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Wer ist eigentlich Frau Puppendoktor Pille?

Als Urte Blankenstein vor 50 Jahren im „Abendgruß“ des DFF ihre erste Sprechstunde als Puppendoktor Pille abhielt, hatte ich gerade mein Volontariat beim Fernsehen begonnen, war der Sandmännchen-Gemeinde also lange entwachsen. Eines Sonntags saß ich dann aber doch einmal justament vor dem Fernseher, als Puppendoktor Pille Dienst hatte. Ich guckte und horchte – etwas irritierte mich. Stimme, Aussehen – das passte zu meiner Erinnerung, die zehn Jahre zurück lag, und auch wieder nicht. Ist sie es oder ist sie es nicht, „meine“ Puppendoktor Pille?

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Von 1959 bis 1963 hielt Helga Labudda als Puppendoktor Pille im Abendgruß ihre Sprechstunden ab. Die Schauspielerin starb 2014 Quelle: Privatarchiv

Es war nicht Helga Labudda, die ich als Puppendoktor Pille kannte. Ich gebe zu, dass ich im ersten Moment der Erkenntnis ein kleines bisschen traurig war. Aber so ist das, wenn sich Gewohntes plötzlich verändert. Sie hatte die Figur 1959 eingeführt und ziemlich schnell die Zuschauerkinder erobert. Wenn sie sich am Schluss der Sendung mit der freundlichen Aufforderung verabschiedete: „Habt Ihr Kummer oder Sorgen, dann schreibt gleich morgen an Frau Puppendoktor Pille mit der großen klugen Brille …“, konnte die Abendgruß-Redaktion gewiss sein, dass ihr die Briefe zuhauf auf den Tisch flatterten. Nach Helga Labudda füllte Schauspielerin Angela Brunner fünf Jahre diesen Platz aus.

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Urte Blankenstein 1968 als„Puppendoktor Pille“ im Abendgruß des DFF Foto: Privatarchiv

1968 übernahm schließlich Schauspielerin Urte Blankenstein Stethoskop und Arztkittel und hat beides bis dato nicht abgelegt. Nicht mehr auf dem Bildschirm, ihre Abendgrüße wurden 1988 eingestellt. Das tat weh. Vor allem die Begründung war makaber. „Man wollte wegen der großen Beliebtheit der Figur nicht riskieren, dass es bei meinem Ableben zu einer solchen Staatstrauer kommt wie 1976 beim Tod von Eckhart Friedrichson, der den Meister Nadelöhr gespielt hatte. Ich war damals 44!“
Trost waren ihr ihre Bühnen-Programme für Kinder, mit denen sie schon seit 1970 als Puppendoktor Pille in Schulen, Kindergärten, auf Stadtfesten aufgetreten ist. Ihre Texte und Lieder schreibt und bearbeitet sie am Computer selbst. Sie war 50, als sie sich die neue, die digitale Technik angeeignet hat. „In meinen Vorstellungen, die kleine, interaktive Theaterstück sind, geht um Gesundheit, Sport, Spiel, alles eingebettet in Musik. Ich spreche die Kinder an und nehme sie mit in eine Stunde, in der sie Spaß haben und ganz nebenbei etwas lernen. Sogar die, die sonst Rabauken sind oder schüchtern, machen mit.“ Das hält die 75-Jährige selbst fit. „Als ich 50 geworden war, dachte ich, dass ich nicht ewig Pille sein kann. Inzwischen verschwende ich daran keinen Gedanken mehr“, fügt sie hinzu.

Urte Blankenstein steht mit einem so strahlenden Gesicht in ihrer kleinen Wohnung am Berliner Sterndamm, das keinen Zweifel an dem Gesagten zulässt. Sie trägt heute nicht ihren weißen Kittel und hat auch die Zopfperücke nicht aufgesetzt. Ich erlebe „Puppendoktor Pille“ ganz privat. Mit blondem Lockenschopf statt braunen Zöpfen mit weißer Schleife, in Jeans und Bluse. So, wie sie die Leute auf der Straße und beim Einkauf sehen – und über Jahrzehnte nicht erkannt haben. Bis zur Wende wussten nicht einmal ihre Nachbarn im Haus, in dem sie seit 1978 wohnt, um ihre Profession als „Pille“.

