Dorit Gäbler – „Ich habe mein Herz auf die Bühne geschmissen“

Wann sagte sie das? Es ist mehr als fünfzehn Jahre her. Ich interviewte sie damals für die SUPERillu. Sie hatte gerade ihr neues Programm „Starke Frauen“ kreiert. Wir kamen auf ihren wahnsinnigen Erfolg zu sprechen, den sie 1967 als Eliza in „My fair Ladyauf der Opernbühne in Karl-Marx-Stadt hatte. Es war nach dem Abschluss der Schauspielschule ihr erstes Engagement. „Die Leute haben getrampelt vor Begeisterung. Ich hatte mein Herz auf die Bühne geschmissen und erreicht, dass man mir abnimmt, was ich spiele; dass aus einem kleinen, dreckigen Etwas eine Lady werden kann. Ich bin beschmiert, ohne angeklebte Wimpern auf die Bühne gegangen. Ich war so ordinär wie die Rolle es verlangte, aber auch verzweifelt bemüht, diesem Zustand zu entkommen.“

Dorit Gäbler als Mrs. Higgins 2019 mit Gunther Emmerlich als Oberst Pickering in der Chemnitzer Neuauflage des Musicals „My Fair Lady ©Theater Chemnitz/Nasser Hashemi

Ein Stück weit sah sich die 24jährige selbst in dieser Eliza, und sie versprach sich und dem lieben Gott angesichts des sich wiederholenden tosenden Applaus stets alles zu geben, um einen solchen Erfolg auch bei weniger spektakulären Rollen zu erreichen. „Das habe ich mein Leben lang befolgt und hart daran gearbeitet. Aber so eine Resonanz habe ich nie wieder erlebt. Annähernd vielleicht bei meinem Unterhaltungsprogramm Schauspielereien“, holte Dorit Gäbler über ein halbes Jahrhundert später noch einmal die Erinnerungen hervor. Inzwischen ist ein Rollenwechsel eingetreten. Jetzt wirft sie in der Neuinszenierung, die das Opernhaus Chemnitz zum 50jährigen Jubiläum 2017 auf die Bühne gebracht hat, als Mrs. Higgins kritische Blicke auf das ordinäre, aber sympathische Blumenmädchen Eliza.

Eliza, Susi und ich

Am 12. Januar hatte die Schauspielerin und Chansonnette ihren 80. Geburtstag. Dorit Gäbler sitzt zu Hause in Friedewalde in ihrem Büro. Es ist ein Dienstag, ihr Marketing-Tag. Wir unterhalten uns per Live-Video. „Weißt du“, sagt sie, „ich habe mir die Botschaft, die das Stück enthält, zu eigen gemacht. Es ist egal, wo du herkommst, ob du Geld oder Beziehungen hast. Du brauchst eine Vision, wohin du im Leben willst.“

Premiere ihres Programms „Momentaufnahmen“ war im Mai 2023 ©Karl-Heinz Bellmann

Das hört sich leichter an, als es für sie mitunter war. Was hinter ihr liegt, ergäbe ein spannendes Buch. „Nee“, sagt sie, „alle schreiben Bücher, ich nicht. Dazu habe ich einfach keine Lust und auch keine Zeit.“ Sie macht das anders. Auf der Bühne. „Momentaufnahmen – Dorit Gäbler wie sie leibt und lebt… und lacht… und singt“ heißt ihr aktuelles Programm. Zum ersten Mal erzählt sie ihrem Publikum direkt etwas von sich, ihrem durchwachsenen Lebensweg, der sie dahin geführt hat, wo sie heute ist. Es ist amüsant, ergreifend, spannend. Gleichwohl konnte man sich schon ein Bild machen, wenn man ihren Liedern genau zuhört.

Lach nur, heul nicht, bleib immer am Ball
Ständig was Neues und möglichst mit Knall
Lach nur, heul nicht, vertrau’ deinem Mut
Bau auf deine Freude und alles wird gut

Ihre aktuelle Solo-Platte „Lach nur – Heul nicht!“

Das Leben ist eine Rutschpartie
Wohin’s dich führt, weißt du vorher nie
Du rutschst in was rein
Es rutscht dir was raus
Mal rutschst du nach oben
Und mal rutschst du au
s

Lach nur, heul nicht, sei immer bereit
Wart‘ nicht schimpfend auf die bessere Zeit
Lach nur, heul nicht, auch wenn die Maske stört
Lebe im Jetzt, solang es dir gehört
Leben gibt‘s eine Ewigkeit

Und „früher“ war immer die bessere Zeit
Mal lebst du auf Pump
Mal lebst du mit Spaß
Mal lebst du wie’n Fürst
Und mal lebst du auf Nas
s

Für Dorit Gäbler galt immer: Geht nicht, gibt‘s nicht. Sie hat immer einen Weg gesucht und immer einen gefunden. Egal, wie verzweifelt sie auch war. Dieser starke Wille hat sie auf die Welt gebracht. Ihre Mutter ist die Treppen heruntergesprungen, als sie merkte, dass sie schwanger war. Sie wollte den Embryo in sich loswerden. Doch das kleine Etwas ließ sich nicht abschütteln, kämpfte, um wachsen und ins Leben zu dürfen. „Ich habe sogar verstanden, dass meine Mutter das Kind nicht wollte, nachdem ich von ihr erfahren hatte, dass mein ständig fremdgehender Vater glaubte, mit drei Kindern würde sie es nicht wagen, sich scheiden lassen“, erzählt die Tochter, die sich ihrer Mutter immer verbunden fühlte. „Ich hatte nie das Gefühl, ein ungewolltes Kind zu sein. Sie hat mich nicht weniger geliebt als meine Brüder.“

Sie schauen beide sehr gücklich aus, die anderthalbjährige Dorit und ihre Mutter Ria Gäbler © Gäbler/privat

1946, Dorit war drei Jahre, verließ Ria Gäbler samt Kindern ihren Mann. Plauen lag ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fast vollständig in Trümmern. Die meisten waren Wohnhäuser zerstört. Dorit Gäbler erinnert sich an ihrer Kinderzeit. „Wir waren arm. Das Geld, das meine geschiedene Mutter nun als Verkäuferin verdiente, reichte selbst mit dem Unterhalt von meinem Vater hinten und vorne nicht. Aber sie hat es geschafft, dass sich das nicht auf unsere Kindheit auswirkte. Und die war wunderschön. Ich weiß noch, wie wir im eiskalten Schlafzimmer im Bett saßen, und sie las uns, mit Handschuhen an den Händen, vor. Wenn sie vor Übermüdung einschlief, haben meine Brüder die Geschichte weitergesponnen…“ Es gab kein Weihnachten ohne Überraschung. Ria Gäbler hat mit den Kindern gebacken und an den Adventssonntagen wurde im Wohnzimmer musiziert. Die Gäbler-Jungs spielten Geige, Klavier und Flöte, ich spielte Gitarre. Die Nachbarn kamen zum Mitsingen vorbei. „Unsere Bude war immer voll.“

Das Gäbler-Trio wurde gern von Plauener Honoratioren zur musikalischen Untermalung ihrer Festivitäten eingeladen. Dorits Bruder Mäckie (l.) spielte Geige, Gunter Flöte und die hier zehnjährige Dorit sang zur Gitarre © Gäbler/privat

Das musikalische Trio war auf Geburtstagen, Hochzeiten und anderen Festivitäten Plauener Honoratioren gefragt. „Wir kamen immer mit großen Futter-Paketen nach Hause. Das reichte oft für eine ganze Woche“, erzählt Dorit, die auf diese Weise früh zu schätzen lernte, dass es nicht selbstverständlich ist, genug zu essen zu haben. Es gab nämlich oft Tage, da gingen die Drei ohne Pausenbrote zur Schule. „Ich hatte das Glück, neben der Tochter eines Fleischers zu sitzen. Die ließ ich abschreiben und bekam dafür ihr Wurstbrot.“ Statt es zu essen, nahm sie das Brot mit nach Hause, um es mit den Brüdern zu teilen. „Da war soviel Butter und Wurst drauf, dass es für drei Stullen reichte“, erinnert sie sich. An andere zu denken, nicht egoistisch zu sein, hat sie als Charaktereigenschaft gepflegt.

Das Mädchen musste schon früh Hausarbeiten übernehmen. „Es ging auch nicht anders. Meine Mutter hätte das allein auch nicht geschafft“, sagt sie und schaut auf ihre Hände. „Mit fünf habe ich schon Kartoffeln geschält, mit sechs, sieben die Treppen gewischt… Vielleicht habe ich deshalb so hässliche Hände.“ Ich will das so nicht stehen lassen und sage: „Finde ich nicht. Sie sind kräftig, aber nicht hässlich.“ Manchmal, da ging sie in die fünfte Klasse, tauchte sie aus dem Aschenputtel-Dasein ab. Sie schwang sich die Überdecke vom Bett um, stellte sich vor den großen dreiteiligen Spiegel und deklamierte aus Stücken von Schiller, Shakespeare und Kleist, die sie in Reclam-Heften las. „Ich habe die Frauenfiguren auswendig gelernt und versuchte zu verstehen, worum es ging.“ Vor dem Spiegel war sie die Luise Millerin aus Kabale und Liebe, das Gretchen aus „Faust“ oder die Eve aus dem „Zerbrochenen Krug“. Viele Jahre später sollte sie tatsächlich in dieser Rolle auf der Bühne stehen, im Staatsteater Dresden an der Seite von Rolf Hoppe als Dorfrichter Adam.

Das war natürlich nicht absehbar. Vorerst probierte sich Dorit in Schulinszenierungen aus, nahm an Rezitatoren-Wettbewerben teil. „Theater war für mich eine ungeheure Abenteuerwelt. Ich habe als Zehnjährige den „Freischütz“ gesehen und wochenlang davon geträumt. Ich wusste, da oben will ich mal stehen.“ Von dem wenigen Geld, das Ria Gäbler zur Verfügung stand, legte sie immer etwas für besondere Ausgaben zurück. War genug in dem Umschlag, ging sie mit ihrer Tochter ins Theater. Einmal spielte Dorits Bruder Mäckie in einem Weihnachtsmärchen als Erzähler mit. Sie lacht, als sie erzählt, dass sie während der Aufführung dachte: Das kann ich besser. Gesagt hat sie ihm das nie.

In der 8. Klasse gewann die 13jährige einen Rezitatoren-Wettbewerb und wurde eine Weile von Klaus Gendries betreut. Der spätere DEFA-Regisseur war damals Schauspieler am Vogtland-Theater. „Er wollte mir beibringen, Hochdeutsch zu sprechen, und ist schier verzweifelt“, erinnert sich Dorit. „Ich sollte Barbara saß nah am Abhang sagen. Aber mein A klang immer wie ein O. Ich konnte mich abmühen wie ich wollte, es klappte nicht.“ Klaus Gendries sprach ihr die Worte immer wieder vor, über Bor kam sie nicht hinaus. „Mir ging es wie Eliza Doolittle. Nur der Satz meines Lehrers: Jetzt hat sie’s!, fiel nie.“
Ihren sächsischen Dialekt ist Dorit Gäbler nie ganz losgeworden. „Ich hatte eine exzellente Sprecherzieherin an der Schauspielschule und habe vor dem Schauspielstudium zwei Jahre intensiv private Sprecherziehung genommen. Die Vokale spreche ich heute noch nicht sauber, der sächsische Einschlag ist in jeder Rolle zu hören.“

Szene aus dem Fernsehfilm „Gib acht auf Susi!“ Micha (Fred Lenz) und sein Freund Micky (Ronny Mudlaff) setzen alles daran, Susi (Dorit Gäbler) mit dem Tierpfleger Dieter (Kaspar Eichel) zu verkuppeln © DRA/MDR/Maria Steinfeldt

Diese kleine Episode verhalf ihr zehn Jahre später zur Titelrolle in Klaus Gendries’ turbulenter Sommergeschichte „Gib acht auf Susi!“. Wir machen einen Sprung ins Jahr 1966, Dorits letztem Studienjahr an der Schauspielschule in Berlin-Schöneweide. Klaus Gendries, inzwischen Filmregisseur, sah sich unter den Studentinnen nach einer „Susi“ um. Ein junges Ding von 17 Jahren, hübsch, sexy, ein bisschen leichtfertig, das mehr Interesse für das andere Geschlecht hat als für Hausarbeit.

Gendries hatte schon 200 Mädchen angesehen und vorsprechen lassen. Keins passte auf die Figur, wie er sie sich vorstellte. Da kam Dorit auf ihn zu, in knallenger roter Hose und einem üppigen Oberteil. „Ich sah ihn zufällig mit unseren Lehrern vor der Probebühne und sprach ihn an. Er guckte etwas irritiert. Fragte, woher ich ihn kennen würde. Ich sagte, wir hätten schon miteinander zu tun gehabt. Als er mich ungläubig ansah, begann ich: Borbora soß noh am Obhang… Er lachte schallend: ,Na klar, du bist die kleene Gäbler!‘, und ließ mich das alte Volkslied Ein Mops kam in die Küche… rezitieren. Dann ging mit unseren Lehrern zurück in den Probenraum. Als er wieder herauskam, strahlte er übers ganze Gesicht: ,Ja, das isse!‘ Damit hatte ich meine erste richtige Rolle. Im Sommer 1967, da hatte ich schon mein Engagement am Theater in Karl-Marx-Stadt, haben wir gedreht.“ Der Film wurde der TV-Weihnachtsknüller 1968.

Zurück ins Jahr 1957. Für Träume und Wünsche war bei den Gäblers nicht die Zeit. Ria Gäbler hatte gesundheitliche Probleme. Als Dorit ihrer Mutter verkündete, sie möchte Schauspiel studieren, kam ein kategorisches Nein. Sie habe nicht die Kraft, noch ein Studium zu finanzieren. Schlimmer noch. Die Mutter verlangte von ihrer Tochter, dass sie nach der 8. Klasse die Schule verlässt und einen Beruf erlernt. Für das lernbegierige Mädchen brach die Welt zusammen. Wie sollte sie mit einem Grundschulabschluss zu ihrem Traumberuf bekommen? Was sollte sie werden? Wie herauskommen aus dem Leben, das ihr zu klein war? Welcher Beruf könnte sie vielleicht doch noch ans Theater, auf die Bühne bringen? Wo traf sie vielleicht Menschen, die ihr helfen könnten, einen Weg zu finden, wie sie doch noch Schauspielerin werden könnte. Vieles wirbelte ihr im Kopf herum. „Ich habe dann eine dreijährige Lehre zum Facharbeiter für Gebrauchswerbung gemacht und abends an der Volkshochschule versucht, die 10. Klasse nachzuholen.“ Aber das schaffte sie nicht. Ihr fehlte die Zeit zum Lernen. „Ich musste mein Lehrlingsgeld bei meiner Mutter abgeben, durfte nur 5 Mark Taschengeld für mich behalten. Also habe ich nach Möglichkeiten gesucht, nebenher Geld zu verdienen“, sagt sie.

Dorit als 18jährige ©privat

Sie kämpfte gegen ihre Armut an, stellte sich als Haar-Modell zur Verfügung, führte auf Laufstegen, die sie als Dekorateur-Lehrling mit aufgebaut hatte, Alltagsmode Mode vor.
„Plauen war in den 50er Jahren nicht der Ort, in dem ich meinem Traum nachgehen konnte. Ich wusste, da muss ich weg“, erzählt sie. Dafür musste sie finanziell unabhängig sein. Dorit wollte kein Mannequin werden, aber ein gewisses Maß an Professionalität erlangen, um auch auf großen Modenschauen zu laufen, und absolvierte einen Lehrgang in der Mannequinschule des bekannten Modehauses Bormann in Magdeburg. „Die Damen-Konfektion der Marke „Original-Bormann-Mode“ war in der DDR sehr begehrt. Sie hatte Chic und war erschwinglich. Für Kundinnen mit mehr Geld im Portemonnaie boten besondere Geschäfte – Vorläufer der Exquisit-Läden – exklusive Bormann-Mode an. Heinz Bormann entwarf, das sei nur nebenbei erwähnt, Annekathrin Bürgers Kostüme für den DEFA-Film „Mit mir nicht, Madame!“.

Gurken, Radieschen und eine Leiche

Bei einer Modenschau auf der Leipziger Herbstmesse 1960 lernte Dorit das bildschöne und erfahrene Mannequin Sabine Lehmann kennen. „Sie hat mich bestärkt, unbedingt an meinem Traum festzuhalten, und bot mir ihre Unterstützung an.“ Im Januar 1961 wurde Dorit achtzehn. Damit war man in der DDR volljährig. „Ich hatte endlich die Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, was ich mache“, sagt sie. „Im Februar habe ich meiner Mutter eröffnet, dass ich ab jetzt meinen eigenen Weg gehen würde.“ An dessen nächstem Ende für sie der Beruf Schauspielerin stand. „Dass ich an mich geglaubt habe, war die eine Seite“, sagt sie. „Aber es gab Menschen wie Sabine, die mir halfen. Sie nahm mich bei sich auf, als ich mich aus Plauen davonmachte. Weil man mir die Provinz-Nulpe anmerkte, steckte sie mich in neue Klamotten und bereitete mich auf das Leben vor, in das ich wollte. Dafür bin ich ihr sehr, sehr dankbar. Wir hielten noch über viele Jahre Kontakt.“

Die erste Zeit nach ihrer „Flucht“ aus dem Kleinstadtmilieu von Plauen arbeitete Dorit als Dekorateurin bei der HO Potsdam Land und hatte gleich ihre Fühler zur DEFA nach Babelsberg ausgestreckt. „Sabine gab mir den Tipp, mich als Kleindarstellerin zu bewerben“, erzählt sie. Auf ihren ersten Einsatz musste die 18jährige nicht lange warten. Die DEFA verfilmte für das Fernsehen Wolfgang Schreyers Roman „Tempel des Satans“. Der dreiteilige Polit-Thriller dreht sich um die Machenschaften eines US-amerikanischen Zeitungskonzerns und seine Verstrickungen mit der Rüstungsindustrie. Reporter Pit Nordfors, ein ehemaliger Pilot, deckt die Hintergründe des desaströsen Fehlstarts einer mit Napalm bestückten amerikanischen Interkontinentalrakete auf und sticht in ein gefährliches Nest aus Machtgier, Korruption und politischer Manipulation. Der Handlung liegen wahre Vorkomnisse zugrunde.

Dorit Gäbler (r.) als Stewardess Mabel mit Sylva Schüler (l.) als Stewardess Georgia McCallister 1961 in Teil 2 des dreiteiligen Fernsehfilms „Tempel des Satans“ Screenshot © DFF/Edwin Anders

„Ich war eigentlich nur für einen Tag engagiert gewesen. Lustiger Weise aber“, erzählt Dorit Gäbler, „ist der Regisseur damals auf mich aufmerksam geworden. Er hatte gesehen, dass ich mich in die Rolle als Stewardess hineingedacht habe und richtig spielte, nicht nur den Text heruntersagte.“ Sie kamen ins Gespräch, und Dorit erzählte ihm, dass sie unbedingt Schauspielerin werden wolle. Georg Leopold sah ihr an, dass sie jeden Pfennig brauchen konnte und hat ihre Mitwirkung auf zwölf Drehtage erweitert. „1440 Mark habe ich verdient, 120 Mark am Tag! Das war so viel Geld! Davon habe ich Monate gelebt.“

Bald war sie so gut beschäftigt, dass sie viele Freistunden brauchte und ihre Aufträge als Dekorateurin nicht mehr zuverlässig erfüllen konnte. „Ich besaß keine Fahrerlaubnis, nicht einmal ein Fahrrad, um nach den Einsätzen bei der DEFA zu den Geschäften zu fahren, die ich dekorieren sollte.“ Die HO löste den Arbeitsvertrag auf. Wenngleich sie damit ihre finanzielle Basis verlor, kam ihr das entgegen. Nun musste sie nur noch eine eigene Bleibe finde. Und das war wenige Wochen nach der Grenzschließung am 13. August 1961. In der Stahnsdorfer Elisabethstraße entdeckte sie eine verwaiste Datsche. Die hat sie sich von der Gemeinde für 99 Mark Jahresmiete erkämpft. Es war eins der vielen Grundstücke, die zuvor Westberlinern gehört hatten.

