Günter Meyer: Die Abenteuer seines Lebens

Wer ist Günter Meyer? Ein Mann mit einem Allerweltsnamen. Setzt man jedoch das Wort Regisseur davor, spuckt Google eine interessante Biografie aus und eine lange Filmliste. Zugegeben, ich hatte ihn – wie wohl viele Leser dieses Beitrags – nicht auf dem Schirm, seine TV-Serien „Spuk unterm Riesenrad“, „Spuk im Hochhaus“ und „Spuk von draußen“ allerdings schon. Die haben mich genauso gefesselt wie Millionen andere in den 70-er und 80-er Jahren. Inzwischen sind sie zum Kult avanciert. Und das brachte mich auch in persönlichen Kontakt mit Günter Meyer, dem Regisseur. Das erste Mal 2013, als ich für die Leser der SUPERillu herausfinden wollte, wie der Spuk unters Riesenrad kam.

Mit meiner Bitte stieß ich bei ihm auf offene Ohren und einen unendlichen Fundus an abenteuerlichen Begebenheiten, die er von den Dreharbeiten zu erzählen wusste. Da war zum Beispiel die Geschichte mit dem Fisch, den der Riese im Mund hat, als er aus der Spree auftaucht. Für Schauspieler Stefan Lisewski eine Tortur. Meyer erzählt die Episode in seinem warmen Timbre in der Stimme und erzgebirgischem Akzent. Auch nach 50 Jahren Aufenthalt in Berlin hat sich der nicht verwischt.

Spuk unterm Riesenrad
Das Riesenrad im Berliner Plänterwald war der Ausgangspunkt für die TV-Serie „Spuk unterm Riesenrad“. Dort traf ich mich mit Regisseur Günter Meyer und den Darsteller Katrin Raukopf (Keks), Stefan Lisewski (Riese) und Henning Lehmbäcker (Tammi). Foto: Boris Trenkel

Und so war das: „Der Requisiteur, ein netter Kerl, hatte den präparierten Fisch in der Werkstatt im Filmstudio Babelsberg versehentlich liegen gelassen. Nur die Gräte – aus Zucker – befand sich bei den Requisiten, die wir an dem Tag brauchten. Er bastelte einen Ersatzfisch aus Pappe. Ich sagte, das geht so nicht, das sieht man. Er besorgte einen echten Fisch. Wir schnitten den Kopf ab und Stefan steckte ihn in den Mund. Er kaute darauf herum, dann kam ein Schnitt, und er hatte nun die süße Gräte im Mund.“ Was sich dann zutrug, kann sich jeder vorstellen. Kaum hatte Günter Meyer die Einstellung mit dem üblichen Ruf „Gestorben“ beendet, kotzte Lisewski wie ein Reiher.

Von seinem Vergnügen, Filme zu drehen – Kinderfilme zu drehen– und mancher Hürde dabei, hat der 75-Jährige ein Buch geschrieben, „Die Geister, die ich rief…“ (DEFA-Stiftung, 2011). Günter Meyer gehörte wie Rolf Losansky („Moritz in der Litfaßsäule“, „Ein Schneemann für Afrika“), Walter Beck („König Drosselbart“, „Käuzchenkuhle“), Siegfried Hartmann („Das Feuerzeug“, „Hatifa“) und Hans Kratzert („Hans Röckle und der Teufel“, „Ottokar der Weltverbesserer“) zu den wichtigen DDR-Regisseuren, die sich dem Kinderfilm verschrieben hatten. Wenn man sich mit ihm unterhält, er über die Dreharbeiten an diesem oder jenem Film spricht, wird eins ganz deutlich: Er nahm es sehr genau. Schon als junger Regisseur teilte er die Haltung „Das versendet sich“ manch „alter“ Hasen nicht.

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Verschmitzt guckt er in die Kamera von Fotograf Nikola Kuzmanic

„Meine Regieziele waren nicht Bildschirm oder Leinwand, sondern der Film und sein Publikum. In meinen Augen lohnt es sich, einen Kinder- oder Jugendfilm so zu machen, dass man ihn auch in zwanzig Jahren noch mit Vergnügen ansehen kann.“ Und das ist ihm gelungen. Ob es die „Spuk“-Filme sind, das Abenteuer „Kai aus der Kiste“ nach Wolf Durians gleichnamigem Buch oder die beiden spannenden Märchenkrimis „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ und „Der Dolch des Batu Khan“.

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Regisseur Günter Meyer gratuliert Friedrich Linder, der während der Dreharbeiten zu „Spuk am Tor der Zeit“ 13 Jahre geworden ist. Foto privat

Seine Filmlaufbahn begann der Absolvent der Filmhochschule Babelsberg 1965 als Regie-Assistent im DEFA-Spielfilmstudio. Weil sich eigene Projekte immer wieder zerschlugen, nahm er 1969 das Angebot des DEFA-Dokumentarfilmstudios an, als Regisseur Dokumentarfilme für Kinder zu machen. „Wenn ich die Themen meiner ersten dokumentarischen Filme wie auch der Spielfilme für Kinder Revue passieren lasse, merke ich heute noch deutlich, dass es einer meiner ersten Berufswünsche war, Lehrer zu werden. Fast alle Filme sind mit einem dezent erhobenen pädagogischen Zeigefinger gedreht, der in ein buntes, fantastisch-märchenhaftes Kostüm gehüllt ist.“

Eine verantwortungsbewusste Kunst für Kinder, eine Kunst für Menschen also, die in eine Welt hineinwachsen, die sie verstehen und zu bewältigen lernen müssen – und wollen –, kann sich ihrer erzieherischen Funktion nicht entziehen. Walter Beck, der sich mit der Kinderfilmkunst sehr beschäftigt, formuliert in seinem autobiografischen Kaleidoskop „Mär und mehr“: „Unsere Zuschauer sollen … ihre ureigene mitschöpferische Rolle erkennen in unseren Filmen… Erstrebenswerte Wirkung unserer Kunst ist jene, dass Kinder durch unsere Filme den Begriff der fließenden, alles verändernden Zeit zu fassen kriegen, und sei es nur an einem Zipfel. Wer den heute festhält, zieht morgen mehr vom Ganzen an sich heran.“

Glück, Mut, Respekt vor anderer Leute Arbeit, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit – ethisch-moralische Fragen, die das Werte-Bild der Kinder prägen, wollte Günter Meyer mit seinen Filmen ins Bewusstsein der jungen Zuschauer rücken. Immer natürlich aus dem Blickwinkel heraus, dass sie Spaß daran haben, dass die Filme ihnen spannende Unterhaltung sind, dass sie mit ihren Helden mitleben. Günter Meyer selbst ist jemand, der sich von Klein auf zu Märchenhaftem, Unwahrscheinlichem hingezogen fühlt, der seine blühende Fantasie als Erwachsener in seinen Filmen umsetzte. Figuren aus der Märchen- und Sagenwelt geraten bei ihm in die Jetztzeit, Menschen aus Gemälden werden lebendig oder umgedreht reisen Kinder von heute in die Fantasiewelt.