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Schauspielerin Urte Blankenstein 2018 Foto:Uwe Toelle/SUPERillu

Auf dem Tisch steht eine verlockende Erdbeer-Bananen-Torte mit scheinbaren Sahnehäubchen. Erdbeermatsch nennt sie ihre Kreation. Unserem Versprechen, dass wir es uns schmecken lassen werden, begegnet sie mit einer Warnung. „Stellt euch nicht auf Süßes ein. Was aussieht wie Sahne ist Mozzarella, die Schokoladensoße über den Früchten ist eine Vinaigrette aus Balsamico, Ingwer und Pfeffer.“ Mental gerüstet langen wir zu und sind hin und weg. Es wird ein langer Besuch. Urte Blankenstein kramt aus ihren Erinnerungen immer mehr hervor. Ihre Gedanken springen, produzieren Lücken, die mir beim Schreiben auffallen. Viele Mails gehen hin und her. Die letzte erhielt ich eben.  Der Text war schon online. Doch nun ist wohl alles stimmig.

Ihre Kindheit begann in keiner guten Zeit. Drei Tage vor Weihnachten 1943 kam Urte Blankenstein in der ostpreußischen Hafenstadt Pillau – heute Baltisk – zur Welt. Es war das vierte Jahr des zweiten mörderischen Weltkrieges, den Deutschland entfacht hatte. Mit Beginn des Jahres 1944 ging es für die deutschen Truppen nur noch rückwärts. Im Westen stießen die Alliierten England, USA und Frankreich gegen Deutschland vor, im Osten die Rote Armee. In den deutschen Ostgebieten setzte eine riesige Fluchtwelle ein. Zehntausende verließen Haus und Hof, um ihr Leben zu retten.

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Urte und ihre zweijährige Schwester Elke im Februar 1944 Foto: Privatarchiv

Am Abend des 24. Januar 1945 drängten sich im Hafen von Pillau die Menschen zu Hunderten. Alle hofften, über die Ostsee in Sicherheit zu gelangen.  Der ausrangierte Reichspostdampfer „Pretoria“, der seit 1940 als Marine-Wohnschiff am Pier lag, diente nun als Flüchtlingsschiff.  Urtes Familie  hatte Glück und kam an Bord. Als Lotse durfte ihr Großvater seine Angehörigen in einer Kabine unterbringen und sie mussten nicht wie andere Passagiere in der Eiseskälte auf den Planken ausharren. Nach sieben Tagen und Nächten erreichten das Schiff unbeschadet Stettin. Endstation für die  Flüchtlinge aus Ostpreußen, die von da an sich selbst überlassen waren. Über 9.000 Passagiere des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“, das zur gleichen Zeit mit etwa 10.300 Menschen unterwegs war, hatten nicht so viel Glück.  Für sie wurde die Ostsee vor der Küste Pommerns am späten Abend des 30. Januar zum Grab. Russische Torpedos versenkten den Dampfer. Etwa 1200 Menschen konnten aus dem eisigen Wasser lebend geborgen werden.

Stettin war von englischen Luftangriffen schwer zerstört, die Versorgung mit Lebensmitteln schlecht, als Suselene Blankenstein mit ihren Kindern die „Pretoria“ verließ. Sie wollte zu Verwandten nach Wismar. Ihre Eltern und Schwiegereltern  flüchteten weiter nach Hamburg. Urtes Schwester Elke litt an Kinderlähmung. Sie brauchte einen Arzt und Medikamente. Zwei Wochen fanden Suselene Blankenstein und die Mädchen in Stettin Aufnahme bei einer Familie. Im Februar 1945 wurde die deutsche Bevölkerung aus der Stadt evakuiert. „Mit Hunderten anderer Flüchtlinge  quetschte sich meine Mutter mit uns in einen Güterzug in Richtung Hamburg. In Bad Kleinen sind wir ausgestiegen, dann ist sie mit uns an der Hand bis Wismar zu Fuß weiter. Im Nachhinein bewundere ich diese Frau, die sich ohne Mann durch den Krieg und das schwere Leben danach geschlagen hat“, sagt Urte Blankenstein.