„Die zuständige Sachbearbeiterin hatte riesige Fragezeichen in den Augen, als ich ihr erklärte, dass ich einen Wohnsitz suche und das Holzhäuschen mit Garten genau das Richtige sei.“ Hier könne sie sich ungestört auf ihr Schauspielstudium in Berlin vorbereiten und dass es nicht weit zur DEFA sei, waren wohl akzeptable Argumente. „Ich durfte für eine Probezeit einziehen und setzte natürlich alles daran, bleiben zu dürfen.“ Mit Geschmack und Stilgefühl hat sie innen und außen alles frisch gestrichen, Blumen-Motive der vorhandenen Bettwäsche an die frisch gestrichenen Fensterläden gepinselt und Gardinen aus Stoff mit dem gleichen Muster genäht. So fiel der Kontrollbesuch der Verwalterin auch positiv aus. Sie war voll des Lobes, wie schön die 18jährige alles hergerichtet hatte und argwöhnte nicht mehr, dass hier Sodom und Gomorrha stattfinden würden. Der Garten wurde Dorits Speisekammer. „Ich habe Kräuter gesät, Tomaten, Erdbeeren, Gurken, Radieschen und Kartoffeln angebaut, Bäume und Sträucher verschnitten.“ Beim Bauern gegenüber hat sie den Pferdestall ausgemistet, um Dung für ihre Beete zu bekommen. Hin und wieder schenkte ihr die Frau ein Netz Kartoffeln oder gab ihr einen Topf Suppe.

Wie romantisch, mag man im ersten Moment denken. Ja, das war es. Aber es war vor allem eine verdammt harte Zeit für Dorit. Ihre Honorare bei der DEFA fielen nicht immer so üppig aus. Als Kleindarsteller – Rollen ohne Text, aber mit Kamerapräsenz – bekam man einen Tagessatz von 50 bis 70 Mark. „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen“, scherzt die Schauspielerin, obwohl das damals für sie nicht witzig war. Im Frühjahr und Herbst trampte sie zu den Modewochen nach Leipzig. „Da hatte ich für eine Woche einen gut bezahlten Job als Mannequin.“ Den sie aber nicht um jeden Preis annahm. Ihre Würde ließ sie sich nicht nehmen. Als ihr ein Veranstalter vorhielt, dass ihr Lederolmantel, in dem sie zur Arbeit erschien, unpassend sei, die anderen Mannequins kämen in Pelzmänteln, knallte sie ihm an den Kopf: „Das Geld dafür habe ich mir ehrlich verdient und nicht erschlafen!“, und war weg. Ansonsten nahm sie ihre Gitarre und vertonte Kindergedichte, wenn die DEFA gerade nichts für sie zu tun hatte. „Ich stellte mir kleine Programme zusammen und trat damit in Kindergärten auf. Das brachte mir immerhin 20 Mark ein.“ Davon bezahlte sie ihre Sprecherzieherin, die sie in Kleinmachnow gefunden hatte.

Zwei Sommer und zwei Winter wohnte Dorit in ihrem Häuschen in der Stahnsdorfer Elisabethstraße 11. „Die Winterzeit habe ich in meinem Häuschen nur überstehen können, weil mir eine Familie in der Nachbarschaft an besonders kalten Tagen Asyl bot“, erzählt sie. „Wenn das Wasser in meiner Wärmflasche gefror, ließen sie mich bei sich schlafen.“ Im Frühjahr 1962 besuchte Ria Gäblerihre Tochter das erste Mal in Stahnsdorf. „Es war eine wunderschöne Zeit“, erinnert sich Dorit. „Mutti hatte sich sogar bei der DEFA als Kleindarstellerin registrieren lassen und in zwei oder drei Filmen mitgespielt. So kam noch etwas Geld rein, aber es hat ihr auch gefallen. Danach verbrachte sie häufig längere Zeit bei mir.“ Ria Gäbler bekam so eine kleine Ahnung davon, was die Ambition ihrer Tochter war, Schauspielerin zu werden. Es entwickelte sich eine neue, eine enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

Dorit Gäbler wollte nicht einfach nur Schauspielerin werden, vor allem wollte sie mal eine gute Schauspielerin sein. Daher nutzte jede Gelegenheit, um zu überprüfen, ob sie für sich auch wirklich für den Beruf eigne. Sie erzählt mir eine Episode. Bei den Dreharbeiten für den zweiteiligen Kriminalfilm „Mord in Gateway“ hatte sie den bekannten DEFA-Schauspieler Martin Flörchinger kennengelernt. Sie spielte das junge hübsche Fotomodell. „Ich hatte nur einen kurzen Auftritt, denn diese Helen wird gleich zu Beginn des Films ermordet“, erzählt sie.

Die 19jährige Dorit Gäbler spielt das attraktive Fotomodell Helen McDuff, die nymphomanische Ehefrau des einflussreichen Politikers Kyle Theodore McDuff, die ermordet wird Quelle: Amazon © Werner Bergmann

Martin Flörchinger war der ermittelnde Detektiv, der dieses mit vielen Missverständnissen behaftete Verbrechen aufklärt. „Ich habe ihn in einer Drehpause gefragt, ob ich ihm mal etwas vorsprechen dürfte. Er war ein erfahrener Schauspieler, und ich hatte das Gefühl, dass er mich ernst nahm.“ Flörchinger willigte ein. Amüsiert erzählt Dorit, wie sie ihm eine Szene aus Schillers Jungfrau von Orléans vorspielte. „Ich saß auf einem Stuhl und geriet so in Euphorie, dass ich nach hinten überkippte und mein Schuh an die Decke flog. War mir das peinlich“, lacht sie. Der Schauspieler reagierte mit Humor. Er guckte nach oben, zeigte auf eine kleine Delle an der Decke, und meinte: „Wenn es nicht sehr viel Begabtere gibt, hast du eine Chance, Kleene.“

Im Juli 1963 erlebte die inzwischen 20jährige Dorit Gäbler ihren glücklichsten Tag. Sie hatte die Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin-Schöneweide bestanden. Den Moment, als sie den Brief in der Hand hielt, wird sie nicht vergessen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Zusage oder Absage, schoss es ihr durch ihren Kopf. Hatte sie die Prüfung geschafft oder war ihre Vision nicht mehr als ein Luftschloss? Nein! All die Mühen und Strapazen hatten sich gelohnt. Trotz ihres noch hörbaren Sächsisch konnte sie die Prüfungskommission überzeugen, dass in ihr das Zeug zur Schauspielerin steckt. „Ich habe die Heilige Johanna in drei Versionen vorgesprochen. Das eine war ein Monolog aus Schillers Jungfrau von Orléans, dann habe ich mir eine Szene aus Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe und aus Jean Anouilhs Jeanne oder Die Lerche ausgesucht.“

Die verbleibenden Wochen bis zum Studienbeginn im September arbeitete die angehende Schauspielstudentin als „Mädchen für alles“ bei der Produktion eines DEFA-Kinderfilm mit. „Ich wollte genauer wissen, wie das so läuft, wenn ein Film gedreht wird“, sagt sie. „Leider habe ich bei allen Dreharbeiten immer wieder festgestellt, wie herablassend sich manche Schauspieler den Leuten gegenüber verhielten, die viel weniger als sie verdienten, aber ohne die beim Film nichts laufen würde. Sie haben Respekt verdient.“ Ihr ist er nie abhandengekommen.

Im Sommer 2007 habe ich Dorit Gäbler zum ersten Mal interviewt. Ich besuchte sie in Friedewalde bei Moritzburg, wo sie seit 1978 mit ihrem Mann Karl-Heinz Bellmann wohnt. Sie hatte gerade ihre CD „Starke Frauen“ herausgebracht“ © Boris Trenkel/SUPERillu

Dass sie sich damals in den Kamera-Assistenten Ulrich Rohloff verliebt hatte, und beide 1965 für eine kurze Zeit verheiratet waren, erwähnt Dorit Gäbler nur nebenbei. „Wir hatten wenig Gelegenheit, zusammen zu sein, als ich studierte. Ich teilte mir mit Hermann Beyer, einem Kommilitonen aus meiner Klasse, eine Studentenwohnung in der Ernst-Schneller-Straße. In unserer gemeinsamen Küche lag immer ein Vier-Pfund-Brot, daneben stand eine Schüssel mit Griebenschmalz, das ich spendierte. Nach abendlichen Szenen-Studien trafen sich bei uns Studenten und Schauspieler, die uns unterrichteten.“ Das war nicht Ulrich Rohloffs Welt. Er fühlte sich als fünftes Rad am Wagen. Sie trennten sich. Die Scheidung ging ohne Probleme über die Bühne. Ulrich Rohloff drehte von 1966 bis 1981 als Kameramann Kurz- und Dokumentarfilme beim Filmstudio der NVA in Potsdam.

Taschen, Pullover und Hootenanny

An ihre Studienzeit denkt Dorit Gäbler mit gemischten Gefühlen zurück. Sie liebte das Fechttraining, schwärmt noch heute von den Szenenstudien mit Regisseur Friedo Solter. „Ich sog alles auf, wollte so viel wie möglich lernen.“ Sie litt unter ihrem Bildungsdefizit. „Alle hatten Abitur, wussten mehr über Geschichte und Literatur, konnten ihre Eltern fragen, die Schauspieler, Regisseure oder Dramaturgen waren, wenn es um Film und Theater oder Rollengestaltung ging.“
Diese Überlegenheit ließen ihre Kommilitonen Dorit auch spüren, die den Gedanken abwehrte, nicht dorthin zu gehören. „Ich habe gelesen und gelesen, bin ins Theater gegangen, wenn die anderen Party machten.“ Sie nennt Namen von prominenten DDR-Schauspielern, die sich damals menschlich nicht von ihrer besten Seite gezeigt haben. „Ihr Urteil über mich: Wissbegierig, aber dumm, die Gäbler.“

Bei einem Fototermin an der Schauspielschule lernte sie die Fotografin Barbara Meffert und ihren Mann, den Journalisten Dieter Heimlich, kennen. „Die beiden nahmen mich unter ihre Fittiche und halfen mir, meine Bildungslücken zu reduzieren. Sie schenkten mir Bücher, unter anderem Peter Hacks‘ Kindergedichte Der Flohmarkt“, von denen ich viele vertont habe.“

Alles nachzuholen war ihr nicht möglich. Der Tag hatte nur 24 Stunden und im Gegensatz zu ihren Mitstudenten musste sie zu den 180 Mark Stipendium noch Geld dazuverdienen. Während sie Texte lernte, strickte und häkelte Dorit modische Pullover, Kleider, Umhängetaschen – die waren damals der Renner. Und sie trat mit ihrer Gitarre auf. „Für eine Veranstaltung bekam ich jetzt immerhin 50 Mark“, erinnert sie sich. „Komponieren und eigene Lieder schreiben ist immer meine Leidenschaft geblieben und die Basis für meine musikalische Karriere geworden.“

Eine wichtige Person wurde für diesen Teil ihres Talents Chris Baumgarten, eine seinerzeit bekannte Berliner Komponistin und Gesangslehrerin. Einmal im Jahr konnten sich Studenten der Schauspielschule um einen Platz in ihrem Chanson-Studio bewerben. „Diesen Platz habe ich mir 1964 erkämpft“, erzählt Dorit.

Cover des Amiga Samplers „Songs, Chansons und neue Lieder“ von 1966. Der kanadische Sänger Perry Friedman brachte 1960 die Hootenanny-Bewegung in die DDR © discogs.com

Eins kam dann zum anderen. Der kanadische Folksänger Perry Friedman war 1959 in die DDR übergesiedelt und hat 1960 die Hootenanny-Bewegung initiiert – ungezwungene Konzerte auf offener Bühne, bei denen jeder mitmachen konnte. Berlins Jugend sang, komponierte und schrieb Lieder. Chris Baumgarten ermutigte Dorit, bei den Hootenannys mitzumachen. „Ihr gefielen besonders meine Kinderlieder mit Texten von Peter Hacks.“ Bei den Hootenanny-Veranstaltungen traf sie Künstler wie Rainer Schöne, Perry Friedmann und Lutz Kirchenwitz, den Mitbegründer des Oktoberklubs. „Rainer Schöne war ganz angetan. Es sei so schön, wie ich meine Kinderlieder singe“, erzählt sie. „Da steckte auch meine ganz ehrliche Naivität drin, die ich als junges Mädchen hatte. Ich habe alles mit großer Liebe und Inbrunst gemacht, da war nichts aufgesetzt.“ Keiner sah hier von oben auf sie herab. Im Gegenteil. Dorit genoss alsbald ein Standing als Liedermacherin.

Gleich 1964 bei den ersten Konzerten, die die Berliner FDJ und der Jugendsender DT 64 in der Volksbühne organisierten, war auch Dorit Gäbler als Sängerin dabei und begeisterte das Publikum. „Ich musste bei meinem ersten Auftritt mein Lied zweimal singen, die Leute hörten gar nicht auf zu klatschen.“ Sie singt ins Telefon: „Ick möcht ma mitn Finger in Himmel pieken, ob dit wohl jeht? Ick möcht inne Sonne liegen und seh’n wie ’ne Wolke zerjeht… Wie’s weitergeht, weiß ich nicht mehr.“
Lachend erzählt sie dann von einer Veranstaltung beim DDR-Wachregiment in Berlin-Adlershof, die sie zusammen mit Frank Schöbel bestritt. „Ich erinnere mich noch gut, wie sauer er war, dass die kleene Schauspielstudentin als Sängerin angekündigt wurde und auch noch mehr Applaus als er bekam.“ Sie lacht: „Kunststück, sein Anzug hatte ja auch keinen Ausschnitt!“

1966 erschien der Amiga-Sampler „Songs, Chansons und neue Lieder“, auf der Dorit Gäbler auf der A-Seite mit ihren Hacks-Liedern vertreten ist

1966 nahm Amiga drei ihrer Lieder mit auf den Sampler „Songs, Chansons uns neue Lieder“. Ihr Engagement in der Singebewegung setzte Dorit Gäbler in Karl-Marx-Stadt fort. „Es ging ja darum, diese Bewegung in die Provinz zu tragen, vor allem die Arbeiterjugend zum gemeinsamen Singen zu bewegen. Ich war mit Leib und Seele dabei.“ Im Fritz-Heckert-Werk, dem Großbetrieb der Stadt, fand sie junge Leute, die sich auch dafür begeisterten. Mit Unterstützung des SED-Parteisekretärs des Werkes riefen sie den Singeklub 67 ins Leben. Der FDJ-Zentralrat der DDR hatte das Konzept der Hootenanny-Bewegung aufgegriffen und 1966 einen „Beschluss zur Entwicklung einer breiten sozialistischen Singebewegung unter der Jugend“ gefasst. „Dem Theater hat meine zeitaufwendige Beschäftigung nicht geschmeckt. Misstrauisch wurden unsere zahlreichen Aktivitäten beäugt.“ Als das ZDF 1967 in seiner Sendung „Kennzeichen D“ über den Klub und die aufstrebende junge Künstlerin berichtete, kostete sie das beinahe ihr Engagement. „Sie schlachteten die Zeile „…so viele Kilometer Steine liegen zwischen dir und mir…“ aus dem Liebeslied, das ich sang, als Protestsong gegen die Mauer aus. Was natürlich völliger Quatsch war. Dass ich nicht entlassen wurde, verdanke ich dem Parteisekretär des Heckert-Werkes, ein großartiger Mensch. Er hat sich sehr für mich eingesetzt“, erinnert sie sich.

Eve, Eurydike und ein Beutesohn

Ihre Stärke, sich nicht unterkriegen zu lassen, brachte die Achtklässlerin zum erfolgreichen Abschluss ihres Schauspielstudiums. Nach dem Intendanten-Vorsprechen im letzten Studienjahr hatte sie Vorverträge von der Volksbühne Berlin, vom Bergarbeiter Theater in Senftenberg und vom Stadttheater Karl-Marx-Stadt. Sie entschied sich für Karl-Marx-Stadt. „Nach meinem Gespräch mit dem Intendanten Hans Dieter Mäde sah ich dort die beste Chance, wirklich Rollen zu bekommen und spielen zu dürfen.“ Zu ihrem Leidwesen wurde Mäde noch vor Antritt ihres Engagements im September 1966 ans Staatsschauspiel Dresden beordert. Das schien alles über den Haufen zu werfen. „Ich wusste ja nicht, ob der neue Intendant mich auch spielen ließ.“

Da es nicht ihre Art war, sich auf den Zufall zu verlassen, trampte sie umgehend von der Schauspielschule ans Theater nach Karl-Marx-Stadt und setzte sich in den Zuschauersaal. Es war gerade eine Probe, der Gerhard Meyer zusah. Kaum war sie beendet, „überfiel“ ihn Dorit und erklärte: „Herr Meyer, ich habe einen Zweijahresvertrag für Ihr Theater. Weil Sie mich nicht kennen, möchte ich Ihnen vorsprechen. Ich muss wissen, ob ich in ihr Konzept passe und Rollen bekomme. Denn ich will spielen und nicht herumsitzen.“

Wohl etwas verblüfft ob ihrer Kessheit, aber schmunzelnd, meinte er: „Na, dann ab auf die Bühne.“ Die Schauspieler, die eben gehen wollten, blieben. „Alle waren gespannt, es war ja schon ziemlich gewagt von mir, ohne Anmeldung da aufzutauchen und ein Vorsprechen zu fordern.“ Wissen sollte man, dass Gerhard Meyer während seiner Intendanz bis 1990 viele junge Regisseure und Schauspieler entdeckte und förderte. Eine davon wurde mit Beginn der Spielzeit 1966/67 Dorit Gäbler.

Dorit Gäbler 1974 im „Polizeiruf 110: Fehlrechnung“. Helga, Buchhalterin eines Tiefbaubetriebes, fällt auf, dass Kollegen aus dem Fahrdienst Tankkreditscheine für längst abgemeldete Fahrzeuge abgerechnen. Auch ihr Freund © DRA/MDR, Herbert Thomas

Als ihr Absolventenvertrag 1968 auslief, wechselte sie von Karl-Marx-Stadt nach Dresden ans Staatsschauspiel. Chefregisseur und Generalintendant Hans Dieter Mäde stand zu seiner Zusage von 1966, sie zu engagieren.

