, die sie zu einer Literatur für Kinder gemacht haben, was nicht vorgesehen war. Große Leute sollten durch die Texte wieder zur kindlichen Poesie finden. Jacob Grimm vermerkte 1812 für die erste Auflage der Kinder und Hausmärchen: „Das Märchenbuch ist mir gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht und das freut mich sehr.“ In späteren Ausgaben tilgten die Brüder alles, was an Hunger und Schrecken des armen Lebens heranreicht und für Kinderträume wenig Platz ließ.

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Die DEFA verfilmte „Rotkäppchen“, 1962  mit Blanche Kommerell in der Titelrolle. Die Eltern spielten Helga Raumer und Horst Kube. ©DEFA-Stiftung /Karin Blasig

Und so kommt es, dass Märchen, in denen Böses geschieht, am Ende doch gut ausgehen. Rotkäppchen wie auch die sieben Geißlein werden aus dem Bauch des bösen Wolfs befreit. Schneewittchen, dem seine eifersüchtige Stiefmutter nach dem Leben trachtet, erlangt durch die Liebe eines jungen Königs das Leben zurück. Aschenputtel bekommt trotz aller Intrigen von Stiefschwestern und Stiefmutter den Prinzen.Und Dornröschen wird durch einen Kuss aus 100-jährigem Schlaf erweckt.

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Marianne Schilling – eine böse Königin mit viel Herz

So weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so schwarz wie Ebenholz sollte das Kind sein, das sich die junge Königin wünschte. Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das sie Schneewittchen nannte… Sie starb und die neue Frau des Königs trachtete dem Mädchen, als es immer schöner wurde, nach dem Leben. Vor 55 Jahren, verfilmte die DEFA das beliebte Märchen „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.
Am 6. Oktober 1961 hatte der Film mit der damals 19-jährigen Fernsehansagerin Doris Weikow als Schneewittchen und der Schauspielerin Marianne Christina Schilling als deren böse Stiefmutter Kino-Premiere. Er gehört zu den schönsten in der langen Tradition des DDR-Kinderfilms. Trotz des Erfolgs wechselte Doris Weikow nicht in die Schauspielerei. Die heute 75-Jährige blieb ihrem Beruf treu, in dem sie bis zum Ende des DFF 1991 vor der Kamera stand. Sie lebt am Rand von Berlin. Ganz anders Marianne Christina Schilling, die nie etwas anders sein wollte als Schauspielerin.

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Marianne Christina Schilling 2008. Foto: André Kowalski

Das Märchen selbst hat seine Wurzeln in Erzählungen, mit denen sich die Menschen in Vorzeiten die Abende verkürzten. Es gibt viele Versionen der Geschichte von „Schneewittchen“, die sich die Gebrüder Grimm zusammengesucht haben und daraus schließlich das uns heute bekannte Märchen strickten. Sie wollten, dass das Mädchen mutterseelenallein durch den großen Wald läuft. Die Region um Waldeck kannten die Autoren, sie liegt in der Nähe ihrer Heimatstadt Kassel. Überliefert ist, dass ihnen aus jenem Landstrich viele Geschichten zugetragen wurden. Spannendes Erzählgut, das in ihre Märchen einfloss. Das Schicksal der jungen Prinzessin Margarethe von Waldeck, die Mitte des 16. Jahrhunderts lebte und vergiftet worden war, soll den Gebrüdern Grimm als Vorlage für „Schneewittchen“ gedient haben. In der Erstausgabe ihrer Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 ist die Königin die leibliche Mutter. Schneewittchen erwacht, als ihr ein Diener des Prinzen einen Schlag in den Rücken versetzt, aus Ärger, dass er das tote Mädchen den ganzen Tag herumtragen muss. In zwei nicht veröffentlichten Versionen lässt die Königin das Kind auf einer Kutschfahrt im Wald aussteigen, damit es für sie Rosen pflückt oder ihren Handschuh aufhebt, und fährt weg. In einer der Versionen ist es übrigens der Vater, der sich ein Mägdlein weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz wünscht.

