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Herrmann Zschoche über Lütt Matten, ungehorsame Nebelschwaden und das Warten auf Wolkenzüge

Vor sechs Jahren habe ich angefangen, hier über DEFA-Filme und ihre Geschichten zu schreiben. Das Erbe, das die vor 75 Jahren, am 17. Mai 1946, gegründete Deutsche Film AG nach ihrem endgültigen Ende am 19. Mai 1992 hinterlässt, umfasst 750 Kinofilme, ebenso viele Animationsfilme sowie 2250 Dokumentar- und Kurzfilme. Dass ein Fünftel der Produktionen dem Kinderfilm vorbehalten war, gehört wohl mit zum großen Verdienst der volkseigenen (VEB) Filmstudios. Für manche der wunderbaren DEFA-Kinderfilme bin ich als 1949er Jahrgang einfach zu früh geboren. Aber ich konnte durch meinen Beruf nachholen, was ich versäumt hatte, zumindest einiges.

Zum Beispiel kam ich so auf die Spur des poesievollen, liebenswerten Films „Lütt Matten und die weiße Muschel“, den Herrmann Zschoche 1963 nach Bennos Pludras gleichnamiger Erzählung gedreht hat. Im Januar 2015 besuchte ich den Regisseur in seinem Haus in Schwenow, um mit ihm über den Film zu sprechen, wie er entstanden ist, und was alles so rund um die Dreharbeiten passiert war. Vor allem interessierte mich, was ihn, einen jungen Regisseur bewog, zum dritten Mal einen Kinderfilm zu drehen. Für seinen Diplomfilm hatte er sich die Bilderbuchgeschichte „Der Märchenschimmel“ von Fred Rodrian ausgesucht. Sein nächster Film war Die Igelfreundschaft“ nach einer Erzählung von Martin Viertel, eine Koproduktion mit den Barrodov-Studios Prag. Drängte es einen als Absolvent der Filmhochschule nicht eher in die Richtung großer Spielfilme für Erwachsene?

Im Januar 2015 besuchte ich den Regisseur Herrmann Zschoche in seinem Haus in Schwenow. Wir sprachen über seinen Film „Lütt Matten und die weiße Muschel“, und er erzählte mir auch ein bisschen von sich © Boris Trenkel

Herrmann Zschoche erklärte mir seine Vorliebe für dieses Genre so: „Als Nachwuchs-Regisseur musstest du dich selbst kümmern, wenn du einen eigenen Film machen wolltest, zu uns kam die Studioleitung nicht mit Angeboten. Ich habe mich immer nach schönen Stoffen umgesehen, und davon gab es die besten für Kinder. Außerdem kam man mit Kinderfilmen besser rein ins Spielfilmstudio, wo sich die ältere Generation der Spielfilmregisseure etabliert hatte – Kurt Maetzig, Günter Reisch, Slatan Dudow, Hermann Beyer und Wolfgang Kohlhaase als Autor. Anders stand man lange vor der Tür.“

Seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“ drehte Herrmann Zschoche 1960 im thüringischen Heldburg. Auf dem Foto erklärt er dem achtjährigen Lutz Bosselmann, was gemacht werden soll © DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Kinderfilmer hatten es auch insofern einfacher, da sie von „Erwachsenfilm-Regisseuren“ eher belächelt denn als Konkurrenz angesehen wurden. Außerdem waren bei der DEFA – und das zählte schon sehr – vier Spielfilmproduktionen im Jahr für Kinder eingeplant. Ihre Herstellung war finanziell abgesichert, ihr Verleih und ihre Verbreitung innerhalb der DDR garantiert, weil sie grundsätzlich gewollt waren. Dieser hohe Stellenwert des Kinderfilms auf der einen Seite und die Betrachtung als etwas „Niedliches“ auf der anderen Seite, gab den Regisseuren und Autoren auch eine große Freiheit. Nämlich in einem konkreten Lebensraum der Kinder größere soziale und gesellschaftliche Konflikte mit zu verhandeln. Besser konnte es sich ein „Frischling“ von der Filmhochschule kaum wünschen.

Erik S. Klein spielte Lütt Mattens Vater. Anders als seine Rollenfigur hatte der Schauspieler viel Verständnis für die Kinderdarsteller, hier die Schlüsselszene mit dem 11jährigen Lutz Bosselmann. An der Kamera sitzt Horst Hardt (r.) Regisseur Herrmann Zschoche wirft einen Blick auf die Einstellung. Den Ton nahmen Joachim Preugschat und Werner Klein auf. © DEFA-Stiftung

Der heute 86-jährige Herrmann Zschoche erinnerte sich in unserem Gespräch, dass der Kinderbuchautor Benno Pludra damals in aller Munde war. Heiner Carow hatte seinen Ost-West-Jugendroman „Sheriff Teddy“ verfilmt, im DEFA-Trickfilmstudio entstand gerade ein Animationsfilm nach seiner Bilderbuchgeschichte „Heiner und seine Hähnchen“.

Heiner pflegt liebevoll seine drei Hähnchen, aber als er einen Regenpfeifer und eine Möwe sieht, sind seine drei Freunde vergessen… Ein bezaubernder Trickfilm von Klaus Georgi ©DEFA-Stiftung/Hans Schöne

Anfang März 1963 erschien Benno Pludras Erzählung „Lütt Matten und die weiße Muschel“. Herrmann Zschoche bekam das Buch in die Hand und hatte seinen neuen Filmstoff gefunden. „Mir gefiel die knappe und gleichsam bildreiche Erzählweise, die wunderbare Chancen für schöne, stimmungsvolle Sujets bot“, sagte er. Wer Benno Pludras Bücher kennt, weiß, dass er nicht mit reißender Action fesselt – was er gekonnt, ihn als Schriftsteller aber gelangweilt hätte. Er erzählte lieber stille Abenteuer in einer feinen, poetischen Sprache. Und so passte das Zusammenspiel von Poesie und Realismus seiner Inselgeschichte von dem Fischerjungen Lütt Matten perfekt in Zschoches Auffassung von Film, die, wie er für sich rekapitulierte, damals wohl von der emotionalen, epischen Machart sowjetischer Filme wie Michail Kalatosows „Wenn die Kraniche ziehen“ beeinflusst war. „Einige DEFA-Regisseure hatten danach den Hang zu gebauten Bildern. Wir von der dokumentaren Fraktion nannten sie Luxusbilder.“ Er selbst gab seinen Akteuren lieber Freiheit zum Spielen, hatte aber immer im Blick, dass die Kamera schöne Aufnahmen machen konnte. Ich denke da an Szenen in seinem Jugendfilm „Sieben Sommersprossen“ nach einem Drehbuch von Christa Kožik. Bei Lütt Matten allerdings, gestand er, „baute“ er sich seine schönen Aufnahmen, indem er auf die Natur wartete.

Jeden Sommer segelte Benno Pludra mit der „Mobby Dick“ vor Hiddensee. Dieses Privatfoto entstand 1960

Herrmann Zschoche hatte sich damals, im März 1963, umgehend an das Szenarium für eine Verfilmung von „Lütt Matten und die weiße Muschel“ gemacht. Die Bäume trieben gerade ihr erstes Grün nach dem Winter aus. Schmunzelnd erzählte er, wie er nach Hiddensee fuhr, um mit Benno Pludra über das Drehbuch zu sprechen. Vom Frühjahr bis zum Herbst verbrachte der Schriftsteller dort oben. Er liebte die Ostsee, den norddeutschen Menschenschlag. Man redete nicht viel, war freundlich, aber nicht überschwänglich, sprach auf den Punkt. Das kam der Mentalität des kleinen zierlichen Mannes sehr entgegen. Auch Benno Pludra ging sparsam mit Worten um, machte lange Denkpausen, so dass ein Gespräch manchmal schon am Ende schien, er aber plötzlich den Faden wieder aufnahm.

Der Schriftsteller Benno Pludra starb im August 2014

Ein Drehbuch mit ihm zu schreiben, war speziell, das hatte Heiner Carow bei der Arbeit an „Sheriff Teddy“ erlebt, das musste auch Herrmann Zschoche erfahren. „Ich kam also in Vitte an und ging erst mal auf die Suche nach Benno, weil er nicht zu Hause war. Aber jeder auf der Insel kannte ihn, und man gab mir den Tipp: Wird wohl am Boot sein. Ich traf ihn beim Abschrubben der Bootswände an. Er drückte mir einen Schleifklotz in die Hand und sagte: ,Hilf mal!‘ Dabei blieb es im Wesentlichen, obwohl ich immer wieder darauf drang, sich das Szenarium anzusehen.“

Die Arbeit an seinem Segelboot war dem Wahlinsulaner aber wichtiger. Er musste ja die Jolle klar machen, um endlich raussegeln zu können. Was er am liebsten tat. Für Benno Pludra war klar: Er hatte sein Buch geschrieben, einen Film daraus zu machen, war nicht seine Sache. Dafür gab es ja Drehbuchschreiber und Regisseure. „Mittag schleppte er mich in seine Stammkneipe, zu Putbrese“, setzte Herrmann Zschoche fort. „Es gab einen Schnaps, dann noch einen, dann Aalsuppe, war ja Vorsaison, in der Urlaubszeit kriegste keinen Aal. So ging das bis zum Nachmittag. Das war Benno!“ Zschoche lachte.

In „Aloa-hé“ hat Benno Pludra seine Erlebnisse auf dem Segelschulschiff „Padua“ und seinen Untergang mit der „Ditmar Koel“ verarbeitet © B. Beuchler

In der Fischerkneipe Putbrese hatte Benno Pludra beim Snack mit den Alten wohl auch die Legende von der weißen Muschel gehört. So zumindest erinnerte er sich später, als ich ihn fragte, wie er auf die Geschichte kam. „Ich wusste, das könnte eine gute Kindergeschichte werden.“ Benno Pludra hatte einen Riecher dafür, ob sich etwas zu schreiben lohnt oder nicht. Natürlich für Kinder. Für Erwachsene wollte er nie schreiben. Gute Bücher für Kinder seien wichtiger. Eine einzige Ausnahme machte er mit seinem autobiografischen Roman „Aloa-hé“. Den ungewöhnlichen Namen Matten borgte er sich von einem Fischer auf Hiddensee. Lütt Matten klang gut in seinen Ohren und passte zu dem Jungen und der Geschichte, die er im Kopf hatte. Die vom großen Kummer eines Kindes erzählt, dessen Träume und kleine Wünsche vom Vater nicht ernstgenommen werden. Der nicht hält, was er dem Sohn verspricht und ihn damit tief enttäuscht.

Irgendwann an dem Tag oder dem nächsten, als Herrmann Zschoche mit seinem Szenarium oben auf Hiddensee war, hat er es doch noch geschafft, mit dem Kinderbuchautor über das Drehbuch für den Film zu sprechen. Das war ihm wichtig, musste sein. „Ich bin kein Autorenfilmer, der seine Bücher selber schreibt oder die Vorlagen anderer so gründlich umkrempelt, dass man sie nicht mehr erkennt.“ Für Zschoche gilt Werktreue. Nur ein Drehbuch hat er allein geschrieben, für seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“. Bei vielen seiner anderen Filme hat er am Drehbuch mitgewirkt, wie eben bei „Lütt Matten und die weiße Muschel“.

Herrmann Zschoche (M.) erklärt Lutz Bosselmann und Heike Lange eine Szene am Steg © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Der Sommer war noch nicht angebrochen, da bezog der Drehstab aus Babelsberg Quartier auf Hiddensee. 30 Mann, manchmal auch mehr, wurden in Gartenhäusern und Scheunen untergebracht. Die wenigen Hotels blieben den FDGB-Urlaubern vorbehalten. Die Dreharbeiten dauerten bis zum Ende der Saison. Die DEFA zeigte sich immer sehr großzügig bei ihren Kinderfilmproduktionen. Herrmann Zschoche gerät nahezu ins Schwärmen. „Vielleicht lag es daran, dass Prof. Albert Wilkening, der war damals Direktor für Produktion und Technik, auf Hiddensee ein Sommerhaus hatte. Er war jedenfalls sehr interessiert an dem Stoff, und wir verbrachten vier Monate auf der Insel. Das war selbst für DEFA-Verhältnisse eine ungewöhnlich lange Zeit. So konnten wir abwarten, bis sich eine Wolkenbahn genau in die Richtung bewegte, die ich mir für die Aufnahme vorstellte. Wenn sie von links unten nach rechts oben ziehen sollte, wurde das abgewartet. Oder wenn wir eine Möwe brauchten, die von rechts nach links am Himmel segelte. Es lauerte keiner im Rücken, weil der Drehstab anderweitig gebraucht würde, keiner guckte aufs Geld.“

Die Geschichte:

Lütt Matten (Lutz Bosselmann) ist seinem Vater (Erik S. Klein) nachgelaufen. Er hatte ihm doch das Netzzeug für eine Reuse versprochen © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Der Fischerjunge Lütt Matten träumt vom großen Fang. Aale möchte er fischen wie sein Vadding und seine Kollegen von der Produktion. Eine eigene Reuse möchte er haben. Der Vater hat versprochen, ihm Netzzeug und Stangen dafür zu geben. Doch wie schon so oft hat er auch an dem Morgen, wo es sein sollte, keine Zeit für seinen Sohn und dessen Wunsch. Er vertröstet ihn, schickt den Jungen nach Hause. Lütt Matten läuft ihm nach. Schließlich darf er sich im Materialschuppen selber die Sachen zusammensuchen.

Als sein Freund Kaule ihm die Reuse miesmacht, ruft Lütt Matten wütend: „Dann hau doch ab, Stippfischer, mit deiner plumprigen Angel!“ © DEFA-Stiftung/hans-Joachim Zillmer

Mühsam schleppt Lütt Matten Stecken und Netze den langen Weg über die Düne zum Steg. Als sein Freund Kaule Brammig kommt, bittet er ihn, beim Aufstellen der Reuse zu helfen. Doch Kaule lässt ihn im Stich. „Das ist ja nur Spielkram, keine Rüs nicht, was du da machst.“ Lütt Matten ist enttäuscht und wütend. Da kommt Mariken vorbei und bietet ihre Hilfe beim Spannen der Netze an. Zusammen stellen sie die Reuse auf.

Voller Hoffnung, dass seine Reuse gefischt hat, fährt Lütt Matten raus © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Erwartungsfroh guckt Lütt Matten am nächsten Morgen in den Reusenkopf. Doch der ist leer. Auch am nächsten Tag und dem darauf. Es geht kein Fisch rein. Die Kinder im Dorf laufen schon hinter ihm her und singen ein Spottlied auf den „Reusen-Admiral“, und auch die Fischer, die mit vollen Aalkisten heimkommen, lachen. Lütt Matten ärgert sich und zermartert sich den Kopf, warum seine Rüs nicht fischt. „Ach, wenn es doch ein Wunder gäbe. Wenn ich die weiße Muschel hätte, die hier irgendwo liegen soll“, denkt er und sucht den Strand ab. Außer Steinen liegt da nichts, keine Muschel.

Mariken (Heike Lange) und Lütt Matten wollen von Großvadding (Otto Saltzmann) wissen, ob es die weiße Muschel wirklich gegeben hat. Ob es stimmt, was so erzählt wird von dem Seemann John Hagenbrink. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am nächsten Vormittag besucht er Mariken, die vor dem Haus sitzt und in einem alten Buch blättert. Seeschlangen und anderes Meeresgetier sind da abgebildet. „Ist da auch eine Muschel drin? “, fragt Lütt Matten. „Guck mal weiter“, antwortet Marikens Großvadding. Und tatsächlich, da ist eine große weiße Muschel abgebildet. Die Kinder wollen nun wissen, ob es so eine Muschel war, die der Seemann John Hagenbrink von seiner langen Weltreise mitgebracht hat, die den Fisch und das Glück herbeisang. „Soll wohl so sein, genau weiß das keiner. Wer Glück hat, kann sie sehen“, sagt Marikens Großvadding. „Und wo ?, fragt Lütt Matten. „Er soll sie draußen im Bodden versenkt haben. Kann sein, sie liegt am Steilufer, kann sein an der Mole, kann sein im Bodden. Bis jetzt hat sie keiner gesehen“, sagt der Großvater.