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Günter Meyer (r.) mit Katja Paryla und Heinz Rennhack – sie spielten die verfluchten Wirtsleute – bei den Dreharbeiten für die Serie „Spuk im Hochhaus“ 1982 in Berlin (Repro)

Die Eintrittskarte in diese herrliche bunte Märchenwelt war für ihn das Regieangebot für die siebenteilige Serie „Spuk unterm Riesenrad“. „Ich war 30, als die fantastischen Abenteuer meiner Kinderträume plötzlich Wirklichkeit werden sollten“, erinnert er sich heute, über viereinhalb Jahrzehnte später. „Im Szenarium von C.U. Wiesner, einem Starautor der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel fand ich alle Zutaten, die einen wirkungsvollen Familienfilm ausmachen: Eine spannende, aber einfach gebauten Story, drei sympathische Kinderfiguren mit witzigen Sprüchen, drei Märchenfiguren, die das Hier und Heute ordentlich durcheinander wirbeln. Und natürlich Geheimgänge und Verliese auf einer alten Burg, Zaubertricks und Spukszenen.“

Günter Meyers Publikum geht mit ihm auf Entdeckungsreise. Leider werden viele seiner spannenden und abenteuerlichen Filme, gerade auch die Kinderdokumentarfilme, nicht mehr gezeigt, wie „Die verschwundene Burg“ (1980), eine Geschichte über die Ritter des Mittelalters. Oder „Unterm Pflaster von Berlin“ (1984), eine Reportage über die Kanalisation der Millionenstadt. Die Kamera begleitet die Arbeiter hinunter in die Gewölbe der Kanalisation und berichtet von ihrer Arbeit. Heute, wo Gewalt in den Schulen fast an der Tagesordnung ist, bei kleinsten Konflikten gehen Schüler aufeinander los, könnte Günter Meyers erster Spielfilm „Die Squaw Tschapajews“ ihnen zeigen, dass es auch anders geht. Zwei Schulklassen müssen Punkte sammeln, um eine Ostsee-Reise zu gewinnen. In der einen Klasse aber gibt es zwei rivalisierende Gruppen. Nur wenn die Anführer ihren Zwist beiseitelegen, haben sie eine Chance auf den Sieg.

Buch Meyer

Über wichtige Jahre seiner eigenen Kindheit erzählt der 1940 im erzgebirgischen Thum geborene Wahlberliner in seinem Roman-Erstling „Die Männer meiner Mutter“ (Edition Freiberg, 2015). Mit Humor spiegelt er aus der Sicht des zwölfjährigen Werner die Nachkriegsjahre 1945 bis 1949 in seiner Heimatstadt im Erzgebirge.
Kurz nach seinem 75. Geburtstag am 25. November letzten Jahres besuchte ich ihn für ein Interview.

Gespräch mit Günter Meyer 

Alter im Spiegel der Zeit, die dahin rast – 50, 60, 70, 75. Meine Großmutter war für mich schon mit 50 alt, mit 75 waren die Leute früher Greise.  Bei der Betrachtung des eigenen Alters betrügt einen die Empfindung ja meistens. Wie sehen Sie sich?
Für mich gilt das auch. Von ‚innen‘ gucke ich raus, als wäre ich 50, aber der Körper zeigt mir schon immer, dass ich 75 bin, wenn er mich, z.B. beim Toben mit den Enkeln altersgemäß ausbremst. Wobei ich seit meinem Unfall 1995 ohnehin Probleme beim Laufen habe.

Der Unfall war ein Frontalzusammenstoß auf einer Landstraße, verursacht von drei betrunkenen Jugendlichen. Dass Sie überlebt haben, grenzt an ein Wunder.
Ja, ich bin den Ärzten sehr dankbar, dass Sie sich so viel Mühe gegeben haben, damit meine Frau und ich nicht im Rollstuhl landen. Es passierte auf einer einspurigen Landstraße bei Magdeburg. Die Jungs auf der Gegenspur rasten beim Überholen mit 150 Sachen auf uns zu. Es blieb uns nicht mal Zeit, um Angst zu haben.

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Das Kamerateam und der Regisseur

Wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?
Zuerst hatte ich den Eindruck, mein Leben ist zu Ende. Ich lag ein Vierteljahr im Bett, ich konnte nicht aufstehen, nicht mal einen Stift halten anfangs. Danach bekam vieles eine ganz andere Wertigkeit, es war ja für mich und auch meine Frau wie ein geschenktes zweites Leben. Ich habe meine Vergegenständlichung in der Kunst zurückgefahren. Nicht mehr die Arbeit und der Beruf, sondern die Familie wurde zum Lebensmittelpunkt.

 Im Oktober hatten Sie und ihre Frau Heide Messinghochzeit, das sind 45 Ehejahre. Eine lange Liebe.
Sie ist noch länger. Wir lernten uns 1963 Jahren auf einem Zeltplatz an der Ostsee in Altenkirchen kennen. 1970 haben wir geheiratet. Meine Frau ist promovierte Soziologin. Sie arbeitete an der Bauakademie der DDR. Da wir beide beruflich stark engagiert waren, haben wir Haushalt und Kinderbetreuung als ‚Gemeinschaftsprojekt‘ angesehen. Wenn sie auf Dienstreise war, habe ich es so eingerichtet, dass ich zu Hause an Drehbüchern oder Stoffentwicklungen gearbeitet habe, sozusagen gelebte Gleichberechtigung.

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Günter Meyer und seine Frau Heide sind seit 52 Jahren zusammen. Foto Nikola Kuzmanic

 Sie lagen über 100 Tage im Krankenhaus. Kriegt man da nicht einen Koller?
Meine Tochter Katrin hat mir einen Laptop gekauft. Der lag auf meinem Bauch, und ich habe über das Geschehen im Krankenhaus Tagebuch geführt. Wenn ich das jetzt so nachlese, schwingt viel Bitterkeit mit, auch über manche Situationen mit Ärzten und Pflegern. Es war aber auch eine Therapie für mich, mir Frust und Ärger von der Seele zu schreiben. Viel half natürlich, dass ich jeden Tag Besuch hatte. Meine Familie, Kollegen vom rbb-Fernsehen und vor allem C.U. Wiesner, mit dem ich die „Spuk“-Geschichten erfunden habe, standen mir sehr zur Seite. Ich habe im Krankenbett das Drehbuch für „Spuk aus der Gruft“ geschrieben.

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Das Dreamteam der „Spuk“-Filme Günter Meyer und C. U. Wiesner. Foto: André Kowalski

Die „Spuk“-Filme sind immer noch sehr beliebt.
Ulli Wiesner und ich hätten 1979 nach „Spuk unterm Riesenrad“ nicht vermutet, dass diese Geschichten eine solche Popularität, ein solches Eigenleben entwickeln. Bei Drehbeginn der einen Serie haben wir schon mit dem Schreiben des nächsten „Spuks“ begonnen. Manchmal gab’s mit der neuen Idee Probleme, weil wir ja immer ein bisschen stichelten. Aber bei Kinderfilmen schaute die Leitung auch nicht so genau hin. Es machte uns Riesenspaß, satirische Spitzen über die reale Wirklichkeit, in der wir lebten, mit Gags noch ein bisschen aufzuziegeln. Zum Beispiel werden die Geister auf dem Alex von Männern in schwarzen Lederjacken beobachtet. Bei der Abnahme fingen Katja Paryla, die die Hexe gespielt hat, und Stefan Lisewski an der Stelle so zu lachen an, dass Wiesner und ich laut hüstelten, um die Abnahmekommission, in der Leute von der Kulturabteilung des ZK der SED saßen, abzulenken.

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Im brandenburgischen Stücken entstand „Spuk aus der Gruft“

Wie kamen Sie eigentlich zum Kinderfilm?
Das war nicht geplant. Ich wollte Krimis drehen. Meine Diplomarbeit an der Filmhochschule habe ich über die Figur der DDR-Agenten in den DEFA-Filmen „For Eyes Only“ und „Schwarzer Samt“ geschrieben. Nach vier Jahren als Regieassistent beim DEFA-Spielfilm bot mir das Dokumentarfilmstudio eine selbständige Regie an für einen Kurzfilm über Kinderzeichnungen. Er hieß „Immer lebe die Sonne“. Ich habe Kinder malen lassen, was sie interessiert. Wir stellten die Bilder auf der Straße aus und befragten Passanten dazu. Ich merkte, dass ich gut mit Kindern kann und sie mit mir, und dass es mir Spaß macht, Filme über und mit Kindern zu drehen. 1972 kam dann der erste Spielfilm, „Die Squaw Tschapajews“, den ich übrigens im Erzgebirge drehte.