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Wismar 1946. Urte (l.) und ihre Schwester Elke (r.) spielten mit einem kleinen Nachbarskind in den Trümmern. Foto: Privatarchiv

Irgendwann kamen sie in Wismar an. Eigentlich hätte sich Suselene Blankenstein mit ihren KIndern wie alle Kriegsflüchtlinge auf dem Land ansiedeln müssen. Doch da es dort an medizinischer Versorgung fehlte, auf die die dreijährige Elke angewiesen war, bekamen sie in der Stadt ein Zimmer mit Kochstelle. Toilette und den Ausguss zum Abwaschen musste sich Suselene Blankenstein mit etlichen anderen Mietern auf dem Flur teilen. „Eine Schlimme Zeit. Wir aßen vergammeltes Gemüse, weil es kaum etwas zu essen gab. Und dann hat jemand unseren einzigen Kochtopf geklaut“, weiß Urte von ihrer Mutter. Sie sprach mit ihren Töchtern oft über die Ereignisse, die ihr Leben und das der Mädchen gelenkt hatten. „Das war Elke und mir auch wichtig, weil wir wissen wollten, was unsere Kindheit geprägt hat.“ Urte war damals anderthalb Jahre. Zu klein, um sich selbst zu erinnern. Aber eins hat sich ihr ins Gedächtnis gepflanzt. Der Duft und der Geschmack von Bratäpfeln. „Im obersten Stock des Hauses wohnte ein alter Zahnarzt. Zu ihm durften wir Kinder manchmal hoch. Er hat dann für uns Bratäpfel gemacht.“

Die schweren anglo-amerikanischen Luftangriffe auf Wismar in der Nacht vom 14. zum 15. April 1945 überlebte Suselene Blankenstein mit ihren Kindern unversehrt. Nach Kriegsende erhielten sie eine Zwei-Zimmerwohnung mit Küche unterm Dach. Oft stand Urte auf einem Küchenstuhl und guckte mit ihrer Schwester durch die Dachluke. „Elke zeigte nach draußen und sagte zu mir: Da, das ist die Welt! Das werde ich nie vergessen: Ich sah aus der Dachluke die Welt.“

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Elke und Urte im September 1949. „Wir hatten eine glückliche Kindheit“, sagen die Schwestern heute. Foto: Privatarchiv

Suselene Blankenstein hatte in Wismar eine Stelle als Schreibkraft am Gericht bekommen, weil sie perfekt Sütterlin lesen und Maschine schreiben konnte. Fast alle Dokumente waren damals in dieser Schreibschrift verfasst.  Urte und ihre Schwester wusste die Mutter im Kindergarten gut aufgehoben. Von der Not der Nachkriegszeit bekamen die Mädchen nichts mit. Es gab zu essen, sie spielten. Verschmitzt erzählt die Schauspielerin von ihren seltsamen Berufswünschen, die sie damals hatte. „Ich verliebte mich in einen kleinen dicken Jungen, den Sohn vom Bäcker. Eines Tages hatte er sich ein Bein gebrochen, und ich habe für ihn geweint. Irgendwann stand für mich fest, ich werde Bäckersfrau. Dann wollte ich Förstersfrau werden, um den kleinen Rehen die Flasche zu geben. Ich weiß gar nicht mehr, was ich mir noch alles aussuchte.“ Sie hält einen Moment inne. „Aber ich wollte immer Frau werden, fällt mir gerade auf.“ Nun ja, irgendwie hat sich das auch erfüllt. Sie wurde Frau Puppendoktor.