Lütt Matten schleicht aus seinem Bett in den Flur und durchstöbert die Seemannskiste seines Urgroßvaters. Er findet eine große weiße Muschel. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Die weiße Muschel lässt Lütt Matten keine Ruhe. Nachts schleicht er aus dem Bett und stöbert in der alten Seekiste seines Urgroßvaters, die keiner geöffnet hat, so lange er denken kann. Unter Seesternen, einer alten Laterne und anderem Krimskrams findet er eine große weiße Muschel, die genauso aussieht wie in Marikens Buch. Wie ein Dieb versteckt er die Muschel unter seinem Pullover und klettert damit aus dem Fenster. Bei der Reuse lässt er sie ins Wasser und flüstert: „Sing mir den Aal herbei, dann darf keiner mehr über mich lachen.“ In seinen Gedanken sieht er sich mit einer Kiste voller Aal im Arm und das ganze Dorf staunt. Doch am nächsten Morgen, als er aufwacht und zur Reuse guckt, ist kein Fisch drin. Und wieder bleibt der Reusensack auch den Tage darauf ist nichts drin. Mariken kann die Traurigkeit ihres Freundes nicht ertragen und setzt unbemerkt eine Plötze ins Netz.

Die Mutter (Johanna Clas) tröstet Lütt Matten, macht ihm Mut. „Das wird schon noch mit der Reuse.“ © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Glücklich rennt Lütt Matten damit nach Hause. Die Muschel hat wohl gewirkt. Aber so richtig glaubt ihm der Vater den Fang nicht. „Lütt Matten, min Jung, das glaube mir nun mal: In deine Reuse geht keine Plötze rein, gar nichts geht da rein“, sagt er. „Und wenn eine Plötze drin war, dann hat sich jemand einen Schabernack gemacht. Hat dir die Plötze reingesetzt. Einfach aus Jux. So und nicht anders, Lütt Matten.“ Lütt Matten entgegnet: „Einfach aus Jux und Schabernack, wie kannst du das wissen, du hast die Rüs ja nicht mal gesehen!“

Er ist den Tränen nahe und läuft zur Düne. Da sitzt er im Gras und will keinen sehen, auch Mariken nicht, die angeschlendert kommt und ihm Blumen schenken will. „Geh weg, ich will deine blumen nicht!“, sagt Lütt Matten unfreundlich. Seine Gedanken kreisen. Und wenn es so ist, und Vadding recht hat, denkt er, war es wohl nicht die richtige Muschel.

Mariken hat es nicht ausgehalten, dass sie Lütt Matten beschwindelt hat. Sie erzählt ihm, dass sie die Plötze in die Reuse gesetzt hat © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am Abend Mariken steht unter seinem Fenster und gesteht, die Plötze ins Netz getan zu haben. Lütt Matten ist wütend auf sie. Er rennt zum Wasser, nimmt das Segelboot des Vaters und fährt raus auf den Bodden. Mariken ahnt, dass das in der Dunkelheit gefährlich werden kann. Doch Lütt Matten hat nur eins im Kopf: Es kann doch sein, dass da draußen die Muschel liegt, die John Hagenbrink versenkt hat. Ein starker Wind kommt auf und treibt das Boot in die Reusen der Fischer. Allein kommt Lütt Matten da nicht raus, so sehr er sich auch anstrengt. Mariken hat inzwischen seinen Vater alarmiert.

Die Dorfbewohner laufen mit Fackeln zum Strand, der Vater fährt mit den Fischern zu den Reusen. Die starken Männer können Lütt Mattens Boot leicht aus den Reusen befreien. Als der Junge dem Vater erzählt, was er draußen auf dem Bodden wollte, entspinnt sich folgender Dialog:
„Die Muschel wolltest du also finden. Ich denke, die gibt es nicht.“
Lütt Matten: „Warum wird es dann erzählt?“
Vater: „Früher haben sich die Leute allerhand Sachen ausgedacht und an Wunder geglaubt, weil es ihnen schlecht ging und sich was wünschten.“
Lütt Matten: „Mir geht auch schlecht.“
Vater: „Aber hast du nicht immer satt zu essen, einen warmen Ofen und Spielzeug?“
Lütt Matten. „Aber die Reuse, alle lachen.“
Vater: „Nun schlaf erst mal. Morgen reden wir über die Rüs.“
Lütt Matten: „Ja, morgen, immer sagst du morgen.“

Lütt Matten holt die nutzlose Muschel aus dem Wasser © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am nächsten Morgen setzt Lütt Matten die Plötze wieder aus, holt die weiße Muschel aus dem Wasser und baut zusammen mit Mariken die nutzlose Reuse ab. Da kommt der Vater: „Ich wollte mal deine Rüs besehen“, sagt er und dann: „Die Reuse, wenn sie so steht, im flachen Wasser, kann sie nicht fischen. Auch mit der weißen Muschel nicht. Wenn ihr wollt und später bei der Stange bleibt, können wir zusammen eine richtige Reuse im tiefen Wasser bauen.“ Als Lütt Matten zu Kaule und Mariken sagt: „Das hat min Vadding schon so oft versprochen“, geht dem Vater plötzlich ein Licht auf, und er begreift, wie sehr er das Vertrauen seines Sohnes erschüttert hat.

Lütt Mattens Vadding kommt nun doch, um sich die Reuse zu besehen. „So wie sie steht, im flachen Wasser kann sie nicht fischen“, erklärt er den Kindern und verspricht, mit ihnen weiter draußen, im tiefen eine richtige Reuse zu bauen © DEFA-Stiftung/Hans-Joschim Zillmer

Der Film endet für die Kinder glücklich. Lütt Mattens Vater und die Fischer fahren mit ihnen raus auf den Bodden, und sie stellen zusammen eine Reuse auf. Die gehört ihnen ganz allein. Am nächsten Morgen schwimmen 23 Aale im Reusensack. Und ein paar mehr vielleicht schin am nächsten Tag. Und auch der Vater-Sohn-Konflikt hat erledigt. Der Vater hat das Vertrauen seines Sohnes wiedergewonnen und für sich die Erkenntnis, dass er eine Verantwortung dem Sohn gegenüber hat, ihn ernstnehmen muss.

Ein Aufwand, wie ihn Hollywood nicht kennt, wurde für die Szenen betrieben, als Lütt Matten in der Nacht auf der Suche nach der weißen Muschel auf den Bodden rausfährt und sich in den Reusen verfängt. Weil mit den Kindern nur zwei, drei Stunden gearbeitet werden durfte, hat Zschoche die Szenen zuerst am Tag auf Spezialmaterial gedreht. Da war zwar der Himmel dunkel, aber der Horizont blieb immer hell. Das gefiel Wilkening nicht und er bestand darauf, die Szenen noch mal nachts zu drehen. Das Boot des Jungen lag 300 bis 400 Meter weit draußen im Wasser. Für die Beleuchtung, das waren riesige 10 Kw Scheinwerfer, damals gab es noch keine kleinen Einheiten, wurden Flöße gebaut und die Kabel vom Haus durch das Wasser bis zur Reuse gezogen.

Die Dorfkinder hatten ihren Spaß bei den Filmarbeiten. Sie durften in einigen Szenen mitspielen. Hier erzählt ihnen Lütt Matten, dass eine Plötze in seiner Reuse war
Lutz Bosselmann© DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Die Dreharbeiten hatten auch für Inselkinder Abenteuerpotenzial. Sie durften mitspielen, wenn Lütt Matten durchs Dorf lief, und ein Spottlied auf den „Reusen-Admiral“ singen. Durften bei der Suchaktion die Fackeln bei den Nachtaufnahmen halten oder die Schippen mit dem qualmenden Pulver schwenken, das den Nebel erzeugte. Weil da gerade die Sommerferien begonnen hatten, waren auch Benno Pludras Söhne Matthias und Thomas mit ihren beiden Cousins, den Söhnen des Schriftstellers Klaus Beuchler, dabei. „Das Zeug stank wie die Pest. Und weil der Wind die Schwaden oft auf den Bodden trieb und nicht dahin, wo der Kameramann sie brauchte, dauerte der Spaß drei Nächte“, erinnert sich Matthias Pludra. „Und das Ganze für anderthalb Minuten in einem Kinderfilm. Heute unvorstellbar“, meinte mein Mann, als er mir von jenem Sommer auf Hiddensee erzählte.

Blick auf die Heidelandschaft bei Neuendorf. Herrmann Zschoche (r.) mit Horst Hardt © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Ziller

Es wurde alles genutzt, was Hiddensee an Motiven hergab: die flache weite Heidelandschaft mit ihren knorrigen, vom Wind geformten Bäumen bei Neuendorf, die Dünen, auf denen das Gras hochwächst, die Sicht auf den Bodden bei Vitte, die bis zum Horizont reicht, die Wellen, die an die Steine am Strand schlagen, den Flug der Möwen, den Zug der Wolken, die Fischerboote im Hafen, die weißgetünchten Katen der Fischer. Es war vielleicht gewagt. Aber Regisseur wie auch Autor Benno Pludra trauten dem kindlichen Publikum den Zugang zu epischen Bildern und das Erkennen der Schönheit im Detail zu. Das Drehbuch folgt den kargen Dialogen der literarischen Vorlage, die gestalterische Umsetzung ihren poetischen Beschreibungen.

Eine Reuse voller Aale, davon träumt der Fischerjunge Lütt Matten © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Es ist Herrmann Zschoches wohl choreografiertes Spiel der Kinder Lutz Bosselmann und Heike Lange, das den Film so zu Herzen gehen lässt. Dabei gestaltete sich Besetzung der Rolle von Lütt Matten schwierig. „Treppauf, treppab haben wir die Schulen an der Küste abgeklappert. Zuerst haben wir Kaule gefunden, dann Mariken in Rostock. Aber kein Junge hat in die Rolle des Lütt Matten gepasst“, erinnert sich der Regisseur. Ich wusste schon aus meinen vielen Gesprächen mit Kinderfilmregisseur Rolf Losansky (†2016): Kinder müssen passen, Schauspieler können sich reinfinden, Kinder nicht. Herrmann Zschoche hatte wie Losansky ein gutes Gefühl für Kinder und vermochte sie sensibel zu lenken. „Kindern muss man alles sagen, aber man muss sie locker machen, viel loben. Es muss ihnen Spaß machen, das zu spielen, was sie sollen. Sobald Zwang kommt, ist es aus.“

1960 drehte Herrmann Zschoche seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“, Premiere war im Juni 1961. Lutz Bosselmann (hier mit Rosemarie Stein) spielte Peter, einen der drei Brüder, die ausziehen, um ihre Träume zu suchen. © DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Für die Besetzung von Lütt Matten fiel ihm zu guter Letzt der kleine Berliner Lutz Bosselmann ein, der in seinem Diplomfilm „Das Märchenschloss“ eine der Hauptrollen gespielt hatte. Ein stilles, knubbeliges Kind, das viel mit sich selber ausmacht, und dem man im Gesicht ablesen konnte, was in ihm vorgeht. Genauso hatte Benno Pludra Lütt Matten in seinem Buch beschrieben.

Lütt Matten leidet unter dem Spott der Kinder und der Fischer. Er fragt sich: „Warum fischt die Rüs nicht?“ © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Kameramann Horst Hardt erfasste die Gemütsstimmungen des Jungen in wunderbaren Großaufnahmen. Der Film ist genau besehen ein Kamerafilm. Er lebt sehr von Hardts ausdrucksstarken Aufnahmen, die großartig von Schnittmeisterin Brigitte Krex montiert wurden. So fungiert die Natur der Insel nicht als bloße malerische Kulisse. Sie ist die Lebenswelt des Jungen und korrespondiert in den Bildern mit seinen seelischen Befindlichkeiten. Georg Katzers einfühlsame Musik tut ein Übriges.

Mariken will Lütt Matten trösten. „Guck mal, dann ist es eben ein Spiel mit Rüs.“ Ein solches Ansinnen hat ihm gerade noch gefehlt. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Dem Regisseur selbst gefällt am besten die Szene mit Mariken und Lütt Matten auf der Wiese, als sie zu ihm sagt: „Lütt Matten hat eine Reuse aufgestellt, obwohl sogar sein bester Freund das unsinnig findet. Und dann fängt er keine Fische damit.“ Und sie fragt: „Na, Lütt Matten, bist du schon an der Reuse gewesen?“ Er antwortet: „Ja, mal eben.“ Mariken: „War wieder nichts drin?“ Lütt Matten schüttelt den Kopf. Er bückt sich ins Gras, damit er Mariken nicht ansehen muss. Seit Tagen kommt sie und fragt, und seit Tagen sagt Lütt Matten: „Nein, nichts, kein Stück. Aber morgen, pass auf, morgen ganz bestimmt.“

Filmplakat 1963

Die Filmpremiere am 26. Januar 1964 im Berliner Kino Kosmos war ein grandioser Erfolg. 1983 lief „Lütt Matten und die weiße Muschel“ im West-Fernsehen. Von Herrmann Zschoche erfuhr ich, dass Lutz Bosselmann 2008, mit 56 Jahren, gestorben ist. Schauspieler ist er nicht geworden. „Mariken“, die heute 64-jährige Heike Lange-Kahl, erinnert sich noch gut, wie sie ausgewählt wurde. „Wir mussten bei den Probeaufnahmen den Satz ,Lütt Matten, din Rüs hät fischt‘, sprechen. Ich konnte das R richtig gut rollen und war mir ganz sicher, dass ich die Rolle bekomme.“ Die Zeit auf Hiddensee verbindet die promovierte Literaturwissenschaftlerin mit dem großen Gefühl von behüteter Freiheit. „Wir waren vier Monate ohne Eltern und erlebten jeden Tag Aufregendes.“ Schauspielerin wollte Heike trotzdem nie werden. Sie zog es zum Eissport. 1975 wurde sie Vize-Weltmeisterin im Eissprint. Ihre Berufung fand sie nach der Wende im Engagement für die „Deutsche Kinder- und Jugendstiftung“.

„Lütt Matten und die weiße Muschel“ wurde einer der schönsten DEFA-Kinderfilme. „Ich war angenehm überrascht“, reflektierte Herrmann Zschoche im Abstand von fünf Jahrzehnten. „Es war mühsam, aber es hat sich gelohnt. Ein sehenswerter Film auch für Erwachsene. Ab und zu staunt man über sich selber.“

Ja, der Film lebt. Er hat den Untergang des Landes, in dem er spielt, und der DEFA überdauert. Die Legende von John Hagenbrinks Wundermuschel, die den Fischern von Hiddensee in ihrer ärgsten Not den Fisch und das Glück herbeisang, ist auf der Insel in Vergessenheit geraten. Wen sie auch gefragt habe, erzählte mir Archivarin Jana Leistner vom Heimatmuseum Hiddensee, keiner hatte je davon gehört. Sie bereitet derzeit eine Sonderausstellung zu Benno Pludra und seiner Geschichte von Lütt Matten und der weißen Muschel“ vor. Ich weiß nicht, wer von den Dorfkindern und Fischern, die 1963 die Dreharbeiten miterlebten, heute noch auf Hiddensee wohnt. Vergessen haben sie dieses Abenteuer sicher nicht und erzählen es vielleicht ihren Enkeln weiter. Und die hätten sicher ihre Freude an dem Film, der ihnen die Welt ihrer Großeltern zeigt.

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Die Verwandlung der Carola Huflattich in „Das Schulgespenst“

Das ist sie, Carola Huflattich. Wie sie Peter Abraham 1978 in seinem Kinderbuch „Das Schulgespenst“ erfand und Regisseur Rolf Losansky sie in dem gleichnamigen Film 1985 in Szene setzte. So manche Arnstädter können sich gewiss noch an die aufregenden Dreharbeiten für die ebenso poesievolle wie witzige Rollentausch-Komödie erinnern. Die Geschichte von der vorlauten, um keine Antwort verlegene Viertklässlerin Carola, die mit den alltäglichen Pflichten wie Lernen und Hausaufgaben machen so gar nichts am Hut hat, dafür aber mit jeder Menge Phantasie ausgestattet ist, entsprach ganz Losanskys Intentionen. „Es müssen Verrückte sein, die sich um den Kinderfilm kümmern, sonst macht man Erwachsenen-Film“, sagte er mir in einem unserer vielen Gespräche.