Ihre Jahre am Theater in Dresden rekapituliert Dorit Gäbler als eine Zeit, in der sie sich erfolgreich freispielte. „Ich war universell einsetzbar, spielte Junge und Alte, Ladies, Diven und Mädchen, Geliebte ohne Ende. Ich bekam sogar lesbische Angebote, weil ich ein paar Weiberrollen in Stücken von Peter Hacks hingelegt habe, dass ich interessant für diese Klientel wurde. Meine Mutter allerdings, die inzwischen bei mir wohnte, wollte zu derartigen Premieren eingeladen werden.“
Aber es gab auch die Kehrseite der Medaille. In dem Moment, wo eine Umbesetzung stattfand, und mehr von Dorit Gäbler in der Rolle die Rede war als von der Vorgängerin, waren die Damen nicht mehr fein. „Da ist die Freundlichkeit hin, du wirst verleumdet, bist plötzlich eine Hure, eine Schlampe, die sich die Rollen erschläft. Das hat mich fast dazu getrieben, aus dem Fenster zu springen.“
Diese schwachen Momente überwand sie. „In mir kam die Eliza hoch. Die hat gekämpft. Und ich hatte mir ja geschworen, eine gute Schauspielerin zu werden. Das Publikum gab mir Halt. Und an den üblen Nachreden in der Kantine, dass dieses ungebildete Volk ja überhaupt nicht schätzen kann, was wirklich gut oder schlecht ist, habe ich mich nicht beteiligt.“ Sie konzentrierte sich wieder ganz auf sich, auf das, was sie wollte, und ging, wenn die anderen kamen. Manchmal vermisste sie die Gemeinsamkeit des Ensembles, die das Theaterleben erst vollständig machen. „Aber Gott sei Dank“, sagt sie, „waren nicht alle Schauspieler mit dieser dümmlichen Arroganz behaftet.“

Dorit Gäbler und Rolf Hoppe bei den 13. Merseburger DEFA-Filmtagen im März 2018. Im November 2018 verstarb der großartige Mime. „Wir sind über all die Jahre in Kontakt geblieben, haben einiges zusammen gespielt“, sagt Dorit. © Karl-Heinz Bellmann

Einer, zu dem sie aufschaute, der sie ernst nahm, war der Schauspieler Rolf Hoppe. Mit ihm spielte sie 1969/70 in Heinrich von Kleists Komödie Der zerbrochene Krug“. Sie war die Eve, er der Dorfrichter Adam. „Es war herrlich, ihm zuzusehen, wie er seine Körperlichkeit einsetzte. Rolf hat sich die Rollen immer auf den Leib gezogen, da blieb für seine Mitspieler nicht viel Platz.“ Aber Dorit verschaffte ihn sich. Es war eine Schlüsselszene, in der er sie überspielte. Adam saß am Tisch und aß. Und das spielte Rolf brachial. Kein Mensch hätte die neben ihm stehende Eve wahrgenommen, die im Begriff ist, ihre Ehre zu verteidigen. „Ich habe Rolf gesagt, dass dies ein wichtiger Moment in meiner Rolle ist. Er hat sofort verstanden, dass er mir Raum geben musste. Wir haben später oft noch nach den Vorstellungen zusammen auf der Probe-Bühne des Theaters schauspielerische Haltungen ausprobiert. Wunderbar! Manchmal sah uns seine Frau Friederike zu.“

Dorit Gäbler 1972 als attraktive und intelligente Dr. Schwalbe mit dem tschechischen Musical- und Operettenstar Karel Fiala als Bürgermeister von Sonnethal in der Filmkomödie „Nicht schummeln, Liebling!“ © DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

Neben ihrer Theaterarbeit hat Dorit Gäbler immer wieder in Filmproduktionen der DEFA und des Fernsehens mitgewirkt. „Es waren gute Rollen und welche, die ich fast vergessen habe“, rekapituliert sie im Gespräch. Nicht vergessen hat sie – und auch das DDR-Kinopublikum nicht – die Fachschuldirektorin Dr. Barbara Schwalbe in dem heiteren DEFA-Sommermusical „Nicht schummeln, Liebling!“ mit Chris Doerk und Frank Schöbel in den Hauptrollen. Es geht um Fußball kontra Kultur, ein bisschen um die Machtkämpfe zwischen den Geschlechtern und natürlich Liebe. „Die Dreharbeiten in Quedlinburg und die Rolle an sich machten mir großen Spaß.“ Das Publikum liebte das Spektakel.

Die liebeshungrige Eurydike (Dorit Gäbler) wird von Pluto, dem Herrn der Finsternis, in den Hades verschleppt. © DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Ihre erotische Ausstrahlung und das sexy Erscheinungsbild empfand Dorit als junge Schauspielerin eher als Fluch denn als Segen. „Ich steckte in dieser Schublade der halbseidenen Rollen, und habe viel zu viele davon gespielt. Das bereue ich heute.“ Doch in einer dieser Rollen hat sie es 1973 auf das 8. Internationale Moskauer Filmfestival geschafft. „Nein, die bereue ich keineswegs. Die war einfach unglaublich schön.“

Jupiter (Rolf Hoppe) verspricht Eurydike, sie aus Plutos Gefängnis zu befreien und zu Orpheus zurückzuführen. Doch er findet einen Trick, sie als Bachantin für sich zu behalten ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Das war Dorit Gäbler als Eurydike in der DEFA-Adaption von Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“, in der sie das Objekt der Begierde des lüsternen Göttervaters Jupiter ist. „Regisseur Horst Bonnet hat das sinnliche Verlangen und die Lebenslust schon sehr hervorgehoben“, erzählt sie. „Prüde durfte man da nicht sein.“ Sie lacht. „Die Rolle habe ich wahrscheinlich bekommen, weil ich den schönsten Busen hatte. Die haben ein richtiges Weib gesucht. Ich hatte meinen Sohn noch nicht geboren und einen schönen Körper.“ Sie meint das nicht ironisch und auch nicht kokettierend. Nicht nur die Männer fanden die Gäbler erotisch, sinnlich und schön.

Helga Piur als Diana, Göttin der Jagd und Jupiters aufmüpfige Tochter ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Barbusig, in durchsichtige Gewänder aus Tüll gehüllt, tollen die Göttinnen durch den Olymp. „Als ich die Entwürfe sah, war ich zuerst erschrocken. Aber angezogen fühlten sich die Kleider auf dem Körper wie eine zweite Haut an. Sie lagen so eng an, dass man nicht einmal einen Slip tragen konnte. Der Maskenbildner hat uns am Körper alles abrasiert, was es abzurasieren gab“, erinnert sich Helga Piur – Jupiters Tochter Diana. „Alles war so grazil und diffizil. Wir liefen wie auf Wolken, wenn wir die wunderschöne Dekoration betraten. Horst Bonnet hat es verstanden, eine Atmosphäre zu zaubern, in der nichts Unanständiges aufkam. Keiner kam auf die Idee, etwas Unzüchtiges zu tun oder zu denken.“ Grienend erinnerte sich der kraftvolle Rolf Hoppe 2008, als ich die Drei auf Schloss Wackerbarth interviewte: „Ein Göttervater hat edel und moralisch zu sein. Was natürlich stinklangweilig ist.“

Dorit Gäbler1973 mit Regisseur Horst Seemann (r.) beim 8. Internationalen Filmfestival in Moskau. Seemanns (r.) wurde für seinen DEFA-Film „Reife Kirschen“ mit Filmpreis in Gold ausgezeichnet © Gäbler

Die Kritiker waren sich einig: „Ein Film der Komödianten“, schrieb die Berliner Zeitung. „Herrliche Farben, zeitbezogene kabarettistische Dialoge, sparsame Kostüme“, lobte „Kino-Eule“ Renate Holland-Moritz. „Wir haben für unseren Film 1973 in Moskau keinen Preis bekommen. Aber uns hat das Publikum stürmisch gefeiert“, erinnert sich Dorit. Die DEFA-Stiftung hat den 1972 gedrehten Film inzwischen digital aufgefrischt. Eine Augenweide und ein großer Spaß.

Hermann Wardin (Joachim Siebenschuh) ist zu schwach, um sich gegen seinen Vater durchzusetzen. Lilli trennt sich von ihm Screenshot © DFF/DRA, Peter Süring

Im Jahr 1973 entstand unter der Regie von Helmut Krätzig die dreiteilige Familienchronik „Die Frauen der Wardins“. Über vier Generationen wird die Geschichte einer märkischen Bauernfamilie erzählt, die sechs Jahrzehnte lang um ihren Hof, um ihre Existenz kämpfen musste, bis ihre Bemühungen schließlich in der sozialistischen Landwirtschaft zum Erfolg führten. Im Mittelpunkt stehen dabei das Leben, die Liebe und das Schicksal der Frauen in ihrer Zeit. Neben Angelika Waller als Anna Schlomka, Katharina Thalbach als Maria Wardin und Monika Woytowicz als Irmgard Wardin liefert Dorit Gäbler in der Rolle der reichen und selbstbestimmten Schießbudenbesitzerin Lilli Watzek eine reife Leistung.

Hochzeit, Scheidung, neuer Anfang

Dresden war neben Berlin ein Zentrum der Singebewegung. Dorit betreute junge Liedermacher an der TU Dresden und lernte dabei den Mathematikstudenten und alleinerziehenden Vater Jochen Kramer kennen. „Er schrieb gute Texte. Wir haben eng zusammengearbeitet. Zu unseren Treffen brachte er meist seinen vierjährigen Sohn Marcus mit. Ich wollte endlich meinen Plan, nicht kinderlos zu bleiben, angehen. Ich borgte mir oft Marcus aus, unternahm etwas mit ihm. Eines Tages fragte er mich, ob ich nicht seine Mama sein möchte. Ich sagte ihm, sofort, dein Papa muss mich aber heiraten.“ Die Frage des Vater kam prompt. Jochen Kramer war gutaussehend, sehr charmant und klug. Einer zum Verlieben. Eigentlich stand Dorit nach ihrer ersten Erfahrung nicht der Sinn danach, aber Marcus bettelte: „Heirate Papa“, und da hat sie es getan. Ein Glücksgriff war das auch nicht, obwohl sie sich liebten.

Zu ihren schönsten Liedern, die Jochen Kramer für Dorit Gäbler textete, gehören die Titel auf ihrer Langspielplatte „Das ist mein Café“, die Amiga 1988 herausbrachte ©Amiga

Als sie 1974 schwanger wurde, und es ihrem Mann strahlend mitteilte, erschütterte sie seine Reaktion. „Das lässt du wegmachen! Wir haben schon ein Kind.“ Den Schock musste die 31jährige erst einmal verdauen. Dann stand für sie fest: „Das Kind bekomme ich, auf den Vater kann ich verzichten.“ Sie ließ sich scheiden. Für ihren Stiefsohn Marcus blieb sie seine „Beute-Mama“. Er wohnt ganz in der Nähe und ist ein wunderbarer Mensch geworden, sagt sie. „Trotzdem schätze ich Jochen Kramer als einen der besten Texter im Land und habe einiger seiner Texte vertont. Es sind meine schönsten Lieder.“ Im Februar 1975 kam ihr Sohn Peter zur Welt. Sein Vater wollte ihn nicht einmal sehen. „Ich habe den Jungen allein großgezogen, ich wollte auch keinen Unterhalt von seinem Vater. Für meinen Sohn existiert er bis heute nicht.“

Das Jahr 1974 brachte Dorit Gäbler auch beruflich zu neuen Entscheidungen. Sie hatte die Aussicht, die Hauptrolle in Joachim Kunerts Verfilmung von Anna Seghers Roman „Das Schilfrohr“ zu bekommen. „Joachim Kunert hat mich im Theater spielen sehen und fand, ich hätte die Urwüchsigkeit dieser Bäuerin, die er sich vorstellte. Meine äußerliche Verwandlung hatte er schon genau im Kopf. Mit aufgelegten Implantaten sollte mein Gesicht verbreitert, mit Haarwuchsmitteln buschige Augenbrauen gezüchtet werden. Ich übte sogar schon den festen, bäuerischen Gang. Obwohl meine Bühnenrolle doppelt besetzt war, ließ mich das Theater nicht gehen. Kunert hat alles versucht.“ Statt endlich sich mal in einer wirklich anspruchsvollen Figur beweisen zu können, hüpfte sie auf der Bühne als Stripteasetänzerin herum. Das hat sie dem Theater nicht verzeihen können. „Ich bekam in dem Film als Trost eine kleine Nebenrolle.“ Sie ist sich sicher, dass ihre Karriere anders gelaufen wäre, wenn sie die Rolle der Marta hätte spielen dürfen. „Ich war innerlich fertig mit dem Theater und wollte nur noch weg.“

Dorit Gäbler und Leon Niemczyk 1975 als Ehepaar Inge und Paul Petzold in der Polizeiruf 110-Folge „Zwischen den Gleisen“. Beide sind in Diebstähle wertvoller Konsumgüter aus Frachtwaggons verwickelt © rbb/mdr/dra, Heinz-Jürgen Wagner
DVD ©Amazon

Ihr Entschluss stand fest. Sie hatte sich sich bei Film und Fernsehen eine gute Basis erarbeitet, und konnte es wagen, sich eine Solokarriere als freischaffende Künstlerin aufzubauen. Sie kündigte ihr Festengagement am Theater. „Meine Mutter unterstützte mich bei der Betreuung meines Sohnes sehr. So konnte ich mich voll auf mein Ziel konzentrieren.“ 1975 und 1977 drehte sie zwei „Polizeiruf 110“Filme, 1976 den Episodenfilm „DEFA Disko 77“ mit Sketchen und Geschichten aus der DDR-Musikszene mit Chris Doerk, Veronika Fischer, der Gruppe Karat, Rainhard Lakomy, Angelika Mann und Schauspielern wie Marianne Wünscher, Ursula Staack, Ingeborg Krabbe, Lutz Stückrath, Rolf Herricht und Fred Delmare. Musiker und Schauspieler von Rang und Namen. Insofern ist der Film auch noch bemerkenswert, weil er das Lebensgefühl der 70er und 80er Jahre in der DDR spiegelt. Dorit Gäbler tritt am Schluss des Films im Duett mit Wolfgang Wallroth und dem Titel Es wird bald Frühling sein“ auf.

Eine wunderbare Chance für eine anspruchsvolle, große Rolle bot sich ihr 1977. Günter Reisch wollte sie mit der Hauptrolle in seiner DEFA-Komödie Anton, der Zauberer“ besetzen. Sie sagte nein, in völliger Verkennung der Handlung. „Ich hatte Angst, es würde wieder so eine halbseidene Figur sein. Das wollte ich nicht mehr spielen und habe alles, was ich in dieser Richtung vermutete, abgelehnt. Und da hatte ich mich in dem Fall gründlich geirrt. Es ist eine richtig gute Filmkomödie geworden, mit dem großartigen Ulrich Thein und der wundervollen Barbara Dittus in den Hauptrollen.“ Dass sie sich da so geirrt hat, bedauert Dorit Gäbler im Nachhinein noch.

Nach ihrer Kündigung stellte Dorit Gäbler einige Weichen. Sie nahm Gesangsunterricht bei der renommierten Gesangslehrerin Eleonore Gendries. Anfangs trat sie mit ihrer Gitarre solistisch auf. „Ich bekam Aufträge über die Konzert- und Gastspieldirektion Dresden und die Künstler-Agentur in Berlin . Das waren drei, vier Lieder bei Großveranstaltungen und einstündige Programme in Clubs.“ 1977 konnte sie die bekannte Dresdner Band „Ebbe und Flut“ unter Leitung des Komponisten Michael Fuchs für eine Zusammenarbeit gewinnen.

1978 nahm Dorit Gäbler ihre erste LP bei Amiga auf @ privat

Mit der Zeit merkte man sich den Namen Sängerin Dorit Gäbler sowohl in der Musikszene als auch unter den Freunden des Chansons, Jazz und Blues. Der Komponist und Rundfunk-Musikredakteur Martin Hattwig entdeckte die singende Schauspielerin 1978 und ließ sie mit dem bekannten Tanzorchester Siegfried Mai Das Schwispslied“ aufnehmen. Das klappte gleich auf Anhieb, so dass er noch den TitelClown sein“ hinterher schob. „Im gleichen Jahr produzierte ich bei Amiga meine erste eigene Langspielplatte“, erzählt Dorit Gäbler.

Der Mann von der „Linie 6“

In Dresden hatte sich inzwischen Karl-Heinz Bellmann mit seinem Kult-Lokal Linie 6etabliert. Es ist eine lange Geschichte, mit vielen schwierigen Phasen, die sich zwischen ihm und Dorit Gäbler entwickelte. Der heute 76jährige hatte sehr jung in dem Geschäft begonnen. „Gastronomie in der DDR war langweilig. Ich wollte meinen Gästen etwas Besonderes bieten“, erzählte er mir 2008, als er einen Nachfolger für die „Linie 6“ suchte. Er hatte das Lokal im Ambiente einer Straßenbahn 1977 eröffnet. Neben gutem Essen servierte er auch niveauvolle Unterhaltung, Musik und launige Gespräche. Bellmann, ein Naturtalent als Conférencier, holte Künstler, Schauspieler, Sportler, Politiker in seine hauseigene Talkshow „Zwischen Tür und Angel“.

Dorit Gäbler 1978 als Unterhaltungsgast bei Karl-Heinz Bellmann in der „Linie 6“. Der Beginn ihrer nunmehr 45jährigen Beziehung, davon sind sie 40 Jahre verheiratet ©privat/Gäbler

Am 10. April 1978 sprang Dorit Gäbler, die er lange schon im Visier hatte, kurzfristig als Talkgast in seiner Show ein. Es war für ihn die Gelegenheit, an sie heranzukommen, denn sie hatte andere Prioritäten: ihren Sohn Peter und ihren Beruf, in dem sie vorwärtskommen wollte. Und die „Linie 6“ hatte bis dahin erst einmal nicht auf ihrem Weg gelegen. Sie arbeitete daran, als Schauspielerin und Sängerin festen Fuß beim Fernsehen und in der Unterhaltung zu fassen. Karl-Heinz Bellmanns Interesse an ihr ging aber weiter, als mit ihr nur in seiner Talkshow zu plaudern. Er hatte sich in sie verliebt. „Er war mir ja nicht unsympathisch, hatte Charme und Witz. Er bemühte sich wirklich sehr um mich.“ Vor besagtem Auftritt tippten sie in seinem Büro noch fix Konzeptzettelchen und kamen sich dabei sehr nah. Es lag ein Knistern in der Luft.

Dorit Gäbler und Karl-Heinz Bellmann mit ihrer Tochter Peggy Bellmann ©privat/Bellmann, Gäbler

Seine Liebe und seine Ausdauer, diese Frau nicht aufzugeben, führte die beiden am 22. November 1983 aufs Standesamt. Zwei Jahre später kam ihre Tochter Peggy zur Welt, die von ihren Eltern sehr geliebt wird. „Wir hatten eine glückliche Zeit damals“, erinnert sich Dorit Gäbler. Das blieb nicht so. Hat man das Paar zusammen im Interview, wird schnell gewiss, dass sie Feuer und Wasser sind. „Keine geniale Verbindung“, sagt Bellmann. Der Gedanke an Trennung beschäftigte die Schauspielerin immer wieder. Doch das Haus, das sie gebaut hatten, war groß genug. Jeder konnte da seiner Wege gehen.

