Täve – die Radsport-Legende feiert 85. Geburtstag

Herzlichen Glückwunsch dem Helden meiner Kindheit.

Was für ein Strahlen!  So kennt man Gustav-Adolf Schur, die Radsport-Legende der DDR. So haben Millionen Täve, den erfolgreichsten Sieger der Internationalen Friedensfahrt, in Erinnerung. Im Gemeindesaal Biederitz gab es für den Jubilar einen Empfang. Ich hatte ihn ungefähr zwei Stunden vorher am Telefon, um ihm zu gratulieren, und erntete als Dank sogleich sein ansteckendes Lachen, das ihn so sympathisch macht, so nahbar, weil es einen selbst gleich fröhlich stimmt. Die Gratulanten gaben sich den ganzen Vormittag die Klinke in die Hand, das Telefon läutete unentwegt. „Ich musste  mich erst mal ausruhen, ich war ganz platt“, sagte er. „Und die vielen Briefe, ich wusste gar nicht, dass so viele Menschen an mich denken. Das muss ich alles in Ruhe lesen und mir die Gesichter wieder ins Gedächtnis rufen. Manch einen habe ich ja lange nicht gesehen.“ Aber er vergisst kein Gesicht, keinen Namen. Ich erzählte ihm eine kleine Episode, die mich auf platonische Weise mit ihm verbindet. Seit 60 Jahren! Er hat gestaunt.

Radsportlegende Gustav Adolf T‰ve Schur - Empfang zu seinem heutigen 85. Geburtstag im Gemeindesaal in Biederitz
Ein strahlender Täve Schur beim Empfang im Gemeindesaal Biederitz. Die 85 sieht man ihm nicht an. 60 Kilometer am Tag auf seinem Rad zu strampeln macht der Radsport-Legende  nichts aus. „Noch nicht“, scherzt er.

Sport hat mich nie interessiert, mit einer Ausnahme – der Internationale Friedensfahrt. Die habe ich mitverfolgt, saß mit meinem Vater vorm Radio und fieberte mit. Vor allem mit einem: Gustav-Adolf Schur. „Unserem Täve“ wie alle sagten, seit er 1955 bei dem bedeutendsten internationalen Amateur-Etappenrennen durch drei Länder als erster DDR-Fahrer das GelbeTrikot für den Sieg in der Gesamteinzelwertung gewonnen hatte.

Ein Jahr später stand auch ich an der Strecke, um ihn anzufeuern, 1956 bei der Tour Warschau – Berlin – Prag. Die 7. Etappe, von Berlin nach Leipzig, führte durch unser Dorf, Eiche bei Potsdam. Es war ein warmer Maitag. Aufregt stand ich vor meinem Vater und guckte mir die Augen aus dem Kopf. Das Kinderherz schlug bis zum Hals. Und dann rollte die Spitzengruppe heran – und war vorbei – mit Täve. Zu schnell für mich, um ihn zu erkennen. Ich hörte nur die Leute rufen: „Täve, Täve…“

Er lachte am anderen Ende der Telefonleitung und sagte dann mitfühlend. „Ach, das war ja eine Enttäuschung. Wir sind ja auch gerast. Da konnte man schwer jemanden erkennen.“

Auf Zeichenkarton habe ich mithilfe meines Vater, ich war ja erst sechs, die Friedensfahrt-Strecke aufgezeichnet und jeden Tag den Etappensieger mit Bild aus der Zeitung ausgeschnitten und aufgeklebt. Wenn Täve nicht gewann, war ich traurig. Unvergessene Erlebnisse. „Ja, das war unsere Zeit“, konstatierte er fröhlich.

Täve fuhr bis 1964 zwölf Mal den „Course de la Paix“. Er erkämpfte zwei Gesamt- und neun Etappensiege. Für mich verlor die Friedensfahrt ihren Reiz, als er nicht mehr dabei war, denn sie war in meinem Empfinden mit ihm verbunden.