Rolf Losansky  wird 80.
Mein erstes Interview mit  Rolf Losansky hatte ich im Januar 2011. Er führte mich durch seine ehemalige Arbeitsstätte, die DEFA-Studios Babelsberg © York Maecke

Und er war so ein Verrückter. Sich runterneigen, wie Leute in den Kinderwagen gucken, das mochte er nicht. „Ich mache keine Killekille-Filme.  Meine Filme sind so, dass der Sohn den Vater fragt: Warum hast du an der Stelle gelacht?  Und der Vater entgegnet: Und warum hast du an der Stelle gelacht? – Man muss nachfragen, sich hinterher über das Gesehene unterhalten, das ist mir wichtig.“ Rolf Losansky konnte mit Kindern nicht nur phanstastisch umgehen, er wusste auch, was sie an Spaß, Überraschungen, Spannung und Phantastischem auf der Leinwand erwarteten.

Nicole alias Carola 35 Jahre später
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Unverkennbar Carola Huflattich. Nicole Richter, die die Rolle spielte, ist heute 45 Jahre und hat inzwischen selbst zwei Kinder. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet als Grafikdesignerin © Nicole Richter

Es ist erstaunlich, wie wenig sie sich verändert hat. Das Lachen, die Augen – unverkennbar  Carola Huflattich. „Den Namen fand ich lustig.“ Nicole Richter, vor 35 Jahren hieß sie Lichtenheldt, denkt gern an ihre Zeit als Filmkind zurück. Inzwischen hat sie selbst Kinder, zwei Söhne, acht und fünf Jahre alt. Ihren Text hat sie noch immer drauf. „Wenn ich den Film sehe, kann ich noch jedes Wort mitsprechen“, sagte sie, als ich sie 2011 interviewte. Die SUPERillu veröffentlichte damals in ihrer Reihe DEFA-Kultfilme die DVD „Das Schulgespenst“, ich schrieb einen Begleitbeitrag.

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2011 besuchte ich Nicole Richter, damals hieß sie noch Förster, und ließ mir von Dreharbeiten für „Das Schulgespenst“ erzählen © André Kowalski

Vor einigen Wochen fiel mir der Film wieder in die Hände. Ich rief Nicole an, und wir kamen ins Plaudern. Ich habe sie gefragt, ob sie hin und wieder den Film mit ihren  Kindern anschaut oder ob er in der Versenkung verschwunden ist. Sie lacht.  „Das ist ja lustig, dass du jetzt danach fragst. Unsere Nachbarn haben sich den Film gerade erst angesehen, die Kinder sind teilweise schon im Teenageralter. Sie fanden ihn richtig cool.“ Erstaunlich, wo es da doch absolut analog zugeht. Oder ist es gerade das, was sie cool fanden?

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Der Indianer-Blick-Test. Wer zuerst zwinkert, muss die Hausaufgaben des anderen machen. Willi verliert immer © DEFA-Stiftung /Siegrfried Skoluda

Carola und die anderen Kinder leben in der gleichen Welt wie die Kinder heute, nur drei Jahrzehnte früher. Ihre Alltagsrealitäten gleichen sich. Allerdings kamen die Kinder von damals ohne Handy aus – das Wort gab es noch nicht einmal. Tablet, Internet, Computerspiele, Instagram, What’s App  kannten sie nicht, ich genauso wenig. Gefehlt hat das mir und auch meinen Kindern nicht. Hinter unserem Haus gab es ein Biotop, ein Stück Wald, eine Wiese. Da trafen sie sich mit Freunden, dachten sich Spiele aus. Langweilig war ihnen nie. Sie nahmen von sich aus die Welt um sich herum wahr. Niemand musste ihnen erklären, woher Eier und Milch kommen. Noch heute, mehr als 30 Jahre später, erzählen meine Töchter von den vielen kleinen Frösche, die sich zu Tausenden vor ihrem Kindergarten tummelten und quakten. Kinder entfalten eine große Phantasie, wenn sich ihnen das Feld dafür bietet. Das erlebe ich jetzt auch bei meinen vierjährigen Enkeln, die zwar gern auf ihrem Tablet Trickfilme ansehen, aber mit noch mehr Spaß im Garten Feuerkäfer suchen, mit dem Schlauch sprengen und dabei ihre Geschichten spinnen: „Das Feuer ist gelöscht, der Baum gerettet, Feuerwehrchef!“

Ricardo Roth, Nicole Lichtenheldt:Richter 1985:86 „Das Schulgespenst“ DEFA-Stiftung -Siegfried Skolunda.M_05902_R
Die alte Burgruine ist der Lieblingsplatz von Carola und ihrem Freund Willi (Ricardo Roth). Hier erzählt sie ihm von Buh, dem Gespenst

„Ein Vogel müsste man sein, und über die Dächer fliegen“ , träumt die 10-jährige Carola Huflattich im Film vor sich hin, während sie mit ihrem Freund Willi auf der Mauer einer alten Burg sitzt. Welchem Viertklässler käme so ein Wunsch heute noch in den Sinn, wo es Spieldrohnen gibt, mit denen man sich alles von oben ansehen kann? Technik contra Kinderträume. Rolf Losansky hat mit seinen Filmen stets ein Plädoyer für letzteres abgegeben.

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Dreharbeiten 1985 in der Altstadt von Arnstadt mit Nicole, die hier mit Blüschen und Schleifchen das verwandelte Gespenst spielt. Hinter der Kamera Regisseur Rolf Losansky, rechts Kameramann Helmut Grewald ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda
Die Geschichte:

Carola geht in die 4. Klasse. Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Wozu kämmen? Sie zwirbelt die Haare einfach zu strubbeligen Zöpfen. Statt Rock trägt sie lieber Hosen, in der Schulpause spielt sie mit einer Blechbüchse Fußball, die der Schuldirektorin an den Hintern knallt. Im Unterricht macht sie alles andere, nur nicht zuhören. Darum sind ihre Noten auch nicht die besten. Lernen macht ihr einfach keinen Spaß. Sport gefällt ihr und sich allerhand Unfug ausdenken. Darin ist sie Meister und bringt damit fast jeden Tag ihre Lehrerin zum Seufzen.

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Carola krabbelt durch die Absperrung und schleicht in den Schulkeller © DEFA-Stiftung Siegfried Skodula

Eines Tages passiert etwas schier Unglaubliches. Carola kippelt wie so oft im Unterricht mit dem Stuhl. Sie kippt um und der Stuhl bricht auseinander. Die Lehrerin, Fräulein Prohaska, schickt sie zum Hausmeister, um sich einen neuen Stuhl zu holen. Herr Potter aber ist nicht da. Carola nutzt die Gunst der Stunde und schleicht in den Keller. Sie wollte schon immer mal gucken, was es da alles gibt. Erfreut entdeckt sie einen Fernseher. Dass ein Zettel dranhängt, auf dem „defekt!“ steht, interessiert sie nicht. Sie stellt das Gerät an. Plötzlich kracht es. Staub fliegt ihr um die Ohren. Ihr Schreck hält nicht lange an. Der schummrige Keller beflügelt ihre Phantasie. Carola ruft einen „Weltgespenstertag“ aus.

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Rolf Ludwig als Hausmeister Potter und Walfriede Schmitt als Direktorin  © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Sie ist gerade mit ihren Beschwörungen zugange, als der Hausmeister zurückkommt.  Erbost über Carolas unerlaubten Zutritt, holt er die Lehrerin und die Direktorin herbei. Flux erfindet Carola ein Gespenst, das angeblich im Keller herumgeistert. Weil sie es nicht vorzeigen  kann, behauptet Carola, es sei in ihrer Hosentasche verschwunden.

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Carola hat das Gespenst sichtbar gemacht  Quelle: Youtube

Wieder im Klassenraum, hört sie plötzlich eine Stimme aus der Hosentasche: „Mam, liebste Mam, gib mir eine Gestalt, wünsch dir, dass ich irgendetwas werde, dann bin ich’s.“ Carola wäre nicht Carola, würde sie die Chance nicht erkennen, dass sich damit ja was anstellen ließe. Das Gespenst möchte sichtbar gemacht werden. Also zeichnet Carola ein Bild an die Tafel und Buh, so nennt sie es, wird lebendig und fliegt durch den Raum. Doch als sich Buh in dem Handspiegel sieht, den die Lehrerin auf dem Tisch vergessen hat, ist es traurig. Es wollte niedlich aussehen, mit Zöpfen und Schleifchen und kein Strichmännchen im Nachthemd sein. Das bringt Carola auf eine Idee. Sie schlägt Buh vor, mit ihr die Gestalt zu tauschen.

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Das Gespenst ist glücklich in seiner Rolle als Carola.  Der ahnungslose Willi denkt, er spinnt. Carola ist plötzlich eine Streberin @ DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

 Dann könnte Buh den Wunsch der Mutter erfüllen, und als Carola Röckchen und Bluse tragen, Schleifen im Haar. Sie aber würde als Gespenst machen, wozu sie Lust hat. Über der Stadt herumfliegen, unsichtbar allerlei Schabernack treiben.  Vor allem aber müsste sie nicht mehr lernen, im Unterrricht stillsitzen und aufpassen, brauchte sich von der Mutter keine Vorhaltungen mehr anzuhören. Buh ist sofort einverstanden mit dem Rollentausch. Carola stellt nur eine Bedingung: Sie möchte zu den Sportstunden und den Pausen wieder sie selbst sein. Aber wie soll der Tausch gehen? „Guck in den Spiegel und sag einfach Buh-Huh, dann bin ich du und du ich“, erklärt das Gespenstermädchen. Gesagt, getan. Es klappt. 

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© DEFA-Stiftung/Gertrud Zucker

Voller Freude fliegt Carola als Gespenst durch die Stadt, turnt auf dem Dach herum, wo ihr Vater als Dachdecker arbeitet und ist glücklich. Buh bringt als brave und wissbegierige Carola ihre Mitschüler und Lehrer zum Staunen. Carolas Freund Willi versteht die Welt nicht mehr. Die kumpelhafte Carola, die absolut keine Lust zum Lernen hat und Mathe hasst, die lieber mit ihm herumstromert, ist über Nacht zum Streber geworden, unkameradschaftlich und überheblich. Sogar den Eltern wirft sie vor, sich nicht genug angstrengt zu haben. Sonst wäre die Mutter ja Verkaufsstellenleiterin und nicht bloß Verkäuferin und der Vater hätte eine eigene Dachdeckerfirma. „Mir soll das nicht so gehen, deshalb strenge ich mich an und lerne, statt fernzusehen“, verkündet Buh.

Das geht der echten Carola zu weit. Sie ist wütend auf ihr falsches Ich. Außerdem hat das einsame Herumgeistern seinen Reiz für sie verloren. Sie will in ihren Körper zurück, und in ihrem Bett schlafen, statt im dunklen Schulkeller. Aber Buh denkt nicht daran, sich an die Abmachnung zu halten und in seine alte Gestalt zurückzukehren. Zu sehr gefällt es ihm in der Schule und richtige Eltern zu haben. Darum gibt Buh der Lehrerin den Spiegel zurück.

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Carola hat ihren Freund Willi überzeugt, dass sie im Körper des Gespensts aus dem Keller steckt © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Die echte Carola versucht alles, um dem gerissenen Gespenst beizukommen. Doch dazu braucht sie den Spiegel. Nur ihr Freund Willi kann ihr dazu verhelfen. Den muss sie aber erst einmal überzeugen, dass sie kein Gespenst, sondern die verwandelte Carola ist. Willi kann es nicht fassen, doch er glaubt dem herumfliegenden Geist, denn der kennt den „Indianerblick“. Es ist aber leichter gesagt als getan, den Spiegel zu finden und an sich zu bringen. Als die beiden ihn endlich haben, bedarf es noch einer weiteren List, damit sich das zurückverwandelte Gespenst nicht wieder des Spiegels bemächtigt.

Ein Jux mit Folgen
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Carola ist als Gespenst zu Fräulein Prohaska (Karin Düwel) in die Wohnung geschlüpft, um den Handspiegel zu suchen. Doch die Lehrerin legt sich gerade eine Schönheitsmaske auf und hält den Spiegel fest in der Hand ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Regisseur Rolf Losansky hatte  eine genaue Vorstellung, wie seine Hauptdarstellerin sein sollte. Sie zu finden war ein langes Unterfangen. Er ist quer durch die DDR gereist und hat an Schulen nach seinen Kinderdarstellern gesucht. Fündig wurde er in seiner Heimatstadt Frankfurt (Oder). Nicole  nahm mit Schulfreundinnen heimlich am Vorsprechen teil. „Wir hatten damals die Anzeige in der Zeitung gesehen und sind aus Jux hingegangen“, erinnert sie sich. Ihren Eltern hatte sie nichts erzählt. Und dann gehörte sie zur ersten und dann zur zweiten Auswahl. Die Einladung zum dritten Vorspielen kam per Post.  „Meine Mutter fiel aus allen Wolken, als das Telegramm von der DEFA kam. Was ist denn das hier?“

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Dietmar Richter-Reinick und Barbara Dittus als Vater und Mutter Huflattich, die in dieser Szenen gerade ihre Tochter nicht wiedererkennen. Carola, respektive das Gespenst, hält ihnen vor, dass sie nicht mehr aus ihrem Leben gemacht haben. Der Vater könnte einen Dachdeckerbetrieb haben und die Mutter Verkaufsstellenleiterin sein, wenn sie ehrgeiziger gewesen wären © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Zwei Mädchen hatte der Regisseur für die Rolle präferiert, weil er sich nicht entscheiden konnte. Beide hatten sich beim Vorspiel gleichermaßen geeignet gezeigt. Zuerst tendierte der Regisseur zu Emmi, einem blonden Mädchen. Sie ähnelte der Schauspielerin Barbara Dittus, die die strenge Mutter spielte.  Er wählte dann jedoch die braunäugige dunkelhaarige Nicole, weil sie vom Typ her besser zu Dietmar Richter-Reinick passte. Der Berliner Fernsehstar spielt Vater Huflattich, der für seine wilde Tochter der allerbeste Kumpel ist. Im Gegensatz zur strengen Mutter, hat er Verständnis, wenn Carola mal wieder schlechte Noten nach Hause bringt.   Die Vater-Tochter-Beziehung nimmt entsprechend Raum im Film ein.

Die Dreharbeiten in Arnstadt

Von September bis Dezember 1985 wurde im thüringischen Arnstadt gedreht.  Für die Kinder war das sehr aufregend. Zum ersten Mal hat Nicole damals in einem Hotel geschlafen. „Ich habe  die Aufmerksamkeit, die wir in dieser Zeit bekamen, sehr genossen. Wir waren drei Geschwister zu Hause und als Älteste musste ich immer ein bisschen zurückstecken“, erzählt sie.  In die Rolle von Carola Huflattich zu schlüpfen, fiel der Elfjährigen nicht schwer.  Von Natur aus brav und schüchtern gefiel es ihr, sich mal frech und rebellisch zu geben.  Das hat mich selbstbewusster gemacht, ich bin offener geworden.“ Ihre „Stunts“ hat sie selbst gemacht. Als sie mit dem Stuhl umkippte, fiel sie freilich nicht auf den harten Boden, sondern in weichen Schaumstoff. Ihr fallen viel lustige Szenen ein. „Als ich im Keller mit dem Gespenst gekämpft habe, war das wie Schattenboxen. Buh war ja nicht real vorhanden, und ich musste mich auf ihn werfen, stolpern, das hat richtigen Spaß gemacht.“ Die Flachfigur wurde später mit einem speziellen Verfahren in den Realfilm hineingebracht.