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Ihre Abendgrüße hat sie auf Videos gesammelt Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Der Vater spielte in Urtes Leben keine Rolle. Er arbeitete während des Krieges als Bauingenieur in München und kehrte nicht zu seiner Familie zurück. Die Eltern wurden geschieden, und Suselene Blankenstein sorgte so gut sie konnte für ihre Kinder. „Meine Mutter hatte von zu Hause einen Koffer voll Wolle mitgenommen, aber die Stricknadeln vergessen. Mit Fahrradspeichen strickte und häkelte sie für uns, verkaufte Wollsocken an die Russen. Die Kaserne war auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir waren arm, haben uns aber nie so gefühlt.“ Urte erinnert sich, wie sie auf der Straße gekreiselt und Ball gespielt haben. Als sie vier oder fünf Jahre alt war, schenkte ihr die Mutter eine Puppe mit einem Porzellankopf. Der hatte mitten durch das Gesicht einen Riss. „Zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekam die Puppe neue Strickkleidchen. Das waren unsere Geschenke. Und wir haben uns darüber gefreut. Ein Fahrrad hätten Elke und ich gerne gehabt, aber das konnte sich Mutti nicht leisten.“ Die Schauspielerin kann bis heute nicht Radfahren.

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Oktober 1951. Die Schwestern leben im Kinderheim Salzemen, nahe Magdeburg, wo ihre Mutter studiert.  Foto. Privatarchiv

Suselene Blankenstein war eine selbstbewusste, gebildete Frau. Sie wusste, dass sie nur mit einem Beruf das Leben für sich und Kinder ohne Sorgen gestalten kann. Wie die meisten jungen Mädchen aus gut bürgerlichem Hause hatte sie Hauswirtschaft gelernt und war auf die Ehe vorbereitet worden. In der DDR standen ihr die Wege nun offen, etwas zu lernen, das für sie einen Sinn machte. Im Januar 1951, da war sie 36 Jahre alt, nahm sie ein Studium an der Medizinischen Fachschule in Magdeburg auf und machte eine Ausbildung zur Krebsfürsorgerin. Da es keine Verwandten oder sonst jemanden gab, der sich um ihre Kinder kümmern konnte, verbrachten Urte und Elke die vier Jahre während des Studiums der Mutter im Kinderheim. Zuerst in Elbenau, wo sie ein Jahr blieben, weil die Dorfschule nur drei Klassen hatte. „Im September 1951 kam meine Schwester in die vierte Klasse, und wir zogen um nach Salzelmen“, erinnert sich Urte. Das Heim gibt es nicht mehr. Die Schwestern haben es in bester Erinnerung. „Es ging uns dort sehr gut. Wir hatten Schweine, Schafe und Hühner. Ich habe Schafe gehütet, und für die Hühner haben wir Engerlinge gesammelt. Es fehlte uns an nichts.“

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Das Kinderheim Elbenau mit dem Dorteich davor. Urte Blankenstein erinnert sich gut daran, wie sie im Winter über den Teich geschlittert sind. Foto frei: Quelle http://www.elbenau.de/geschichte/

An den Wochenenden fuhren die Schwestern mit der Straßenbahn nach Magdeburg und besuchten ihre Mutter im Studentenwohnheim. Die Leiterin des Kinderheims in Salzelmen, in dem 30 Kinder lebten, hieß Frau Heuer. „Ihr verdanken wir unsere erste musische Bildung. Wir hatten einen Chor, in dem Elke und ich solo oder zweistimmig sangen. Bei Ausscheiden heimste unser Chor immer Preise ein“, schwärmt Urte. So legten die vier Jahre, die die Schwestern in Salzelmen verbrachten, den Grundstein für ihre Zukunft. Elke studierte Opernregie und Urte ist Schauspielerin geworden.