Würden Sie heute wieder Kinderfilmregisseur werden?
Ja. Das Tolle an diesem Beruf ist, dass er so viele Möglichkeiten bietet. Als Kind habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, unsichtbar zu sein oder einen fliegenden Teppich zu haben. Ich habe kleine Geschichten erdacht, sie auf den Rechnungsblöcken meines Großvaters aufgeschrieben und meinem jüngeren Bruder erzählt. Mit dem Szenarium von C. U. Wiesner zu „Spuk unterm Riesenrad“ öffnete sich das Tor zu einer phantastischen Welt, die ich im Film zur Wirklichkeit werden lassen konnte. Das ist schon toll, wenn man sich als Erwachsener die Märchenträume seiner Kindheit erfüllen kann.

Wenn Sie so viel Freude dabei hatten, warum haben Sie 2005 aufgehört, Filme zu drehen?
Ich war 65 und dachte mir, dass ich mir mehr Zeit für die Enkel nehmen muss. Ich wollte mit ihnen erleben, wie sie die Welt entdecken. Das ist ja bei meinen eigenen Kindern durch die intensive Arbeit bei Film und Fernsehen etwas zu kurz gekommen. Deswegen genieße ich dieses Glück jetzt. Die familiären Bindungen zwischen uns sind sehr eng. Das hat uns meine Mutter vorgelebt.

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Mit seiner Mutter Margarete, die in der Serie „Spuk von draußen“ einen Knopf-Laden hatte. Foto: DEFA-Studio

Ihre Mutter war für Sie und Ihren Bruder die wichtigste Person, denn Ihr Vater kam aus dem Krieg nicht zurück. Sie muss eine kluge und warmherzige Frau gewesen sein, so wie Sie sie in Ihrem Buch „Die Männer meiner Mutter“ beschreiben.
Ja, das war sie. Meine Mutter hat uns Kinder ernst genommen, hat uns viele Freiheiten gelassen, aber mein Bruder und ich mussten natürlich kräftig zu Hause mit anpacken. Das haben wir, nicht immer freudig, ohne Murren gemacht, weil die Mutter uns leid tat ohne einen Mann, der ihr half.

Haben Sie noch eine Erinnerung an Ihren Vater?
Nur über meine Mutter, die das Bild vom Vater sehr emotional in uns wach gehalten hat. Mit Erzählungen, Bildern und später, nach ihrem Tod, erfuhr ich viel aus den Briefen, die sich die Eltern, fast täglich, während des Kriegs geschrieben haben. Meine Mutter trug sie immer bei sich, wenn wir bei Bombenalarm in den Keller mussten. Und so sind sie auch nicht mit unserem Haus verbrannt. Wir fanden immer, er war der beste Vater der Welt, dieses Bild hat sie in uns lebendig gehalten.

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Der zweijährige Günter mit seinem Vater Werner Meyer

Haben Sie einen Vater vermisst?
Nein, der Bruder meiner Mutter war für uns Vaterersatz. Und sein Bauernhof, in den er eingeheiratet hat, war für uns Kinder ein Freizeitparadies. Wir durften reiten, im Heu schlafen. Oder er ist mit uns nachts in den Wald gegangen, um mit uns die Sterne zu beobachten. So etwas mache ich heute auch mit den Enkeln, natürlich ohne den Bauernhof! Meine Mutter hat später noch einen guten Mann und Vater für uns gefunden. Er starb leider bald an Magenkrebs.

Als die Schulbehörde Ihnen 1954 den Besuch der Erweiterten Oberschule und damit das Abitur verweigerte, weil sie der Enkel eines „Ausbeuter“ waren – Ihr Großvater hatte bis zur Enteignung 1945 eine kleine Baufirma in Thum – ist Ihre Mutter mit Ihnen nach Berlin gefahren, zum Ministerium für Volksbildung.
Ja. Sie war eine Powerfrau. Ohne einen Termin zu haben, ist sie bis zum zuständigen Staatssekretär vorgedrungen, hat ihm mein Zeugnis der siebten Klasse auf den Tisch gelegt, und als wir wieder in Thum ankamen, war ich an der Oberschule aufgenommen.

Ihr Großvater sprach immer davon, dass nun „die Roten“ das Sagen haben. Wie sind Sie als Kind mit der Zwiespältigkeit zurechtgekommen, dass Sie zu Hause etwas anderes als in der Schule hörten?
Der Begriff „Rote“ war bei den ehemaligen „Honoratioren“ von Thum ein geflügeltes Wort. Ich habe nicht daran gezweifelt, dass es stimmt, was in der Schule gelehrt wurde. Aber mein Großvater war ein kleiner Bauunternehmer. Wenn er mir sagte, dass er seine Leute nicht ausgebeutet hat, habe ich ihm auch geglaubt. Ich ließ beides nebeneinander stehen, musste nur aufpassen, dass ich mich in der Schule nicht verplappere. Mit diesem ‚Zwiedenken‘ sind viele in der DDR aufgewachsen.

Filmregisseur Guenter Meyer
Der Regisseur Günter Meyer zeigt mir Bilder aus seiner Kindheit. Foto Nikola Kuzmanic

Und später, waren Sie ein Opportunist?
Nein. Ich habe den sozialistischen Weg für möglich gehalten. Für mich war es nur das falsche Personal, das an der politischen Spitze agierte. Gerade in der Kulturpolitik gab es vieles, das ich richtig fand: Dass man versucht hat, allen sozialen Schichten Theaterbesuche zu ermöglichen, die Menschen animierte, gute Literatur zu lesen. Jetzt kommen Theater und Bücher bei vielen gar nicht mehr an. Wir haben auch mit unseren Filmen immer versucht, eine Botschaft und, ja, Ideale zu vermitteln.

Wie ist Ihnen der Übergang in die neue Zeit gelungen? Viele Regisseure in Ihrem Alter – Sie waren 50 als alles anders wurde – bekamen keine Aufträge mehr.
Während der Umbruchzeit habe ich ständig gedreht, weil ich vorher einige Projekte bei der DEFA und beim Fernsehen angeschoben hatte, die fast parallel in Produktion gingen. 1989 habe ich den Film „Olle Hexe“ gedreht, der 1990 ins Kino kam, fast zur gleichen Zeit begannen die Vorbereitungen zur neunteiligen Serie „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“, eine der letzten Produktionen des DDR-Fernsehens. Dazwischen gab es noch zwei Dokumentarfilme, einen davon über den Troja-Ausgräber Heinrich Schliemann. 1992 habe ich dann mit Autor Andreas Püschel für den ORB, inzwischen rbb, die Kriminalreihe „Täter, Opfer, Polizei“ entwickelt, die heute noch läuft.

1993 drehten Sie die Serie „Die Trotzkis“, die damals einen „Aufstand“ ausgelöst hat. Sie sei eine Verhöhnung der DDR-Bürger.
Es war eine Comedy-Serie, vielleicht nicht in allen Punkten geglückt, aber auf die Idee für den Serienvorspann bin ich heute noch stolz: Eine DDR-Familie (mit Heinz Rennhack als Vater) sitzt auf dem Sofa, jeder beißt genüsslich in eine Banane und im Fernsehen brüllen die Nachrichten „Wir sind ein Volk“. Die „Bildzeitung“ hat damals eine heftige Kampagne gegen uns gestartet. Einen Medienangriff in so kompakter Form hatte ich noch nicht erlebt. Aber wir hatten sehr hohe Einschaltquoten – immer sechs, sieben Millionen Zuschauer.