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Carola soll einen Stuhl aus dem Keller holen. Weil der Hausmeister nicht da ist, setzt sie sich in das Rednerpult an der Treppe. Hierhin verzog sich Nicole in einer Drehpause und schlief ein ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

In einer längeren Drehpause – man muss beim Film viel warten – hatte sich Nicole in das Rednerpult gesetzt, in dem sie sich als Carola vor dem Hausmeister versteckt, und ist eingeschlafen. Typisch Carola, könnte man sagen. „Die Rolle hatte auf mich wohl schon etwas abgefärbt“, lacht Nicole. Als weiter gedreht werden sollte, war die Hauptdarstellerin verschwunden. „Alle haben mich gesucht und nicht gefunden. Das war eine ganz schöne Aufregung. Rolf Losansky machte sich richtig Sorgen. Es hätte ja was passiert sein können. Er hatte die Verantwortung für uns Kinder.“ Trotzdem hat ihr niemand die Leviten gelesen, als sie nach einer Stunde hervorgekrochen kam.

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Kamermann Helmut Grewald (liegend) und Kamera-Assistent Wolfgang Kroffke filmen die Karussellszene ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Ein gleichermaßen großes Vergnügen waren die Dreharbeiten auch für die Schauspieler. Rolf Losansky hatte mit Rolf Ludwig, Dietmar Richter–Reinick, Barbara Dittus, Walfriede Schmitt, Günter Schubert und Karin Düwel die perfekte Wahl getroffen. Besonders mit Rolf Ludwig und Dietmar Richter-Reinick spielte Nicole gern.  „Sie machten mit uns immer Quatsch, wenn wir auf den nächsten Einsatz warten mussten“, erinnert sie sich. „Kinder sind keine Schauspieler, man muss sich als Erwachsener beim Spielen auf sie einlassen“, sagte Rolf Losansky immer. Wenn die Texte nicht wortwörtlich kamen, aber zur darzustellenden Situation passten, ließ er es zu. Von seinen Schauspielern erwartete er, dass sie das akzeptierten und darauf eingingen. Nicole erinnert sich noch mit Grausen an die Szenen auf dem Rummel, als sie Kettenkarussell fahren mussten. „Uns war hundeübel. Wir sind da wohl 100 Runden gefahren, ehe der Dreh im Kasten war. Dass uns schlecht war, mussten wir nicht spielen.“

Ein unerfüllter Traum

Im Februar 1987 kam der Film in die Kinos. „Es war Wahnsinn, sich als Kind auf der Leinwand zu sehen“, sagt Nicole. Weil ihr das so einen Spaß gemacht hatte, ging sie zum Casting für die Rolle der Anette in dem Kinderfilm „Die Weihnachtsgans Auguste“. „Ich wurde abgelehnt.  Stefanie Stappenbeck  hat damals die Rolle bekommen.“ Bei Rolf Losansky durfte sie noch einmal „Schauspielerin“ sein. Er besetzte Nicole 1988 in seinem Film „Abschiedsdisko“. Acht Jahre später, nach dem Abitur 1993, bewarb sich Nicole an der Schauspielschule. Zu jung, hieß es, sie solle es im nächsten Jahr erneut versuchen. „Ich hatte es vor“, sagt Nicole, „aber ich war nicht hartnäckig genug.“ Die Wartezeit überbrückte sie als Aupair-Mädchen in London. „Ich hatte eine super Familie erwischt. Sie schlug mir vor, einen Grafikkurs zu besuchen. Anschließend habe ich dann drei Jahre Grafikdesign in London studiert.“ Sie bekam dort dann eine Stelle in der weltweit arbeitenden Designagentur Pentagram. Nach 15 Jahren in London kehrte Nicole zurück nach Berlin und arbeitet seitdem in der Berliner Dependance von Pentagram. Sie entwirft Kreditkarten für Kunden in ganz Europa,  Firmenlogos, Plakte, Poster… Viele ihrer Arbeiten kann man im Filmmuseum Potsdam sehen. So schließt sich der Kreis.

Wie das Gespenst das Fliegen lernte

Seit 35 Jahren treibt Das Schulgespenst“ immer noch mit großem Erfolg sein Unwesen und ist inzwischen sowohl im Osten als auch im Westen populär.  Wie mit all seinen Kinderfilmen wurde Rolf Losansky († 2016) in all den Jahren von Schulen und Bibliotheken eingeladen. Die Kinder fanden insbesondere an den Szenen Spaß, in denen das Gespenst agiert. Wie es geschmeidig und wendig über die Dächer der Stadt tanzt, Fußball spielt, durch Schlüssellöcher schlüpft oder sich mit Carola im Keller einen Ringkampf liefert. Das Erstaunen der Kinder groß, wenn Rolf Losansky ihnen erzählte, dass all die lustigen Handlungen der Trickfigur nicht am Computer entstanden sind, sondern von Kameramänner, Filmtechnikern und Animatoren ausgeklügelt und ausgeführt worden sind.

Es waren vor allem Regisseure und Autoren von Kinder- und Märchenfilmen, die nach phantastischen Gestaltungsmöglichkeiten suchten. Als Rolf Losansky mit Peter Abraham das Drehbuch für „Das Schulgespenst“ schrieb, schwebte ihm vor, dass sich das Gespenst wie ein Geist in den Spielszenen bewegt, zugleich aber mit den Darstellern interagiert. Was so leicht aussieht, hat es filmtricktechnisch in sich. Wie schon bei seinen Kinderfilmen „Moritz in der Litfaßsäule“ (1982) und „Ein Schneemann für Afrika“  (1976/77) fand Rolf Losansky in der  DEFA-Trickabteilung begeisterte „Mittäter“.

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Trickabsprache zum DEFA-Film „Der Froschkönig“ 1987. v. l.n. r.: Trickfilmarchitekt Frank Wittstock, Kameramann Wolfgang Braumann, Trickkameramann Erich Günther und Regisseur Walter Beck
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„Der Froschkönig“ wurde von ihnen 1987 zu einer sprechenden und agierenden Animationsfigur gemacht. V. l. Erich Günter, Wolfgang Chevallier, Frank Wittstock und Heiko Ebert Repro/SUPERillu/Jürgen Weyrich

„Mich hat schon immer gereizt, die Möglichkeiten des Animationsfilms mit denen des Realfilms zu kombinieren“, sagt Erich Günther, der Chefkameramann der Trickabteilung, den ich  2010 zusammen mit Trickfilmarchitekt und Modellgestalter Frank Wittstock, Chefanimator Heiko Ebert und Tricktechniker Wolfgang Chevallier bei meinen Recherchen zum DEFA-Märchenfilm „Der Froschkönig“ (1987) kennenlernte.  Sie haben tatsächlich wahre Wunder vollbracht. Sie brachten den Frosch zum Hüpfen und Sprechen, Schere und Nadel im Märchenfilm „Hans Röckle und der Teufel“ 1974 zum Schneidern, die Glühwürmchen in der „Geschichte vom goldenen Taler“ 1983 zum Tanzen und hauchten dem „Schneemann für Afrika“ 1976 Leben  ein.

Für den Film „Das Schulgespenst“ war wiederum ihre außergewöhnliche Kreativität gefordert. „Die Schülerin Carola hat das Gespenst mit Kreide an die Wandtafel gemalt und zum Leben erweckt. Wir entschlossen uns, das Gespenst als eine in sich variable Flachfigur aufzunehmen und direkt ins Negativ einzubelichten“, erzählt Erich Günther. Regisseur Rolf Losansky gefiel die Idee, da sie seinen Vorstellungen entsprach.  Frank Wittstock baute die Figur. Damit die Bewegungen des Gespenstes im Film fließend erschienen, gliederte er die Fläche der Figur schuppenartig in Segmente auf. So konnte sie bei der Animation einzelbildweise in sich verändert und bewegt werden. 

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Darstellung des Aufnahmesystems zum Mitfahren einer deckungsgleichen Schwarzweiß-Bildmatrize. Zeichnung: Erich Günther Quelle: „Wie haben sie’s gemacht?…“Schüren-Verlag GmbH

Die spannende Frage für mich war, wie das Gespenst in die Realszenen hineinkommt. Dafür hatte Erich Günther eine spezielle Technologie entwickelt, die er bereits für die Animation der Glühwürmchen in der „Geschichte vom goldenen Taler“ angewandt hatte. Er kombinierte auf einer Basis zwei Kameras im rechten Winkel zueinander. Die Kamera 1 nahm den Realfilm in Farbe auf. Kamera 2  lief synchron mit und nahm die Szenen über einen halbdurchlässigen Spiegel in schwarzweiß auf. Mit dieser Einrichtung wurden alle Einstellungen auf, in denen das Gespenst agieren sollte. So entstanden zwei deckungsgleiche Filmnegative, von denen Erich Günther zunächst nur das Schwarzweiß-Material – die Bildmatrize – im Kopierwerk entwickeln ließ.  Sie diente Rolf Losansky am Schneidetisch zur Ausmusterung und dem Trickteam später beim Einbelichten des Gespenstes in den Farbfilm zur Animation der Trickfigur. Da für die Bildmatrize über einen Spiegel fotografiert wurde, entstanden seitenverkehrte Bilder. So musste Rolf Losansky das Filmmaterial am Schneidetisch auch seitenverkehrt betrachten.

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Rolf Losansky beendete seine Dreharbeiten in Arnstadt im Dezember 1985. Dann begann die Arbeit der Trickleute. Das vorbelichtete ORWO-Farbmaterial kam unbesehen bis zum Gebrauch in den Kühlschrank. Bei einer Temperatur von 3 Grad Celsius konnte es ein Jahr lagern, ohne farbliche Veränderungen zu erleiden. Erich Günther erinnert sich: „Im Dezember begannen wir damit, die ersten Trickeinstellungen zu kombinieren. Im Sommer 1986 legten wir die letzten zur Abnahme am Schneidetisch vor.“ Die Einbelichtung des Gespenstes beschreibt der Trickspezialist in dem Buch „Wie haben sie’s gemacht…? Babelsberger Kameramänner öffnen ihre Trickkiste“ von Uwe Fleischer und Helge Trimpert (Schüren-Verlag GmbH, 2007). 

„In unserem Trickatelier hatten wir einen Spezialaufbau eingerichtet,  bei dem in eine Kamera das vorbelichtete Farbmaterial eingelegt wurde… Ähnlich wie der Aufnahme haben wir nun anstelle der Kamera 2 in einen Filmprojektor eingesetzt, der es möglich machte, im Einzelbild die Bildmatrize zu projizieren. Über einen halbdurchlässigen Spiegel und einen Umlenkspiegel wurde das Matrizenbild auf die Arbeitsfläche des Animators gebracht. “

Der Ablauf war dann folgender: Das Einrichtungsbild wurde von der schwarzweiß-Bildmatrize – dem Film aus Kamera zwei – projiziert, der Animator führte die Bewegung aus, die Projektion wurde ausgeschaltet, das Arbeitslicht zur Aufhellung des Schulgespenstes eingeschaltet und mit der Kamera ein Bild ausglöst. Für eine Sequenz von 10 Sekunden wurde dieser Vorgang 240mal wiederholt. „Wir hatten zwei Animationsstrecken aufgebaut, sodass wir etwa 20 Sekunden gespielte Szene pro Tag drehen konnten.“
Neun Monate dauerten es, bis der Film endgültig fertig war und am 7. Februar 1987 auf dem 5. Kinderfilmfestival „Goldener Spatz“ seine Premiere gefeiert werden konnte. Die Kinderjury zeichnete Rolf Losansky mit dem Ehrenpreis aus. Im selben Jahr gewann er in auf dem 5. Festival des Kinderfilms in Essen den „Blauen Elefanten“. 

Die DEFA-Trickfilmer galten als Perfektionisten. „Der Reiz am klassischen Trick sind die Geheimniss. Man probiert, testet aus, sagt Wolfgang Chevallier. „Mit dem Computer ist heute alles möglich.“

Heiner Carow & Benno Pludra – Mit Sheriff Teddy fing der „Ärger“ an

„Sheriff Teddy“ – eins meiner liebsten Kinderbücher. Keine Ahnung, wie oft ich es gelesen habe. Wohl sehr oft, denn die Ecken des Einbands sind ziemlich abgestoßen. Es lag 1959 auf meinem Geburtstagstisch. Für meine Eltern wäre es Frevel gewesen, ein Buch wegzuwerfen. So zog Sheriff Teddy“ über all die Zeit immer mit uns um und blieb in meinem Blickfeld. Es war mein erstes Buch von Benno Pludra. Wenn ich mich zurückversetze, spüre ich noch die Faszination, die ich beim Lesen empfand.

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Kalle alias Sheriff Teddy (Gerhard Kuhn, r.) fällt es schwer, sich in der neuen Schule in Ostberlin einzugewöhnen. Er gerät mit seinem Rivalen Andreas (Axel Dietz, l.) aneinander © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Die Geschichte von Kalle alias Sheriff Teddy spielt in der gleichen Zeit, in der auch ich Kind war. Ich wohnte in einem Dorf bei Potsdam, er im geteilten Berlin, wohin ich als Kind nie gekommen bin. Sein Leben verlief so ganz anders als meins. Ich hatte keine Vorstellung, wie es ist, wenn man erst im Westen gewohnt hat, dort zur Schule ging und dann in den Osten kam, wo es ganz anders zuging. Und man zwischen den Fronten hin und her gerissen wird. Benno Pludra lotste mich mit seiner Erzählweise so durch Kalles problembeladene Tage, dass ich mich einfühlen und hineindenken konnte. Mit jeder Buchseite kam ich ihm näher. Meine Welt dehnte sich aus. Das habe ich als Zehnjährige so nicht reflektiert, wohl aber gespürt.IMG_9003
Dass mir das Buch gerade jetzt wieder in den Sinn kam, hat mit der Verleihung des Heiner-Carow-Preises zu tun, zu der ich ins Berliner Kino International eingeladen war. Er wird seit 2013 von der DEFA-Stiftung im Rahmen der Berlinale an einen Spiel-, Dokumentar- oder Essayfilm aus der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ vergeben und ist dem 1997 verstorbenen Regisseur gewidmet. Heiner Carow hat das Profil der DEFA mit Filmen wie „Sie nannten ihn Amigo“ (1958), „Die Russen kommen“ (1968), „Die Legende von Paul und Paula“ (1972), „Ikarus“(1975) entscheidend mit geprägt. Wie in jedem Jahr wurde auch an diesem Abend einer seiner Filme gezeigt. Es war der kaum noch bekannte Kinderfilm „Sheriff Teddy“ aus dem Jahr 1956 nach dem gleichnamigen Buch von Benno Pludra.

Das Buch war damals gerade mit Illustrationen von Hans Baltzer im Kinderbuchverlag Berlin erschienen und hatte sogleich für Furore gesorgt. Benno Pludra und Hans Baltzer gewannen beim Preisausschreiben für Kinder- und Jugendliteratur des Ministeriums für Kultur der DDR dafür gleich mehrere Preise. Etwa zum gleichen Zeitpunkt war der damals 27-jährige Heiner Carow auf der II. Leipziger Woche für Kultur- und Dokumentarfilm für seinen Dokumentarkurzfilm „Martins Tagebuch“ mit der Silbernen Taube, dem Preis des Clubs der Filmschaffenden der DDR, ausgezeichnet worden.

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Szene aus Heiner Carows Kurzfilm „Martins Tagebuch“, den er mit Kameramann Helmut Bergmann drehte. @ DEFA-Stiftung/ Helmut Bergmannn

Sensibel und genau geht er den Problemen eines Jugendlichen nach, dessen Eltern für seine Träume und Wünsche kein Verständnis haben. Dieser Film zeigte sehr deutlich Heiner Carows Neigung zum Spielfilm. „Martins Tagebuch“ öffnete dem jungen Regisseur, der beim DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme arbeitete, endlich die Tür ins DEFA-Studio für Spielfilme. Mit „Sheriff Teddy“ begann für Heiner Carow ein harter Weg, auf dem er sechzehn der bewegendsten DEFA-Filme schuf.