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Dieses Zeitungsfoto zeigt Urte (r.) und ihre Schwester Elke (M) im Ferienlager. Sie hat es aufbewahrt. Faksimile / Privatarchiv

1954 zog Suselene Blankenstein mit ihren Kindern nach Schwerin. Sie arbeitete für die Stadt als Krebsfürsorgerin. Ihre neue Wohnung lag in der Straße zum Theater. Urte ging in die 5. Klasse, als sie das erste Mal daran dachte, Schauspielerin zu werden. Erzählt hat sie das keinem. Sie zog es vor, als Berufswunsch Dramaturgin anzugeben, wenn sie gefragt wurde. „Das klang nicht so versponnen. Außerdem war ich so naiv zu glauben, dass man mich schon entdecken würde, wenn ich erst mal am Theater bin“, erklärt sie. „Hätte ja sein können.“
Dass sie das Zeug zur Dramaturgin hatte, erschien weder Lehrern noch Mutter abwegig. Urte glänzte in der Schule mit ihren Aufsätzen, beeindruckte in Geschichte durch ihre sehr lebendigen Erzählungen. Sie inszenierte mit ihren Mitschülern  Sketche, die sie selbst schrieb. Einige hat sie noch und lacht: „Die waren grauenhaft.“

Mit fünfzehn begann sie im Schweriner Arbeitertheater „Kolonne Links“ mitzuspielen, war mit Feuereifer dabei. Hier konnte sie erste Bühnenerfahrung sammeln, ihr schauspielerisches Talent testen. „Wir spielten Stücke von Hans Sachs, ,Anne Frank‘, Brechts  Mutter Courage“, erzählt sie. Als sie im Sommer 1960 ihren Schulabschluss in der Tasche hatte und sich in Berlin bei der Schauspielschule „Ernst Busch“ meldete, musste sie jedoch eine große Enttäuschung hinnehmen. Die Aufnahmegespräche für das Studienjahr 1960/61 waren schon abgeschlossen. „Ich musste nun auf die Termine im Jahr darauf warten.“ Lang wurde ihr die Zeit nicht. Die Arbeit am Theater nahm sie voll in Anspruch. „Wir probten oft bis spät abends, bauten anschließend noch die Kulissen für die Aufführungen.“ Da ihre Mutter nach Kleinmachnow umgezogen war,  musste die 17-Jährige allein zurechtkommen. Ihre Schwester Elke studierte inzwischen an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Berlin. Ihren Unterhalt verdiente sich Urte im „VEB Vorwärts“, einem großen Autoreparaturbetrieb. Manchmal war sie tagsüber so müde, dass sie während der Arbeit heimlich aufs Klo verschwand, um mal kurz zu schlafen.

Urte Blankenstein
Vier Stunden erzählte mir Urte Blankenstein aus ihrem Leben. Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

1961 packte  Urte Blankenstein ihre Sachen und zog zur Mutter nach Kleinmachnow. Sie wagte einen neuen Versuch an der Schauspielschule in Berlin, diesmal rechtzeitig. Ihre Hoffnung auf das Schauspielstudium zerschlug sich nach dem Vorspielen. Sie wurde abgelehnt. Ungeeignet, sagte man ihr. Doch so ganz hatte sie ihren Traum nicht begraben. „Ich blieb bei meiner Mutter in Kleinmachnow und habe dort ein Dreivierteljahr im Säuglingsheim gearbeitet. Die Kinder waren Waisen oder von ihren Eltern zurückgelassen worden, als die vor Grenzschließung 1961 in den Westen geflüchtet sind. Unvorstellbar! Manche wurden in letzter Minute gefunden.“ Urte holt tief Luft, bevor sie sagt: „Wir waren glücklich, wenn ein Kind adoptiert wurde. Deshalb erbost es mich, wenn heute nur von Zwangsadoptionen und schlimmen Zuständen in DDR-Heimen gesprochen wird. Das gab es, und man soll es nicht vom Tisch wischen. Nur haben viele Heimkinder, wie meine Schwester und ich, andere Erfahrungen gemacht.“

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Hunderte Frösche bevölkern die Wohnung der Schauspielerin. Mitbringsel und Geschenke ihrer Fans  Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Eine Geschichte berührt sie noch immer. Tränen stehen ihr in den Augen, wenn sie sie erzählt. 1984 bis 1988 moderierte sie die Fernsehsendung „Von Polka bis Parademarsch“. Dabei lernte sie den Dirigenten des Orchesters des Wachregimentes kennen. „Ein sympathischer Mann Ende Dreißig. Seine Mutter ist in den Westen abgehauen. Ihn und seine kleine Schwester hatte sie zu Hause eingeschlossen. Die Wohnung lag im dritten Stock, er konnte nicht aus dem Fenster klettern, um Hilfe zu holen. Weil sie nichts zu essen hatten, zerkaute er Papier und steckte es seiner Schwester in den Mund. Zum Glück wurde ein paar Tagen später ein Gerüst vor dem Haus aufgebaut. Darüber ist er rausgeklettert. Die beiden kamen ins Heim. Ihm wurde ermöglicht ein Instrument zu erlernen und Musik zu studieren. Von solchen Geschichten hört und liest man in den Medien so gut wie nichts. Das macht mich wütend.“