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Bei den Dreharbeiten für „Kai aus der Kiste“ 1987. Links Christoph Zeller als Kai. Foto: Dieter Jaeger

Welche Jahre waren für Sie die besten?
Wenn ich drehen konnte, war es immer ‚die beste Zeit‘ für mich. Jeder Film, den ich gerade machte, war mein Favorit. In der DDR war es aber ein anderes Arbeiten. Da stand nicht der Kommerz dahinter, da ging es um Themen, in meinem Fall für Kinder: Ist es interessant für sie, kann man es attraktiv, bei mir oft lustig, erzählen und passt es auch politisch!

Welcher Ihrer eigenen Filme ist Ihr Lieblingsfilm?
Schwere Frage. Sicher gehört „Kai aus der Kiste“ dazu. „Spuk unterm Riesenrad“ ist die bekannteste Serie, aber mein Herz hängt an „Spuk von draußen“, nicht nur, weil er im Erzgebirge spielt. Der skurrile Opa Rodenwald und sein Geheimkeller begeisterten nicht nur Kinder. Da gibt es viele Szenen, die auch heute meinen fernsehgewöhnten Enkeln gefallen.

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Opa Rodenwald aus „Spuk von draußen“ ist ein Roboter. Das ist sein „echter“ Kopf

Die Geschichte im Erzgebirge anzusiedeln war Ihre Idee. Pflegen Sie noch die Traditionen Ihrer Heimat, da Sie ja seit 50 Jahren in Berlin leben?
Ja, natürlich. Weihnachten schmücke ich die Wohnung mit Engeln, Pyramiden, Bergleuten, Lichttürken, Räuchermännchen – dazu brauche ich fast eine Woche, so viele sind es inzwischen geworden. Ganz besonders wird die Heiligabend-Tradition bei uns gepflegt, so wie ich es aus meiner Kindheit kenne. Da gibt es das ‚Neinerlää‘, neun verschiedene Gerichte mit symbolischer Bedeutung: Bratwurst vom Schwein, damit man das ganze Jahr „Schwein hat“, Linsen fürs Kleingeld, Klöße fürs große Geld, Semmelmilch – in Milch eingeweichte Semmeln – für die sanfte schöne Haut der Frauen, Pilzsuppe und Heidelbeeren für die Gesundheit und Selleriesalat zur Stärkung der männlichen Potenz, dazu Salz und Brot. Meine Frau peppt die karge Mahlzeit für die Schwiegersöhne noch etwas auf, in dem sie Luft (Ente) und Wasser (Fisch) hinzufügt.

Essen spielt eine große Rolle in Ihrem Buch. Haben Sie Hunger gelitten?
Als Kinder hatten wir immer Hunger. Ich erinnere mich an Suppe aus Brennnesseln oder Mangold oder die ‚Fitzfädensuppe‘, da schwammen geriebene Kartoffelfädchen im Wasser. Gegen den faden Geschmack gab es viel Petersilie dazu. Toll in Erinnerung habe ich den Mohnkuchen meiner Großmutter. Der Belag war allerdings kein Mohn, sondern Kaffeesatz mit etwas Zucker. Da haben wir Kinder immer gierig zugelangt. Wenn ich sehe, was Menschen heute so an Essen wegwerfen, blutet mir das Herz.

Ihr Buch ist auch eine Hommage an die alleinstehenden Mütter der Nachkriegszeit.
Ja. Die Männergesellschaft hat mit dem Krieg den Karren in den Dreck gefahren und wer musste ihn wieder herausziehen? Millionen Frauen wie meine Mutter hielten ihre Familie über Wasser, sie haben ihre Kinder – meine Generation – großgezogen, ernährt, ihnen den fehlenden Vater ersetzt und dabei immer wieder auf eigene Wünsche verzichten müssen. Es war aber bei allen Schwierigkeiten auch eine Zeit, in der es viel Anrührendes gab, die Menschen haben sich geholfen. Es war – trotz allem – eine schöne Kindheit, wie man im Buch nachlesen kann.

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In memoriam DEFA-Legende Kurt Maetzig. Sein Prinzip hieß Wahrheit

Es gibt Menschen, die sollten, nein, dürften nie vergessen werden. Für das, was sie bewegt haben, für das, was sie wollten und dafür, dass sie einfach großartige Menschen waren. Für mich ist DEFA-Regisseur Kurt Maetzig so ein Mensch. Heute, am 25. Januar, wäre er 105 Jahre alt geworden. Insofern lichtet sich die Reihe derjenigen, die ihn kannten, denen sein Name noch etwas sagt oder die seine Filme gesehen haben. „Ehe im Schatten“, „Die Buntkarierten“, „Der Rat der Götter“, „Schlösser und Katen“ – die heute eigentlich wieder in den Geschichtsunterricht gehörten – oder sein zweiteiliges Epos über den kommunistischen Arbeiterführer Ernst Thälmann, das ihn in die Ecke eines Parteipropagandisten beförderte.

Ich habe all diese Filme als Zwölf-, Dreizehnjährige im Testprogramm des Deutschen Fernsehfunks gesehen, das jeden Tag mittags von halb zwei bis drei Uhr lief. Mit ihnen ging ich in eine Zeit, die ich nicht erlebt habe, die aber als jüngste Vergangenheit noch nah genug war, um mental in Beziehung mit dem Geschehen zu treten. Damals hätte ich nie vermutet, dass ich einmal den Mann, der sie gemacht hat, kennenlernen und ihm in Gesprächen näher kommen würde. Am 8. August 2012 ist Kurt Maetzig gestorben. Da war er 101 und ein halbes Jahr alt. Von einem Tag auf den anderen konnte er die Beine nicht mehr bewegen, war ans Bett gefesselt. Sein wacher Geist, der kurz zuvor noch in einem beweglichen Körper wohnte, konnte das nicht hinnehmen. Er schaltete die Lebensfunktionen ab.

Der Filmemacher Maetzig war ein Avantgardist, ein mehrfacher. „Einer muss immer der Erste sein“, sagte er mit der Weisheit des Alters. Bei ihm habe es sich aus den Umständen ergeben. Mit zwölf baute er sich sein erstes Radio, noch bevor es etwas zu empfangen gab. Erst nach Wochen tat sich etwas in dem Apparat. „Es rauschte, dann hörte ich wie eine Stimme meldete: Sie hören die erste Probesendung der Berliner Funkstunde. Ich holte mir bei der Post ein Abonnement und war der Radiohörer Nummer 1 in Berlin.“

Das erfuhr ich so nebenbei, als ich Kurt Maetzig 2008 zum ersten Mal besuchte. Er blieb Zeit seines Lebens ein Technik-Freak. Zum 90. Geburtstag schenkte die DEFA-Stiftung dem Mitgründer der international renommierten DDR-Filmstudios in Babelsberg eine Homepage. Er kaufte sich einen Computer und eroberte sich das Internet als Tor zur Welt, als Kommunikationsmittel. Das Wichtigste war ihm, immer den Durchblick im politischen und gesellschaftlichen Weltgeschehen zu haben.