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Die Stiefmutter (Marianne Christina Schilling) mit ihrer Zofe (Steffi Spira). Foto: DEFA-Stiftung Karin Blasig

Fast alle Völker Europas haben in ihrer Märchenwelt ein Schneewittchen. Besonders verbreitet war es in Italien. Dort fallen die Blutstropfen etwa auf Marmor oder Käse. In Russland verfasste Alexander Puschkin in den 1820er Jahren ein Märchen in Versform unter dem Titel „Das Märchen von der toten Prinzessin und den sieben Recken“. Andere Märchen mit Schneewittchen-Motiven sind das griechische Märchen „Myrsina“, das italienische Märchen „Bella Venezia“, das schottische Märchen „Gold-Baum und Silber-Baum“, das armenische Märchen „Nourie Hadig“ oder auch das bekannte russische Märchen „Das Zauberspiegelchen“.

Nicht weniger zahlreich sind die Verfilmungen und filmischen Adaptionen des Märchens bis hin zur Parodie. 1916 kam „Schneewittchen“  in den USA als Stummfilm in die Kinos, 1937 produzierten die Walt Disney  Studios den bezaubernden Zeichentrickfilm „Snow White and the Seven Dwarfs“, dessen deutsche Version 1950 in Köln Premiere hatte. 1939 produzierte der Regisseur Carl Heinz Wolff den ersten deutschen Spielfilm von „Schneewittchen und den sieben Zwergen“. Die heiter-beschwingte DEFA-Adaption mit eingängigen Liedern ist neben dem Zeichentrickfilm der Disney Studios die bekannteste Verfilmung des Märchens in Deutschland und zweifelsohne eine der besten. 7.597.495 Kinobesucher sahen den Film in der DDR.

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Zu Besuch bei Marianne Christina Schilling in Bremen

Ich hatte 2008 die Gelegenheit zu einem Besuch bei der bösen Königin, der Schauspielerin Marianne Christina Schilling. Ihr Haus in Bremen ist kein Schloss, doch sehr hübsch und auch ein bisschen märchenhaft.  Ich lernte eine warmherzige, liebenswerte und bezaubernde Frau kennen, die ganz gar nichts gemein hatte mit der bösen Stiefmutter. Es waren wunderbare Stunden, in denen wir uns über Märchen, Liebe und Schönheit unterhielten. Die Begegnung Marianne Christina Schilling gehört zu den Höhepunkten in meinem beruflichen Leben. 2012 ist die Schauspielerin im Alter von 84 Jahren gestorben. Wie sie in unserem Gespräch sagte, hatte sie das schönste Leben, das sich jemand wünschen kann. Auch, wenn sie wegen ihrer Polyarthrose kaum noch laufen konnte und kaum aus dem Haus ging.  Sie hatte einen wunderbaren Mann an der Seite, den Schauspieler Harald Halgardt. Mit ihm hat sie bis zu ihrem Tod 66 Jahre zusammengelebt. Er umsorgte sie, seine große und einzige Liebe.

Das sehr persönliche Gespräch, das ich mit Marianne Christina Schilling damals für einen SUPERillu-Artikel geführt habe, hier zum Nachlesen.

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Der Prinz (Wolf-Dieter Panse) ist verzückt von Schneewittchen (Doris Weikow). Foto: DEFA-Stiftung Karin Blasig

Was mögen Sie an dem Märchen?
Es ist ein schönes Märchen, das durch einen Kuss gut und gnädig ausgeht. Wo doch eigentlich soviel Böses geschehen sollte. – Ist das nicht wunderbar, wenn man durch den Kuss des Geliebten wieder lebendig wird?

Sie waren ja für das Böse zuständig.
Ja, obwohl mir Positives mehr gefällt. Aber es machte mir als Schauspielerin Freude, das zu spielen. Auch wenn ich privat gar nichts von Neid und Eifersucht auf Schönheit halte. Schauspieler lieben es nun mal, wenn sie ordentlich grimmig und böse sein dürfen.

Wie kamen Sie zu der Besetzung?
Das habe ich merkwürdiger Weise erst jetzt durch einen Fan erfahren, Bernd Awiszus. Er hat in den Potsdamer Archiven recherchiert und herausgefunden, dass es DEFA-Direktor Wilkening war, der sagte: Gebt mir auf diese junge Frau Acht, das ist ein großes Filmtalent. Ursprünglich war die Rolle mit einer anderen Schauspielerin besetzt. Das passte nicht.