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Diese Käthe-Kruse-Puppe bekam Urte Blankenstein von einem Fan geschenkt. Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Nun ist Kleinmachnow mit seiner Nähe zu Berlin ein Ort, der immer schon Intellektuelle, Künstler, Schauspieler und Schriftsteller angezogen hat. Das Einwohnerverzeichnis nennt aus der Zeit, in der Urte Blankenstein dort wohnte, prominente Namen wie Herbert Köfer, Agnes Kraus, Helga Göhring, Gisela Steineckert, Christa und Gerhard Wolf, Maxi und Fred Wander. Urte Blankenstein weiß nicht mehr, wer ihr den Tipp gab, sich doch beim Nachwuchsstudio des Fernsehens in Adlershof zu bewerben. Gereift, mit mehr Lebenserfahrung, stellte sie sich dort vor und begann 1964 endlich die langersehnte Schauspielausbildung. Sie zog nach Berlin und lernte ziemlich bald den 16 Jahre älteren Rundfunkjournalisten Günther Kuhfeld kennen. Er imponierte ihr mit seinem Wissen. „Ich hörte ihm staunend zu, wenn er mir die Welt erklärte, die Sterne, die Natur.“ So, wie es vielleicht ihr Vater getan hätte. Sie heirateten, 1965 kam ihr Sohn Mathias zur Welt.

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Im Kleist Theater Frankfurt/Oder spielte sie 1966 das „Aschenputtel“ Pressefoto/Privatarchiv

Ihr erstes Engagement bekam die junge Mutter 1966 am Kleist-Theater in Frankfurt/Oder. Ihre erste Rolle war das „Aschenputtel“. Sie spielte damals schon gern für Kinder. „Sie sind in Reaktionen so direkt, gehen mit den Figuren mit. Jede Vorstellung brachte Überraschungen“, erinnert sich die Schauspielerin. Dennoch, wirklich glücklich war die damals 23-Jährige  nicht. „Manchmal fühlte ich mich überfordert. Ich hatte meinen kleinen Sohn bei mir und musste für die Vorstellungen jemanden finden, der ihn abends betreut.“  Einmal war sie so fertig, dass sie heulte, weil sie sich auf der Bühne eine Laufmasche geholt hatte. Bei ihrem Mann fand sie keine Ermutigung, keine Hilfe. Im Gegenteil. Er redete alles klein, was sie machte. Die psychische Belastung wollte sie sich und ihrem Sohn, der sehr unter den Spannungen litt, nicht auf Dauer antun. Sie trennte sich von ihrem Mann. 1969 wurden sie geschieden.

Im Sommer 1967 war Urte Blankenstein nach Berlin zurückgekehrt. Günter Puppe, ein Regisseur des Kinderfernsehens, auf der Suche nach einer jungen Schauspielerin für die Hauptrolle seiner Sendung „Eine Reise mit Hein Pöttgen“, hatte sie als Aschenputtel gesehen und fand, sie würde passen. „Er lud mich zum Vorsprechen ein, was eher ein Vorsingen war, bei dem ich vor Aufregung kaum einen Ton herausbracht“, erinnert sich die Schauspielerin.  Sie bekam die Rolle der Puppe Kathrinchen trotzdem. Mit Helga Piur und Horst Torka als Spielgefährten und Dieter Perwitz, später Klaus Bergatt, als Hein Pöttgen, ging sie im Studio Adlershof auf lustige Seefahrt. Nun war sie da, wo sie eigentlich hingewollt hatte: beim Fernsehen.