Kurt Maetzig ; Regisseur, 1. Bambi-Gewinner
Bambi-Premiere – Regisseur Kurt Maetzig erhielt 1948 für seinen Film „Ehe im Schatten“ den gerade ins Leben gerufenen Kinopreis der „Film-Revue“

Der Anlass für meinen Besuch damals war ein ganz besonderer. Die Verleihung des „Bambi“ feierte in dem Jahr 60. Geburtstag. Die Auszeichnung war 1948 von dem Karlsruher Verleger Karl Fritz und seiner Zeitschrift »Film-Revue« als Kinopreis ins Leben gerufen worden. In der Liste der Preisträger standen für das Jahr die Schauspieler Jean Marais und Marika Rökk. Den damals wichtigsten „Bambi“-Gewinner hatte man vergessen: den DEFA-Regisseur Kurt Maetzig. Sein Debütfilm „Ehe im Schatten“ war 1947 die erfolgreichste Kinoproduktion und 1948 zum besten deutschen Nachkriegsfilm gewählt worden. Der gerade 37-Jährige – und hier war er wieder Avantgardist – hat sich als erster deutscher Regisseur auf der Leinwand mit dem Antisemitismus und den Folgen der Nürnberger Rassengesetzen im „Dritten Reich“ auseinandergesetzt. „Ehe im Schatten“ ist die Geschichte des Schauspieler-Ehepaares Joachim Gottschalk und seiner jüdischen Frau Meta, das 1941 den Freitod wählten, statt seine Liebe preiszugeben.

Geschehnisse, die auch mit Maetzigs Leben zu tun hatten. Seine Mutter war die Tochter einer wohlhabenden jüdischen Hamburger Teehändlerfamilie. Die Eltern ließen sich scheiden, damit der Vater seinen Betrieb, eine Film-Kopieranstalt, nicht verliert. Der Sohn blieb bei der Mutter und konnte nicht verhindern, dass sie sich 1943 vergiftete, nachdem sie den Deportationsbescheid erhalten hatte. Als der Krieg vorbei war, sah sich der Chemiker und Filmtechniker in der Verantwortung, die Filmindustrie im Osten Deutschlands wieder in Gang zu setzen. Gemeinsam mit dem Schauspieler Hans Klering – ab 1946 einer der DEFA-Direktoren –, dem Kameramann Werner Krien, den Filmszenenbildnern Carl Haacker und Willy Schneider, dem Schauspieler und Produktionsleiter Adolf Fischer sowie dem Kaufmann, Elektrotechniker und Beleuchter Alfred Lindemann gründete Kurt Maetzig im August 1945 ein Filmaktiv zur Vorbereitung einer neuen Filmproduktion – die DEFA. „Damals war nicht klar, dass ich Regisseur werde. Ich hatte die Gesamtleitung der ostdeutschen Kino-Wochenschau Der Augenzeuge. Aber als die Novelle Es wird schon nicht so schlimm von Hans Schweikart auf meinem Schreibtisch lag, wusste ich, das muss ich selbst machen.“ Es wurde für ihn eine Lebensentscheidung. Der Schauspieler und Regisseur Schweikart († 1975), in erster Ehe mit der jüdischen Schauspielerin Käthe Nevill verheiratet, geriet wie Maetzigs Eltern unter den Druck der Rassengesetze. Käthe Nevill wanderte nach Palästina aus. Den „Halbjuden“ Kurt Maetzig bewahrten seine Forschungen auf dem Gebiet der Filmtechnik und der Photochemie vor dem KZ, denn der Film war für die Nationalsozialisten zu einem wichtigen Instrument der ideologischen Manipulation des deutschen Volkes geworden, und seine Arbeiten wurden als wichtig angesehen.

Die Befreiung im Mai 1945 begrüßte Maetzig, der ein kleines Labor in Werder betrieb, zusammen mit 20 Zwangsarbeitern, zu denen er Kontakt bekommen hatte. „SS-Leute hatten vor meinem Labor einen Franzosen niedergeschlagen und liegen gelassen. Ich habe ihn reingeholt, in mein Bett gelegt und gesund gepflegt. Diese kleine Geste, die für mich selbstverständlich war, brachte mir das Vertrauen der Leute ein. Als die Rote Armee einrückte, versammelten wir uns in meiner Wohnung, und ich habe eine Flasche Wein aufgemacht, einen 1933er Chateau d’Yquem. Er war in dem Jahr gekeltert worden, in dem Hitler an die Macht kam. Ich hatte mir damals geschworen, die Flasche an dem Tag zu öffnen, an dem seine Macht zu Ende ist“, erinnerte er sich an diesen Moment großen Glücks.

Fortan ging es ihm um nichts mehr und nichts weniger als eine gerechte Welt, eine Welt ohne Faschismus, eine Welt, in der die Menschen Frieden haben. Er gehörte zu den Leuten, die das Ende als Anfang verstehen konnten. Nichts schien in dieser Zeit nach einem Krieg mit fast 70 Millionen Toten einleuchtender, als die Gesellschaft anders zu machen. Für diese Überzeugung, dieses Ideal trat er mit seinen Filmen an, wollte die gute Sache befördern. Kompromisslos sein in der Auseinandersetzung mit Vergangenem wie Gegenwärtigem. In einem Gespräch anlässlich seiner Ehrung mit dem DEFA-Stiftungspreis kurz vor seinem 100. Geburtstag resümierte er: „Wie meine Mutter immer sagte: Alles hat seine zwei bis 17 Seiten. Und wenn nicht 17, so ist doch zu erkennen, dass die Kunst fast immer mehrere Deutungen zulässt. Das sind ihre Schönheit und Stärke, aber auch die Quelle von Misshelligkeiten und Enttäuschungen. Mein Bestreben, mich immer der Wahrheit zu nähern und künstlerisch zu gestalten, war die feste Linie in meinen Planungen. Es ist nicht immer gelungen.“

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Kurt Maetzig 2006 zum 60-jährigen DEFA-Jubiläum mit Berlins OB Klaus Wowereit und Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck. Foto: Michael Handelmann

Sein gesellschaftskritischer Film „Das Kaninchen bin ich“, wanderte 1965 wie viele andere DEFA-Produktionen dieses Jahres als „staatsfeindlich“ in den Giftschrank. Zwei Jahre später kam „Das Mädchen auf dem Brett“ in die Kinos, in seinen Augen der ehrlichste Film in der nachfolgenden Zeit der Kompromisse. Ausnahme vielleicht „Januskopf“ mit Armin Mueller-Stahl, der die aktuellen Probleme der Humangenetik visionär vorwegnahm. 1975 drehte Kurt Maetzig seinen letzten Film, nahm mit 65 Jahren Abschied von der DEFA, die ihm drei Jahrzehnte Lebensinhalt und Heimat war. Die ihm „mehr als das Land oder der Ort oder die Straße oder der familiäre Umkreis“ bedeutet hat. „Ich wollte keine Kompromisse mehr machen, die ja nicht weniger geworden wären“, erklärte er mir seine Entscheidung. Ich fragte ihn, welchen Film er jetzt drehen würde, wenn er die Chance dazu hätte. „Ich würde Voltaires Candide oder Der Optimismus verfilmen. Candide geht durch alle Schrecknisse der Welt, ausgerüstet mit den Lehren seines Lehrers Pangloss, der ihm gesagt hat: Es ist zwar schrecklich auf der Welt, es passieren überall furchtbare Sachen, aber es ist doch die beste aller Welten, die beste, die wir uns vorstellen können.“ Und so empfand es auch der Filmemacher Maetzig.

 Interview aus dem Jahr 2008.

Kurt Maetzig ; Regisseur, 1. Bambi-Gewinner
Regisseur Prof. Kurt Maetzig am 26. 3. 2008 in seinem Haus. Foto: Boris Trenkel

Was war das Besondere an „Ehe im Schatten“? 
Die Aufführung des Films 1947 war ein kulturelles Ereignis ersten Ranges. Und das wurde auch dadurch unterstrichen, dass es der einzige und letzte deutsche Film war, der in allen vier Berliner Sektoren am selben Tag seine Uraufführung erlebte – am 3. Oktober 1947. Und er fand im Osten wie im Westen große Beachtung. „Ehe im Schatten“ ist der erste deutsche Film, der sich mit der Verfolgung der Juden in der Nazizeit beschäftigt hat. Und das in einer Form, die die verhärteten Herzen aufzuschließen vermochte. In Westdeutschland hat man das Thema überhaupt nicht aufgegriffen. Man hat es verscharrt. Weg damit, gar nicht daran denken. Und möglichst nicht darüber reden.