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Kalle hat eine andere Sicht auf die Regierungszeit von Friedrich II als Lehrer Freitag (Günter Simon) © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Meine Erinnerungen an den Film „Sheriff Teddy“ waren schon sehr verblasst. Ich hatte ihn Anfang der 1960er Jahre in der „Flimmerstunde, einer Kindersendung des Deutschen Fernsehfunks, gesehen. Natürlich verknüpfte sich mein Blick auf das Geschehen jetzt mit dem gewachsenen Wissen um die historischen Ereignisse im Berlin der 50er Jahre. Damals kannte ich Berlin nicht, wie gesagt. Inzwischen lebe ich seit 40 Jahren in der Stadt. Ich erkannte die Drehorte um den Rosenthaler Platz herum und die Zionskirche, die Brunnenstraße, den Alex und die Friedrichstraße, die Wollankstraße im Westteil der Stadt, die ich als Kind nie gesehen hatte. So wurde der Film, den ich so spannend fand wie als Kind, für mich auch zur Zeitreise. Wie harmlos liefen doch damals Prügeleien auf dem Schulhof ab. Es ging in einer Auseinandersetzung nicht darum, jemanden „kaltzumachen“. Da gab es noch eine Gewaltschwelle, die nicht überschritten wurde. Wer am Boden lag, wurde nicht noch getreten.

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Zigarettenpause. Heiner Carow und Kameramann Götz Neumann © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Ich habe Heiner Carow im August 1996 kennengelernt. Er war ein großer stattlicher Mann. Voller Ruhe, von einer Freundlichkeit, die eine Unterhaltung leicht macht. Ich durfte ihn in seinem Haus nahe des DEFA-Studios Babelsberg besuchen. Mit offenen Armen lehnte er in der Couch, während er mir aus seinem Leben erzählte, warum er Regisseur geworden war, was ihn antrieb und was ihm diesen Beruf schwer machte. Schon während seiner Schulzeit in Rostock hatte er Stücke geschrieben und inszeniert. Er wollte Regisseur werden. Das war sein erklärtes Ziel. Nach dem Abitur 1949 gründete er ein Jugendtheater. „Wir sind wir über die Dörfer gezogen und haben in Gasthöfen vor den Bauern gespielt“, erzählte er. Bei der ersten Vorstellung in der Aula seiner Schule saß zufällig eine Schauspielerin im Publikum neben seiner Mutter und fragte sie: „Das hat ein Schüler der 12. Klasse gemacht? Der sollte sich mal beim DEFA-Nachwuchsstudio bewerben.“ Davon hatte Heiner Carow geträumt. Er bewarb sich und bestand die Aufnahmeprüfung. „1952 wurde die Schule geschlossen. In meinem Abschlusszeugnis stand, dass ich für den Beruf des Regisseurs ungeeignet sei, allenfalls Dramaturg werden könnte“, verriet er amüsiert.“ Er ließ sich nicht beirren und nahm eine Stelle als Regie-Hilfe im Studio für Populärwissenschaftliche Filme an. „Ich wurde nur einmal als Assistent eingesetzt, dann habe ich eigene Filme gemacht.“

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Regisseur Slatan Dudow 1963 bei Dreharbeiten für „Christine“ @ DEFA-Stiftung/ Herbert Kroiss/Waltraut Pathenheimer

Entscheidend für seinen Entschluss ist eine Begegnung mit dem bulgarischen Filmregisseur Slatan Dudow gewesen, der einige der wichtigsten Nachkriegsfilme der DEFA gedreht hat, wie „Familie Benthin“, Frauenschicksale“, Stärker als die Nacht“ und „Christine“. Carow erinnerte sich: „Ich erlebte Dudow 1950 bei der Premiere seines Films ,Unser täglich Brot‘. Die Besessenheit, mit der er davon sprach, die Kunst dafür zu nutzen, dass es keinen Krieg mehr gibt, dass Gerechtigkeit herrscht, hat mich begeistert. Ich war 15, als man uns kurz vor Kriegsende 1945 noch mit der Panzerfaust in Richtung Berlin schickte. In den Dörfern lagen die Frauen in den Fenstern und schrien: ,Nicht die Kinder, nicht die Kinder‘. Das hat sich mir eingebrannt. Kurz vor Schwerin war dann alles vorbei, der Führer war tot und alles löste sich auf. Die Amerikaner griffen uns auf. Ich bin auf eine merkwürdige Art aus dem Lager gekommen. Jemand hatte mir einen Zettel geschrieben, ich sei kein Soldat.“ Dudows Traum wurde auch Carows Traum. „Ich wollte Filme machen, die die Menschen etwas angehen.“

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Benno Pludra 1955 in seinem Arbeitszimmer in seinem Haus in Berlin-Friedrichshagen. © Horst E. Schulze

Ich nenne es einen schicksalhaften Zufall, dass Benno Pludra und Heiner Carow damals in Leipzig aufeinandertrafen. Sie lagen in ihrem künstlerischen Anliegen auf einer Linie. Jeder reflektierte auf seine Weise die soziale Wirklichkeit im Land und beschrieb, wo sie nicht zu den offiziellen Wunschprojektionen passte. Ihr erstes Zusammentreffen hatte Heiner Carow noch lebhaft in Erinnerung: „Es war sehr lustig. Wir saßen uns während der Leipziger Dokfilm-Woche 1956 im Presseclub gegenüber und ich hatte ihm gesagt, dass ich einen Film aus seinem Buch machen möchte. Benno lehnte in seinem Sessel und schwieg. Ich dachte, er schläft. Plötzlich sagt er: ,Wo wohnst’n du?‘ Ich: ,In Babelsberg.‘ Er: ,O Gott!‘ Ich: Wieso O Gott? Er: ,Ich wohne in Friedrichshagen, genau am anderen Ende. Das war nicht optimal, aber wir haben das Drehbuch zusammen gemacht.“

Am 29. November 1957 hatte „Sheriff Teddy“ in Berlin-Lichtenberg im „Haus der Jungen Pioniere“ Premiere. Die Presse reagierte sehr wohlwollend. Der Film sei unverfälscht und menschlich wahr, schrieb der Theater – und Filmkritiker Christoph Funke am 3. Dezember 1957 im „Morgen“. Er nehme die Kinder ernst, verniedliche und belehre nicht und sei nicht gönnerhaft, lobte die DDR-Filmpublizistin Rosemarie Rehan in ihrem Artikel „Jungenschicksal – heute und gestern“ in der Wochenpost“ am 14. Dezember 1957. Heiner Carow erwies sich in der Arbeit mit den jungen Darstellern als atmosphärisch genau und feinfühlig, ist im „film-dienst“ zu lesen. So entstand ein spannender Kinderfilm, in dem sich das geteilte Berlin im Alltagsleben von Dreizehnjährigen spiegelt.

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Kalle hat die Schnauze voll von seiner neuen Schule und dem Vater, der seine Schmöker zerristen hat, und will zu seinem Bruder Robbi (Hartmut Reck) nach Westberlin. Robbi überredet ihn, ihm bei einem Einbruch zu helfen © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Ein halbes Jahr später hat sich der Wind gedreht. Heiner Carow geriet mit Sheriff Teddy“ in ein politisches Kreuzfeuer. Der Film gehörte zu einer ganzen Reihe Berlin-Filme, die die DEFA damals produzierte – und von denen heute noch gesprochen wird: Alarm im Zirkus“, „Berlin, Ecke Schönhauser“ oder „Die Berliner Romanze“, Arbeiten von Regisseur Gerhard Klein und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase. Sie alle standen auf der Filmkonferenz im Juli 1958 im Fokus der Kritik durch die Kulturfunktionäre der SED. Man wollte wohl besonders den jungen Filmemachern klar machen, wo sie lang zu marschieren haben. „Es war meine erste Konfrontation mit der offiziellen Kulturpolitik. Man warf mir eine revisionistische Sicht vor, so, wie ich das Leben im geteilten Berlin darstelle. Damals war ich noch jung und versuchte lange Zeit zu glauben, dass irgendetwas dran sein muss, wenn so viele alte weise Männer das gleiche sagen“, beschrieb mir Heiner Carow seine damalige Situation.

Er unterwarf sich der Selbstzensur und quälte sich damit zehn Jahre, die er nur durchhielt, wie er mit einer tiefen Dankbarkeit in der Stimme sagte, weil seine Frau Evelyn ihn immer bestärkt hat. Evelyn Carow war eine der bedeutendsten Schnittmeisterinnen der DDR und hat die wichtigsten DEFA-Filme, darunter auch die ihres Mannes, montiert. Seinen Film „Die Russen kommen“ hat sie komplett umschneiden müssen, nachdem die erste Fassung kurz vor der Premiere 1968 verboten wurde.

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Gert Krause-Melzer als Günter © DEFA-Stiftung/Jürgen Brauer

Der Film spielt im Frühjahr 1945 in einem Ort an der Ostsee und erzählt vom Schicksal des 15-jährigen Günter, der noch an den Endsieg glaubt. Auf der Jagd nach einem russischen Fremdarbeiter, einem Jungen in seinem Alter, ist er der schnellste und stellt ihn. Der Dorfpolizist erschießt den Jungen. Kurz nachdem sowjetische Soldaten den Ort besetzt haben, verhaften sie Günter wegen Mordes an dem Fremdarbeiter. Er wird in einen Keller gesperrt, verrät aber den wahren Mörder nicht. Doch der Fall wird aufgeklärt. All die Ereignisse stürzen Günter in tiefe Verwirrung und lassen ihn seine Schuld erahnen.

Heiner Carow hat hier eigene Erlebnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit verarbeitet. „Ich wurde als 17-Jähriger wegen illegalen Waffenbesitzes von den Russen ein halbes Jahr in einen Keller eingesperrt und kam damit noch glimpflich davon. Sie hätten mich auch erschießen können.“ Bei der ersten Abnahme im Schneideraum heulten alle. Was für ein liebenswürdiger, wunderschöner Film, hieß es. Ein paar Wochen später kam die Abnahme durch die Hauptabteilung Film des Kulturministeriums und die Aufführung wurde verweigert. Der Film psychologisiere den Faschismus, warf man dem Regisseur vor. „Ich denke, er erinnerte wohl einige Leuten unliebsam daran, dass auch sie sich nicht gefragt haben: Auf welcher Seite stand ich?“, rekapitulierte Carow. Vielleicht hatte auch die Brisanz der Ereignisse im August 1968 eine Rolle gespielt, als Truppen des Warschauer Vertrages zur Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in Prag einmarschiert sind.

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Victor Perewalow als russischer Junge © DEFA-Stiftung/Jürgen Brauer

Der Regisseur änderte den Film komplett. Diese Selbstverstümmelung, wie er es bezeichnete, bereitete ihm schlaflose Nächte. Der Film wurde dennoch vernichtet. „Da begriff ich“, sagte Carow, „dass sie nicht recht haben. Sie haben nicht recht, wenn sie  dich loben, und sie haben nicht recht, wenn sie dich tadeln. Du musst tun, was du für richtig hältst. Slatan Dudow hat irgendwann mal zu mir gesagt: es war ein Fehler, wir haben geschwiegen. Bei uns wurde sehr viel geschwiegen.“ Seine Frau Evelyn hatte jedoch eine Arbeitskopie gesichert und mit nach Hause genommen. So konnte der Film 1987 doch noch ins Kino kommen.

Fast alle Carow-Filme gerieten durch ihre gesellschaftskritische Sicht an den Abgrund zur Versenkung. Voll Bitterkeit sprach er von der Zeit nach seinem Film „Bis daß der Tod euch scheidet“, den er 1978 gedreht hatte. „Mit dieser tragischen Ehegeschichte hatte ich mich zu weit vorgewagt. Der Film wurde zwar nicht verboten, aber ich bekam von der DEFA Jahre keine Aufträge mehr.“ Erst 1986 konnte er mit „So viele Träume“ wieder einen Film fertigstellen. Seine letzten großen DEFA-Arbeiten waren „Coming out“ (1989) und „Die Verfehlung“ (1991). Heiner Carow hatte sich mit 67 Jahren wohl aufgezehrt und verstarb an einem Hirnschlag.

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Benno Pludra und Heiner Carow blieben sich in alle den Jahren verbunden. Als 1965 Pludra Buch „Die Reise nach Sundevit“ erschien, machten sich beide sogleich an das Drehbuch. Am 20. Mai 1966 lief er in den DDR-Kinos an. Für Regie, Kameraführung und Dramaturgie gab es 1967 den Heinrich-Greif-Preis I. Klasse. Erstaunlicherweise, denn der Film hatte es besonders schwer, wie sich Benno Pludra erinnerte.

Der Kinderbuchautor schaffte es in seinen Büchern, geschickt die Forderungen der Kulturverantwortliche zu umschiffen. „Die wollten immer, dass wir positive Bücher über angeblich typische Helden und Kollektive schreiben sollten. Aber das geht doch gar nicht, das kann doch nur eine Farce werden“, mokierte er sich mal auf einem Spaziergang Mitte der 80er Jahre, als ich ihn mit meinem Mann, seinem Neffen, in Nedlitz besucht habe. „Der Gedanke, darf ich oder darf ich nicht, war wahrscheinlich immer Hinterkopf. Daraus entstanden manchmal Ausweichgeschichten“, sagte er, als ich ihn fragte, wie er das gemacht habe, die Zensur zu umgehen. Er sei beim Schreiben immer seiner inneren Stimme gefolgt. Wenn die wieder mal einen Knall hatten, wie er meinte, dann habe er eben etwas nicht so geschrieben, er es eigentlich wollte, um nicht Wasser auf die Mühlen zu geben.

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Tim hat die Abfahrt ins Zeltlager nach Sundevit verpasst, weil er erst noch etwas erledigen musste. Er fährt hinterher und gerät durch Unvorsichtigkeit auf ein Manövergelände © DEFA-Stiftung/Horst Blümel

Es gab natürlich Erfahrungen, die waren schwierig und traurig. „Mit den Filmen, die nach meinen Büchern gedreht wurden, gab es aber immer Ärger. Die Regisseure sind ja alle Füchse“, erklärte er. „Sie erschnuppern das Brisante, worüber man in der Literatur eher drüber weg liest, und bringen es nach vorn. Heiner Carow war ja einer der besten Regisseure der DEFA gewesen und hat ununterbrochen Filme gemacht, die bestimmte Leute auf die Barrikaden getrieben haben.“

Es ging in der Kulturpolitik der DDR seitens der Funktionäre schon sehr kleinkrämerisch, demagogisch zu. Wieviel Unsicherheit im Glauben an die eigene Sache musste sie beherrscht haben, um so zauberhaften, berührenden Filmen wie „Lütt Matten und die weiße Muschel“ und „Insel der Schwäne“, die von Hermann Zschoche verfilmt wurden, vorzuwerfen, sie würden die DDR-Realität verzerren, das Bild von der sozialistischen Gesellschaft beschädigen. Benno Pludra hatte stets im Sinn, dass am Ende Hoffnung für Kinder sein muss. Ihm lag daran, die ihr Denken und Fühlen zu beflügeln. Es war seine große Begabung, so mit der Sprache umgehen zu können, dass man ihr nicht entkommen konnte. Lakonisch, knapp und bedächtig, emotional, eindringlich und unpathetisch verhalten lockte sie ihre Leser hinein in die Welt, von der er erzählte. Lakonisch, knapp und unpathetisch geht auch eine Unterhaltung mit ihm.

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Benno Pludra 2002 auf seinem Grundstück in Nedlitz.  Zum Nachdenken saß er gern hier oder ging mit seinem Hund Olex spazieren © privat

Das Schreiben lag immer schon in ihm drin, erzählte er, und dass er nie Lust gehabt hatte, Bücher für Erwachsene zu machen. Er fühle sich zuständig für die Kinder, weil sich die Eltern – jedenfalls die meisten – für ihre Wünsche und Träume nicht interessieren, ihre Bedrängnisse, Nöte und Sorgen nicht ernst nehmen. Er nahm sie ernst und knüpfte seine phantasievoll-realistischen Alltagsgeschichten, die auch mal Märchen sein konnten, in denen seine jungen Leser Wege aus ihren eigenen Kümmernissen finden konnten. Seine Kritik an den Erwachsenen, an Umständen im real-sozialistischen Alltag, verwob er in schönen Sätzen (seine Worte) mit leisem Humor. Nie guckt einen da ein ideologischer oder politisch-pädagogischer Zeigefinger an. Seine immer spannend geschriebenen Erzählungen stimmen auf unmerkliche Weise ganz von selbst nachdenklich. Das macht sein Schaffen für die Kinder- und Jugendliteratur so bedeutsam.