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So kennen die Kinder heute Urte Blankenstein alias Puppendoktor Pille Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Die Sendung lief immer am Sonntagnachmittag. Der Zufall wollte es, dass in dieser Zeit die Schauspielerin Angela Brunner als Puppendoktor Pille im Abendgruß des Sandmanns abgelöst werden sollte. Unter 150 jungen Schauspielerinnen wurde Urte Blankenstein ausgesucht, eine zierliche 24-Jährige mit großem Schmollmund und einer sehr sanften, aber markanten Stimme. „Unser Casting bestand darin, dass wir Hustentropfen auf einen Teelöffel Zucker träufeln mussten. Ich habe dabei so gezittert, dass ich erstaunt war, dass man mich genommen hat.“

Dass aus ihren kleinen Abendgruß-Auftritten eine lebenslange Liebe werden würde, hätte die Schauspielerin nimmermehr erwartet, als sie am 12. Juni 1968 zum ersten Mal als Puppendoktor Pille vor der Kamera stand. Im Nachhinein muss man Günter Puppe für sein gutes Gespür loben. Urte Blankenstein war den Kindern 20 Jahre lang in mehr als tausend Sendungen eine tröstende, Rat gebende und vertrauensvolle Freundin. Doch nicht nur für die kleinen Fernsehzuschauer. Oft baten Eltern um pädagogische schreibt dieHilfe per Bildschirm. Dann hat die Redaktion die Abendgruß-Sprechstunde auf das Problem zugeschnitten. „Am Anfang“, sagt die Schauspielerin, „war es nur eine Rolle, die ich gespielt habe, die mir Spaß machte, weil ich gern mit Kindern umgehe. Doch mit jedem Jahr mehr ist sie tiefer in mein Leben eingeflossen. Sie macht mich aus.“ Schon deshalb kann sie  „Pille“ „Pille“ nicht sein lassen.

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Von 1967 bis 1969 lief die Sendung „Reise mit Hein Pöttgen“ im DDR-Kinderfernsehen mit Urte Blankenstein als Kathrinchen und Klaus Bergatt als Hein Pöttgen Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Als die Sendereihe „Reise mit Hein Pöttgen“ 1969 auslief, hatte sie außer den Dreharbeiten zwei-, dreimal im Jahr für den Abendgruß nichts. Die inzwischen alleinerziehende Mutter brauchte ein regelmäßiges Einkommen. Und wieder war es Regisseur Günter Puppe, der ihr eine Perspektive gab. Als Regie-Assistentin drehte sie mit ihm die wöchentliche Satire-Sendung „Tele“-BZ“ (lief bis 1971), in der sie auch als Schauspielerin in Tochterrollen agierte. Andere Unterhaltungssendungen kamen dazu. „Ich habe als Assistentin die Kuss-Umfrage für die Unterhaltungssendung ,Außenseiter – Spitzenreiter‘ gemacht, einmal im Jahr Tele-Lotto moderiert. Es war alles sehr abwechslungsreich“, erzählt Urte Blankenstein. Nur in Fernsehfilmen hat  man die Schauspielerin nicht besetzt. Die Zuschauer würden in ihr nicht die Rollenfigur sehen, sondern Puppendoktor Pille, hieß es. Zwei Unterhaltungssendungen machten sich ihre Popularität zu nutze. Von Mitte der 80er Jahre bis zum Ende des DDR-Fernsehens 1991 führte Urte Blankenstein als Moderatorin durch die Sendungen „Von Polka bis Parademarsch” und die Operettensendung „Musikalisches Intermezzo“. „Ich habe dabei unglaublich viel über Musik gelernt“, schwärmt sie.