Die Sendepause zwischen ihnen bedrückten Karl-Heinz Bellmann sehr. Er wusste, dass er sich ändern musste, wenn sie wieder zueinander finden wollten. 1997 erkrankte er schwer an Borreliose und litt danach an Depressionen. „Ich habe das nicht erkannt“, gesteht Dorit Gäbler. „Einer, der immer in vorderster Reihe zu finden war, sollte plötzlich Depressionen haben??“

Lange Reise nach Neuseeland und Indien halfen ihrem Mann, viel über sich zu erfahren, auch, wie man Depressionen und Krankheiten bewältigt. Und was für das Gleichgewicht seiner Gefühlwelt wichtig ist. „Ich habe Yoga und Meditation gelernt und erkannt, dass Dorit meine Familie ist. Dass sie ihren Beruf über alles liebt. Dass er es ist, der sie frisch und fit an Körper, Geist und Seele hält. Ich begriff, dass sie Erfüllung in ihrer Arbeit findet und nicht darin, mich zu hofieren. Ich habe mein Ego zurückgenommen, weil ich sie glücklich sehen will.“

Dorit Gäbler und ihr Mann Karl-Heinz Bellmann sind wieder glücklich miteinander. Die Urlaubsinsel Teneriffa ist ihr Erholungsdomizil geworden ©Kaheibell

Karl-Heinz Bellmann verbrachte immer wieder Zeit in Indien, lehrt inzwischen selbst Yoga, chinesische Astrologie und Meditation. Über ihre Beziehung sagt Dorit Gäbler: „Es gab richtig schwere Krisen, ich habe mit mir gekämpft, ob ich ihn verlasse. Er sagte mir, ich liebe dich. Was nun? Wir haben geredet und uns so arrangiert, dass er mir Luft zum Atmen lässt. Mittlerweile freue ich mich, wenn ich abends nach Hause komme und ganz lieb empfangen werde mit einem Nachtsnack oder einem Schluck Sekt. Wenn er mir eine Blume unterwegs geklaut hat oder mir eine gekaufte mit fröhlichem Grinden überreicht. Es ist doch so, dass niemand gern allein bleibt. Und wer ist schon vollkommen?!“

Als sie 60 wurde, rückte sie mit ihrem Mann nach Indien aus. Sie wollte nicht gefeiert, nicht daran erinnert werden, wie viele Jahre schon hinter ihr liegen, wie knapp die Zeit vor ihr noch sein könnte. „Ich hatte Angst vor der Gewissheit, nun alt zu werden.“ Diese Grenze zu überschreiten tat weh. Karl-Heinz Bellmann machte mit seiner Frau genau aus dieser Erkenntnis heraus eine Reise nach Bangalore zu den berühmten Palmblattbibliotheken. „Sie beherbergen die Niederschriften eines der 7 großen Weisen und Seher des alten Indien auf Palmblättern. Fast jeder, der hierherkommt, findet unter den unzähligen Palmblättern sein persönliches Blatt“, erklärt mir Doris. Sie hat ihres gefunden. „Das war ein unglaubliches Erlebnis, eine großartige mentale Erfahrung“, erinnert sie sich. Das Paar hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht.

Abends ins Rampenlicht

Mit Beginn der 80er Jahre etablierte sich Dorit Gäbler auf dem Bildschir, als Schauspielerin in Filmen und Serien, als Sängerin und Kabarettistin in Unterhaltungssendungen. Die Verschiedenartigkeit ihrer Rollen und Auftritte hob sie aus der Schublade des Frauentyps erotisch, sexy, leichtgewichtig heraus. Es kam zwar vor, dass sie das auch spielte, wie das mondäne Fräulein Barbara in Erwin Strankas Filmkomödie „Automärchen“.

Das mondäne Fräulein Barbara ist schon ein Blickfang. Dorit Gäbler hatte 1982, als die DEFA-Filmkomödie gedreht wurde, noch keine Fahrerlaubnis © DEFA-Stiftung, Helmut Bergmann

„Diese Rolle habe ich gern angenommen, weil ich Auto fahren durfte. Ohne Fahrerlaubnis!“, lacht sie, die inzwischen Tausende Kilometer auf den Straßen dieses Landes unter den Rädern hat. „Ich saß für die Szene mit einem riesigen Krempenhut in einem Sportflitzer, kam angerast und drängelte mich an der Tankstelle frech an den wartenden Autofahrern vorbei.“ Der Film wurde 1982 gedreht und kam im Juni 1983 in die Kinos. 1985 lief er erstmals im Fernsehen.

Zu den Straßenfegern im DDR-Fernsehen gehörten die Familienserien, die sich um das Alltagsleben und die Probleme der Menschen drehten. In dem Mehrteiler „Hochhausgeschichten“ spielt Dorit Gäbler die attraktive Anne Seiler. Die 30jährige wird von zwei Männern umworben. Der eine, ein 20jähriger Monteur, der andere, sein gut situierter Chef. „Sie hat eine gescheiterte Beziehung hinter sich, will Sicherheit für ihr Leben. Deshalb heiratet sie den zehn Jahre Älteren. Das entsprach zwar nicht dem Familienbild, wie man es für die sozialistische Gesellschaft proklamierte, aber es entsprach dem wahren Leben. Liebe, Glück und ein sorgenfreies Leben gingen nicht immer zusammen, da machten auch Frauen in der DDR Kompromisse.“

Dorit Gäbler (l.) war als Frau Dr. Ursula Müller 1982 in der Serie „Geschichten übern Gartenzaun“ wenig beliebt. Die versierte Krankenschwester Claudia Hoffmann (Monika Woytowicz), eine ehemalige Mitschülerin, fühlt sich unter ihrer Leitung minderwertig Screenshot @mdr/Siegfried Peters

In den heiter-besinnlichen „Geschichten übern Gartenzaun mit Herbert Köfer und Helga Göring in den Hauptrollen, hatte Dorit Gäbler als Frau Dr. Müller keinen guten Stand bei den Zuschauern. „Ich bekam nur negative Reaktionen. Diese Dr. Müller ist eine egoistische Person, wenn es um ihre Karriere geht, arrogant ihren Mitarbeitern gegenüber. Die Zuschauer haben mich mit meiner Rolle identifiziert und geglaubt, ich bin jemand, der nur nach seinem eigenen Vorteil strebt.“ Aber das ist lange her, sie hat sich ihr Publikum längst zurückerobert. „Die Leute wissen, dass ich kein egoistischer Mensch bin. Ich bekomme viel Dank dafür, dass ich ihnen mit meinen Liedern und Programmen Freude bringe.“ Wo sie kann, hilft sie auch jungen Kollegen auf die Sprünge. So hat sie die junge Dresdner Schauspielerin Kristin Baumgartl animiert und dabei unterstützt, ein mobiles Kindertheater zu gründen.

Eva (Dorit Gäbler, l.) und ihre Schwestern Ruth (Ursula Karusseit), Gerda (Karin Düwel) und Nanny (Petra Blossey) auf dem Weg zu ihrem kranken Vater. „Die Stunde der Töchter“ wurde 1980 von DEFA-Regisseur Erwin Stranka gedreht ©DEFA-Stiftung/Klaus Zähler
Die Lehrerin Eva Winkler (Dorit Gäbler) ordnet sich ihrem Mann, dem Hirnchirurgen Dr. Lutz Winkler (Michael Gwisdek) bis zur Selbstaufgabe unter. „Die Stunde der Töchter“, 1980 ©DEFA-Stiftung/Frank Bredow

Mit Erwin Stranka drehte Dorit Gäbler einen Film, auf den sie besonders stolz ist, „Die Stunde der Töchter“. Im Mittelpunkt der Handlung stehen vier Schwestern, die ganz unterschiedlich mit dem Leben zurechtkommen. Eine schöne Herausforderung für Dorit Gäbler, die den Verfall einer Lehrerin und Gattin eines Hirnchirurgen zur Alkoholikerin zeigt. „Diese Frau ist verzweifelt. Sie hat ihren Lehrerberuf gekündigt, weil sie keine Freistellung bekommt, um ihren todkranken Vater im Krankenhaus zu besuchen. Dann kommt obendrauf, dass ihr Mann vom Besuch eines Kongresses in der BRD nicht in die DDR zurückkehrt. Man muss schon stark sein, um das durchzustehen. Sie ist es nicht und ergibt sie sich dem Alkohol. Ich bin auf diesen Film und meine Rolle stolz, weil das Leben der Frauen in der DDR nicht durch die rosarote Brille gesehen wird. Es wurde viel getan für uns“, sagt die Schauspielerin, „aber es ging nicht ohne eigenes Zutun. Von den Rechten, die wir hatten, ist nach der Wende nichts mehr geblieben. Und wenn eine kleine Minderheit meint, das Gendern würde Gleichberechtigung bringen, kann ich nur sagen. Da werden falsche Signale gesendet.“

Sie (Dorit Gäbler) versucht ihn (Rolf Herricht) in einer Hotelbar anzumachen . Sketch aus der Revue „Abends im Rampenlicht“ 1981 Screenshot@DRA

Bereits 1973, bei den Dreharbeiten für das DEFA-Musical „Nicht schummeln, Liebling“, arbeitete Dorit Gäbler mit Rolf Herricht zusammen. Bei den Geschichten übern Gartenzaun“ waren sie sich wiederbegegnet. Herricht bereitete gerade seine Revue Abends im Rampenlicht“ vor. Ihm fehlte noch die geeignete Partnerin für die Sketche und amourösen Spielszenen. Er bot Dorit Gäbler die Rollen an. „Es war herrlich, mit ihm zu spielen und zu improvisieren. Das Drehbuch ließ uns viel Raum. Und weil ich jemand bin, der gern weiterentwickelt, wurde es von Mal zu Mal besser“, erzählt sie. Nach der Premiere im Mai 1981 schlug er ihr vor, dass weiterhin zusammenarbeiten, mit eigenen Sketchen. „Er hatte es satt, den Punchingball von Hans-Joachim Preil zu geben. Leider ist daraus nichts geworden. Rolf erlag drei Monate später einem Herzinfarkt.“

Unterhaltungsstar und ein abruptes Ende

Die Show wurde im Fernsehen ausgestrahlt und war Dorit Gäblers Einstieg in die Fernsehunterhaltung. Sie gehörte bald zu beliebten Gästen mancher Show. Ihre Auftritte in der beliebtesten Unterhaltungssendung des DDR-Fernsehens „Ein Kessel Buntes“ und die Moderation derselben, brachten sie auf den Höhepunkt ihrer Karriere. „Mit Liedern oder Sketchen mitzuwirken, war schon wunderbar. Aber diese Show zu präsentieren, und das gleich dreimal, 1983, 1986 und 1988, das hatte schon etwas von einem Ritterschlag“, gibt sie ihr Gefühl wieder. Die Zuschauer erlebten sie mit einer Boa Constrictor tanzend, hoch zu Ross moderierte sie eine Artistik-Nummer an. Einen für sie unvergesslichen Auftritt hatte Dorit Gäbler mit ihrem Sohn Peter. „Wir haben zusammen das Lied ,Und dann klettern wir zusammen auf die Bäume‘ gesungen, für das uns sein Vater Jochen Kramer den Text geschrieben hat.“

Die Künstlerin hatte nun zwei feste Standbeine. Ihre Bekanntheit brachte ihr als Sängerin mit eigenem Programm einen vollen Terminkalender, Amiga nahm mit ihr zwei Solo-Langspielplatten auf. „Meine Veranstaltungsverträge habe ich allerdings immer mit der Klausel versehen, dass ich raus kann, wenn Fernsehangebote kommen.“

Dorit Gäbler spielte 1981 in dem Episodenfilm „Engel im Taxi“ eine Artistin, Heinz Rennhack den hilfsbereiten Taxifahrer Engel Foto: Screenshot ©DFF/MDR

Die ließen nicht auf sich warten. Sie drehte hinter einander weg. Mit Heinz Rennhack in der Titelrolle drehte sie den Episodenfilm „Engel im Taxi“, nach „Automärchen“ den Kinderfilm Moritz in der Litfaßsäule“, den Agententhriller „Front ohne Gnade“. Und dann, 1986, ihre Tochter Peggy war gerade drei Monate alt, kam ein Anruf von Klaus Gendries. Mitten in den Dreharbeiten für seinen Film „Claire Berolina war die Darstellerin von Goebbels Geliebter Alice ausgefallen. „Er fragte mich, ob ich die Rolle übernehmen kann. Ich sagte, das ginge nicht, ich habe ein Baby. Naja, wie das so ist bei Schauspielern, habe ich doch zugesagt und bin mit der Kleinen nach Berlin. Der Film reizte mich, obwohl Goebbels Geliebte ja keine so sympathische Figur war.“ Die ganze Crew kümmerte sich rührend um die Kleine, wenn sie in ihrem Körbchen auf die Mama wartete. Das Pendeln zwischen Muttersein und Drehen war so anstrengend, dass sich Dorit Gäbler nicht einmal das Gesicht ihres Filmgeliebten Uwe Karpa gemerkt hat. Was sich viele Jahre später herausstellte, als sie zusammen in „Köfers Komödiantenbühne“ die Theaterversion von Rentner haben niemals Zeit“ spielten.

Dann kam 1990 der Riesenumbruch, und auf die Schauspielerin rollte etwas zu, das sie aus der Bahn zu werfen drohte. „Ich hätte das alles nicht überstanden, wäre ich innerlich nicht so stark gewesen“, resümiert sie rückblickend. Das Land DDR wurde als Staat getilgt. Nur die Menschen waren noch da, die nach dem 3. Oktober 1990 als BRD-Bürger aufwachten. Ob sie wollten oder nicht. Welche Konsequenzen diese „Übernahme“ nach sich zog, konnten viele damals nicht ermessen. Mit der Zeit ist es jedem klar geworden. „Plötzlich standen auch wir DDR-Künstler vor dem Nichts. Die vielen Möglichkeiten, Filme zu drehen, Hörspiele und Platten aufzunehmen, gab es für uns nicht mehr.“

Dorit Gäbler hielt sich an ihr Lebensmotto, dass sich immer ein Weg findet, auf dem es weitergeht, wenn man nur will. Und die damals 57jährige wollte sich ihren Beruf nicht nehmen lassen. Durch niemanden und nichts. „Meine Arbeit ist das, was mich am Leben hält“, betont sie immer wieder. Und so hat sie sich auch damals nicht fallen lassen. Sie scheute sich nicht davor, Klinken zu putzen, sammelte Absagen ein, und schaffte es schließlich wieder auf die Bühnen zurück. „Ich habe mich auf das konzentriert, worauf ich mich verlassen konnte.“ Das war sie selbst mit ihren Fähigkeiten als Schauspielerin und Sängerin, ihrem Talent, Lieder zu schreiben. Sie begann, sich neue Unterhaltungsprogramme aufzubauen, nahm dafür im Studio die Musik mit dem Trio „swinging-friends“ auf, um kostengünstig mit Halb-play-backs arbeiten zu können. Heute, wenn die Veranstalter das nötige Honorar aufbringen können, ist sie noch manchmal mit dem Trio live zu erleben.

Man hörte von Dorit Gäbler kein Gejammer. Sie hat die Widrigkeiten des Lebens immer in den Griff bekommen. Einiges riss ihr damals erst einmal den Boden unter den Füßen weg. Die Aussicht auf eine Rolle in der ARD-Daily-Soap „Verbotene Liebe“, in die man auch bekannte DDR-Schauspieler wie Gojko Mitic, Jürgen Zartmann und Peter Zintner holte, ging ihr 1995 verlustig. Das Casting lief perfekt. Das Engagement scheiterte daran, dass der Chefredakteur „eine aus dem Osten“ nicht mit der Hauptrolle besetzen wollte.

Schön, erotisch, eine Künstlerin, die ihr Publikum zu begeistern weiß. Dorit Gäbler bei einem Auftritt 2022 © Kaheibell

Manches in dieser Zeit machte sie, um das sprichwörtliche Brot zu verdienen. Sie testete Antifalten-Cremes, ließ sich für eine MDR-Dokumentation die Augenlider liften. „Das ist fast 25 Jahre her. Heute würde ich das nicht wieder machen“, sagt die 80jährige, „aber es half mir, den Blick in den Spiegel zu ertragen, nachdem ich 60 geworden war. Inzwischen weiß ich, es gibt auch jenseits der sechsten Null ein erfülltes Leben. Natürlich sollten dabei Sex und Erotik nicht außen vor bleiben. Auch sehr reife Frauen dürfen sich sexy und erotisch fühlen. Sie müssen es nur zulassen“, meint sie. Ihr Programm „Ein bisschen Sex muss sein“ ist ein Zuruf an die Frauen, dass Sex auch im reifen Alter noch Spaß machen kann. „Ich möchte ihnen die Ressentiments nehmen. Sex muss nicht immer zielführend sein. Wenn man zusammensitzt, sich ankuschelt, ein Schluck Wein mit dem Mund weitergibt, ist das eine sexuelle Handlung, verdammt noch mal!“

Marlene, Hildegard und starke Lieder

Seit 1992 präsentiert Dorit Gäbler Songs von Marlene Dietrich in einer stilechten Robe © Karl-Heinz Bellmann

1992 entwickelte Dorit Gäbler ihren ersten Marlene-Dietrich-Abend, der bis heute zu ihren erfolgreichsten Programmen gehört. „Ich habe die Dietrich immer als Künstlerin und Menschen bewundert. Sie war diszipliniert wie keine bei der Arbeit war, immer auf das Team bedacht, mit dem sie gerade arbeitete. Sie war auch eine Diva, aber souverän im Umgang mit Bewunderung und Macht. Sie hat sich 1936 nicht bestechen lassen, aus den USA in das faschistische Deutschland zurückzukehren und dort wieder Filme zu drehen. So ein Rückgrat wünsche ich heute Politikern und so manchem Prominenten.“ Vergnügt erzählt mir Dorit, wie sie sich bei einem Besuch in Paris mit der Gitarre vor das Haus in der Avenue Montaigne 12 gestellt hat, wo Marlene Dietrich bis zu ihrem Tod im Mai 1992 in einem Appartement lebte, und ein paar ihrer Lieder sang. „Die Leute schauten verwundert aus den Fenstern, dann applaudierten sie. Die Dietrich ist trotz Tablettensucht eine starke Frau geblieben.“

2001 entstand ihr Album „Dorit Gäbler präsentiert Marlene Dietrich“, aufgenommen im Studio ihres Kollegen Wilfried Peetz

Mittlerweile schlüpft Dorit Gäbler seit 31 Jahren immer wieder erfolgreich in die Rolle des Weltstars. Über drei Ecken bekam sie ihre erste Bühnenrobe dafür von Georg Preuße, der als Travestiekünstler „Mary“ berühmt wurde. „Er hat seine Bühnengarderobe anfangs selbst genäht und später verkauft“, erzählt Dorit. Inzwischen musste sie die edle Strass-Robe einmal nachschneidern lassen. Die 2001 produzierte Platte Dorit Gäbler präsentiert Marlene Dietrich“ machte sie deutschlandweit bekannt. 2004 war sie mit dem Album in der Schweizer Hitprade. 2009 trat sie anlässlich einer Marlene-Dietrich-Gala mit Liedern aus ihrer „Hommage an Marlene Dietrich“ in dem Nachbarland auf und hat das Publikum auch dort begeistert.

Wo immer auch Dorit Gäbler auf der Bühne steht, ist sie authentisch in dem was, sie tut. „Ich will die Menschen berühren, ihnen etwas geben, aus dem sie Kraft für sich ziehen können, das sie aufbaut und ihnen Freude bringt, wenn sie der Alltag erschöpft.“ Ihre Lieder drehen sich fast alle um das weibliche Wesen, seine Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen, um Liebe und Verlassensein, um das zu sich selbst finden.