Gustav Adolf Schur
Mit seiner Ehefrau Renate lebt er in seinem Geburtsort Heyrothsberge. Sie haben vier Kinder. Foto: Yorck Maecke

Viele Jahrzehnte später lernte ich ihn dann persönlich kennen, bei der Gala der SUPERillu, der Goldenen Henne. Es fällt nicht schwer, diesen humorvollen, bescheidenen Menschen zu mögen. Mir umso weniger, da er meinen Heimatdialekt – sachsenanhaltinisch – spricht. Täve war in der DDR – und ist es auf dem Territorium immer noch – der populärste und beliebteste Sportler. Neunmal in Folge wurde er bis 1960 zum Sportler des Jahres gewählt und nahm auch in einer Umfrage nach den besten und populärsten DDR-Sportlern aller Zeiten 1979  den ersten Platz ein.

Ein denkwürdiges Ereignis war das Amateurrennen der UCI-Straßen-Weltmeisterschaften am 13. August 1960 auf dem Sachsenring. Täve verzichtete auf seine Siegchance und damit auf den WM-Hattrick nach seinen WM-Titeln 1958 und 1959 zugunsten seines Mannschaftskameraden Bernhard Eckstein. Damit wurde der Maschinenmechaniker aus Heyrothsberge endgültig zur Sportler-Legende.

Wenn „unser Täve“ auf sein Leben zurückblickt, er kam am 23.Februar 1931 in Heyrothsberge zur Welt, darf er stolz sein. Er hat sich nie als Star gesehen, sondern immer als Teil der Mannschaft, des Kollektivs. Er ist sich treu geblieben in seinem Denken und Handeln – was ihn nach dem Untergang der DDR in der Bundesrepublik  2011 die Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports kostete.

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Ohne Freiheit geht gar nichts – Zum Tod von Sonja Kehler

Vorbei. Das ist endgültig. Und der Tod ist endgültig. Sonja Kehler wird sich nie mehr zu Wort melden mit Brecht-Liedern, Eisler- oder Weill-Songs. Sie wird auf keiner Theaterbühne mehr stehen – sie hasste Stühle, weil sie beim Sitzen fast immer lag – und uns mit hintersinnigen Kästner-Texte begeistern, mit Versen von Ringelnatz oder uns die expressionistische Lyrik der deutsch-jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler nahebringen. Sonja Kehler hat sich von der Welt verabschiedet. Sie starb am 18. Januar in ihrer Wohnung in Berlin. Leise, ohne Anlass.

Leise war auch der letzte Abschied. Am 2. Februar, es wäre ihr 83. Geburtstag gewesen, wurde die international hoch geschätzte Schauspielerin und Diseuse von ihrer Familie und engen Freunden auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf bestattet.

Nur einmal habe ich die Künstlerin getroffen. In ihrer Berliner Wohnung. Für ein kleines Porträt, zu ihrem 76. Geburtstag. Zum 75. hatte es nicht geklappt. Mein Respekt, meine Hochachtung wirkten wie eine Bremse. Sie löste sie umgehend mit ihrer Gastfreundlichkeit, ihrer unkomplizierten Art, sich auf Menschen einzulassen. Eigentlich wollte sie nach Mecklenburg, wo sie in einem Bauernhaus auf dem Dorf lebte. Ihr Platz, um die Seele baumeln zu lassen, was aber höchst selten vorkam. Viele Freunde, ihre Lieblingsenkeltochter Paula und ihre Urenkel Oskar und Julia besuchten sie oft und gern. Auch, um ihre dänische Küche zu genießen.

Sonja Kehler
Im Januar 2009 traf ich Sonja Kehler in ihrer Berliner Wohnung zum Interview. Foto: Yorck Maecke

Damals, im Januar 2009, lagen gerade wieder ein paar Wochen Dänemark vor der rastlosen 76-Jährigen. Seit Mitte der 80-Jahre hatte Sonja Kehler an der staatlichen Schauspielschule in Odense als Gastdozentin gelehrt, an verschiedenen Theatern in Dänemark gearbeitet und dafür die Landessprache perfekt gelernt. Berlin war Zwischenstation, wenn sie mit ihrem Pianisten Milan Šamko zu Konzerten in Deutschland unterwegs war oder nach Spanien und Portugal geflogen ist, wo man die eigenwillige Künstlerin sehr schätzte. 2006 hatte man sie als Brechtexpertin nach Sevilla geholt, um das Theater-Ensemble bei der Einstudierung der „Dreigroschenoper“ zu unterstützen. Daraus ergaben sich weitere Arbeiten. 2007 erarbeitete sie mit dem international renommierten Professor für Choreographie und zeitgenössischen Tanz Paco Macià Vicente in Murcia den „Kaukasischen Kreidekreis“. Später folgte ein neues Brecht-Programm.