Wie reagierte das Kinopublikum?
Als der Film zu Ende war, blieben die Leute erschüttert sitzen. Tief betroffen und oft sehr erschüttert. Es gab keinen Beifall, es stand auch niemand auf, um wegzugehen. Es war minutenlang still – und ich weiß als Regisseur, wie lang eine Minute ist. Dann standen sie auf und verließen schweigend das Kino. Nicht nur in Berlin, auch in München und Hamburg, wo ich zu den Premieren war. Diese Erschütterung des Publikums war einmalig in dieser Zeit, in der große Depression herrschte, weil sich das, woran die Leute geglaubt hatten, nicht eingestellt hatte. Der Endsieg war nicht eingetroffen, das Hitlerreich zusammengebrochen. Und nun plötzlich ein so tiefes Erlebnis, ein so tiefer emotioneller Zugang zur Gegenposition zu dem, was sie zwölf Jahre von den Nazis gehört hatten. Das war eine enorme Sache.

Prof. Kurt Maetzig , erster Bambigewinner
Nach 60 Jahren darf ich ihm im Dezember 2008 eine Kopie seines ersten Bambis, das zerbrochen ist, seinem Haus in Wildkuhl überreichen. Foto: Boris Trenkel

Was empfanden Sie? 
Das hat die Presse natürlich registriert und gedeutet. Und es hat auch in mir Hoffnungen und vielleicht sogar Illusionen ausgelöst darüber, was die Kunst vermag. Ob sie tief eingewurzelte Vorurteile wie Antisemitismus zu überwinden vermag. Ich hatte mir gedacht, wenn das überall so ist – und das war überall so –, dass das Ansehen dieses Films eine solche Erschütterung auslöst, wird das auch in der Tiefe die Einstellung der Menschen zu Fragen wie Antisemitismus von Grund auf verändern. Es passierte nicht. Er kommt wieder. Eine Sache auszumerzen, die sich über tausend Jahre im deutschen Volk und auch anderen Völkern verwurzelt hat, ist nicht mit einem Film und auch nicht mit zehn guten Filmen zu leisten.

Glauben Sie heute noch, dass Kunst die Menschen beeinflussen kann?
Das war meine Überzeugung, die mich durch die Jahrzehnte meiner schöpferischen Tätigkeit geleitet hat. Dafür bin ich angetreten. Ich gehe nicht so weit, dass ich heute sage, Kunst hat überhaupt keine Wirkung. Ich glaube nach wie vor, dass eine solche verändernde Wirkung möglich ist. Doch ich schränke das jetzt sehr ein. Die Kunst wirkt tropfenweise über lange Strecken. Nicht so schnell, so direkt und so eindeutig, wie wir uns das gedacht und gewünscht haben. Es sind doch nur begrenzte Wirkungen.

Also hatten Sie sich – und alle, die daran glaubten – einer Illusion hingegeben? 
Es war eine Utopie, eine richtige Utopie. Eine, die danach drängt, sich zu verwirklichen. Sie bleibt ein Fernziel, dem man sich schrittweise nähern kann. Es als Illusion abzutun, würde ich nicht für richtig halten. Das wäre der Ausschlag des Pendels nach der anderen Seite. Alles Große, was die Menschheit geschaffen hat, begann als Utopie, wird angestrebt und schrittweise verwirklicht. Die Demokratie ist auch so eine Utopie. Das heutige System, das wir haben, schon als Demokratie zu bezeichnen, halte ich für übertrieben. Wahlen allein machen keine Demokratie. Die sind nur ein Schritt auf dem Weg.

„Ehe im Schatten“ ist Ihre erste Arbeit als Spielfilmregisseur. Sie hatten bis dahin Kurz- und Dokumentarfilme für den „Augenzeugen“ gedreht. Was bewog Sie, sich an diese große Aufgabe zu wagen?
Hans Schweikart, damals Intendant der Münchner Kammerspiele, schickte mir auf vier Schreibmaschinenseiten eine Erzählung, die der Abriss für den Film wurde. Als ich sie gelesen hatte, wusste ich sofort, ich muss diesen Film selbst machen, denn ich hatte im Familienkreis, auch im Kreise meiner Freunde ähnliche schreckliche Schicksale in allen Nuancen erlebt. Und dieses Gefühl: Das muss ich machen, war mein Antrieb.

Kurt Maetzig ; Regisseur, 1. Bambi-Gewinner
Er war dem Leben und den Menschen zugetan. Foto: Boris Trenkel

Also war der Film für Sie die Verarbeitung der eigenen Familiengeschichte? Ihre jüdische Mutter hat sich 1943 das Leben genommen, als sie deportiert werden sollte.  
Ja. Aber nehmen Sie bitte ernst, was im Vorspann des Films steht. „Dieser Film ist all denen gewidmet, die als Opfer fielen.“ Das sind die vielen jüdischen Opfer, aber nicht nur sie. Es ist ein antifaschistischer Film geworden. Mir war wichtig, dass das ein Film wird, der die beiden Gegenpole, die Faschisten auf der einen und die Opfer auf der anderen Seite, nicht als Extreme zeigt. Der Film beschränkt sich auf ein ganz kleines Spektrum von Menschen – Künstler, Intellektuelle. Mir hat sehr daran gelegen, das Thema der Judenverfolgung in Deutschland mit dem Opportunismus der bürgerlichen Intellektuellen zu verweben. Darum kommen immer wieder solche dummen Sprüche vor wie: „Es wird schon nicht so schlimm“. Und: „Das betrifft uns doch gar nicht…“ Statt gegen die Sache zu kämpfen, versuchte jeder, nur durchzukommen. Also reiner Opportunismus. Man konnte sich das Schrecklichste auch gar nicht vorstellen. Die Unterdrückung und schließlich Vernichtung der Juden vollzog sich in kleinen Schritten. Es kamen immer neue Gesetze. Und ich hörte: „Na ja, damit ist ja nun die äußerste Grenze erreicht. Nun kann nichts Schlimmes mehr passieren…“ Diese enge Verknüpfung des Opportunismus der Intellektuellen mit dem Thema der Judenverfolgung ist das, was ihn künstlerisch zur Tragödie macht. Diese eigene Mitschuld an dem, was passierte, ist keine Schuld im politischen Raum, keine Schuld, für die man jemand vor Gericht stellen könnte.

Sie waren 1933, als Hitler an die Macht gehievt wurde, 22 Jahre. Hatten Sie damals schon eine Ahnung, wohin dieser Weg führt?
Natürlich habe ich nicht von Anfang an gewusst, was Hitler uns bringt. Es hat sich mir stückweise entschleiert. Und ich habe die Nazizeit als ein Antifaschist erlebt und fest damit gerechnet, dass der Faschismus am Ende des Krieges besiegt sein wird. Ich habe immer darauf gehofft, dass das ganze Volk Hitler bekämpft, wenn es erkennt, welches Unheil er über die Welt bringt.

100. Geburtstag von Kurt Maetzig
Meine letzte persönliche Begegnung mit Kurt Maetzig bei der Gala anlässlich seines 100. Geburtstages im Filmmuseum Potsdam. Foto: Boris Trenkel

Das war sehr mutig.
Was ist Mut? Die Überwindung der Angst. Und ich hatte Angst. Ich habe sehr genau gewusst, wie gefährlich es ist, sich gegen Hitler zu stellen, und ich musste meine Angst überwinden. Ich habe mich damals in schwerster Situation auch an den deutschen Klassikern festgehalten. Bei Schiller habe ich in der „Vorrede zur Geschichte des Abfalls der Niederlande“ den Satz gefunden: „Groß und beruhigend ist der Gedanke, dass gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hilfe vorhanden ist. Dass der Widerstand eines ganzen Volkes auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, edelmütige Beharrung seine Hilfsquellen endlich erschöpfen kann.“ Solche Gedanken haben mich geleitet, dadurch bin ich Antifaschist geworden.