Dorit Gäbler ist seit fast zwei Jahrzehnten mit ihrem Bühnen-Porträt „Ein Abend mit Hildegard Knef“ von Mecklenburg-Vorpommern bis Sachsen erfolgreich ©Karl-Heinz Bellmann

In der Zeit, als sich Dorit Gäbler als Schauspielerin und Sängerin zurückkämpfte, fiel ihr Hildegard Knefs autobiografischer Roman „Der geschenkte Gaul in die Hand. „Das Schicksal hat sie sooft aus dem Sattel geworfen, und sie kam immer wieder in Trab. Sie konnte wunderbare, so prägnante Texte schreiben. Ihr komprimierter Schreibstil begeisterte mich. Allerdings war ihr Umgang mit der Zeit des Faschismus fragwürdig. Ich habe lange gezögert, ihre Lieder zu singen.“

Nach dem Tod der Knef Tod 2002 nahm die Dresdnerin eine CD mit fünf Knef-Liedern auf. Diese Platte „Aber schön war es doch“ gab sie Paul von Schell zur „Begutachtung“ mit der Anfrage, ob sie ein zweistündiges Programm daraus machen dürfe. „Ihm gefiel, wie ich die Lieder seiner Frau interpretierte, und er gab mir sein Okay.“
Mit Songs und Texten aus dem Geschenkten Gaul“ entwickelte Dorit Gäbler ein literarisch-musikalisches Bühnenporträt. Ein anspruchsvoller und zugleich unterhaltsamer Abend, der mittlerweile ihr zweiter Dauerbrenner ist. Es wäre der singenden Schauspielerin ein Leichtes, dank ihrer Erscheinung und ihrer Stimme als Hildegard Knef auf der Bühne zu stehen. Aber sie lässt Abstand für ihre Eigenständigkeit als interpretierende Schauspielerin. „Das Premieren-Kostüm hat mir Jürgen Hartmann geschneidert, der in den letzten Jahren auch Hildegard Knefs Bühnengarderobe entwarf und nähte.

Dorit Gäbler und ich 2007 vor ihrer Show „Starke Frauen“ im Dresdner Terassenrestauran Marcolini. Manchmal braucht Frau auch Hilfe @Boris Trenkel

Unterdessen, so fand sie, sei es Zeit für eine CD mit eigenen Texten und Kompositionen. 2005 spielte sie im Studio von Adagio Records Hamburg mit dem „Juri Lamorski Quintett“‚ ihre CD „Starke Frauen“ ein, die die Basis für ihre ebenso erfolgreiche Unterhaltungsshow wurden. Zum Vergnügen der weiblichen wie männlichen Zuhörer ventiliert Dorit Gäbler in lauten und leisen Liedern und Versen die Fragen des Lebens. Ist die Zeit der unverstandenen Frau, des Weibchens in Haus, Küche und Bett vorbei? Erotische Szenen wechseln sich ab mit Nachdenken über Fehler, die man erkannt hat und doch immer wieder macht. Die Quintessenz des Abends: Männer müssen vor starken Frauen keine Angst haben. Sie müssen sie nur lieben. Ich habe einen dieser Abende im Dresdner Terrassenrestaurant Marcolini genüsslich miterlebt.

Ein Solo auf dem Silbertablett

Mitte der 90erJahre adaptierte Dorit Gäbler für sich die Idee der DDR-Fernsehreihe „Schauspielereien“. Heitere und kuriose Kurzgeschichten für einen oder zwei Protagonisten. Wunderbar geeignet für die Schauspielerin, ihre Wandlungsfähigkeit, ihren Facettenreichtum auszuspielen.

Die Schauspielerin ist nicht nur Sängerin, sonden auch eine begnadete Kabarettistin, wie sie in ihrem Programm „Schauspielereien“ locker unter Beweis stellt © Karl-Heinz Bellmann

Mit Musik, Erotik und Witz gestaltet Dorit Gäbler in unterschiedlichsten Rollen vergnügliche anderthalbstündige Theaterabende. „Die Zwischenmusiken schrieb mir mein Bruder Mäckie Gäbler, und bei der Regie hat mich Jürgen Mai unterstützt. Der Szenenwechsel muss ja genau getaktet sein. Meine Garderobe steht auf der Bühne, das Publikum erlebt meine Verkleidungen mit.“ Die „Schauspielereien“ waren bei den DDR-Fernsehzuschauern sehr beliebt. Zwölf Jahre – von 1978 bis 1990 – gaben sich prominente Schauspieler wie Herbert Köfer, Helga Piur, Uta Schorn, Walter Plathe, Helga Göring oder Rolf Ludwig hier einmal im Monat ein einstündiges Stelldichein. Dorit Gäblers Bitte an den MDR, das Format wieder aufzunehmen, wurzelte die Redaktionsleiterin Jana Brandt, die Tochter des DEFA-Regisseurs Horst E. Brandt, ab. „Die Zeiten, dass wir so einen Mist senden, sind Gott sei Dank vorbei, Frau Gäbler.“
Ganz so ein Mist kann es ja nicht gewesen sein, denn mehrere Folgen liefen auch in einigen Dritten Programmen der ARD. Jana Brandt war übrigens von 1988 bis zum Ende des DDR-Fernsehens 1991 Redakteurin in der für die „Schauspielereien“ zuständigen Abteilung Spielfilm/Serie des DDR-Fernsehens.

Dorit Gäbler in ihren „Schauspielereien“ als verkappter Detektiv © Karl-Heinz Bellmann

„Das hat mich damals tief getroffen, weil wieder etwas getilgt wurde, das zu unserem Leben gehört hat“, erinnert sich Dorit Gäbler. Fast möchte man es Trotz nennen. Sie entwarf ihr Bühnenprogramm und ging viele Jahre mit eigenen „Schauspielereien“ auf Tour. Natürlich gab es immer wieder Neuauflagen. „Das war mein größtes und bestes Programm“, findet sie. Nicht zu Unrecht wie sich in Kulturspalten verschiedener Tageszeitungen nachlesen lässt. Beifallsstürme im Kunstschloss Hermsdorf, Fußgetrappel und Bravo-Rufe in Kröpelin. In Greifswald und Dresden forderten die Zuschauer Zugaben, Begeisterung in Wittenberg. Mittlerweile hat sie dieses erfolgreiche Programm aufgegeben. „Die Kostümwechsel fanden auf offener Bühne statt, auf ein fließendes Spagetti-Trägerkleid zog ich Blusen und Jacken. Aber meinen so sichtbaren Oberkörper will ich keinem Zuschauer mehr zeigen“, gesteht die immer noch attraktive 80jährige.

Winfried Glatzeder als Elwood P., der einen unsichtbaren Hasen namens Harvey hat, und Dorit Gäbler als Elwoods Schwester 2000 im Theater am Kurfüstendamm in der Komödie „Mein Freund Harvey“ © Programmheft/Theater am Ku’damm

Auf wundersame Weise, wie sie es nennt, bekam sie Ende der 90er Jahre Gast-Engagements an der Westberliner Komödie am Kurfürstendamm. „Ich spielte vier Inszenierungen in Berlin und Hamburg“, erinnert sie sich. Mit Winfried Glatzeder und Elisabeth stand sie in Mary Chase Komödie „Mein Freund Harvey“ auf der Bühne, an der Partnerbühne Comödie Dresden spielte sie mit Herbert Köfer, Hans-Jürgen Schatz und Jürgen Mai in dem Kästner-Stück „Drei Männer im Schnee“. Fast zehn Jahre ging sie ab 2008 mit Köfers Komödiantenbühne auf Tour, besonders erfolgreich in der Theaterversion von „Rentner haben niemals Zeit“, die auch in der Dresdner Comödie auf dem Spielplan stand. Von 2017 bis 2020 gehörte Dorit Gäbler als Mutter zur Besetzung in der Nikolaikirche Potsdam zur Besetzung des „Jedermann“-Inszenierungen.

Dorit Gäbler 2017 in ihrer Garderobe im Cottbuser TheaterNative“ Sie hat sich für die Premiere ihres Solo-Programms „Verliebt, verlobt, verschwunden“ fertig gemacht. ©Karl-Heinz Bellmann

Ihr großer Traum aber war ein Solo-Stück. Jahrelang hatte sie danach gesucht. Bei einer Vorstellung von Rentner haben niemals Zeit“ mit Herbert Köfers Komödiantenbühne 2015 im TheaterNative C in Cottbus wurde es ihr auf dem Silbertablett geliefert. „Verliebt, verlobt, verschwunden“, eine One-Woman-Revue des österreichischen Theaterautoren Stefan Vögel. Gerhard Printschitsch, der Intendant des Theaters, drückte ihr das Stück in die Hand. Er hatte es für eine 60jährige Schauspielerin seines Ensembles schreiben lassen. Sie traute es sich nicht zu. Für die Komödiantin Dorit Gäbler, die ihr Publikum problemlos zwei Stunden allein unterhält, eine Paraderolle. Und inhaltlich ein gefundenes Fressen für sie, die in Sachen Beziehungen auch nicht auf Rosen gebettet war.
Nach 18 Jahren Alleinseins mit zwei Kinder verspricht ein Mann einer Frau, er würde ihr den Himmel zu Füßen legen, wenn sie ihn heiratet. Doch am Hochzeitstag findet sie statt Rosen drei Worte auf einen Zettel gekritzelt: Ich kann nicht… Sie ist verletzt, wütend, verzweifelt, wie sie nur so blöd sein konnte, schon wieder auf einen Mann hereinzufallen. Im Laufe des Stücks findet sie zu sich selbst, analysiert das Wesen Mann. Sie flucht und singt sich in Rage, hadert mit Gott, der den Mann geschaffen hat. Sie warnt vor Typen, mit denen man sich nicht einlassen darf und parodiert ihren Exmann.

Herbert Köfer beglückwünscht Dorit Gäbler nach der bravourösen Premiere im Cottbusser TheaterNativeC 2016 ©Karl-Heinz Bellmann

„Printschitsch hat das Stück bearbeitet und für die emanzipierte Frau im Osten zugeschnitten“, sagt Dorit Gäbler, die mit ihrem witzig frechen Spiel nicht nur bei den Frauen Lacher erntete. Das Schöne daran war für sie, dass sie nicht nur als Schauspielerin ihr Können zeigen konnte. „Ich durfte mir meine eigene Begleitmusik schreiben, weil ich die dazu vorhandende zu belanglos fand. Nun stand sie also die Schauspielerin mit der Songtexterin und der Komponistin in persona auf der Bühne. Ein solches Finale hatte ich mir immer erträumt!!!“

Allerdings lief das nicht so reibungslos ab, wie sie es jetzt erzählt. Ein Jahr hatte sie neben ihren anderen Verpflichtungen daran gearbeitet. Vier Tage vor der Premiere im Juni 2016 bekam sie einen Schwächeanfall. Die Generalprobe für die Revue in Cottbus musste abgebrochen werden. Die Premiere am 11. Juli und die nachfolgenden Vorstellungen meisterte die 73jährige bravourös. Inzwischen steht sie mit diesem Stück auch anderswo auf der Bühne, wie im Boulevardtheater Dresden, der Kleinen Komödie Warnemünde und dem Theater Adlershof.

Mittlerweile hat Dorit Gäbler 13 Programme, mit denen sie unterwegs ist. Früher waren es so um die 160 Veranstaltungen im Jahr. Jetzt möchte sie etwas kürzertreten, aber ihr Terminkalender ist voll. Zehn, zwölf Veranstaltungen hat sie doch immer noch im Monat.

Pias Schwester Ursula kommt unverhofft nach Leipzig. Sie will ihren Vater besuchen. Später erfährt Pia, dass Ursula nicht mehr lange zu leben hat. Dorit Gäbler und Hendrikje Fitz 1999 in Folge 27 ©MDR

Gedreht hat sie seit der Wende nur wenig. Da waren 1998 die turbulenten Geschichten „Leinen los für MS Königstein“, in denen sie zwei Folgen mitspielte. 1999/2000 war sie in der Serie „In aller Freundschaft“ als Pia Heilmanns Schwester Ursula in drei Folgen zu sehen. „Die Überlegung, mich dauerhaft einzubauen, lief ins Nichts. Ich passe nicht ins Ensemble, wurde mir gesagt. Naja, so war das eben. Ich habe mir andere Ziele gesetzt.“

Dorit Gäbler als resolute Mutter des jungen Rechtsanwalts Markus Immel (Pierre Besson) 2003 in „Mein Weg zu Dir“, Screenshot© MovieMaxxTV/Michael Bertl

2003 sah man sie in der Romanze „Mein Weg zu dir“ mit Pierre Besson. Nichts Weltbewegendes, aber die Rolle ließ sie als resolute Grand Dame glänzen. Eine sehr hübsche Rolle hatte Dorit Gäbler als schrullige Gärtnerin in der phantastischen Kinderserie „Das Geheimnis der Sagala“. Ihre Mitwirkung als Frau Zwirn in der Kinderserie „Schloss Einstein“ 2007/2008 waren ihre letzten Filmrollen.

Junge gegen Alte

Ich frage sie, ob es nicht Zeit wäre, sich aus dem Show-Geschäft zurückzuziehen. Nach intensiven, schönen 57 Jahren, in denen sie ihre Träume gelebt hat. „So etwas habe ich gerade auf Facebook gelesen. Da schrieb ein junger Mann, die alten Künstler sollten endlich die Bühne für die jüngeren freimachen. Das war nicht direkt an mich adressiert. Er bezog sich auf eine TV-Sendung. Ich habe ihm geantwortet, er möge doch mal herumfragen, ob junge Künstler in Kliniken und Pflegeheimen auftreten. Das glaube ich kaum. Das sind keine Bühnen, um bekannt zu werden, oder wo man viel Geld verdient. Das ist doch heute für junge Leute das Wichtigste. Da guckst du auch nicht in schöne, fröhliche Gesichter.“

Dorit Gäbler bei einer Weihnachtsfeier in einem Seniorenheim © Karl-Heinz Bellmann

Sie erzählt mir von einem Auftritt in einem Heim für Demenzkranke. „Ich habe Volkslieder zur Gitarre gesungen und sah in Gesichter, deren ausdruckslose Augen ins Nirgendwo blickten. Mit einem Mal aber kehrten die Lebensgeister in diese Menschen zurück. Sie sangen mit, ganz textsicher. Dass ich diesen Moment in meiner langen Karriere noch entdeckt habe, hat mich glücklich gemacht.“ Ich kann auf dem Laptop sehen, wie sehr sie dieses Erlebnis im Nachhinein noch berührt. Die Frage, ob sie schon darüber nachgedacht hat, wann sie sich von ihrem Bühnenleben zurückziehen will, erübrigt sich eigentlich. Sie ist noch lange nicht soweit, die Bühne aufzugeben. „Ich habe immer noch wahnsinnig viel Freude an der Arbeit und bin mit meinem Personality-Programm „Momentaufnahmen“, Geschichten aus meinem Leben, gut gebucht“, sagt sie. „Ich bleibe, solange das Publikum meine Veranstaltungen mit einem entspannten, freundlichen Gesicht verlässt, und ich höre, dass es ihnen gefallen hat. Fallen die Worte: Naja, Frau Gäbler, das war ganz nett, höre ich auf. Dann bin ich weg.“ Sie lacht und schränkt ein: „Aber ich lasse mich auch nicht wie Johannes Heesters auf die Bühne führen, wenn die Beine nicht mehr wollen.“ Eine klare Ansage.

Sie tut viel dafür, dass niemand ihre Veranstaltungen mit dem Gefühl verlässt: War ja ganz nett. Dorit Gäbler schöpft ihre künstlerische Vielseitigkeit als Schauspielerin, Sängerin und Texterin aus. „Ich möchte mein Publikum exklusiv unterhalten. Dafür steht der Name Dorit Gäbler.“ Der Erfolg ihrer zahlreichen Unterhaltungs- und Kabarettprogramme spricht dafür. „Es geht immer noch weiter“, sagt sie zum Abschied unseres Videointerviews.

Es sei hier gesagt, Feierabend ist für Dorit Gäbler noch lange nicht. Ein paar Tourdaten gefällig? https://www.dorit-gaebler.de/tourdaten/ Foto: Karl-Heinz Bellmann

Schauspielerin Ursula Werner – Ein Leben voller glücklicher Fügungen

Endlich passte es. Ein halbes Jahr hat es gedauert, bis sich ein Termin für unser Treffen fand. Ursula Werner ist immer auf Achse, wie der Berliner sagt. Beruflich. „Ja“, sagt sie lachend, „ich habe in meinem gereiften Alter so viel zu tun, dass es schon an ein Wunder grenzt, dass wir jetzt hier zusammensitzen.“

Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) empfängt ihre Tante Lena (Ursula Werner) auf dem Bahnhof, nicht ahnend, dass diese nicht nur zu Besuch ist, sondern einem Kriegsverbrecher auf der Spur ©Benoît Linder

Allein im vergangenen Jahr hat sie fünf Filme gedreht. Im Januar war sie als „Lenas Tante“ im ersten Ludwigshafener Tatort 2023 mit Ulrike Folkerts auf dem Bildschirm. Schwärmerisch erzählt sie von der Schauspielerin, der sie vorher nie begegnet war. „Mich hat sofort gereizt, mit ihr zu spielen, da hatte ich das Drehbuch noch gar nicht gelesen. Ich bin ein Fan ihrer Krimis. Ich finde sie von einer großartigen Ausstrahlung, und das hat sich auch bei der Arbeit so erwiesen.“ Ursula Werner spielt die pensionierte Staatsanwältin Niki Odenthal, Lenas Tante, die ihr ganzes Berufsleben darauf ausgerichtet hatte, Naziverbrecher aufzuspüren und zu verurteilen. „Das Thema, die Untiefen der deutschen Vergangenheit aufzuzeigen, machte die Rolle für mich doppelt interessant.“

Eigentlich wollte sie nicht mehr so weit weg von Berlin drehen. Aber wenn ihr dann interessante Drehbücher und Rollen auf den Tisch kommen, sind das Fügungen, denen sie sich nicht entziehen kann – und auch nicht will. Sie hat noch mehr als genug Kraft und Leben in sich. Wüsste ich ihr Alter nicht, würde ich mich sehr verschätzen. Sie trägt die Energie der Jugend in sich und vereint sie mit der Erfahrung und Klugheit des Alters gleichsam ihrer Rolle der Lilo in Axel Ranischs Opern-Musical „Orphea in Love“, das der gebürtige Lichtenberger Regisseur im vergangenen Sommer in München inszenierte. Ursula Werner beschreibt diese Figur als „eine seltene Paarung zwischen alt und jung. In Lilo sind Lebenskampf und Lebenslust vereint, mit glücklichem und auch traurigem Ausgang. Axel Ranisch hat mit seiner Energie, seiner Freude und seinem Übermut soviel Lust an der Mitarbeit verbreitet! Es war eine Wonne, unter diesem optimistisch geladenen, heiteren Menschen zu spielen.“

Ursula Werner als Lilo mit Konstantin Krimmel als Wolfram von Eschenbach in Axel Ranischs Opern-Musical „Orphea in Love“ ©Bayerisches Staatstheater/Dennis Pauls

Der Film spielt in einer dystopisch anmutenden Welt, in der es durch die Liebe noch Hoffnung gibt. „Was anfängt wie ein klassischer Betrugsversuch, entpuppt sich als poetisches Kennenlernen zweier Filmfiguren, und das in einer traumhaften Zauberwelt zwischen Jacques Offenbach, Fred Astaire und LA LA LAND, ist auf der Webseite des 39. Münchener Filmfestes zu lesen. Am 23. März 2023 ist der Kinostart für Axel Ranischs bild- und klanggewaltigen Musikfilm.