Dänemark war ihr eine Art künstlerischer Wahlheimat geworden. „Ich bin Mitte der 70-er Jahre zum ersten Mal in Kopenhagen aufgetreten, und es war Liebe auf den ersten Blick“, erinnerte sie in unserem Gespräch. Danach wurde sie immer wieder eingeladen, auch nach Svendborg in das Haus mit dem Strohdach, in dem Brecht zwischen 1933 und 1939 gewohnt hat. Nach einem Workshop zur Arbeit mit Brecht war die Schauspielschule von Odense auf sie zugekommen und hatte gefragt, ob sie Interesse hätte, Interpretationsunterricht zu geben. „Ich war die einzige, die mit Brecht anders umging, sehr viel körperlicher.“

Sonja Kehler
Sie war eine der bedeutendsten Brecht-Interpreten, eine Künstlerin von internationalem Format und  Theaterpädagogin. Foto: Yorck Maecke

Für Sonja Kehler, die eigentlich Romanistik in Leipzig studiert hatte und nur durch puren Zufall zum Schauspiel und zum Gesang gekommen war, hieß Theater: Bewegung, Einsatz von Stimme und Körper. Wenn sie redete, redete alles an ihr mit. Arme, Hände, Finger, Augen – ein Stuhl wurde unter ihr zur Bühne. „Ein Schauspieler muss tanzen und singen können, ein Tänzer singen und spielen“, sagte sie. Nach dem Prinzip hat sie ihre Studenten unterrichtet. „Stimme und Körper“ hieß ihr Fach, und sie hat ein Lehrbuch geschrieben, wichtig für Sänger wie Schauspieler, das 2009 in Dänemark erschienen ist.

Kehler singt Brecht_

Sie selbst bezeichnete sich als „singende Schauspielerin“. Der Theaterkritiker und Brechtforscher Prof. Dr. Ernst Schumacher (†2012) schrieb über sie: „Man kann von ihr wirklich sagen, sie sei eine gestische Schauspielerin. Das Anziehende, das Hinreißende ihres Vortrags besteht darin, dass sie zu jedem Gedicht, das sie singend vorträgt, einen eigenen Gestus zu finden vermag… wie sie die Züge ihres Gesichts dem, was sie singt, anpasst oder widersetzt, und natürlich, wie sie die Stimme moduliert und selbst gestisch wirken lässt und wie sie das Kunststück fertigbringt, sich in kaum einer Geste zu wiederholen.“

Ihre Art der Interpretation unterschied die Kehler von der anderen großen Brecht-Interpretin, Gisela May. Als Studentin hatte sie die May in einem Brechtkonzert in Leipzig erlebt und für sich beschlossen: „Das willste nie“. Deshalb hielt sie sich von Brecht-Texten auch lange fern, ließ sich DDR-Lyrik vertonen. 1967 gewann sie beim Chanson-Wettbewerb der DDR den Sonderpreis des Rundfunks. In die „Szene geschubst“, wie sagte, hat sie 1968 der Jenaer Komponist Tilo Medek († 6.2.2006). Er hatte ihr „Meine Wunder“, acht Lieder für Schauspielerstimme und Sinfonieorchester geschrieben. Das war neues Hören. Lächelnd erinnerte sie sich: „Ich stand auf der gleichen Bühne in Leipzig wie damals Gisela May und war richtig stolz.“

Allerdings gab es bei diesem, ihrem ersten Konzert gleich einen „Skandal“. Da stritten sich Kompetenzen über die Frage: Darf man zeitgenössische E-Musik mit U-Musik kombinieren – und dann auch noch eine Schauspielerin singen lassen? Ein Streit, der heute nur noch Schmunzeln hervorruft. Sonja Kehler hatte er genutzt. Sie bekam sehr viele Angebote, so dass für die damals 35-jährige Mutter zweier Töchter keine Notwendigkeit mehr für ein festes Theaterengagement bestand, um Geld zu verdienen. Sie spielte noch als Gast an verschiedenen Bühnen in der DDR, war die She Te in Brechts „Der gute Menschen von Sezuan“, an die 200 Mal die Eliza Doolittle in „My Fair Lady“. Sie feierte Erfolge als Luise in „Kabale und Liebe“, als Grusche im „Kaukasischen Kreidekreis“ oder als Elisabeth in „Maria Stuart“.