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Die Schauspielerin mit Filmbildern

Die Rolle der bösen Königin hat Sie bekannt gemacht. Was hatten Sie sich danach erhofft?
Ach, ich habe mich erst einmal nur gefreut, einen Film drehen zu dürfen. Es war ja 1961 alles ein bisschen anders. Ich war noch ein junges Weib, ein hübsches attraktives. Als mein erster Film dann gleich so ein Riesenerfolg wurde, dachte ich: Jetzt geht es los. Aber gar nichts ging los. (Sie lacht.) Erst sechs Jahre später bekam ich wieder eine wunderbare Filmrolle – als Kellnerin Stephanie in „Das Tal der sieben Monde“, eine Liebesgeschichte zwischen einem Deutschen und einer Polin im antifaschistischen Widerstandskampf.

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Die Bremer Schauspielerin Marianne Schilling in ihrem Reich

Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Schneewittchen denken?
Es war ein ganz harmonisches Arbeiten mit Regisseur Dr. Gottfried Kolditz. Ich konnte meiner Phantasie freien Lauf lassen, und er gab mir das Gefühl, alles richtig zu machen.  Wir drehten in einer zauberhaften Dekoration. Man hatte in den DEFA-Ateliers einen Wald mit echten Bäumen aufgebaut, in dem ein Bächlein sprudelte. Sogar Eichhörnchen und Kröte waren lebendige Tiere. Was seine Tücken hatte. Das Eichhörnchen ging gern seine eigenen Wege und büxte aus. Einmal suchte es der ganze Stab  stundenlang. Es hatte sich in einem Rohr versteckt, das an einen Baum gebunden war. Die Kröte saß nie auf dem Stein, wenn sie gefilmt werden sollte. Tom Schilling inszenierte mit uns Schauspielern die Tänze –  es hatte alles Niveau.

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Erschrocken weicht die König vor dem Apfel zurück. Foto: DEFA-Stiftung Karin Blasig

Haben Märchen in Ihrer Kindheit eine Rolle gespielt?
Ja sehr. Ich habe mein ganzes Leben immer so für mich gesponnen, mir meine eigenen Märchen ausgedacht. Meistens war ich eine Prinzessin, die befreit werde musste, und tüdelte mich an. Ich kann mir meine Jugend nicht anders vorstellen, als dass ich mir einen Gürtel um den Bauch gebunden, die Röcke gerafft und ein Märchen gespielt habe. Immer bin ich herumgetanzt. Natürlich habe ich auch viele Märchen gelesen. Musäus‘ Volksmärchen habe ich sehr geliebt. „Richilde“ ist eine Erzählung von ihm, die sehr an Schneewittchen erinnert, aber schon 30 Jahre früher erschienen ist. Ich liebte „Die sieben Schwäne“ von Ludwig Bechstein. Christian Anders hat mich interessiert. Mit den Grimm’schen Märchen hatte ich so meine Schwierigkeiten, weil ich sie so grob und auch teilweise grausam fand.

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Marianne Schilling liebte es, sich zu verkleiden. Foto: DEFA-Stiftung Karin Blasig

Was bedeutet Ihnen Schönheit?
Gutes Aussehen fand ich immer wichtig. Wenn man älter wird, verliert man vieles, was einen in der Jugend schmückt. Und ich denke, man sollte als Schauspielerin darauf achten, angenehm zu erscheinen. Wenn man in einer Rolle ist, verändert sich das Gesicht ja sowieso. Da darf es auch hässlich werden. Um so schöner ist die Rückverwandlung. Wie in meiner Rolle, in der ich aus mir ein altes hässliches Marktweib mache, um dann wieder in die wunderbaren Gewänder der Königin zu schlüpfen. Das hat mir viel Spaß gemacht.

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Marianne Schilling und Harald Halgardt lernten sich 1946 an der Jugendbühne in Bremen kennen und lieben. Sie blieben zusammen bis zum Tod der Schauspielerin 2012 Foto: André Kowalski

Sie halten sich immer noch daran?
 Ja, für mich und für meine Umgebung, meinen Mann. Er schafft es, unser Leben so zu erhalten, dass ich nichts vermisse. Da will ich nicht die verzuppelte Alte geben. Man darf sich auch als alte Frau nicht aufgeben. Auch wenn man sich die Krätze darüber ärgert, dass man so dick geworden ist. Die Neigung, füllig zu werden, hatte ich immer. Nur haben wir jungen Dinger uns damals alles runter gehungert, um schön schlank zu sein. Damit habe ich meinen Körper kaputt gemacht. Die Knochen bekamen zu wenig Aufbaustoffe, ich hatte Krebs. Und immer tapfer der Mann. Wenn Harald nicht gewesen wäre, dann wäre ich vielleicht nicht mehr so fröhlichen Gemütes, wie ich es immer noch bin. Er hat mich über alle Klippen hinweg gebracht, schmeißt den Laden.