Sie haben sich dann mit Ihrer Kunst für den Sozialismus engagiert. Trifft es Sie, wenn man Sie als einen Propagandisten der DDR bezeichnet?
Nein, das trifft mich überhaupt nicht. Propaganda heißt ja nichts anderes, als eine Sache befördern wollen. Und die Ziele, die sich dieser Staat gestellt hat, waren auch meine Ziele. Was glauben Sie, was es für eine Erschütterung war, als wir 1956 von den stalinistischen Verbrechen erfuhren. Von den umgebrachten unschuldigen Menschen. Wie sollte man damit weiterleben? Da habe ich mich damals zu der Sicht durchgerungen: Das, was da geschehen ist, hat die Idee des Sozialismus beschmutzt, die Sache, der wir gedient haben, diskreditiert. Aber das Ziel, das wir erreichen wollen, eine Welt ohne Faschismus und Krieg, bleibt unbeschädigt. Es ist auch heute mein Ziel, nach wie vor gültig als Ideal. Es ging immer darum, eine gerechte Welt, eine Welt ohne Faschismus und Krieg zu haben. Und das hatte bis 1989 auch eine große Strahlwirkung auf Westdeutschland.

Václav Vorlíček – Der König der Märchenkomödien

Prag eine Sehnsucht, die mich nie losgelassen hat, seit ich in den Siebzigern zum ersten Mal über den Wenzelsplatz gelaufen bin, mit staunenden Augen durch die verschlungenen Gassen der Altstadt schlenderte und das Flair Jahrhunderte langen Lebens in mich aufnahm.

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Auf dem Altstädter Ring

Abends saß ich damals mit Freunden in einem kleinen, urigen Weinkeller, dessen Namen ich vergessen hatte, und den ich später auch nicht wieder fand. Im Gedächtnis behielt ich nur das vage Bild einer steilen Wendeltreppe, die in ein tief unten gelegenes Gewölbe führt. Das Internet half mir jetzt auf die Sprünge: U Stare Studny – Am alten Brunnen – heißt die unterirdische Weinstube, in die sich kaum ein Tourist verirrt. So versteckt liegt der Eingang zwischen zwei Schaufenstern auf der Mala Strana.

Inzwischen ist es auch schon wieder eine Ewigkeit her, dass mich ein Interview mit dem Regisseur des Märchenklassikers „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“  fast drei Jahrzehnte später wieder in die „Goldene Stadt“ verschlug. Es war Ende November 2007, scheußliches Wetter. Der Wind fegte über die Karlsbrücke und uns Schneeregen ins Gesicht, als ich mich mit Václav Vorlíček traf. Wir kannten uns nicht, und doch erkannten wir uns sofort, als er vor dem Café Savoy an der Vítězná aus der Straßenbahn stieg. Ein eleganter älterer Herr, hochgewachsen, mit kariertem Hut und Lederjacke. Eine große Brille betont die tief dunkelbraunen Augen, die Freundlichkeit und Wärme ausstrahlen.

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Mit Vacláv Vorlíček auf der Karlsbrücke. Foto: Boris Trenkel

Siebenundsiebzig war er damals, wirkte jedoch weit jünger. Daran hat sich nichts geändert. Auch wenn er sich heute wegen eines Unfalls auf einen Stock stützt. Eine wunderbare Freundschaft entstand damals zwischen uns, der ich aufregende Begegnungen mit den Märchenhelden meiner Kindheit und hier nun zu lesende Geschichten verdanke. Ich lernte Marie Kyselková († 21. Januar 2019) und Josef Zíma kennen, Prinzessin Lada und Prinz Radovan aus meinem Lieblingsmärchenfilm „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“. Für einen Beitrag zu seinem Film „Der Prinz und der Abendstern“  trommelte Václav Vorlíček für mich die Hauptdarsteller Zlata Adamovská, Julie Jurístová, Ivana Andrlová und Juraj Durdiak zusammen. Der „Prinz“ reiste extra aus dem 300 km entfernten Bratislava an, wo er lebt und ein Theater leitet.

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Ivana Andrlová und Juraj Durdiak mit ihrem „Vacek“ vor Schloss Ploskovice, das die Kulisse für das Märchen „Der Prinz und der Abendstern“ war. Foto: Jürgen Weyrich

Wenn „ihr Vácek“ sie braucht, sind seine Schauspieler zur Stelle. Verschieben Theaterproben oder nehmen sich von Großmutterpflichten ein paar Stunden frei. Das habe ich immer wieder erlebt. Nur eine fand nie Zeit. Libuše Šafránkova, seine „Popelka“, wie Aschenbrödel auf tschechisch heißt. Ich werde nie die Traurigkeit im Gesicht des alten Mannes vergessen, als sie zwei Minuten vor dem Termin ein versprochenes Interview zu seinem Film Wie ertränkt man Dr. Mràček – oder Das Ende der Wassermänner in Böhmen“ absagte, in dem sie eine Hauptrolle spielte.

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1973 bei den Dreharbeiten für Aschenbrödel.

Vor 40 Jahren öffnete Václav Vorlíček der damals 19-Jährigen mit der Hauptrolle in seinem Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ das Tor zu einer großen Karriere, verschaffte ihr eine bis heute andauernde internationale Popularität. Er mochte die hübsche Libuše Šafránkova, die reiten konnte wie der Teufel und ihn mit ihrem Talent und ihrer Natürlichkeit als perfekte Darstellerin für das arme, aber emanzipierte und freche Aschenbrödel überzeugte. Über all die Jahre hielten sie Kontakt. „Es waren immer fröhliche Gespräche, wenn wir uns getroffen haben“, erinnert er sich. Diese Freundschaft hat die Schauspielerin an jenem Tag im Juli 2013 zerstört. Wir sprachen nie wieder von ihr.

Als ich kurz vor Weihnachten mit Václav Vorlíček telefonierte, erzählte er, dass ihn eine norwegische Filmproduktion eingeladen hat. „Sie wollen ein Remake von meiner Popelka mit norwegischen Schauspielern drehen.“ Ihm hatte man die Regie angeboten. Er war skeptisch. Vor einigen Tagen nun rief ich ihn an, um zu hören, wie er ins neue Jahr gekommen ist und was er vorhat. Denn er ist immer auf der Suche nach neuen Filmstoffen. Neben seinem Bett stapeln sich links und rechts Bücherberge. Augenzwinkernd hat er mir mal verraten: „Irgendwoher muss ich meine Ideen ja nehmen.“ Und die führten bis jetzt zu fast hundert Filmen, Fernsehserien, Drehbüchern und Dokumentationen. Viele gewannen Preise, wurden ins Ausland verkauft wie die Parodie „Wer will Jessie töten? und das utopische Comedy-Abenteuer à la 007 „Exit-Agent W4C“, die dem damals Mittdreißiger internationales Ansehen bis in die USA einbrachten. „Ich habe das Glück, Filme machen zu können, die international verständlich sind“, erzählte er mir. Sein besonderes Talent.