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Mit ihrem ersten und eigenen Brecht-Programm trat sie 1971 auf. Drei Jahre später trug sie auf dem Eisler-Kongress in Berlin Eisler- und Dessau-Lieder vor. Sie machte Tourneen durch ganz Europa, Ost wie West, und avancierte zur herausragenden Brecht-Interpretin. Sonja Kehler entwickelte nun eigene literarische Programme, immer „gierig auf das Neue“. Wozu auch die wenig bekannten und eigenwilligen Lieder von Kurt Weill gehören. Paul Dessau hatte für sie Brechts Vers „Das Pferd“ vertont. Ein frecher Text über ein Pferd, das nichts taugt und deshalb Politiker wird. Sie durfte das singen – der Text war ja von Brecht und den konnte man in der DDR schlecht verbieten. Sie sang auch unerwünschte Texte von Sarah Kirsch, Günter Kuhnert und Volker Braun. „Meine Freiheit habe ich mir nicht nehmen lassen. Ich habe weltweit über 40 Konzerte im Jahr gegeben und es genossen, fremde Menschen kennenzulernen.“

Sonja Kehler
Die Diseuse und Schauspielerin in ihrem Arbeitszimmer. Foto: Yorck Maecke

Eine Merkwürdigkeit hatte sich in den 80-ern ergeben. Die Künstlerin war „in Ungnade“ gefallen, weil nach einem Konzert im Westen ein Musiker weggeblieben war, nicht in die DDR zurückkehrte. Als Verantwortliche musste sie es büßen. Reiseverbot, keine Konzert, keine Plattenaufnahmen. Dann wurden die Devisen knapp und die „Künstler-Agentur der DDR“ schickte sie zur Arbeit ins kapitalistische Ausland.

Dickköpfig reizte es die Kehler immer, ihre schauspielerischen Grenzen auszutesten. Exzellent und international hoch beachtet war ihre liebevolle Interpretation von Rosa-Luxemburg-Texten, Briefe aus dem Gefängnis, mit der sie ab 1980 in einem Ein-Personen-Stück der Mitbegründerin der KPD ein künstlerisch-literarisches Denkmal gesetzt hat. Mit dem berühmten Satz: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, der in der DDR als Paradebeispiel für subversives Denken galt. Das Programm wurde im Ausland 150 Mal aufgeführt, aber nur ein einziges Mal in DDR. Nach einem Auftritt in Westdeutschland wurde sie mal gefragt: „Wo würde Rosa Luxemburg eigentlich heute leben wollen? In der DDR?“ Da hat sie gelacht und geantwortet: „Das glaube ich nicht. Ich weiß nicht, wo für sie überhaupt eine Chance wäre. Sie würde wahrscheinlich wieder erschlagen werden.“ Das hat eine Zeitung gedruckt und die Kehler hatte wieder Trouble…

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Einen Ruhestand kannte Sonja Kehler bis zum Schluss nicht. „Nicht zu arbeiten, wäre richtiger Stress für mich“, hat sie immer gesagt. Das wusste niemand besser als ihr Mann, der Regisseur Harald Quist, mit dem sie seit 1975 verheiratet war. Außerdem wollte sie noch viel geben. „Je älter man wird, desto mehr hat man in diesem Beruf einzubringen. Das nicht zu tun, wäre Verschwendung.“ Sie gab bis zum Schluss Unterricht, hat inszeniert und ist mit eigenem Repertoire aufgetreten. Zum 80. Geburtstag hatte sie noch ein großes Konzert in Dänemark und ihren 81. Geburtstag hat sie während einer mehrwöchigen Arbeit mit Studenten wie so oft en passant begangen. Unvergesslich für alle, die sie erlebt haben, bleibt Sonja Kehler bei der „Langen Hanns Eisler Nacht“ am 8. September 2012. Die alte Dame bekam spontane Ovationen für ihren herausragenden Brecht-Vortrag „Ein Pferd klagt an“.

Eine Künstlerin von internationalem Format ist gegangen. Was sie uns hinterlassen hat, sind Platten mit ihren Chansons und Interpretationen von Bert Brecht, Kurt Weill, Paul Dessau und Hanns Eisler. Eine reiche Gabe.