Bevor ich zum Interview zu Ursula Werner fuhr, habe ich mir einen halbstündigem Science-Fiction-Horrorfilm angesehen, den sie 2018 mit der Regie-Studentin Sabine Ehrl gedreht hat: „F For Freak“. Dystopie pur. Ich stieß bei Facebook darauf und hatte zu tun, meine Beklemmungen loszuwerden. In einer dreckigen Zukunftswelt, die von überwuchernder Natur und menschlicher Leere geprägt ist, jagen große Menschen kleine. Kopfgeldjäger verkaufen sie als Organspender, Leihmütter, Hilfskräfte. Die 78jährige todkranke Gabriela, die Ursula Werner verkörpert, braucht eine neue Lunge, ein neues Herz. Sie muss sich ihre „Ersatzteilspender“ selbst erjagen. Damit nimmt ihre Verwandlung ins Unmenschliche ihren Lauf.

Gabriela (Ursula Werner) sieht ein Mädchen, das sie mit großen Augen anschaut. Die alte Frau erschrickt vor sich selbst, als ihr bewusst wird, was sie tut. Doch sie will leben, da kann sie keine Rücksicht nehmen „F For Freak“, 2018 Screenshot/©Stephan Buske

Ursula Werner bewegte diese Frau mit ihrer ganzen Körperlichkeit, ist psychologisch genau in Diktion und Mimik. Die plötzlich aufkeimenden Skrupel, an dem, was sie vorhat, die Angst zu sterben, die Selbstberuhigung, dass diese kleinen „Biester“ ja selbst schuld daran sind, dass man sie jagt, weil sie gesund und schön sind, und die Unbarmherzigkeit am Ende des Films, als Gabriela dem Mädchen einen Stein an den Kopf wirft, weil es seine Mutter und die anderen „Schlachtopfer“ aus dem Hospital befreit. Alles drückt Ursula Werner fast ohne Worte in einem ergreifenden und verstörenden Spiel aus.

Auf dem 24. Fantasia Shortfilmfestival 2020 in Kanada wurde sie für ihre Darstellung als „Beste Schauspielerin“ ausgezeichnet. „Der Film hat etwas Unheimliches, meine Figur ist gruselig, so etwas habe ich noch nie gespielt. Ich wollte das mal versuchen, zumal ich das von der Thematik her diskussionswürdig finde“, sagt sie. „Die Frau kommt in den Zwiespalt, wie weit reicht mein Egoismus, andere Leben zu vernichten? Wie weit reicht die Bereitschaft, andere Wesen nicht so lebenswürdig zu betrachten? Das ist ja eine Diskussion, die auf der Hand liegt in unserer Welt. Das knüpft an menschliche Untiefen an und geht über das Thema Organspende weit hinaus. Wozu werden Kriege geführt?“

Es ist eine rhetorische Frage, die Antwort kennen wir, sie wird uns jeden Tag in den Medien präsentiert. Nur muss man sie zu interpretieren wissen. Es ist zwar pure Illusion, aber Ursula Werner ist überzeugt, wenn Mütter schriftlich einwilligen müssten, dass ihre Söhne in den Krieg ziehen, gäbe es keine Kriege. Auf ihrem Auto hat sie einen Aufkleber: „Alle Macht den Müttern“.

Die Arbeit mit Nachwuchsfilmern ist für die Schauspielerin ein gegenseitiges Geben und Nehmen. „Sie wählen sich immer außergewöhnliche Themen, etwas, das aus dem Rahmen fällt“, sagt sie. Die Rollen, die sie bekommt, füllt sie mit Menschlichkeit aus, im Guten wie im Schlechten. Sie lässt in Abgründe blicken. Wie eben in diesem Thriller von Sabine Ehrl, dessen besonderer Reiz für Ursula Werner auch in der Aufnahmetechnik lag. „Es hat mich interessiert, wie da plötzlich diese kleinen Menschlein erscheinen.“ Im vergangenen Jahr stand sie in Osnabrück für den ZDF-Film „Im Tal der Könige“ vor der Kamera, das Spielfilmdebüt des jungen Regisseurs Tim Ellrich. Ein Familiendrama, in dem er seine eigene Geschichte verarbeitet.

Ursula Werner verkörpert in der Inszenierung „Das Himmelszelt“ die 83jährige Dorfälteste Sarah Smith, die selbst 21 Kinder hat und bis vor kurzem noch Handstand konnte ©Deutsches Theater/Arno Declair

Die Dreharbeiten kollidierten zeitlich mit dem Probenbeginn für das historische Gerichtsdrama Das Himmelszelt“ am Deutschen Theater. „Ich stand zwischen Baum und Borke“, sagt sie. „denn ich hatte mich schon Tim Ellrich für seinen Diplomfilm verpflichtet, als das Angebot für die Rolle am Deutschen Theater kam.“ Sie ist jemand, der zu einer Verpflichtung steht. „Man muss sich auf mich verlassen können. Wenn nötig, gehe ich mit dem Kopf unterm Arm auf die Bühne oder vor die Kamera.“ Sie arrangierte es so, dass sie später in die Theaterproben einstieg. „Ich war ganz glücklich, dass ich noch einmal am Deutschen Theater spielen konnte. 1972 hatte ich dort als Vertretung von Jutta Wachowiak und Gudrun Ritter als Charlie in Ulrich Plenzdorfs ,Die neuen Leiden des jungen W. gastiert. Das war kurios. Die eine war die Zweitbesetzung für die andere und beide fielen wegen Erkrankung aus.“

Das Tribunal der zwölf Gemeindefrauen und die Mörderin (r.). Ursula Werner als Sarah ist die zweite von links. ©Deutsches Theater/Arno Declair

Mit ihrer Rolle der 83jährigen Sarah Smith in dem Stück „Das Himmelszelt“ der britischen Autorin Lucy Kirkwood musste sie sich erst anfreunden, weil sie später zum Ensemble dazustieß. „Es ist eine spannende Geschichte“ erzählt sie, „die im Jahr 1759 in einem kleinen Dorf an der englischen Ostküste spielt. Eine junge Mörderin gibt vor schwanger zu sein, denn dann darf sie nicht gehängt werden. Schwangerschaftstests gab es noch nicht, also wurden zwölf Frauen aus der Gemeinde berufen, die feststellen sollen, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt. Diese Frauen mit ihren unterschiedlichen Haltungen und Ansichten sind tolle Figuren. Und ich habe mich gut reingefunden.“ Das macht die Schauspielerin Ursula Werner aus, ihre Schauspielkunst, die sie in 55 Jahren großartig beherrschen lernte.

In der ARD-Filmkomödie „Wer einmal stirbt, dem glaubt man nicht“, präsentierte Ursula Werner ihre komödiantischen Fähigkeiten als Psychologin a.D. Dr. Herta Lundin. Spitzzüngig, ironisch reagiert sie auf ihren selbstverliebten Sohn Ulf (Heino Ferch), einen Bestsellerautor Screenshot ©degeto/Mathias Neumann

Mit ihren fast 80 Jahren, hat Ursula Werner so viele Filmangebote, dass es ihr fast ein schlechtes Gewissen macht. „Andere, gute Kollegen, auch jüngere, warten auf Rollen. Sie müssen zusehen, wie sich durchschlagen.“ Das sind so Ungerechtigkeiten, die sie ungemein stören, ja, traurig machen, weil sie nichts daran ändern kann. „Das schlimmste ist, dass man sich manchmal so hilflos fühlt.“ Da bin ich ganz bei ihr. Selbst musste sich Ursula Werner nie Sorgen machen, ob sie ihren Kindern neue Schuhe kaufen und etwas zu Weihnachten oder zum Geburtstag schenken kann. Oder ob sie sich Ferien gönnen können. Sie hatte seit 1974 ein festes Engagement am Maxim Gorki Theater und war unkündbar, als man 1994 als Nachfolger von Albert Hetterle den Direktor der Münchener Falkenberg-Schauspielschule Bernd Willms einsetzte. Sie erzählt von den Umwälzungen, die nun stattfanden, den Entlassungen. „Ich habe mich bei Gastspielen in der BRD immer gewundert, warum sich die Gespräche der Kollegen dort immer ums Geld drehten. Im Nachhinein ist mir klar, was für eine Freiheit das ist, was für ein Gewinn, wenn man weiß, man kann sein Leben fristen, muss seine Wohnung nicht verlassen.“ Üppig waren Gagen am Theater in der DDR nicht. „Ich bekam 425 Mark Monatsgage bei meinem ersten Engagement 1968 in Halle, hatte aber auch eine Wohnung, die nur 35 Mark Miete kostete. Und ein Brötchen kriege ich heute nicht mehr für 5 Pfennig. Das waren unsere Relationen.“

Fenster ohne Gardinen

Es war kurz vor Heiligabend, als ich Ursula Werner besuchte. Ich hatte von unterwegs eine Tüte Kräppelchen und Spritzkuchen mitgebracht. „Was für eine gute Idee! Das hat ja noch keiner gemacht, zum Interview Futtereien mitzubringen. Wollen wir Kaffee oder Tee trinken?“ Sie mag Kaffee lieber, ich auch.

Ursula Werner wohnt seit ihrer Kindheit in der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg. Das Bild im Hintergrund ist ein Foto von ihrem Haus in Stepenitz ©Bärbel Beuchler

Das kleine Zimmer mit Blick auf die Stargarder Straße ist gemütlich. Sie hat sich in die Kissen auf dem Sofa gekuschelt, ich habe den Stuhl ihr gegenüber genommen. „Das war mal eine Küche“, erklärt sie. „Bei der Sanierung nach der Wende hat man zwei kleine Wohnungen zusammengelegt.“ Ich gucke durch das gardinenlose Fenster hinaus auf die Straße. Es sieht übel aus da draußen. Nieselregen, der auf dem kalten Pflaster sofort gefriert. „Du magst es auch lieber ohne Gardinen?“, frage ich. Sie nickt. „Schon immer. Wenn sich meine Nachbarn in Halle darüber aufregten, habe ich immer gesagt: Die Frau Werner hat viele schöne Gegenstände in der Wohnung, die braucht keine Gardinen.“

Fenster ohne Gardinen laden ein zum Hineinschauen in die Wohnzimmer. Ich mache das gern, wenn ich durch die Straßen gehe, erhasche da ein winziges Stück vom Leben der Bewohner. Ich sammele Eindrücke wie Mosaiksteinchen. Auch jetzt bei Ursula Werner. Auf der Sofalehne hockt ein weißer Teddybär auf seinem eigenen kleinen geblümten Sofa. Am Schrank neben ihr hängt eine überdimensionale Armbanduhr. „Davon habe ich zwei“, sagt sie. „eine hier und eine in meinem Haus draußen auf dem Land.“ Wie sie zu dem Haus mit Garten kam, ist eine der vielen glücklichen Fügungen in ihrem Leben, von denen sie mir erzählt. Es wird ein langer Besuch.

Ende der 70er Jahre suchte sie ein kleines, dauerhaftes Feriendomizil. „Ein Urlaubsplatz kam in der DDR einem Sechser im Lotto gleich. Wenn ich mit meiner Tochter Jenny verreisen wollte, war das ganz schwierig. Manchmal halfen Beziehungen. Mit zwei Kindern schien mir das unerreichbar“, erinnert sich Ursula Werner. „Ich dachte, ein Häuschen auf dem Land wäre die Lösung.“ Sie fragte ihre Freundin Heide Böwe, die Hörspieldramaturgin und Ehefrau ihres so sehr verehrten Kollegen Kurt Böwe, ob sie sich nicht mal umhören könnte. Vielleicht dort, wo sie ihr Ferienhaus haben. Und tatsächlich machte Heide Böwe in der Prignitz, der alten Heimat des Schauspielers, ein schon lange leerstehendes altes Jagdhaus aus, das die Gemeinde verkaufen wollte. „Es hatte ein großes Grundstück, war aber total heruntergekommen. Putz bröckelte von den Wänden, die Fensterscheiben waren kaputt, überall lag Schutt. Man brauchte schon Phantasie, um sich hier eine Ferienidylle vorzustellen.“

Ursula Werner hatte sie. Und es erfüllte sich ein Traum. Tief im Herzen hegte die Schauspielerin seit ihrer Kindheit den Wunsch, an einem solchen Ort zu leben. Mitten im Wald, mit einem Garten, einer großen Wiese, Sträuchern und Obstbäumen. „Ohne meine Freundin Marianne vom Maxim-Gorki-Theater, meine Mutter, meinen Vater und hilfreichen jungen Leuten aus dem Dorf hätte ich das nicht geschafft“, erinnert sie sich dankbar. Seit gut vierzig Jahren hat sie nun in Stepenitz ein zweites Zuhause, gewissermaßen auch ein zweites Leben. Unser Treffen scheiterte auch einige Male daran, dass sie ihre freien Tage zwischen Dreharbeiten und Proben am Deutschen Theater auf dem Land verbringen wollte. „Es tut gut, die Ruhe zu spüren. Die Leute hier im Dorf beschäftigen sich natürlich auch mit der Situation im Land, die für sie eine andere ist als für mich. Sie haben teilweise ganz andere Ansichten. Das ergibt sehr interessante Gespräche. Umweltschutz, Klima, Mobilität ist auf dem Land von anderer Wichtigkeit. Es ist schön, diese Seite zu erleben, nicht nur seine Stadt zu sehen.“

Ursula Werner Anfang der 2000er mit ihren Söhnen, dem heute 43-jährigen Johannes Werner (links), und dem heute 47jährigen Maximilian Richter (rechts) Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Über die Uhren verrät sie mir, dass es einmal Mitbringsel für ihre Söhne Johannes und Maximilian waren. „Ich fand sie originell, die Jungs damals auch“, lacht die 79jährige. Die Teenager wurden erwachsen und fanden die Uhren nicht mehr so toll. Die Mutter nahm’s gelassen und die Geschenke zurück. Zum Entsorgen waren sie ihr zu schade. „Da steckt Arbeit drin, Material und Energie, außerdem funktionieren sie noch. In unserer Wegwerfgesellschaft wird der Wert von Arbeit überhaupt nicht mehr geachtet.“ Das ärgert die Schauspielerin, die 1943 zur Welt kam und in der Zeit des Mangels nach dem Krieg ihre Kindheit erlebte, und gelernt hat, Dinge zu wertschätzen. Essen, Kleidung und was man noch so braucht im Alltag. „Komm, nimm doch auch was“, bittet sie mich und schiebt den Teller mit den Küchlein näher zu mir. „Wir haben als Kinder immer geteilt. Wenn wir auf der Straße oder im Hof Vater, Mutter, Kind gespielt haben, und jemand brachte ’ne Stulle mit oder ’nen Apfel, wurde das geteilt.“

Der Duft von frisch geschnittenem Holz

So sahen die Lebensmittelkarten 1958 in der DDR aus Foto: ©Museum-digital/Sachsen-Anhalt

Wir haben ähnliche Erfahrungen in unserer Kindheit gemacht. Lebensmittel waren damals rationiert. Brot, Fett – Butter, Margarine – und Fleisch bekam man nur auf Marken. In der DDR wurden die Lebensmittelkarten 1958 abgeschafft. Ich weiß noch, wie mich meine Oma, wenn ich in den Ferien bei ihr in Quedlinburg war, mit einer Lebensmittelkarte losschickte, um im Milchladen ein halbes Pfund Butter zu kaufen. Die Abschnitte dafür waren immer zuerst aufgebraucht. Manchmal bekam meine Oma ein Viertel Butter ohne Marke, weil ich zu Besuch war. Da half, dass sie die Milchfrau kannte.

Eine (Ost)Berliner Lebensmittelkarte für den Monat Februar 1950 Foto: ©DDR-Museum Berlin

In dem total zerstörten Berlin hieß das Gebot der Stunde in jenen Jahren: Organisieren. „Meine Mutter schaffte es immer, dass wir nicht gehungert haben“, erinnert sich Ursula Werner. „Wenn es kein Brot mehr gab, konnte man mit den Brotmarken Zucker kaufen, den es reichlich gab. Sie hat ihn dann in der Pfanne kandiert und für meinen Bruder und mich Bonbons gemacht.“ Ein besonderes Talent, Sachen zu beschaffen, hatte ihre Berliner Oma. „Die war richtig clever, wie man heute sagt. Sie besorgte zum Beispiel die Stoffe, aus denen meine Mutter für uns Kleidung nähte.“

Vieles, worüber wir sprechen, müssen wir uns nicht gegenseitig erklären. Zum Beispiel, dass die knappen Ressourcen in der DDR uns dazu anhielten, zu haushalten, nichts wegzuwerfen, was irgendwie noch gebraucht werden konnte. Weiterverwertung oder aus Alt mach Neu – heute heißt das Recycling – war in der Wirtschaft und im privaten Leben ein wichtiges Element. Als Kinder haben wir Flaschen, Gläser, Lumpen und Papier zum Altstoffhändler gebracht. Dafür gab es ein schönes Taschengeld. Dass heute fast nichts mehr repariert wird oder werden kann, findet Ursula Werner eine große Verschwendung. Da braucht ihr niemand mit Umweltschutz zu kommen. Vom freundlichen Plauderton schlägt ihre Stimme für einen Moment ins Energische um.

Elise Werner mit ihrer einjährigen Tochter Ursula auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Friedrichswalde Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Ursula Werner zusammen mit ihrem anderthalb Jahre älteren Bruder Willi auf dem Land auf. Hochschwanger hatte ihre Mutter im Sommer 1943, als die Royal Air Force schwere Luftangriffe auf Berlin flog, die Stadt verlassen und war zu ihren Eltern nach Friedrichwalde in die Uckermark zurückgekehrt. Es war ihr Glück. Das Haus, in dem die Werners gewohnt haben, wurde ausgebombt. So kam es, dass das Berliner Kind im Krankenhaus Eberswalde zur Welt kam. Auf dem Bauernhof der Großeltern suchten auch die Tanten mit ihren Kindern Zuflucht. Dann kehrte der Bruder ihrer Mutter aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück. Es wurde eng, aber alle fanden Platz, keiner musste in der Scheune schlafen. Onkel Gustav war Zimmermann. Wenn er seine Kreissäge in Gang setzte, quietschte es furchtbar. Andere hielten sich die Ohren zu, Ursula hüpfte das Herz vor Freude, wenn sie das Kreischen beim Aufwachen morgens hörte. „Manchmal durften wir Kinder mit dem Schälmesser die Borke von den Stämmen, die der Onkel zersägen wollte.“

Mit duftendem, frisch geschnittenem Holz zu werkeln, gefiel ihr sehr. „Ich hatte ein gutes, starkes Gefühl für Holz “, sagt sie. Als sie nach dem Abitur zunächst den Tischlerberuf erlernte, wusste sie sehr zu schätzen, dass der Onkel sie mit seinen Werkzeugen arbeiten ließ. „Ich wollte Innenarchitektur studieren, da war ein Facharbeiterbrief als Maurer, Zimmermann oder Tischler Voraussetzung.“ Sie absolvierte in Adlershof eine Lehre zur Möbeltischlerin. „Die Ausbildung war anstrengend. Wir fingen früh um sieben Uhr an. Der lange Weg war besonders im Winter bitter. Doch es machte mir alles Spaß, Hobeln, Sägen, Schleifen und aus den Teilen Tische, Schränke und Stühle bauen. Ich könnte das heute noch“, lacht sie, „müsste nur meine Kenntnisse etwas auffrischen.“

In solcher Idylle wie hier am Krummer See erlebte Ursula Werner ihre Kindheit auf dem Dorf bei den Großeltern Foto: ©Amt Joachimsthal

Die kleine Ursula erlebte eine wunderschöne Zeit. Friedrichwalde, mitten in der Schorfheide mit Wiesen, Wäldern und Wasser, war ein Paradies für die Kinder. Mit nackten Füßen durch feuchtes Gras laufen, Pilze und Blaubeeren sammeln, im See baden – was wollte man mehr als Kind. Später, als die Familie wieder in Berlin wohnte, fuhr sie immer wieder in den Ferien dorthin.