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Liebevoll kümmerte sich Harald Halgardt um seine Frau. Sie liebte Bremer Kaffee aus frisch gemahlenen Bohnen 

Sie sind durch Ihre Krankheit hier oben in Ihrem Reich gefangen…
Das empfinde ich nicht so.  Ich habe gar nicht das Bedürfnis, mich aus meiner kleinen Welt hier oben wegzubewegen. Man fängt an, sich zu begnügen mit den Büchern, die man hat, der Musik und der Kunst. Und ich habe ja meinen wunderbaren Mann, der schon das ganze Leben für mich sorgt. Jetzt erst recht, wo ich kaum noch laufen kann. Und er hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Das lässt unser Leben nicht langweilig werden.

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1957 in Leipzig als Geliebte Wallensteins (gespielt von Harald Halgardt) Foto: privat

Wo lernten Sie sich kennen?
Ich lernte Harald 1944 an der Jugendbühne hier in Bremen kennen. Ich war die künstlerische Leiterin  – ohne Ahnung. Harald sprach den „Prometheus“ vor. Ich werde nie vergessen: Er musste fünfmal „Bedecke deinen Himmel Zeus“ wiederholen, und da bekam ich einen solchen Lachanfall! Da hat es gefunkt. Das Theater ging pleite, wir blieben zusammen. Als Harald 1949 ein Engagement am „Theater der Jungen Welt“ in Leipzig bekam, ging ich mit. Wir waren Leipzigs erstes Liebespaar auf der Bühne, in „Wallenstein“.

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Harald Halgardt und Marianne Schilling waren das erste Liebespaar auf der Bühne des Leipziger Schauspielhauses. Foto: privat

Wie lange blieben Sie in der DDR?
Das war 35 Jahre unser Zuhause. 10 Jahre gaben wir in Leipzig alle großen Bühnenpaare, dann gingen wir nach Berlin, drehten bei der DEFA. Wir bekamen eine schöne Rolle nach der anderen. Am Berliner Ensemble habe ich 348-mal die Kopetzka im „Schwejk“ gesungen und gespielt. Ich war die letzte Untat der Weigel. Sie hat mich ohne Vorsprechen engagiert. Und das am BE! Als sie gestorben war, wurde ich raus gemobbt. 1984 sind wir zurück nach Bremen. Wir passten ideologisch nicht in den DDR-Topf, denn wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir die Welt kennen lernen wollten, Kunst und Kultur in den westlichen Ländern.

Sind Sie von Haus aus mit der Schauspielerei verbunden?
Wie man’s nimmt. Ich komme aus einer ganz verrückten Familie von Kunstmalern, Händlern, Schauspielern, Musikern und Gauklern. Ich bin Halbpolin. Meine Großmutter ist Baralin wie Papst Johannes Paul II. Meine Schwester hat nach Wadowice geheiratet, woher der Papst stammt, und ist eine geehelichte Wojtyla. Karol Wojtyla war ja mal Schauspieler. Meine Mutter hatte große Ähnlichkeit mit ihm, aber inwieweit wir mit ihm wirklich verwandt waren, weiß ich nicht.

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Wie blicken Sie auf Ihr Leben?
Man darf zufrieden sein. Was ich früher mit mir nie war. Ich habe mir jahrelang meine Fernsehrollen nicht angeguckt, weil ich mich nicht leiden konnte. Es ist sowieso rätselhaft, wie es im Leben so gekommen ist. Wir wollen es behutsam betrachten. Träume, die man hatte, sind zum Teil erfüllt worden, zum Teil nicht. Wie bei jedem Menschen.

Adé, lieber Rolf Losansky. Dein „Schulgespenst“ wird immer weiter fliegen

Er wollte nicht, dass Tränen fließen. Er wollte keinem Schmerz bereiten. Und so hat er, so gut es eben ging, halbseitig gelähmt, dem Sprechen nicht mehr mächtig, seine Späße gemacht, wenn man zu Besuch war. Er vermochte es, einem die Traurigkeit zu nehmen, die einen beschlich, und zum Lachen zu bringen.