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Im November 2007 durften Fotograf Boris Trenkel und ich Václav Vorlíček im Studio Barrandov besuchen, wo er gerade „Saxana und die Reise ins Märchenland“ produzierte

William Snyder, der bekannte amerikanische Filmproduzent, holte das Erfolgsduo Václav Vorlíček und Miloš Macourek – er war der Drehbuchautor – 1969 nach New York. Zwei Monate waren sie dort und arbeiteten an einem Remake von „Wer will Jessie töten“ in Farbe mit. Das Original war schwarzweiß. Dieser Reise erwuchs die verrückte Komödie „Sir, Sie sind eine Witwe!“, die wiederum ein Publikumserfolg wurde, auch international. Danach folgte die Märchenkomödie „Das Mädchen auf dem Besenstiel“ mit der populären Sängerin Petra Černocká in der Titelrolle. Vacláv Vorlíček bewegte sich nun nach ganz oben auf der Liste der wichtigsten tschechischen Film- und Fernsehregisseure. Sein Meisterstück wurde 1973 Tři oříšky pro Popelku“ – „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Die Frage, in Amerika zu bleiben, stand für ihn damals übrigens nicht. „Ich hatte meine Frau und meine zwei Töchter in Prag, und Amerika ist nicht das Land für tschechische Patrioten.“ Davon ist er bis heute überzeugt, wenngleich der Sozialismus in der damaligen ČSSR nicht das Non-plus-Ultra seiner Lebensvorstellung war.

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Ich kann immer nur wieder staunen über die schier unerschöpfliche Kreativität dieses wunderbaren Menschen. Film, Fernsehen, Theater – Václav Vorlíček hat gut zu tun, als Regisseur und Autor.  Auch ist sein Urteil gefragt, wenn es um die Regiearbeit junger Filmemacher geht. Für das bevorstehende tschechische „Junior-Festival“ hat er ein volles Programm. „Ich muss mir über 50 Filme ansehen und meine Meinung dazu abgeben“, sagt er.  Das norwegische Angebot für die Regie des Remakes von „Popelka“ hat er nicht angenommen. „Ich müsste verrückt sein, noch mal einen Film zu drehen, den ich schon gemacht habe. Außerdem habe ich mir geschworen, nie wieder einen Film im Winter zu drehen. Sollen sie es machen, wie sie wollen. Aber es wird schwer sein, eine Cinderella wie Libuschka zu finden“, erklärt er. Und er weiß, wovon er spricht.

Es war  eisig als „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ im Januar/Februar 1973 in Svihov und Moritzburg gedreht wurde. Minus 17 Grad. Für Mensch und Tier unvorstellbare Strapazen. Um schnell fertig zu werden, ins Warme zu kommen, arbeitete er jeden Tag fast ohne Pause. „Ich hatte für den Notfall immer eine Rolle Kekse und eine Wurst in der Tasche“, erinnerte er sich in unserem Interview 2007. Anstrengung, unregelmäßiges Essen – er holte sich eine schwere Entzündung der Gallenblase. Nach seiner Operation stand für ihn fest, er wird nie wieder einen Film im Winter drehen.

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Václav Vorlíček produzierte die meisten der tschechischen Märchen. Foto: Boris Trenkel

Es hat seiner Karriere nicht geschadet.  Als ich ihn jetzt fragte, ob er manchmal ans Aufhören denke, schüttelte er nur den Kopf. Seit dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren sorgen die Töchter Katja und Suzanna dafür, dass sein Kühlschrank immer voll ist, seine Enkelin kümmert sich um den Haushalt des Großvaters. „Ich bin gut versorgt, mach dir keine Sorgen“, beruhigte er mich vor zwei Jahren nach seinem schweren Unfall. Ein Auto hatte ihn am Fußgängerüberweg überfahren. „An mir war kein Knochen heil. Aber der liebe Gott“, er lachte und zeigte mit dem Stock nach oben, als wir uns einige Monate später sahen, „hat noch keinen Platz für mich.“

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Szene aus „Saxana und die Reise ins Märchenland“

In den letzten Jahren hat er viel fürs  Fernsehen gearbeitet und nebenher die Fortsetzung der Fantasiegeschichte „Das Mädchen auf dem Besenstiel“ gedreht. „Saxana und die Reise ins Märchenland“ kam 2011 ins Kino. Irgendwann habe ich ihn mal gefragt, worin das Geheimnis seines Erfolgs liegt. Er zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Es gibt keins.“

Der 1930 geborene Prager hat eben ein Gespür für filmische Wirkungen und immer Ideen, wie man sie erzielt. Poesie, Witz und Humor sind die Basis. Kulisse, die Auswahl der Darsteller und die Filmmusik machen sein Erfolgsrezept komplett. Schon in seinen Studentenfilmen favorisierte er Parodie und Komödie als sein Genre. Er wagte sich das auch bei politischen Themen. In seinem Diplomfilm „Die Richtlinie“ (1955) nahm erdas Reiseverbot ins Ausland aufs Korn. „Wir durften nicht mal nach Warschau fahren“, erklärte er mir. In der ČSSR war die Lage Anfang der 50er Jahre sehr schwierig. Eine Inflation hatte zu einer Abwertung der Währung geführt.

Mit seinem Konzept, das heikle Thema mit Witz und Ironie zu betrachten, schaffte es der damalige Student der Film- und Fernsehfakultätder Akademie der musischen Künste in Prag, der FAMU, Schauspielergrößen wie Vlastimil Brodský (bekannt aus dem DEFA-Film „Jakob der Lügner“) und Miloš Kopecký  für seinen Abschlussfilm zu gewinnen. „Ja, wenn das eine Komödie wird, machen wir das“, willigten sie ein. Sei drehten ohne Honorar. Den Film entdeckte Vorlíčeks Enkel Tomas, heute Drehbuchautor, während seines Studiums im Archiv der Filmhochschule und hat ihn für den Großvater kopiert. Für den war das eine echte Überraschung, denn er wusste nicht, dass der Film noch existiert.

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Im Juli 2013 trafen wir uns auf der Insel Kampa mit Jaromír Hanzlík, der die Titelrolle in der Märchenkomödie „Wie ertränkt man Dr. Mraček…“ spielte. Foto: Jürgen Weyrich

Mit Miloš Kopecký verband Václav Vorlíček bis zu dessen Tod 1996 eine enge Freundschaft. 1974 drehten sie zusammen die herrlich groteske Märchenkomödie „Wie soll man Dr. Mráček ertränken? oder Das Ende der Wassermänner in Böhmen“. Damit ließ Vacláv Vorlíček eine Legende lebendig werden, die ihn und seine Freunde als Kinder zu großen Mutproben herausgefordert hatte. Wir saßen bei unserem Gespräch über den Film auf der Prager Moldau-Insel Kampa, seinem Lieblingsplatz. „Als Jungs sind wir hier getaucht, obwohl die Erwachsenen uns das verboten haben. Uns würden die Wassermänner holen, warnten sie. Ganz tief unten auf dem Grund sollten sie hausen, die letzten Herrscher der böhmischen Gewässer. Wir hatten Angst, aber wir waren auch neugierig und sind von einem hohen Felsen in den Fluss gesprungen. Versuchten, auf den Grund zu tauchen. So sehr wir uns auch bemühten, einen Wassermann haben wir nie zu Gesicht bekommen“, lachte er. Also ließ er als Regisseur seine Fantasie spielen und holte die Fabelwesen in einem Film ans Licht.

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Freunde auf Lebenszeit. Foto: Jürgen Weyrich

Unter seinen vielen Filmen sind seine acht Märchen die beliebtesten. Nun hat er das Drehbuch für ein neuntes auf dem Tisch. Es geht um eine Prinzessin mit goldenen Haaren, drei Brüder – Immobilienverwalter – und ihre Reise in die Märchenwelt. 50 Millionen Kronen soll der Film schätzungsweise kosten. 2017, so hofft Vacláv Vorlíček, hat er das Geld beisammen, und dann kann es losgehen.