Ein nackter Mann auf dem Sportplatz

Wilhelm Werner war 1947 aus englischer Gefangenschaft gekommen, und so kehrte auch seine Frau Elise mit ihren beiden Kindern aus der Uckermark in den Prenzlauer Berg zurück. „Ich war vier und habe Onkel zu meinem Vater gesagt. Das ihn sehr traurig gemacht. Ich erinnere mich an sein Gesicht in dem Moment“, erzählt sie. Der Kiez um die Stargarder Straße ist ihr Heimat geworden. Von hier aus nahmen all die Fügungen ihren Lauf, die Ursula Werner zu einer der besten Charakterdarstellerinnen des deutschen Theaters und Films werden ließen. Das muss gesagt werden, wenngleich sie auf Platzierungen keinen Wert legt. Schon in der Schule war es ihr egal, ob sie Klassenbeste, zweite oder dritte ist. Sie hat gelernt, weil sie neugierig war, weil es ihr Spaß machte. So geht sie auch an ihre Arbeit heran. „Ich gucke, was wird behandelt, ist das Stück wichtig, ist es wahrhaftig? Da kommt es mir erst einmal gar nicht darauf an, wie groß oder klein die Rolle ist. Wichtig ist mir, dass der Regisseur weiß, was am Ende dabei herauskommen soll.

Ursula war noch fünf, als sie am 1. September 1949 mit Schultasche und Zuckertüte posierte Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Am 1. September 1949 kam sie in die Schule – mit der heißbegehrten Zuckertüte ihres Bruders Willi. An der Schliemann–Oberschule, dem heutigen Gymnasium in der Dunckerstraße, machte sie 1961 ihr Abitur. In der Abiturzeit hatte sie kurz mit der Schauspielerei geliebäugelt. „Ich nahm zur Kenntnis, dass sich drei Mädchen aus der Nachbarklasse an der Schauspielschule beworben hatten, aber es brachte mich nicht dazu, es als Vierte zu wagen. Zumal ich nicht mal wusste, wie man das macht.“ Die Drei waren die später bekannten Filmschauspielerinnen Renate Krößner, Heidemarie Wenzel und Petra Hinze.

Ursula Werner weiß von keinem aus ihrer Familie, der in irgendeiner Weise auf künstlerischen Pfaden gewandelt ist. Der Vater war Klempner und Rohrleger, die Mutter gelernte Stenotypistin und Schneiderin. Aber vielleicht steckte die Begabung zur Schauspielerei doch in ihren Genen. Wilhelm Werner besaß einen außergewöhnlichen schönen Tenor und einen echten Urberliner Witz. „Mein Vater sang Opernarien und Operettenlieder, erzählte seine Schnurren aus dem Stegreif. Er war sehr beliebt als Alleinunterhalter“, erinnert sich Ursula Werner. Doris Borkmann, die als „große alte Dame des ostdeutschen Films“ bekannte Regie-Assistentin und Casterin der DEFA, hat ihn eines Tages für den Film entdeckt. „Sie begegnete meinem Vater bei uns zu Hause, als sie mir wieder einmal ein Drehbuch vorbeibrachte. Ihr gefiel sein Wesen, sein Aussehen, seine ganze Art, und sie verpflichtete ihn für einen Film.“

Statt eines Fußballers, wie es der Auftrag für die Skulptur war, präsentiert Bildhauer Kemmel (Kurt Böwe, Mitte mit Schiebermütze) der Dorfgemeinde einen Läufer, noch dazu einen nackten ©DEFA-Stiftung/Alexander Kühn, Wolfgang Bangemann

Und das war 1973 für Konrad Wolfs spröde anmutende Tragikomödie „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“. Sie schildert ein Stück aus dem Leben des eigensinnigen Bildhauers Kemmel, der in seinem Dorf mit seiner Auffassung von Kunst und seinen Werken keinen Blumentopf gewinnen kann. In leisen, satirischen Episoden geht es um die große Frage, welchen Platz nimmt die Kunst in der sozialistischen Gesellschaft ein. Der 30jährigen Ursula Werner hatte Konrad Wolf die Figur der selbständigen Fotografin Angela zugedacht, eine etwas abgeklärte, bodenständige Frau. „Obwohl ich nicht wusste, wie ich diese Rolle bewältigen sollte, ich hatte von einer Fotografin eine ganz andere körperliche Vorstellung, groß und schlank, was ich absolut nicht bin, habe ich sie angenommen.“

Die Rolle der Fotografin Angela eröffnete Ursula Werner eine neue Sicht auf die Art und Weise, wie ein Regisseur ihre Fähigkeiten fordern kann Foto: Repro B. Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner, ©DEFA-Stiftung/Wolfgang Bangemann, Alexander Kühn

Drei Gründe gab es für sie: „Ich fand das Thema, das gerade hochaktuell war, spannend. Kurt Böwe, den ich wahnsinnig mochte, und der ein so großartiger Bühnenschauspieler war, spielte den Bildhauer Kemmel, über den die Angela eine Fotoreportage machen sollte. Und ich war neugierig auf Konny Wolf. Ich konnte mir nicht erklären, warum er mich besetzt hat. Wir kannten uns nicht.“ Konrad Wolf lockte aus der jungen Schauspielerin eine Art der Darstellung heraus, wie sie sagt, die bis dahin noch nie von ihr gefordert war. „Er hatte eine ganz feine Art, mich auf den Weg zu führen, den er wollte. Alles, was ich ihm anbot, war falsch, zu viel. Hat er aber nicht gesagt. Er nahm es einfach mit kleinen Hinweisen weg. Es war eine ganz tolle Erfahrung, dass ich ausdrücken kann, was jemand erwartet, wenn er weiß, was er will.“ Es war das einzige Mal, dass Ursula Werner mit Konrad Wolf gearbeitet hat. Ihr Vater spielte übrigens ihren Zimmervermieter.

Sie stieß immer wieder auf Menschen, die ihre Begabung sahen, ihr mehr zutrauten als sie es selbst vermochte. „Ja,“ sagt sie, „ich hatte viele gute Regisseure und Schauspieler an meiner Seite, von denen ich lernen konnte.“ Regisseur Robert Trösch vom Berliner Kabarett „Die Distel“ war so jemand. Er holte sie 1963 in das Ensemble. Er hatte sie im Laienensemble von Hella Len entdeckt. Ursula Werner nahm die Ausbildung, die die Schauspieldozentin und Regisseurin ihren Schützlingen angedeihen ließ, sehr ernst. Vielleicht ergab sich ja doch noch mal etwas, was aus der Liebäugelei mit der Schauspielerei mehr werden ließ. Und die „Distel“ war ja immerhin ein Anfang. „Ich sollte die Lücke füllen, die Ellen Tiedtke mit ihrem Weggang hinterlassen hatte“, erzählt Ursula Werner. Überzeugt war sie nicht, dass sie das kann. Ellen Tiedtke beherrschte ihr Handwerk, war eine brillante Kabarettistin, und ich spielte in einem Laienensemble im Haus der DSF, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft.“ Das lag gleich nebenan zum Maxim Gorki Theater, was sich später als eine glückliche Fügung erweisen sollte.

Ursula Werner bei ihrem Bühnendebüt „Bette sich, wer kann“ 1963 in der Berliner Distel mit Gerd E. Schäfer Repro B. Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner/©Die Distel

Robert Trösch hatte das richtige Gespür dafür, was er von der Amateurin fordern konnte, wusste sie als Farbe einzusetzen. Ursula Werner brachte das Burschikose, das Urberlinische mit, das Ellen Tiedtkes Besonderheit war. „Es schien mir naheliegend, dass das für Robby Trösch eine wichtige Voraussetzung gewesen war, mich zu engagieren. Das Handwerkliche zu erlernen sah er als Sache, die sich bei der Arbeit ergeben würde – und auch ergab.“ Gerd E. Schäfer, Gustav Müller, Heinz Draehn, Hanna Donner und Ingrid Ohlenschläger, Größen des Kabaretts in der DDR, ermunterten die Kleene. „Doch, doch, das schaffst du schon!“ Und so bekam sie ihren ersten Bühnenvertrag.

Zwischen Tischlerlehre und Theaterspiel

Dass sich die damals 20jährige mit der Schauspielerei angefreundet hat, lag an dem jungen Regisseur Helmut Nitzschke, den sie zwei Jahre zuvor kennengelernt hatte. Er suchte Darstellerinnen für seinen Diplomfilm Sorgenkinder“. „Ich hatte durch einen Bekannten davon gehört und dachte, dass ich mal ausprobieren könnte, wie das so geht als Schauspielerin beim Film.“ Also stellte sie sich bei ihm vor und bekam eine kleine Rolle. „Es war ein großes Erlebnis für mich, als künftige Schauspielerin sah ich mich da jedoch noch nicht.“

Uschi (Ursula Werner) ist durch den Unfalltod ihres Vaters Waise. Ihr stehen Schorsch (Erwin Geschonneck, l.), Marianne (Marianne Wünscher h.l.) und Hans (Peter Rose, r.) zur Seite ©DEFA-Stiftung/Rudolf Meister

Helmut Nitzschke hatte in zweifacher Hinsicht an ihr Gefallen gefunden, wie sich bald herausstellte. Ein paar Monaten danach saß er eines Tages im Büro ihres Direktors in der Möbeltischlerei. „Da will dich jemand von der DEFA für seinen Film“, empfing er sie. Sie erkannte sofort ihren Regisseur wieder. Helmut Nitzschke hatte extra für sie eine Rolle in seinen Film „Wind von vorn“ geschrieben – in der Hoffnung, sie würde „Ja“ sagen. „Na klar, habe ich ja gesagt. Keine Frage. So eine Chance lässt man sich doch nicht entgehen!“
Der Film erzählt die Geschichte des LKW-Fahrers Schorsch, der im Auftrag des Erdölverarbeitungswerks Schwarze Pumpe Ersatzteile zu den Brigaden auf Außenmontage bringt. Bei einem tragischen Unfall kommt sein Freund Hannes ums Leben. Schorsch nimmt sich dessen Tochter Uschi an. Helmut Nitzksche, für den das sein erster großer DEFA-Spielfilm werden sollte, und Kameramann Roland Gräf zeichneten ein realistisches Porträt der Menschen und ihrer harten Arbeitswelt, sparten dabei auch Planfälschungen, Saufgelage und Prügeleien nicht aus.

Regisseur Helmut Nitzschke (Bildmitte, mit Sonnenbrille) gibt Erwin Geschonneck (LKW-Fahrer Schorsch) Regieanweisungen bei den Dreharbeiten 1961 zu „Wind von vorn“. Drehort hier ist ein Braunkohletagebau bei Spremberg ©DEFA-Stiftung/ Rudolf Meister

Nachdem ungefähr zwei Drittel des Films abgedreht waren, ließ die DEFA-Direktion die Arbeiten wegen „künstlerischer Mängel“ einstellen. Roland Gräfs Aufnahmen würden die „ästhetischen Normen“ verletzen, wie es intern hieß. Was immer damit auch gemeint sein sollte. Der Kameramann selbst mutmaßte, dass seine herben, ungeschönten Großaufnahmen von Arbeitergesichtern die Direktion verstörten. Der Kulturwissenschaftler Joachim Mückenberger war damals gerade zum Generaldirektor des Spielfilmstudios ernannt worden. Und wollte offenbar nichts verkehrt machen. Das Filmmaterial gilt als vernichtet. Nur einige Arbeitsfotos sind erhalten geblieben. Auch einige Fotos von Ursula Werners in ihrer ersten Rolle in einem DEFA-Film. „Ich fand es sehr mutig, mir als Laiin so eine große Rolle zuzutrauen“, erinnert sie sich.

1963. Die Braut, mit Myrthen im Haar, schaut verliebt auf ihren Mann Helmut Nitzschke. Es blieb Ursula Werners einzige Hochzeit Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Die Dreharbeiten hatten ein unerwartetes Nachspiel. Ursula Werner und ihr Regisseur verliebten sich an dem unromantischsten Ort, den man sich vorstellen kann. Zurück in Berlin stand bald die Frage, wie soll es weitergehen? Sie war Achtzehn, er Fünfundzwanzig. Auf ewig Händchen haltend Spazierengehen konnte es nicht sein. Kurz und knapp: Helmut Nitschke machte ihr eines Abends vor der Haustür ihrer Eltern in der Stargarder Straße 5 einen Heiratsantrag, und sie sagte ja. „Es war meine erste und einzige Ehe, um das vorwegzunehmen“, erzählt sie mir mit einem Lachen sechs Jahrzehnte danach. „Und von heute aus betrachtet, mutet diese Heirat doch recht ungewöhnlich an. Ich war ein Arbeiterkind aus dem Prenzlauer Berg und Tischlerlehrling, er ein aufstrebender junger Regisseur aus einem künstlerischen Elternhaus.“

Ihr Mann hat sie nie gedrängt, ihre Lehre aufzugeben, obwohl er wusste, welche schauspielerische Begabung in ihr steckte. Dann hatte sie 1964 ihren Facharbeiterbrief in der Hand, konnte ihr Vorhaben, Innenarchitektur zu studieren, jedoch nicht umsetzen. Es gab keine freien Studienplätze an der Fachschule für angewandte Kunst in Heiligendamm. Das hieß, ein Jahr warten, und es dann noch einmal versuchen. Was tun in der Zeit? „Ich war alles andere als eine Hausfrau.“ Der Gedanke ans Schauspielen flackerte wieder auf. So stieg Ursula Werner im Haus der DSF in die Laienspielgruppe von Hella Len ein, die ihr kleine Rollen in Stücken am Maxim Gorki Theater übertrug, und wo sie „Distel“-Regisseur Robert Trösch entdeckte. Das Studium in Heiligendamm zerschlug sich endgültig mit ihrem Erfolg, den sie am Kabarett hatte. Ja, sie hatte jetzt richtig Lust auf diesen Beruf.

Ursula Werner 1963 Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Nach zwei Anläufen begann sie 1965 schließlich an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin-Schöneweide mit dem Studium. Endlich war sie auf dem richtigen Weg, an dessen Anfang ein riesiger Stolperstein lag. Beim ersten Vorsprechen in der Eignungsprüfung hatte sich ihr ausgeprägter Berliner Dialekt als Tücke erwiesen. Ein Stück aus „Faust“ galt als obligatorisch. Sie hatte sich Lieschen am Brunnenausgesucht. Dieses Lieschen berlinerte derart, dass die Prüfer zurückzuckten. Als Eliza Doolittle aus Bernarnd Shaws „Pygmalion“ machte sie einiges wett. „Ausnahmsweise durfte ich noch mal wiederkommen.“ Das zweite Vorsprechen lief gut, dank der DEFA-Schauspielerin Friedel Nowack, die mit der Berliner Göre die Katharina aus Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung“ einstudierte. Ursula Werner demonstriert beim Erzählen, wie schwer ihr das Hochdeutsch auf der Zunge lag. „Ich dachte neulich nach“, sagt sie, „warum mir das Berlinische so selbstverständlich war. Wir kamen aus der Uckermark nach Berlin und haben platt gesprochen.

Die Zweitklässlerin Ursula Werner mit ihrer Banknachbarin Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Die Kinder auf der Straße machten sich lustig über meinen Bruder und mich. Da haben wir uns ganz schnell angepasst. Das Platt verwischte sich und Berlinern wurde meine Muttersprache.“ Davon ist fast nichts zu merken. „Das Schleifen eines Dialekts muss sein für diesen Beruf. Aber ich finde es wichtig, dass auch etwas erhalten bleibt. Das macht die Satzmelodie natürlich.“ Und was hältst du vom Gendern? Sie prustet. „Da würde ich abgehen. Das sieht als Schrift hässlich aus und ist beim Sprechen doppelt hässlich! Ein Graus!“ Sie will kein Unterstrich, kein Doppelpunkt oder ein „In“ sein, das auch nur ein Anhängsel vom Mann, also dem Maskulinum, ist. „Das ist doch das Gegenteil von dem, was die Genderfrauen erreichen wollen: Sie sind unten drunter, nicht auf gleicher Höhe!“ Keine Frage.

Die 13jährige Ursula in ihrem hübschen Konfirmationskleid Foto: Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Übers Erzählen ist es Zwölf geworden. Die Glocken der Gethsemane-Kirche schräg gegenüber läuten. Die Kirche hat Bedeutung für Ursula Werner. Nicht nur, weil sie dort zum Kindergottesdienst ging, als der Religionsunterricht nicht mehr in der Schule stattfand, da sich der Staat von der Kirche getrennt hatte. Die DDR wurde ein säkularer Staat. Die Kirchensteuer wurde nicht mehr automatisch vom Lohn oder Gehalt abgezogen, so wie heute wieder, wenn man nicht amtlich bescheinigt aus der Kirche austritt. „Wir waren eine christliche Familie, ich bin getauft und bin mit dreizehn eingesegnet worden. Meine Eltern haben mich nicht dahin gejagt, ich fand es interessant, etwas aus der Religionsgeschichte zu erfahren. Vieles in der Kunst, vor allem in der früheren Malerei, geht darauf zurück. Ich konnte meinen Kindern immer die biblischen Zusammenhänge auf Gemälden erklären.“ Für sie hat es nichts mit Glauben oder Nichtglauben zu tun, die Bibel zu kennen. „Es ist eine Bildungsfrage“, erklärt sie. Darin kann ich ihr zustimmen. Ich sehe mir gern Kirchen an. Aber die Darstellungen an den Kuppeln, Fenstern und Kanzeln erschließen sich mir ohne Erklärung nicht. Einiges haben wir im Kunstgeschichte-Unterricht besprochen. Leider ist davon bei mir wenig hängengeblieben. Die Schülerin Ursula Werner ging auch zu Pioniernachmittagen, ohne Pionier zu sein. „Meine Mutter fand die Organisation nicht gut, verbot mir aber auch nicht, zu den Arbeitsgemeinschaften und Treffen zu gehen. An der Erweiterten Oberschule bin ich dann in die FDJ eingetreten. Ich sah das als Abschluss meiner Kindheit an. Die blauen Blusen mit der gelben Sonne strahlten ja auch etwas Optimistisches aus.“ Nach vorn schauen hieß es für sie und ihre Familie.

Willi Werner mit seiner Schwester Ursula 1961 beim Studentenfasching. Beide sind seit ihrer Kindheit ein Herz und eine Seele. An dem Abend setzte ihr ein Student der Filmhochschule Babelsberg den „Floh“ ins Ohr, sich als Schauspielerin zu versuchen Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Dass ihr Bruder Willi, er studierte Physik an der Humboldt-Universität, 1961 mit falschem Pass in den Westen abgehauen ist, hat sie verstanden. „Er wollte schon als Junge die Welt bereisen, Forscher und Entdecker werden. Mit der Mauer vor der Nase ging das nicht. Also machte er einen Abflug, beendete in West-Berlin sein Studium und nahm ein Angebot der NASA an. Willi arbeitete viele Jahre in der Weltraumforschung in den USA. Genau so etwas hatte er sich gewünscht. Amerikanischer Staatsbürger ist er nicht geworden. Sich in den Vietnam-Krieg hineinziehen lassen, danach stand ihm nicht der Sinn. Er war dann drei Jahre in Australien und ging von dort nach Südafrika. Mir kam 1961 gar nicht in den Sinn, dass ich Willi viele Jahre nicht sehen würde.“ Seit 2000 sind sie wieder in Berlin vereint. Ihr Bruder kehrte mit seiner malaiischen Frau und ihren drei Kindern in die Heimatstadt zurück.