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Rolf Losansky 1977 bei Dreharbeiten 

Rolf Losansky, dieser große Menschenfreund und Regisseur, für den Filme machen für Kinder- und Jugendliche eine Herzenssache war, starb am 15. September 2016 an den Folgen eines schweren Schlaganfalls, den er drei Jahre zuvor erlitten hatte . Am 6. Oktober fand der 85-Jährige in dem wildromantischen Friedhofsgarten von Bornstedt seine letzte Ruhestätte,  zwischen riesigen Eichen, alten Eiben und verholztem alten Efeu. Schon der Schriftsteller Theodor Fontane empfand diesen Ort als Paradies. Er schrieb: „Was in Sanssouci stirbt, wird in Bornstedt begraben.”

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Danka Losansky und seine Schwester Doris (r.) nehmen Abschied 

Groß war die Zahl derer, die sich an diesem traurigen Tag von Rolf Losansky verabschiedeten. Und es weinte nicht nur der Himmel. In der Kapelle gedachten fast 200 Trauernde dem Vater, Bruder, Freund, Kollegen. Die weiße Urne auf der Stele umgab ein Meer aus bunten Herbstblumen, gelben, roten, weißen Gerbera, Chrysanthemen, Sonnenblumen, Rosen und Lilien. „Danke, es war schön mit dir“, darunter die Skizze eines weinenden Mädchens, schickt ihm seine Tochter Danka auf einer weißen Schleife mit auf die Reise.

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Autorin und Freundin Christa Kozik mit ihrer Mini-Litfaßsäule 

Dieser Gedanke vereinte die Anwesenden. Kinderbuchautorin Christa Kozik, von der   einige seiner schönsten Filmgeschichten stammen, wie „Moritz in der Litfaßsäule“ oder „Ein Schneemann für Afrika“, hatte dem Freund als Grabbeigabe eine kleine Litfaßsäule gebastelt und dahin all ihre guten Wünsche für ihn in dem anderen Leben getan. Gojko Mitic, sein Indianerhäuptling aus dem Film „Der lange Ritt zur Schule“, verneigte sich ebenso wie die Schauspieler Wolfgang Winkler, der Smutje der MS Wismar auf der Reise nach Afrika, und Ernst-Georg Schwill. Er spielte in Losanskys erstem Erfolgsfilm „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ die Rolle des hilfsbereiten Hauptwachmeisters Löffelholz.

„Mit seiner unkomplizierten Herzlichkeit, seinem Schnurrbart und seiner Nickelbrille war Rolf Losansky wie eine Figur aus seinen Filmen. Trotz aller Erfolge, Auszeichnungen und Preise war er vollkommen uneitel. Für ihn waren seine Filmkinder die Stars. Er trat hinter seine Geschichten zurück, in denen er Kindheit und Kinder nie idealisierte. Er wusste um die Bedrängnisse Heranwachsender, ihre Einsamkeit, Überforderung. Er verschloss nicht die Augen vor ihren Ängsten und Nöten und erinnerte uns daran, genau hinzusehen, uns ihnen zuzuwenden, so wie er sich immer um andere gekümmert hat. Er gab mehr als er vom Leben bekam“, hob Filmjournalist Knut Elstermann in seiner Trauerrede hervor.

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Zu fast all seinen Filmkindern hielt der Regisseur wie ein Vater Kontakt. Einige von ihnen waren gekommen: Schauspielerin Julia Jäger, die zusammen mit Dirk Müller als Moritz ihre erste Rollen in dem philosophisch-poetischen Film „Moritz in der Litfaßsäule“ spielte. Frank Träger, der Träumer Alex aus dem „Langen Ritt zur Schule“, ist KfZ-Mechaniker geworden, Ralf Schlösser, einst Kinderdarsteller in Rolf Losanskys Filmen „Blumen für den Mann im Mond“ und „…verdammt, ich bin erwachsen“, arbeitet als Schauspieler und Regisseur. Mit ihm und hundert Erkner Kindern hat Rolf Losansky 2011/12 sein letztes Filmprojekt „Wer küsst Dornröschen“ realisiert.

Zwei Minuten läuteten die Glocken der berühmten Persius-Kirche vor der letzten Zeremonie, der Aussegnung durch Pfarrer Friedhelm Wizisla. Vielleicht ist es ein Trost, daran zu denken, dass Rolf Losanskys Filme bleiben, dass noch viele Generationen mit seinem menschenfreundlichen Werk aufwachsen.