Benno Pludra hatte von Kind an eine unbändige Sehnsucht nach dem Meer. Das war weit weg von seinem Heimatort Mückenberg in der Niederlausitz, wo er am 1. Oktober 1925 als Sohn eines Metallgussformers zur Welt kam und aufwuchs. Seine Eltern ließen ihn ziehen, als er mit 16 Jahren nach Hamburg ging, um die Seefahrtsschule der Handelsmarine zu besuchen. „Deshalb musste ich nicht Soldat werden und mich womöglich mit Schuld beladen.“ Welches Glück das für ihn war, begriff er erst später.

Im Kriegssommer 1943 begann der nicht gerade groß gewachsene schmale Junge auf dem Segelschulschiff „Padua“ seine Matrosenausbildung. Mit dem Tampen bekam er da die Seetüchtigkeit auf den Hintern gebläut, erinnerte er sich. Sie segelten in der Rigaer Bucht. „Es war uns wie im Frieden. Und wenn du den Krieg nicht spürst, bleibt er dir fern. Wir hatten auch nicht genug Verstand, um zu begreifen, war passiert.“

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Benno Pludra 1958 auf seinem Segelboot „Mobby Dick“ vor der Insel Hiddensee, wohin er jeden Sommer fuhr © privat

1944 heuerte der Jungmatrose Pludra auf dem Erzfrachter Ditmar Koel an. Da rückte der Krieg schon näher. Stets auf der Hut vor Torpedo-Flugzeugen, fuhren sie nur nachts. „Am 7. Dezember 1944 machten wir klar zur Ausfahrt aus der Bucht vor Bergen, als es knallte und das Heck sank“, erzählte er mir im Sommer 2003 in einem Interview für die Zeitschrift SUPERillu. Er wollte sich retten und sprang in Wasser. Der Sog zog ihn unweigerlich nach unten. „Ich dachte: jetzt bist du am Ende. Dann habe ich wieder oben rausgeguckt und jemand hievte mich in ein Rettungsboot.“ Mit dem Bewusstsein überlebt zu haben, kam das Entsetzen. „Das wirst du nicht mehr los“, sagte er.  In diesem Jahr wurden die Haare des 19-Jährigen weiß.

Ende der 80er  Jahre lernte Benno Pludra auf einem Freundschaftstreffen der norwegischen Widerstandsbewegung auf den Shetlandinseln den Mann kennen, der 1944 die „Ditmar Koel“ torpediert hatte. „Er erzählte mir von seinen Schuldgefühlen. Es hat ihn sein Leben lang beschäftigt, dass er junge deutsche Seeleute, die keine Soldaten waren, in den Tod geschickt hat. Ich versuchte, ihm das auszureden. Ich sagte: es war Krieg, wir hatten da nichts zu suchen. Wir trennten uns als Freunde. Das sind so Begegnungen, die ein ganzes Buch auslösen können“, erklärte der damals 78-Jährige. Benno Pludra hat das Buch geschrieben. Das Schicksal des Leichtmatrosen Daniel Bloom, der mit Segelschulschiff „Pandora“ untergeht, ist seine Geschichte. „Aloa-héist Pludras einziger Roman der für Erwachsene.

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In „Aloa-hé“ hat Benno Pludra seine Erlebnisse auf dem Segelschulschiff „Padua“ und seinen Untergang mit der „Ditmar Koel“ verarbeitet

Nach dem Krieg ging Benno Pludra zurück zu seinen Eltern, die inzwischen nach Großenhain in Sachsen umgezogen waren. Es gab keine Schiffe mehr, auf denen er hätte anheuern können. Aber Lehrer brauchte die Stadt. Er bewarb sich und schickte ihn für acht Monate zu einem Neulehrer-Kurs nach Riesa. Das gefiel ihm ganz gut. Der Praxis fühlte er sich der 20-Jährige am Ende nicht gewachsen. Den schnatternden Haufen kleiner Mädchen gab er nach zwei Tage wieder ab. „Die hatten sich immer was zu erzählen, das war mir zu anstrengend. Und mit den zehn- und elfjährigen Jungs, die ich dann bekam, gab es andere Probleme. Es war ja eine harte Zeit, unmittelbar nach dem Krieg.“ Jeden Morgen, wenn er zu seiner Arbeit in die Schule ging, hämmerte der Satz in seinem Kopf: Das hältst du nicht aus. Nicht dein ganzes Leben. Er gab auf, fand aber später, dass ihm die Zeit als Lehrer sehr von Nutzen war.

Mittlerweile 21 Jahre, machte er an der Arbeiter- und Bauernfakultät sein Abitur nach und studierte Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte, erst in Halle, dann Berlin. Nebenher arbeitete er als Reporter für die Märkische Volksstimme. Nach einer Reportage aus dem Oderbruch schrieb er seine erste Erzählung Ein Mädchen, fünf Jungen und ein Traktor“. Im Sommer darauf schickte ihn der Chefredakteur der Schulpost, Gerhard Holtz-Baumert – von ihm stammen die beliebten Geschichten über den Pechvogel Alfons Zitterbacke – ins Pionierlager an den Hölzernen See. „Ich sollte mich da mal umsehen und dann was schreiben“, erzählte Benno Pludra ein halbes Jahrhundert später. Er wohnte mit einer Gruppe Jungs in einem Zelt und das habe ihm gut gefallen. „Da ging es noch lockerer zu als in den Ferienlagern später.“

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Benno Pludra 1953 mit Sohn Thomas © privat

Dann hörte er von dem Aufruf für neue Kinderbücher. „Ich dachte: Da schreibst du was.“ Er hatte inzwischen Frau und Kind, die er versorgen musste. Mit dem einjährigen Thomas, seinem ersten Sohn auf dem Schoß, tippte er die Ferienlagergeschichte „Die Jungen von Zelt 13“ in die Maschine, die 1952 mit dem 1. Preis für Kinder- und Jugenliteratur ausgezeichnet wurde. Benno Pludra: „Zuerst sollte ich keinen Preis kriegen. Die was zu sagen hatten, fanden: so sind unsere Kinder nicht. Aber ich habe sie so gesehen. Anständige Kerle im Grunde, die sich bloß bestimmte Freiheiten genommen haben.“

Im noch jungen Kinderbuchverlag, er war am 1. Juli 1949 gegründet worden, ermunterte man ihn: Komm schreib, schreib! Und er schrieb weiter neben seiner Arbeit als Redakteur bei der Rundfunkzeitung, zu der er gewechselt war. Ab 1952 war er freischaffender Schriftsteller.

Das Meer hat Benno Pludra nie losgelassen. In vielen seiner Geschichten spielt es mit. „Bootsmann auf der Scholle“, „Tambari“, „Lütt Matten und die weiße Muschel“, „Die Reise nach Sundevit“ erzählen von der Sehnsucht nach dem Unergründlichen, der Schönheit und den Gefahren. Jeden Sommer verbrachte der Dichter mit seiner Familie auf Hiddensee, segelte mit seinem Boot „Mobby Dick“ im Bodden. Manchmal durften auch seine beiden Jungen Thomas und Matthias mit.

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In fünf Jahrzehnten Jahren dichtete, erfand und schrieb Benno Pludra ein stattliches Oeuvre von fast 50 feinsinnigen, spannenden und poetischen Erzählungen und Romanen für Kinder und Jugendliche, auch Verse für die ganz Kleinen, mit einer Gesamtauflage von mehr als 5 Millionen Exemplaren. „Kinder brauchen Literatur, die gut und stark macht, in der der Humor nicht fehlt, sie sollen nachdenken, aber auch lachen“, so das Credo eines der erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautoren, dem er auch nach der Wende treugeblieben ist. All seine Bücher waren ihm wichtig. Manche waren wichtiger, andere haben die Zeit nicht überdauert. Vor fünf Jahren, am 27. August 2014, verstarb Benno Pludra nach langer Krankheit.

 

„Sheriff Teddy“ – Der Film

Der 13-jährige Kalle Becker lebt in Westberlin. Als sein Vater seine Arbeit verliert, zieht die Familie in den Osten. Herr Becker ist Heizer. Das System ist ihm gleichgültig, bot ihm aber eine sichere Arbeit, Einkommen und Wohnung. Berlin ist zwar eine geteilte Stadt, aber mit offener Grenze. Man setzt sich in die S-Bahn und fährt vom Alexanderplatz im Osten zum Gesundbrunnen im Westen. Kalle fällt es schwer, sich in dem neuen Umfeld einzugewöhnen. Am Gesundbrunnen hatte er seine Clique, die Teddy-Bande, und er war der Chef, Sheriff Teddy, sein Vorbild aus einem der Schmöker, die er zu Dutzenden verschlingt.

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Kalle verhökert auf dem Schulhof seine alten Schmöker.© DEFA-Stiftung/ Eberhard Daßdorf

Die Schmöker sind im Osten verboten, aber auch hier heißbegehrter Lesestoff bei Kalles neuen Klassenkameraden. Als er die Heftchen auf dem Schulhof verhökert, kommt er in die Bredouille. Er gerät mit Andreas, den er als Kontrahenten ausmacht, aneinander. Die Schlägerei hat Folgen. Kalles Vater, ein jähzorniger Mann, zwingt ihn die Schmöker zu zerreißen. Andreas trägt Kalle die Prügelei nicht nach, doch der will sich rächen und aktiviert die Teddy- Bande.

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Andreas soll in eine Falle gelockt werden © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Sie wollen Andreas in für eine Nacht in einer Ruine festhalten und ihn dann mit herausgeschnittenem Hosenboden wieder freilassen. Was für eine Schmach! Der Plan missglückt. Kalle kann Andreas nicht in die Falle locken. Damit ist er bei der Teddy-Bande unten durch. Die beiden Kontrahenten beginnen sich anzufreunden.

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Kalle findet, dass Andreas gar nicht so übel ist © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Andreas hat ein Fahrrad und schlägt Kalle vor, ihm auch eins zusammenzubauen. Auf der Suche nach den Teilen schwärmt Andreas von einem Tacho, den er für sein Rad gern gehabt hätte.

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Kalle klaut den Tacho aus dem Lehrmittelschrank der Schule. © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Kalle will dem neuen Freund eine Freude machen und ihm den Geschwindigkeitsmesser von seinem Taschengeld kaufen. Weil das nicht reicht, stiehlt er den Tacho aus dem Lehrmittelschrank der Schule. Es wird bemerkt. „Du bist ein Dieb, das hätte ich nicht von dir gedacht“, wendet sich Andreas enttäuscht von ihm ab. Auch die anderen aus der Klasse lassen ihn stehen. In seiner Verzweiflung sucht Kalle Hilfe bei seinem großen Bruder Robi, der im Westen von krummen Geschäften lebt, und lässt sich in dessen kriminelle Machenschaften hineinziehen: Wenn er Robbi und dessen Kumpanen hilft, aus einem Ostberliner Lager Fotoapparate zu stehlen, wird er ihm das Geld für den Tacho zu geben.

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Andreas hat die Polizei gerufen. Bis die kommt, halten die Jungs die Verbrecher fest @ DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

 Kalle ist dabei nicht wohl, aber sagt zu. Im richtigen Moment sind Andreas und die andern und verhindern den Coup. Zum ersten Mal spürt Kalle, der abgemusterte Bandenchef Sheriff Teddy, was echte Freundschaft ist.

„Tambari“ – Eine seltene Freundschaft

Das Filmmuseums Potsdam hat für sein Mai-Programm mit „Tambari“ einen der schönsten DEFA-Kinderfilme ausgegraben.  Er entstand 1977 unter der Regie von Ulrich Weiß nach Benno Pludras gleichnamigem Roman. Der  Schwarzweißfilm erzählt die Geschichte von der kurzen Freundschaft eines Jungen und eines alten Mannes und dessen Kutter „Tambari“.

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Fuhrmann Kaßbaum (Kurt Böwe) trank gern einen über den Durst. Die Kinder finden ihn auf der „Tambari“ ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Inhalt
Eigentlich haben alle gedacht, er wäre schon längst tot. Doch nach 50 Jahren kehrt Luden Dassow in sein Heimatdorf Koselin an der Ostsee zurück.  Um die ganze Welt ist er mit seinem Zeesenboot „Tambari“ gesegelt. Ablehnung schlägt ihm entgegen. Nur der junge Jan Töller, Sohn des Fuhrmanns Heinrich, freundet sich mit dem alten Seebären an, begleitet ihn zum Fischen und lässt sich von ihm von seinen Abenteuern erzählen. Gemeinsam verbringen sie viel Zeit auf der kleinen „Tambari“ , die Luden nach einer Insel im Pazifischen Ozean benannt hat.  In dem strengen Meerwinter stirbt der alte Freund. Kurz vor seinem Tod hatte er seinen geliebten Zweimaster den Fischern vermacht, unter der Bedingung, dass sie das Boot nie verkaufen. Sie haben kein Interesse daran und lassen die „Tambari“ verrotten.  Die Fischer plagen Sorgen, haben sie doch ein schlechtes Fangjahr, ein Sturm zerstörte ihre Reusen. Trotz des Spotts der Großen macht Jan mit einigen Freunden das Boot wieder seeflott. Hilfe bekommen sie von Fuhrmann Kaßbaum. Doch dann steht Ärger ins Haus. Die Fischer wollen nach einer erneuten Fangpleite die „Tambari“ zu Geld machen… 

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Die Fischer mögen den alten Weltumsegler Luden Dassow (Erwin Geschonneck) nicht ©DEFA-Stiftung/ Norbert Kuhröber

Poetisch und doch dokumentarisch genau beschreibt  Regisseur Ulrich Weiß die Gefühlswelt des Jungen und das raue Leben im Fischerdorf.  „Tambari“ ist sein Spielfilmdebüt.  Ihm zur Seite standen der großartige Erwin Geschonneck als Luden Dassow und Kurt Böwe als gutmütiger Fuhrmann Kaßbaum.
Gedreht wurde unter anderem in Kamminke und der dortigen Bar Kellerberg, in der die Anfangs- und Endszenen des Films in der Fischerkneipe entstanden, am Schwielowsee, auf Rügen und in Greifswald. „Tambari“ erlebte am 8. Juli 1977 auf der Freilichtbühne des Zentralen Pionierlagers „Alexander Matrossow“ bei Bad Saarow seine Premiere. Die Instrumentalstücke im Film werden von Uschi Brüning und Annerose Dubé stimmlich untermalt.

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Jan (Frank Reichelt) und sein Vater Heinrich Töller (Hans-Peter Reinicke) sehen die kaputten Reusen ©DEFA-Stiftung /Norbert Kuhröber

Tambari
läuft am 5. Mai, um 19:00 Uhr
Regie: Ulrich Weiß.
Darsteller:  Erwin Geschonneck, Frank Reichelt, Hans-Peter Reinicke, Barbara Dittus
Ort:
Kino des Filmmuseums Potsdam,
Breite Str. 1a (Marstall)
14467 Potsdam
Kartenreservierung
Tel.: 0331-27181-12, 
ticket@filmmuseum-potsdam.de

Der Kinderbuchautor Benno Pludra, der 2014 mit 88 Jahren in Potsdam verstarb, liebte diese Geschichte ganz besonders. Auch er sehnte sich als Kind nach fernen Ländern, er liebte das Meer. Fast alle seine Erzählungen und Romane spielen daher an der Küste, erzählen von Abenteuern auf dem Meer, von der Seefahrt und Fernweh. Kinder werden zu Entdeckern. Seinen Traum von der See wollte er sich als Seemann erfüllen. Mit 17 Jahren ging er zur Handelsmarine, besuchte die Seemannsschule und absolvierte auf dem Segelschulschiff Padua als Schiffsjunge eine Matrosenausbildung. Das war mitten im II. Weltkrieg.