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 Lieder und Texte schreibt sie selbst Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

1969 hatte sie begonnen, sich ein Live-Programm für „Puppendoktor Pille“ zu erarbeiten. Ein Jahr hat es gedauert, dann ging sie damit auf die Bühne. Lampenfieber, Herzklopfen und die bange Frage: Wie nehmen die Kinder die Fernsehfigur in der Realität an? Die Premiere konnte nicht besser laufen. Was danach folgte, hätte sie sich nicht schöner erträumen können. Keine Veranstaltung, nach der die Kinder nicht am Bühnenausgang auf ihre Puppendoktor Pille warteten, sie mit Fragen löcherten. Das beflügelte Urte Blankenstein, und sie wagte 1981 den Schritt in den Westen. Zuerst in einer gemeinsamen Show mit Dr. Peter Kersten, dem berühmten Zauberpeter. Doch sie merkte sehr schnell, dass sie es auch allein schafft.

Urte Blankenstein
Frosch Quaki ist Urte Blankensteins Spielpartner, der den Kindern im Saal nur Unsinn beibringen will. Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

„Zunächst hatte ich Angst vor den antiautoritär erzogenen Westkindern“, blickt sie zurück. „Aber ich habe das große Glück, für ein Alter zu spielen, in dem sie noch ganz offen sind, unverbildet, wissbegierig und zutraulich. Die Kinder im Westen waren nicht anders als die bei uns. Heute sehe ich es als großes Geschenk, dass mir die Rolle gegeben wurde.“ Allerdings durfte Urte Blankenstein außerhalb der DDR nicht als Puppendoktor Pille auftreten. Also nannte sie sich Frau Puppendoktor Spiel-Spaß. Den Kindern war es egal. Durch ihre guten Verbindungen zu Veranstaltern in der alten BRD blieb der damals 57-Jährigen nach der Wende Arbeitslosigkeit erspart. „In den ersten zwei Jahren bin ich mit meinem Kinderprogramm verstärkt in die Städte im Westen gegangen, in denen ich schon zu DDR-Zeit aufgetreten war. Ich hatte zwar mein zweites Standbein beim DDR-Fernsehen als Moderatorin für die Musiksendungen „Von Polka bis Parademarsch“ und „Klassisches Intermezzo,“ doch damit war’s mit dem Aus des DFF 1991 vorbei. Pille hat überlebt.“ Sie lacht. „Das hätte ich nie geglaubt.“ In den heimischen Gefilden fasste sie wieder Fuß, als Veranstalter Mario Behnke vom Show Express Könnern sie entdeckte.

Ein böser Traum ereignete sich 2014, als Helga Labudda, die erste Puppendoktor Pille, starb. In großen Lettern prangte auf der Titelseite einer Zeitung: „Puppendoktor Pille ist tot“. Da stand zwar Helga Labudda in der Unterzeile, aber kaum jemand wusste, dass die heutige Puppendoktor Pille Urte Blankenstein heißt. „Anfangs habe ich noch lachen können“, sagt sie, „später bin ich erschauert. Die Reaktionen der Menschen waren überwältigend und beängstigend zugleich. Menschen haben auf Facebook über mich so emotional und bewegend geschrieben, dass es mir sehr nahe ging. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, denn es wurden auch Veranstaltungen abgesagt. Ich musste beweisen, dass ich noch am Leben bin.“

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Urte Blankenstein zeigt uns den Zeitungsartikel, der sie von den Toten auferstehen ließ. Foto: Uwe Toelle/SUPERillu

Ein befreundeter Journalist aus dem Schwarzwald, mit dem sie viele Benefizveranstaltungen für krebskranke Kinder gemacht hat, rückte mit einem Artikel bei DPA alles wieder zurecht. Immer wieder spürt Urte Blankenstein, wie sehr sie, respektive Pille, in den Kindheitserinnerungen vieler Erwachsener verankert ist. „Ein Taxifahrer sagte mir neulich, dass er mich an meiner Stimme und den Augen erkannt hätte.“ Puppendoktor Pille ist über die fast 50 Jahre, die Urte Blankenstein in dieser Rolle unterwegs ist, zu ihrer Bestimmung geworden. Eltern und Großeltern geben die Liebe zu ihr an Kinder und Enkelkinder weiter. Nach vielen Mühen ist die Zeit der Ernte gekommen.

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Urte Blankenstein heute und in ihrer Rolle als Kathrinchen 1969 Foto: Uwe Toelle/SUPERillu