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Benno Pludra im Dezember 2002 in einem Interview mit Bärbel Beuchler: „Die Padua war eine Viermastbark, das größte Segelschiff der Reederei Ferdinand Laeiß in Hamburg. Wir lagen den ganzen Winter vor Stettin, um die Sicherheitsmelder gegen Minen einzubauen. Dann wurden wir im Mai 1943 von einem Dampfer nach Riga geschleppt. Das ist doch Wahnsinn, dachte ich damals. Es tobte ja schon die letzte große Schlacht am Kursker Bogen. Wir hatten Angst, von den Russen beschossen zu werden. Aber es kam nur ab und zu mal ein Flieger. Wir segelten in der Bucht als wäre Frieden.“

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Benno Pludra signiert seine Bücher auf dem Basar der Journalisten auf dem Berliner Alexanderplatz

Nach seiner Matrosenprüfung musterte er im Sommer 1944 von der Padua ab und heuerte auf einem Frachter an, der „Ditmar Koel“. Mit großem Geleitzug von 10 bis 15 Schiffen liefen sie nach Norwegen aus.  Benno Pludra: „Wir lagen in der Buch von Bordo. Ich stand an Deck, sah so auf die Berge und dachte : Was spritzt denn da im Wasser so. Dann sah ich die Flugzeuge über die Berge kommen, die mit ihren Bordkanonen schossen. Die Spritzer waren Einschläge. Wir nahmen das erst gar nicht für voll, schossen  zurück. Dabei starben zwei unserer Leute.“ Am 7. Dezember 1944 wurde die „Ditmar Koel“, beladen mit Erz, bei Longerok von einem Torpedo getroffen, den norwegischen Widerstandskämpfer abgeschossen hatten. Benno Pludra: „Es knallte, als ob jemand mit einem Knüppel auf Blech hat. Im selben Moment war Achtern schon unter Wasser“, erinnerte sich Benno Pludra. „Wir ließen das Rettungsboot zu Wasser, aber Angst und Panik waren so groß, dass die Ersten schon drin saßen, als das Boot an einer Seite noch am Seil hing und das Schiff noch eigene Fahrt hatte. Ich stieg wieder aus, mein Freund Fiete kam nach. Als wir auf dem Heck standen, bäumte sich der Dampfer auf und sank. Ich sackte unter Wasser und hatte kein Empfinden, ob das es warm oder kalt war. In dem Gefühl, du gehst tot, du wirst ersaufen, dachte ich: Jetzt kriegen die anderen das ,Absaufpäckchen‘ mit Schnaps, Zigaretten, Seife, Zahnbürste. Aber ich hatte keine Angst, dass ich sterbe. Und mit einem Mal mal guckte ich oben raus, sah das Rettungsboot und Fiete ein Stück weiter im Wasser. In dem Moment, als ich erleichtert dachte: Nun kann nichts mehr passieren, ging ich wieder unter, kam hoch, ging wieder unter, bis uns die anderen ins Boot zogen.“

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Benno Pludra 1960 auf seinem Segelboot „Mobby Dick“ ©privat

Angst und Entsetzen kamen dem damals 19-Jährigen erst im Nachhinein. Damals begannen seine Haare weiß zu werden.  Viele Jahre später erzählt seine Erlebnisse in dem spannenden Roman „Aloa-hé“.
Seine Liebe zur See ist immer geblieben. Jeden Sommer verbrachte er später, schon Schriftsteller und Vater zweier Söhne, auf der Insel Hiddensee und fuhr mit seinem Boot hinaus auf die Ostsee. „Ohne das Meer wäre ich ein halber Mensch gewesen“, sagte er.

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Katharina Lind: Das wahre Leben der Pechmarie

Zwar lässt uns das milde Wetter gerade nicht an den Winter denken, aber die Zeit ist nicht mehr fern. Also geben wir uns der Fantasie hin. Schneeflocken tanzen vor den Fenstern, die grauen Dächer der Häuser haben eine glitzernde weiße Haube bekommen. Alles um uns herum wirkt wie verzaubert. Kinder bauen Schneemänner, kein Hügel ist ihnen zu flach, um sich nicht auf den Schlitten zu werfen und mit Juchhe herunter zu zu rodeln.
Ein bisschen zu romantisch gedacht? Nun ja,  aber das sind Bilder meiner Kindheit.  Und dazu gehören auch die Märchenstunden bei „Meister Nadelöhr“. Nichts konnte mich davon abhalten.

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Band I der im Kinderbuchverlag Berlin 1957 erschienenen „Kinder- und Hausmärchen“ Foto: privat

„Die Kinder- und Hausmärchen der  Brüder Grimm“  waren meine erste Lektüre, als ich lesen konnte. Stundenlang saß ich im Sessel und ließ mich in die verwunschene Welt entführen, in der Tiere sprechen konnten,  sogar Brote und Äpfel, in der es Nixen und Hexen, Drachen und tapfere Prinzen gab, die eine schöne Prinzessin befreien mussten. Für Kinder ein unerschöpfliches Reservoire,  sich selbst einzubringen, mitzuspielen. Als die Kinematografie erfunden war, gehörten die Märchen mit zu den ersten Stoffen, die verfilmt wurden. Noch vor dem Kultmärchen „Aschenbrödel“, das 1916 von dem dänischen Regisseur Urban Gad erstmals auf die Leinwand gebracht wurde, kam 1908 die Geschichte von „Frau Holle“ als kleiner Stummfilm ins Kino. Produziert von dem Dresdener Filmpionier Heinrich Ernemann. Er betrieb ab 1889 Deutschlands größtes Unternehmen für die Produktion von Foto- und Filmkameras sowie Kinoprojektoren.

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Karin Ugowski war 1963 noch Studentin an der Schauspielschule, als sie die Goldmarie spielte. Foto: DEFA-Stiftung Horst Blümel

Seither hat das Grimmsche Märchen  von Goldmarie und Pechmarie eine Reihe filmischer Adaptionen erfahren. 1947 und 1961 nahm sich der westdeutsche Filmproduzent Hubert Schonger des Märchens an. Bei der ersten Verfilmung achtete er sehr darauf, dass das gesamte Drehteam mit viel Gefühl und größtmöglicher Nähe zu kindlichen Erfahrungen zu Werke ging. Seine zweite „Frau Holle“-Verfilmung (1961) legte er in die Hände von Regisseur Peter Podehl, der sein Handwerk bei der DEFA gelernt hatte. Podehl hat am Drehbuch für den „Kleinen Muck“ mitgearbeitet und war der Stiefvater von Darsteller Thomas Schmidt. Die Kritik befand den Film als zu niedlich und ziemlich altmodisch.

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Die vier Bände der „Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“ des Berliner Kinderbuchverlages waren mit wunderschönen Illustrationen versehen. Foto: privat 

Eine der bis heute besten Märchenverfilmungen gelang dem DEFA-Regisseur Gottfried Kolwitz 1963. Es war zugleich ein Experiment.„Wir drehten nicht realer Kulisse, der gesamte Film entstand im Studio in Babelsberg und ist aufgebaut wie ein Bilderbuch“ erzählte mir Karin Ugowski, die als Goldmarie damals ihr Filmdebüt gab. Mit den Liedern und seine farbenfrohen Dekorationen wirkt er wie ein klingendes Bilderbuch. Es war die neue Art, Märchenfilme auf die Bedürfnisse kleiner Kinder zuzuschneiden, ihnen beim Zuschauen auf einfache Weise die Erkenntnis zu vermitteln, was ist gut und was ist böse, was darf man und was soll man nicht tun. Man mag über die unverhohlene moralische Absicht denken, was man will. Verkehrt ist es jedenfalls nicht, den Kindern eine Richtlinie anzubieten, die ihnen hilft, sich zu orientieren. Und das ist heute nötiger denn je.

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DVD des DEFA-Märchens „Frau Holle“ mit Karin Ugowski als Goldmarie. Erhältlich im Online-Shop bei Icestorm

Für einen Beitrag zur DVD habe ich 2008 mit der Schauspielerin Katharina Lind ein Interview geführt.  Sie lebt im Prenzlauer Berg in Berlin und mochte keinen Fotografen bei unserem Gespräch dabei haben. Daher fehlen aktuelle Fotos von ihr. Am 4. Dezember wird Katharina Lind 80 Jahre. In unserem Gespräch erzählte sie auch von sich.

Interview mit Katharina Lind

Frau Lind, warum haben Sie sich mit mir in der Alten Nationalgalerie verabredet?
Die Arbeit an diesem Film liegt so viele Jahre zurück. Ich brauche eine inspirierende Atmosphäre, um die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Museen sind so ein Ort, wo sich die Zeiten treffen.

Waren Sie eigentlich begeistert, als man Ihnen die Rolle der hässlichen und faulen Pechmarie anbot?
Das nicht, aber es war ein Angebot, dass man nicht ausschlägt. Auch andere große Schauspieler haben Märchenfilme gedreht. Dafür muss man sich nicht schämen. Die DEFA hat viel Sorgfalt auf ihre Kinderfilme verwendet.

Der Film wirkt wie ein Bilderbuch, in dem mit jeder Szene eine neue Seite aufgeschlagen wird. Wie empfinden Sie das heute?
Wir haben alles im Studio in stilisierten Kulissen gedreht. Das war eine völlig neue Art der Inszenierung durch die Filmschöpfer. Die einfachen Bauten und Dekorationen vermitteln eine Märchenstimmung. Sicher der Grund für die große Beliebtheit des Films bis heute.

Die Rolle der Pechmarie hat Sie damals ganz schnell populär gemacht. Erinnern sich die Leute heute noch an Sie?
Das Märchen ist ja in der Winterzeit sehr präsent, „Frau Holle“ in aller Munde. Und ich bekomme tatsächlich noch Autogrammpost. Erwachsene schreiben, dass ich für sie in der Kinderzeit ein Vorbild war. Letztens erhielt ich einen wunderschönen Brief von einer Familie aus Suhl. In dem erzählt die Mutter, dass ihr fünfjähriger Sohn so werden will wie ich. Das berührt mich.

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Die Mutter (Elfriede Florin) zwingt ihre faule Tochter, in den Brunnen zu springen. Foto: DEFA-Stiftung Horst Blümel

Was fasziniert die Kinder an der Pechmarie?
Sie mögen sie, weil sie sich gewehrt hat. Es ist ja die Negativfigur in dem Film, und viele Kinder identifizieren sich mit ihren unlöblichen Charaktereigenschaften. Kinder, die nicht perfekt sind, denen es schwerfällt, gehorsam zu sein, sich einzuordnen, Aufgaben zu erfüllen. Kinder haben ja die Tendenz, gern das Gegenteil von dem zu machen, was man von ihnen erwartet. Ein Urtrieb.

Und wie sehen Sie die Pechmarie?
Sie war menschlicher als die Goldmarie. Der Mensch lässt sich nicht gern reglementieren.

Was waren Sie für ein Kind?
Ich war ein sehr eigensinnig. Bin mit viel Schimpfe groß geworden, weil ich nichts so machen wollte, wie es mir vorgeschrieben wurde.

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Marie erklärt Frau Holle (Mathilde Danegger), dass sie nicht aufstehen will. Foto: DEFA-Stiftung Horst Blümel

Kannten Sie als Kind das Märchen
Ich bin nicht mit Büchern aufgewachsen. Es war Kriegszeit. Wir lebten in Neuwedell, in Pommern. Meine Eltern hatten einen großen Bauernhof. Mein Vater war im Krieg und meine Mutter musste alles allein bewirtschaften. Ein hartes Leben. Da war keine Zeit zum Lesen. Dann kam die Flucht 1945. Fast ein halbes Jahr waren wir mit Pferd und Wagen unterwegs. Ich habe böse Erinnerungen. Steckengeblieben sind wir dann auf einem Rittergut in Hohen Luckow. 1948 zogen wir in das Dorf Kurzen-Techow. Über diesen Ortswechsel war ich tief unglücklich. Es war ein Dorf, wo sich Hase und Fuchs gute Nacht sagten. Und ich war ein wissbegieriges Kind.

Was war ihr erstes Buch?
Mein erstes Buch bekam ich mit zehn, zu Weihnachten 1946. Fabeln von Iwan Krylow. Keine Ahnung, woher meine Eltern das Buch hatten.

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Statt Gold wurde die Faule mit Pech übergossen. Das war schwarzer Schaum. Foto: DEFA-Stiftung Horst Blümel

Haben Sie Kinder?
Nein.

Haben Sie sich als Kind mal vorgestellt, auf der Bühne zu stehen?
Das nicht. Aber ich habe mich als etwas Besonderes gefühlt. Ich hatte immer eine eigene Meinung, eine andere Vorstellung vom Leben als meine Eltern. Meine Mutter sagte immer: Die ist nicht von uns. Die ist aus der Art geschlagen.

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Katharina Lind 1960 am Theater Meiningen in „Jeanne -oder Die Lerche. Foto: Eva Rauchstein

Inwiefern?
Die neugegründete FDJ verteilte damals Heftchen mit philosophischen Schriften. Die haben mich ungeheuer interessiert. Dann gab es die ersten Reclam-Hefte. Ich weiß noch, dass ich zuerst „Faust“ gelesen habe. Das Heft habe ich heute noch. Den „Hamlet“ las ich in der Kartoffelfurche gelesen, ich musste mich ja verstecken. Jemand der am Tage liest – das war sündhaft.

Führte Sie das zur Schauspielerei?
Nicht direkt. „Hamlet“ war Philosophie umgesetzt in Poesie. Innerlich war ich auf der Suche nach so etwas. Aber auf dem Dorf wurde mein Wissensdrang nicht befriedigt. Ich bewarb mich heimlich an der Arbeiter- und Bauernfakultät in Rostock und lief mit 16 von zu Hause weg. Dieser harte Schnitt musste sein. Meine Eltern hatten kein Einsehen. Sie arbeiteten schwer und konnten keine Rücksicht auf meine Befindlichkeiten nehmen. Ich habe damals nicht daran gedacht, was ich alles zurücklasse. Aber was macht man als junger Mensch nicht alles, wenn man wissbegierig auf alles ist, was es in der Welt gibt.

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Szenenfoto aus dem DEFA-Film „Die goldene Gans“ Katharina Lind als Lies, Kaspar Eichel als Klaus und Renate Usko als Gert (v.l.) Foto: DEFA-Stiftung Roland Dressel

Was wollten Sie an der ABF studieren?
Geologie. Ich bin am 4. Dezember geboren, das ist der Namenstag der Heiligen Barbara. Sie steht für Bergwerk und Mineralogie. Und Steine hatten auf mich eine große Anziehungskraft. Ich habe Fossilien gesammelt, alles, was ich auf dem Feld gefunden habe.

Und was führte Sie 1955 an die Filmhochschule Babelsberg?
Der Zufall wollte, dass ich einen alten Zeitungsartikel fand, in dem stand, dass 1954 in Babelsberg eine Filmhochschule eröffnet worden ist. 1955 wurde das erste Schauspielfach aufgemacht, für das sie Studenten suchten. Ich fuhr nach Berlin. Total übernächtig habe ich aus „Faust“ und dem „Erlkönig“ vorgesprochen. Ich war wie im Rausch und hatte großen Eindruck hinterlassen. Dann wurde noch mal gesiebt, und ich war unter den zehn ausgewählten. Die Filmhochschule war wie ein Garten Eden. Wir gingen wie auf Wolken, hatten wirklich Flügel.

Und wie ging’s weiter?
Martin Hellberg, der bei uns lehrte, gab mir 1956 meine erste Filmrolle. Ich spielte eine Dirne in seinem Spanien-Film „Wo du hingehst“. Der Film taucht in offiziellen Filmografien von mir nie auf, weil ich da noch unter meinem Mädchennamen spielte. Roselind Vorlag. Den Namen änderte Helene Weigel, als sie mich nach meinem Studium am Berliner Ensemble engagierte. Sie fand, er passe nicht zu einer Schauspielerin. Seit 1958 lebe ich als Katharina Lind, meiner zweiten Identität.

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Die Schauspielerin 1976 Foto: DEFA-Stiftung Horst Blümel

Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden, wie es verlief, oder hätten sich etwas anderes gewünscht?
Ich hätte mir nichts anderes gewünscht. Der Beruf war das Bestmögliche für mich. Ich habe unter Benno Besson am Deutschen Theater gespielt, 150 Vorstellungen im„Drachen“. Dann kam der Film „Die goldene Gans“, ich sang 1968 in Eisenach in Brechts „Dreigroschenoper“ die Polly, war in Meiningen, Greifswald und Brandenburg am Theater. In spielte eine Hauptrolle in der tschechischen Fernsehserie „In einer Stunde bist du wieder da“, habe viel synchronisiert. Es war ausgefüllt mein Leben bis zur Wende. Danach kam nichts mehr.  Jetzt liebe ich es, in Museen zu gehen, zu lesen.

Sind Sie als Schauspielerin wieder in ihr Dorf zurückgekehrt?
Meine Eltern lebten ja dort, und ich habe mich auch um sie gekümmert. Nach „Frau Holle“ war ich da eine Berühmtheit. Der Schmied machte nebenbei Kunstschmiedearbeiten und schenkte mir einen kunstvollen Rosenzweig, in dem eine Amsel sitzt. Seit dem Tod meiner Eltern gibt es keine Kontakte mehr zu den Leuten im Dorf.

Würden Sie eigentlich die Pechmarie heute noch mal spielen wollen?
Wenn das ginge, würde ich die Figur sehr gern noch mal spielen. Aber ganz anders. Noch trotziger und widersprüchlicher. So, wie die Kinder heute sind.

Marianne Schilling – eine böse Königin mit viel Herz

So weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so schwarz wie Ebenholz sollte das Kind sein, das sich die junge Königin wünschte. Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das sie Schneewittchen nannte… Sie starb und die neue Frau des Königs trachtete dem Mädchen, als es immer schöner wurde, nach dem Leben. Vor 55 Jahren, verfilmte die DEFA das beliebte Märchen „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.
Am 6. Oktober 1961 hatte der Film mit der damals 19-jährigen Fernsehansagerin Doris Weikow als Schneewittchen und der Schauspielerin Marianne Christina Schilling als deren böse Stiefmutter Kino-Premiere. Er gehört zu den schönsten in der langen Tradition des DDR-Kinderfilms. Trotz des Erfolgs wechselte Doris Weikow nicht in die Schauspielerei. Die heute 75-Jährige blieb ihrem Beruf treu, in dem sie bis zum Ende des DFF 1991 vor der Kamera stand. Sie lebt am Rand von Berlin. Ganz anders Marianne Christina Schilling, die nie etwas anders sein wollte als Schauspielerin.

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Marianne Christina Schilling 2008. Foto: André Kowalski

Das Märchen selbst hat seine Wurzeln in Erzählungen, mit denen sich die Menschen in Vorzeiten die Abende verkürzten. Es gibt viele Versionen der Geschichte von „Schneewittchen“, die sich die Gebrüder Grimm zusammengesucht haben und daraus schließlich das uns heute bekannte Märchen strickten. Sie wollten, dass das Mädchen mutterseelenallein durch den großen Wald läuft. Die Region um Waldeck kannten die Autoren, sie liegt in der Nähe ihrer Heimatstadt Kassel. Überliefert ist, dass ihnen aus jenem Landstrich viele Geschichten zugetragen wurden. Spannendes Erzählgut, das in ihre Märchen einfloss. Das Schicksal der jungen Prinzessin Margarethe von Waldeck, die Mitte des 16. Jahrhunderts lebte und vergiftet worden war, soll den Gebrüdern Grimm als Vorlage für „Schneewittchen“ gedient haben. In der Erstausgabe ihrer Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 ist die Königin die leibliche Mutter. Schneewittchen erwacht, als ihr ein Diener des Prinzen einen Schlag in den Rücken versetzt, aus Ärger, dass er das tote Mädchen den ganzen Tag herumtragen muss. In zwei nicht veröffentlichten Versionen lässt die Königin das Kind auf einer Kutschfahrt im Wald aussteigen, damit es für sie Rosen pflückt oder ihren Handschuh aufhebt, und fährt weg. In einer der Versionen ist es übrigens der Vater, der sich ein Mägdlein weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz wünscht.

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Die Stiefmutter (Marianne Christina Schilling) mit ihrer Zofe (Steffi Spira). Foto: DEFA-Stiftung Karin Blasig

Fast alle Völker Europas haben in ihrer Märchenwelt ein Schneewittchen. Besonders verbreitet war es in Italien. Dort fallen die Blutstropfen etwa auf Marmor oder Käse. In Russland verfasste Alexander Puschkin in den 1820er Jahren ein Märchen in Versform unter dem Titel „Das Märchen von der toten Prinzessin und den sieben Recken“. Andere Märchen mit Schneewittchen-Motiven sind das griechische Märchen „Myrsina“, das italienische Märchen „Bella Venezia“, das schottische Märchen „Gold-Baum und Silber-Baum“, das armenische Märchen „Nourie Hadig“ oder auch das bekannte russische Märchen „Das Zauberspiegelchen“.

Nicht weniger zahlreich sind die Verfilmungen und filmischen Adaptionen des Märchens bis hin zur Parodie. 1916 kam „Schneewittchen“  in den USA als Stummfilm in die Kinos, 1937 produzierten die Walt Disney  Studios den bezaubernden Zeichentrickfilm „Snow White and the Seven Dwarfs“, dessen deutsche Version 1950 in Köln Premiere hatte. 1939 produzierte der Regisseur Carl Heinz Wolff den ersten deutschen Spielfilm von „Schneewittchen und den sieben Zwergen“. Die heiter-beschwingte DEFA-Adaption mit eingängigen Liedern ist neben dem Zeichentrickfilm der Disney Studios die bekannteste Verfilmung des Märchens in Deutschland und zweifelsohne eine der besten. 7.597.495 Kinobesucher sahen den Film in der DDR.

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Zu Besuch bei Marianne Christina Schilling in Bremen

Ich hatte 2008 die Gelegenheit zu einem Besuch bei der bösen Königin, der Schauspielerin Marianne Christina Schilling. Ihr Haus in Bremen ist kein Schloss, doch sehr hübsch und auch ein bisschen märchenhaft.  Ich lernte eine warmherzige, liebenswerte und bezaubernde Frau kennen, die ganz gar nichts gemein hatte mit der bösen Stiefmutter. Es waren wunderbare Stunden, in denen wir uns über Märchen, Liebe und Schönheit unterhielten. Die Begegnung Marianne Christina Schilling gehört zu den Höhepunkten in meinem beruflichen Leben. 2012 ist die Schauspielerin im Alter von 84 Jahren gestorben. Wie sie in unserem Gespräch sagte, hatte sie das schönste Leben, das sich jemand wünschen kann. Auch, wenn sie wegen ihrer Polyarthrose kaum noch laufen konnte und kaum aus dem Haus ging.  Sie hatte einen wunderbaren Mann an der Seite, den Schauspieler Harald Halgardt. Mit ihm hat sie bis zu ihrem Tod 66 Jahre zusammengelebt. Er umsorgte sie, seine große und einzige Liebe.

Das sehr persönliche Gespräch, das ich mit Marianne Christina Schilling damals für einen SUPERillu-Artikel geführt habe, hier zum Nachlesen.

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Der Prinz (Wolf-Dieter Panse) ist verzückt von Schneewittchen (Doris Weikow). Foto: DEFA-Stiftung Karin Blasig

Was mögen Sie an dem Märchen?
Es ist ein schönes Märchen, das durch einen Kuss gut und gnädig ausgeht. Wo doch eigentlich soviel Böses geschehen sollte. – Ist das nicht wunderbar, wenn man durch den Kuss des Geliebten wieder lebendig wird?

Sie waren ja für das Böse zuständig.
Ja, obwohl mir Positives mehr gefällt. Aber es machte mir als Schauspielerin Freude, das zu spielen. Auch wenn ich privat gar nichts von Neid und Eifersucht auf Schönheit halte. Schauspieler lieben es nun mal, wenn sie ordentlich grimmig und böse sein dürfen.

Wie kamen Sie zu der Besetzung?
Das habe ich merkwürdiger Weise erst jetzt durch einen Fan erfahren, Bernd Awiszus. Er hat in den Potsdamer Archiven recherchiert und herausgefunden, dass es DEFA-Direktor Wilkening war, der sagte: Gebt mir auf diese junge Frau Acht, das ist ein großes Filmtalent. Ursprünglich war die Rolle mit einer anderen Schauspielerin besetzt. Das passte nicht.

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Die Schauspielerin mit Filmbildern

Die Rolle der bösen Königin hat Sie bekannt gemacht. Was hatten Sie sich danach erhofft?
Ach, ich habe mich erst einmal nur gefreut, einen Film drehen zu dürfen. Es war ja 1961 alles ein bisschen anders. Ich war noch ein junges Weib, ein hübsches attraktives. Als mein erster Film dann gleich so ein Riesenerfolg wurde, dachte ich: Jetzt geht es los. Aber gar nichts ging los. (Sie lacht.) Erst sechs Jahre später bekam ich wieder eine wunderbare Filmrolle – als Kellnerin Stephanie in „Das Tal der sieben Monde“, eine Liebesgeschichte zwischen einem Deutschen und einer Polin im antifaschistischen Widerstandskampf.

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Die Bremer Schauspielerin Marianne Schilling in ihrem Reich

Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Schneewittchen denken?
Es war ein ganz harmonisches Arbeiten mit Regisseur Dr. Gottfried Kolditz. Ich konnte meiner Phantasie freien Lauf lassen, und er gab mir das Gefühl, alles richtig zu machen.  Wir drehten in einer zauberhaften Dekoration. Man hatte in den DEFA-Ateliers einen Wald mit echten Bäumen aufgebaut, in dem ein Bächlein sprudelte. Sogar Eichhörnchen und Kröte waren lebendige Tiere. Was seine Tücken hatte. Das Eichhörnchen ging gern seine eigenen Wege und büxte aus. Einmal suchte es der ganze Stab  stundenlang. Es hatte sich in einem Rohr versteckt, das an einen Baum gebunden war. Die Kröte saß nie auf dem Stein, wenn sie gefilmt werden sollte. Tom Schilling inszenierte mit uns Schauspielern die Tänze –  es hatte alles Niveau.

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Erschrocken weicht die König vor dem Apfel zurück. Foto: DEFA-Stiftung Karin Blasig

Haben Märchen in Ihrer Kindheit eine Rolle gespielt?
Ja sehr. Ich habe mein ganzes Leben immer so für mich gesponnen, mir meine eigenen Märchen ausgedacht. Meistens war ich eine Prinzessin, die befreit werde musste, und tüdelte mich an. Ich kann mir meine Jugend nicht anders vorstellen, als dass ich mir einen Gürtel um den Bauch gebunden, die Röcke gerafft und ein Märchen gespielt habe. Immer bin ich herumgetanzt. Natürlich habe ich auch viele Märchen gelesen. Musäus‘ Volksmärchen habe ich sehr geliebt. „Richilde“ ist eine Erzählung von ihm, die sehr an Schneewittchen erinnert, aber schon 30 Jahre früher erschienen ist. Ich liebte „Die sieben Schwäne“ von Ludwig Bechstein. Christian Anders hat mich interessiert. Mit den Grimm’schen Märchen hatte ich so meine Schwierigkeiten, weil ich sie so grob und auch teilweise grausam fand.

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Marianne Schilling liebte es, sich zu verkleiden. Foto: DEFA-Stiftung Karin Blasig

Was bedeutet Ihnen Schönheit?
Gutes Aussehen fand ich immer wichtig. Wenn man älter wird, verliert man vieles, was einen in der Jugend schmückt. Und ich denke, man sollte als Schauspielerin darauf achten, angenehm zu erscheinen. Wenn man in einer Rolle ist, verändert sich das Gesicht ja sowieso. Da darf es auch hässlich werden. Um so schöner ist die Rückverwandlung. Wie in meiner Rolle, in der ich aus mir ein altes hässliches Marktweib mache, um dann wieder in die wunderbaren Gewänder der Königin zu schlüpfen. Das hat mir viel Spaß gemacht.

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Marianne Schilling und Harald Halgardt lernten sich 1946 an der Jugendbühne in Bremen kennen und lieben. Sie blieben zusammen bis zum Tod der Schauspielerin 2012 Foto: André Kowalski

Sie halten sich immer noch daran?
 Ja, für mich und für meine Umgebung, meinen Mann. Er schafft es, unser Leben so zu erhalten, dass ich nichts vermisse. Da will ich nicht die verzuppelte Alte geben. Man darf sich auch als alte Frau nicht aufgeben. Auch wenn man sich die Krätze darüber ärgert, dass man so dick geworden ist. Die Neigung, füllig zu werden, hatte ich immer. Nur haben wir jungen Dinger uns damals alles runter gehungert, um schön schlank zu sein. Damit habe ich meinen Körper kaputt gemacht. Die Knochen bekamen zu wenig Aufbaustoffe, ich hatte Krebs. Und immer tapfer der Mann. Wenn Harald nicht gewesen wäre, dann wäre ich vielleicht nicht mehr so fröhlichen Gemütes, wie ich es immer noch bin. Er hat mich über alle Klippen hinweg gebracht, schmeißt den Laden.

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Liebevoll kümmerte sich Harald Halgardt um seine Frau. Sie liebte Bremer Kaffee aus frisch gemahlenen Bohnen 

Sie sind durch Ihre Krankheit hier oben in Ihrem Reich gefangen…
Das empfinde ich nicht so.  Ich habe gar nicht das Bedürfnis, mich aus meiner kleinen Welt hier oben wegzubewegen. Man fängt an, sich zu begnügen mit den Büchern, die man hat, der Musik und der Kunst. Und ich habe ja meinen wunderbaren Mann, der schon das ganze Leben für mich sorgt. Jetzt erst recht, wo ich kaum noch laufen kann. Und er hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Das lässt unser Leben nicht langweilig werden.

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1957 in Leipzig als Geliebte Wallensteins (gespielt von Harald Halgardt) Foto: privat

Wo lernten Sie sich kennen?
Ich lernte Harald 1944 an der Jugendbühne hier in Bremen kennen. Ich war die künstlerische Leiterin  – ohne Ahnung. Harald sprach den „Prometheus“ vor. Ich werde nie vergessen: Er musste fünfmal „Bedecke deinen Himmel Zeus“ wiederholen, und da bekam ich einen solchen Lachanfall! Da hat es gefunkt. Das Theater ging pleite, wir blieben zusammen. Als Harald 1949 ein Engagement am „Theater der Jungen Welt“ in Leipzig bekam, ging ich mit. Wir waren Leipzigs erstes Liebespaar auf der Bühne, in „Wallenstein“.

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Harald Halgardt und Marianne Schilling waren das erste Liebespaar auf der Bühne des Leipziger Schauspielhauses. Foto: privat

Wie lange blieben Sie in der DDR?
Das war 35 Jahre unser Zuhause. 10 Jahre gaben wir in Leipzig alle großen Bühnenpaare, dann gingen wir nach Berlin, drehten bei der DEFA. Wir bekamen eine schöne Rolle nach der anderen. Am Berliner Ensemble habe ich 348-mal die Kopetzka im „Schwejk“ gesungen und gespielt. Ich war die letzte Untat der Weigel. Sie hat mich ohne Vorsprechen engagiert. Und das am BE! Als sie gestorben war, wurde ich raus gemobbt. 1984 sind wir zurück nach Bremen. Wir passten ideologisch nicht in den DDR-Topf, denn wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir die Welt kennen lernen wollten, Kunst und Kultur in den westlichen Ländern.

Sind Sie von Haus aus mit der Schauspielerei verbunden?
Wie man’s nimmt. Ich komme aus einer ganz verrückten Familie von Kunstmalern, Händlern, Schauspielern, Musikern und Gauklern. Ich bin Halbpolin. Meine Großmutter ist Baralin wie Papst Johannes Paul II. Meine Schwester hat nach Wadowice geheiratet, woher der Papst stammt, und ist eine geehelichte Wojtyla. Karol Wojtyla war ja mal Schauspieler. Meine Mutter hatte große Ähnlichkeit mit ihm, aber inwieweit wir mit ihm wirklich verwandt waren, weiß ich nicht.

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Wie blicken Sie auf Ihr Leben?
Man darf zufrieden sein. Was ich früher mit mir nie war. Ich habe mir jahrelang meine Fernsehrollen nicht angeguckt, weil ich mich nicht leiden konnte. Es ist sowieso rätselhaft, wie es im Leben so gekommen ist. Wir wollen es behutsam betrachten. Träume, die man hatte, sind zum Teil erfüllt worden, zum Teil nicht. Wie bei jedem Menschen.