Seine Schwester hatte nie den Wunsch, auszureisen oder sich bei Gastspielen in den Westen abzusetzen. „Dass ich die Reisefreiheit nicht hatte, finde ich bedauerlich. Aber ich habe in der DDR keine Tafel kennengelernt, brauchte keine Arche, keine Suppenküche aufsuchen, weil ich ein zu armes Kind war. Keiner musste bei uns um ein paar Groschen betteln. Das war für mich Literatur des 18./19. Jahrhunderts, nicht Realität.“ In dieser Gesellschaft, in der wir leben, hat das nie aufgehört für Millionen Menschen, genauer 13, 87 Bundesbürger, Realität zu sein. Was das Reisen angeht, räumt sie ein, sei sie in der DDR privilegiert gewesen. „Ich konnte mich auf Gastspielen umschauen.“ Und was sie gesehen hat, habe sie sehr nachdenklich gestimmt. „Ich fand dieses überbordende Angebot in den Warenhäusern irrsinnig. Daran hat sich ja bis heute nichts geändert. Das kann doch kein Mensch verbrauchen! Und auf der anderen Seite gibt es in unserer sich so sozial gebenden Gesellschaft diese schreckliche Armut. Die Leute gehen arbeiten und können davon nicht leben. Das können Staat und Politik doch nicht wollen?.“ Fragezeichen, Punkt. Wohin geht die Reise?

Studienzeit und erster Film im Kino

Manfred Krug als Tannhäuser und Ursula Werner als Knappe Moritz 1966 in der DEFA-Filmkomödie „Frau Venus und ihr Teufel“ Screenshot ©DEFA-Stiftung/Hans Heinrich

Nein, Ursula Werner musste sich zu keinem Zeitpunkt um ihre Zukunft sorgen. An der Schauspielschule angekommen, ging alles seinen sozialisitischen Gang, wie wir immer sagten. Wenngleich das erste Studienjahr ein bisschen anders verlief, als es sich die 22jährige vorgestellt hatte. Ein halbes Jahr war sie da, als die DEFA schon anklopfte, und sie für einen Film mit Manfred Krug vor die Kamera holte. „Frau Venus und ihr Teufel“ wurde ihr erster Kinofilm, der es auch auf die Leinwand schaffte und noch immer beliebt ist. Über 59.000mal streamten Fans die heiter-musikalische Liebesgeschichte 2022 bei YouTube. Die Schauspielstudentin im ersten Semester stand dem erfahrenen Manfred Krug nicht nach. „Wir hatten Augenhöhe“, sagt sie. Es stimmt. Ich habe den wunderbaren humorigen Schlagabtausch der beiden genossen, als ich mir den Film jetzt noch einmal ansah. Das Berliner Paar Hans (Manfred Krug) und Maria alias Moritz (Ursula Werner) will die Wartburg besichtigen, die aber geschlossen hat. Eine alte Frau – Inge Keller – führt sie durch die Gemäuer. Hans will sich nicht zu seiner Liebe bekennen. Die Alte – Frau Venus– lässt ihn ins Mittelalter fallen, er findet sich als Tannhäuser wieder.

Moritz rettet Hans vor den Rittern, indem sie mit einer Pistole herumfuchtelt ©DEFA-Stiftung/Götz Jaeger

Moritz springt ihm nach. Sie geraten zwischen Ritter und in den Sängerkrieg. Hans brüskiert die Minnesänger mit einem Jazztitel über Frauen, und wird von Walther von der Vogelweide zum Duell gefordert. Moritz rettet ihm mehrfach das Leben, ohne dass Hans in dem scheinbaren Jungen Maria erkennt. „Das waren tolle Filmerfahrungen, die ich gemacht. Inge Keller Rolf Hoppe, Wolfgang Greese, Herbert Köfer, Horst Kube, Helga Labudda … ein großartiges Ensemble, in dem ich agieren durfte. Mit Manfred Krug kam ich wunderbar aus. Er gab mir in seiner unverblümten Art Tipps, ohne mich damit zum Weinen zu bringen. Ich konterte, er vertrug es. Er war mir ein großartiger Kollege. Nach diesem Film haben wir nicht wieder zusammengearbeitet. Wir trafen uns nur einmal im Friedrichstadtpalast wieder, kurz nachdem die Grenze offen war. Als er 2016 verstarb, habe ich bedauert, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, ihn zu besuchen, als er so krank war.“

Ursula Werner Mitte der 80er Jahre mit ihrer Tochter Jenny, 1967 geboren, heute Juristin, und ihrem Sohn Johannes Repro: B. Beuchler/ Privatarchiv Ursula Werner

Bei der Premiere des Films am 25. Juni 1967 in Erfurt konnte die Hauptdarstellerin nicht dabei sein. „Ich hatte gerade meine Tochter Jenny geboren. Ich war noch im ersten Studienjahr schwanger geworden.“ Noch bevor das Kind zur Welt kam, hatten sich die Eltern scheiden lassen. „Wir haben vier Jahre bei Helmuts Eltern im Haus gewohnt, und ich merkte, dass sich unsere Beziehung nicht mehr wie das große Glück anfühlt. Manne Krug bot uns seine Wohnung im Prenzlauer Berg an, zog da gerade aus. Ich bin tief in mich gegangen und fand, ich sollte nicht mit Helmut in eine Wohnung ziehen. Wir waren nicht auf Dauer füreinander geschaffen, das war mir klargeworden.“ Ursula Werner ging zurück in die Stargarderstraße zu ihren Eltern. Oma und Opa nahmen die kleine Jenny in ihre Obhut. Die Mutter verbrachte mit ihr in den Semesterferien glückliche Zeiten auf dem Land bei ihrer Tante Mariechen in Friedrichswalde. Ich frage nicht danach, Ursula Werner erzählt von selbst, warum sie ihre Tochter Jenny genannt hat. Sie mochte Brechts „Dreigroschenoper“, besonders die Seeräuber-Jenny. „Das ist eine starke Frau, die sich gegen Vorurteile und Anfeindungen wehrt.“ Diese Kraft wünschte sich für ihre Tochter und legte ihr das mit der Namensgebung gewissenmaßen in die Wiege. „Jenny ist Juristin geworden“, sagt sie.

Schwanger zu sein, war an der Schauspielschule nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil. „Man sagte uns, gut so, es ist die beste Zeit für eine Schauspielerin ein Kind zu bekommen. Wir werden damit fertig. Wenn ihr euer erstes Engagement habt, wird es schwierig. Ihr müsst ihr erst einmal Fuß fassen, dann gibt es Spielpläne, die eingehalten werden müssen. Da kann sich das mit dem Kinderkriegen hinziehen.“ Ursula Werner weiß, wovon sie spricht. Sie hatte sich immer mehrere Kinder gewünscht. Sohn Johannes kam 1979 auf die Welt, als ihre Tochter bereits dreizehn und sie 36 Jahre alt war. Sein Vater war der Beleuchtungsmeister Bernd Kühne vom Maxim-Gorki-Theater. Mit ihm lebte sie vier Jahre zusammen. „Wir wollten beide noch ein Kind, da war es höchste Zeit. Als meine Bettnachbarin im Krankenhaus sagte, ach, Sie sind auch eine Spätgebärende, habe ich geschluckt. Wieso Spätgebärende? Meine Mutter war auch über 30, als sie meinen Bruder und dann mich bekam. Heute kriegt man ja mit über 40 noch Kinder und das gilt als normal.“ Bernd Kühne wechselte 1997 ans Theater nach Bochum. „Mein drittes Kind“, flicht sie ein, „bekam ich sozusagen fertig ins Haus. Mein Lebenspartner Gottfried Richter brachte Max mit in unsere Beziehung. Ich traf den Jungen zum ersten Mal, da war er zehn. Meine Kinder freuten sich über den neuen Bruder, und wir haben es geschafft, eine Familie zu werden.“

Ursula Werner und Gottfried Richter 1992 in Gorkis „Wassa Schelesnowa“ unter der Regie von Rolf Winkelgrund Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Der Leipziger Schauspieler war aus Liebe zu ihr ans Maxim Gorki Theater gewechselt. „Wir kannten uns durch ein Gastspiel, verliebt haben wir uns aber in Berlin bei Synchronarbeiten für den französischen Film ,Edith & Marcel‘. Ich sprach die Piaf, er den Boxer Marcel Cerdan.“ Es war eine große Liebe, sowohl auf der Leinwand als auch davor. Sie lebten zwölf Jahre als Familie zusammen, bevor sich Gottfried Richter nach der Wende gezwungenermaßen als „freier“ Schauspieler verdingen musste. Er war der Entlassungswelle am Theater zum Opfer gefallen und fand in Berlin kein neues Engagement. Schauspieldirektor Peter Dehler holte ihn 1999 ans Mecklenburgische Landestheater nach Schwerin. Die Notwendigkeiten der Trennungen ließen zwischen der Schauspielerin und ihren Partnern kein böses Blut aufkommen. „Wir sind noch immer freundschaftlich verbunden, die Kinder halten den Kontakt zu ihren Vätern“, sagt sie. Die Drei haben Ursula Werner inzwischen siebenmal zur Großmutter gemacht. „Leider habe ich zu wenig Zeit für meine Enkel, es bleiben oft nur die großen Feiertage, die wir zusammen in der Prignitz verbringen.

Etüdenspiel an der Schauspielschule Schöneweide. Ursula Werner als Donna Elvira in Molières „Don Juan“ Foto: Repro Bärbel Beuchler/ Privatarchiv Ursula Werner

Noch einmal zurück ins Jahr 1965, in dem sich Ursula Werners Weg ans Landestheater Halle schon anbahnte. Damals hieß es noch Theater des Friedens. Regisseur Horst Schönemann, zugleich Oberspielleiter am Hallenser Theater, sah sich ein Szenenstück von Walfriede Schmitt an. „Wally hatte mich gebeten, ihr einige Handreichungen zu machen, ohne die sie nicht gut spielen konnte. Ich war unheimlich stolz, von einer aus dem 3. Studienjahr als Mitspieler ausgesucht worden zu sein. Horst Schönemann gab mir einige Hinweise, auf die ich sofort ansprang. Das muss ihm wohl gefallen haben. Nach meinem Abschluss 1968 bot er mir ein Engagement in Halle an.“ Wieder so eine Fügung, die sie auf ihrer Laufbahn weiterbrachte. Beim Kabarett in Berlin bedauerte man sehr, dass sie nicht weitermachen wollte. „Es liefen noch zwei Programme mit mir, trotzdem entließ mich Georg Honigmann, der Direktor, aus meinem Vertrag. Wenn ich mich berufen fühlte, dramatisches Theater zu machen, dann solle ich das tun. Bei Schönemann sei ich gut aufgehoben.“

Aufbruch ins Leben am Theater

Mit Jürgen Reuter als Hofmeister Läuffer stand sie zwischen 1968 und 1974 als Gustchen in der historischen Tragikomödie von Jakob Michael Reinhold Lenz „Der Hofmeister“ auf der Bühne Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Halle – das war ein ganz besondere Haus unter den Theatern der DDR. Ein Vierspartenaus mit Schauspiel, Oper, Operette, Ballett. „Wir in der Abteilung dramatisches Gegenwartstheater hatten einen Sonderstatus. Wir holten den Alltag, die Probleme der Leute auf die Bühne, gingen in die Betriebe nach Buna, Leuna, Wolfen, Bitterfeld, sprachen Wahrheiten aus, die nicht so gern gehört wurden. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit.“ Es ging gegen Engstirnigkeit, Widersinnigkeiten in der Planwirtschaft, Dogmatismus in Volksbildung. „In unseren Polit-Revuen „Anregung 1“: Was ist heute revolutionär?“ und Anregung 2: Anregung für Lehrende und Lernende“ waren Szenen zu sehen, die in der DDR ihres gleichen suchten. Da durften ungenutzte Kabel von einem Betrieb nicht an andere Betriebe abgegeben werden, die sie dringend brauchten. Das wäre ein rechtlicher Verstoß gewesen. Unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit half man sich trotzdem. „So etwas konnten wir auf die Bühne bringen“, nimmt Ursula Werner an, „weil der SED-Bezirksparteichef Horst Sindermann seine schützende Hand über uns legte. Wir waren wirklich ein Theater im Aufbruch.“ Ja, das aufregendste Gegenwartstheater in der DDR.

Mit seinem Stiefsohn Peter Sindermann stand sie 1970 in Rudi Strahls Heirats-Komödie „In Sachen Adam und Evaauf der Bühne. „Die Eva hatte er mir auf den Leib geschrieben. Wir hatten uns 1969 bei den Dreharbeiten für seine Komödie ,Seine Hoheit – Genosse Prinz‘ kennengelernt. Eine wunderbare Besetzung mit Rolf Ludwig, Jutta Wachowiak und Regina Beyer. Rudi Strahl fragte mich, wie es mir am Theater ginge. Na ja, sagte ich ehrlich, ist schön, aber die richtige Rolle habe ich da noch nicht gehabt.“ Er versprach, ihr eine solche zu schreiben. Die Aufführung wurde ein Riesenerfolg. „Die Leute liebten uns und die herrlich-witzige Verwicklung. Eva und Adam wollen zum Standesamt und geraten in einen Gerichtssaal, in dem über Heiratsfähigkeit entschieden werden soll“, erinnert sich Ursula Werner. Während meiner Studienzeit in Leipzig haben wir eine Exkursion nach Halle gemacht und uns am Abend „In Sachen Adam und Eva“ angesehen.

Sie spielte gern mit Peter Sindermann. Als Hermia tanzte sie mit ihm als Lysander in der Inszenierung von Christoph Schroth durch Shakespeares „Sommernachtstraum“. Barfuß, weil es natürlicher aussah. „Peter ist 1971 leider tödlich verunglückt.“ Er war Fluglehrer. Bei einem Trainingsflug stürzte er am 17. Oktober 1971 mit seinem Flugschüler auf einem Feld bei Halle ab.

1970 stand Ursula Werner im Landestheater Halle in Goethes „Faust“ als Gretchen auf der Bühne. Kurt Böwe, von ihr hochverehrt, spielte den Faust Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Viele ihrer wichtigen Rollen spielte sie an der Seite von Kurt Böwe, sowohl auf der Bühne in Halle als auch am Maxim-Gorki-Theaters sowie in DEFA- und Fernsehfilmen. In Halle besetzte Horst Schönemann sie 1970 in seiner „Faust“-Inszenierung als Gretchen. Ich habe sie nie in dieser Inszenierung gesehen, kann deshalb nur übernehmen, was Hans-Dieter Schütt schrieb: Sie sei für ihn die Emanzipatorischste, die er je sah, mitten in großer Zartheit. Die Aufwühlendste, so seelenzerreißend um ihre Liebe kämpfend, so ohnmächtig und kraftvoll zugleich. Und sie selbst resümiert: „Die Rolle ist ein Traum für jede junge Schauspielerin. Du lieber Himmel, war das schön!“ Ihre wachen Augen strahlen bei der Erinnerung daran. „Eigentlich war ich nur die Zweitbesetzung“, sagt sie, „aber Walfriede Schmitt wechselte aus Liebe zu ihrem Mann das Theater und ich rückte nach. So ist das mit den Fügungen! Wenn sie sich ergeben, muss man bereit sein, die Chance wahrzunehmen.“ Was ihr beim ersten Vorsprechen an der Schauspielschule nicht gelang, kam ihr nun leicht von den Lippen. Hochdeutsch sprechen und dabei die Rolle gut zu spielen.

Am Premieren-Abend lauerte schon die nächste Fügung. Horst Sindermann war gekommen. Sein Sohn Peter trat in der Szene in Auerbachs Keller auf. Als nach der Aufführung alle ins Gespräch kamen, hörte Horst Sindermann von ihrer katastrophalen Wohnsituation und gab ihr aus seinem Kontingent eine kleine Neubauwohnung am Bahnhof. Ihre ersten eigenen vier Wände, schön eingerichtet, dass keine Gardinen vonnöten waren. Und endlich konnte ihre Mutter sie mit der kleinen Jenny besuchen.

Für ihre Rolle als Marusja, hier wieder mit Kurt Böwe, in „Himmelfahrt zur Erde“ wurde Ursula Werner mit dem Kunstpreis der Stadt Halle ausgezeichnet Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Für die künstlerische Entwicklung der jungen Schauspielerin gab ihr vor allem die Arbeit mit Horst Schönemann das beste Fundament. In ihren gemeinsamen vier Jahren gab es nur einmal Streit. Das war 1971. Armin Stolper hatte Sergej Antonows Roman Der zerrissene Rubel“ fürs Theater bearbeitet. Das Stück hieß Himmelfahrt zur Erde“, und für Ursula Werner sprang die wunderbare Rolle der Marusja heraus. Ein Mädchen auf dem Dorf, scheu mit Kopftuch und Brille, das sich nach einem komisch-traurigen Liebeserlebnis zur Frau voller Gerechtigkeitsenergie entwickelt. Diese Gerechtigkeitsenergie ist auch der Persönlichkeit von Ursula Werner immanent, was sich Jahrzehnte später für die Mitarbeiter des Maxim Gorki Theaters als Glück erweisen sollte. Ursula Werner übernahm die Funktion der Personalrätin. Der Streit mit Regisseur Horst Schönemann kam aus dem Grund zustande: „Marusja hält am Schluss eine flammende Rede auf Vitali, und ich merke, dass da ein Widerspruch zur Bühnenumsetzung besteht. So konnte ich das nicht spielen. Horst Schönemann sah das nicht ein. Ich verließ die Probe. Am Ende hat Armin Stolpe die betreffende Stelle umformuliert, und es ging. Mit dem Stück haben wir dann sogar in Berlin gastiert.“ Für ihre Marusja erhielt Ursula Werner den Kunstpreis der Stadt Halle. „Mit dem Preisgeld habe ich mit meiner Mutter und meiner Tochter eine schöne Reise gemacht.“

Ein Jahr später brachte das Theater als erste Bühne Ulrich Plenzdorfs „Die Leiden des jungen W.“ heraus mit Ursula Werner in der weiblichen Hauptrolle, der Charlie. Fünf Jahre hatte Plenzdorfs Filmskript schon bei der DEFA gelegen. Doch die Geschichte um den Aussteiger Edgar Wibeau war den Verantwortlichen zu heiß. „Es lag wohl wieder an Horst Sindermann, dass wir das spielen durften.“ Die Sensation hatte sich in der Republik herumgesprochen.

Uraufführung des Stückes von Ulrich Plenzdorf „Die Leiden des jungen W.“ 1972 in Halle, mit Ursula Werner als Charlotte und Reinhard Straube als Edgar Wibeau Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Als sie das Stück beim Theater Festival 1972 im Deutschen Theater zeigen, muss die Polizei die Massen bändigen, die ins Theater wollten. Man wollte sogar mich nicht durchlassen“, erinnert sich Ursula Werner. Horst Schönemann wechselte danach ans Deutsche Theater. „Ich wäre gern mitgegangen nach Berlin, aber es gab keine Vakanzen, weder am Maxim Gorki Theater noch am Deutschen Theater oder der Volksbühne.“ Nach Schönemanns Weggang fühlte sie sich nicht mehr gut aufgehoben in Halle. „Ich habe in meinen ersten vier Jahren am Theater sehr viel Gutes spielen dürfen.“ Schönemanns Nachfolger sah sie nicht mehr in Rollen, in denen sie sich sah. Es war Zeit zu gehen. „Ich machte in meinen zwei letzten Hallenser Jahren eine wichtige Lebenserfahrung: Es läuft nicht immer so, wie es einem am genehmsten ist.“ Die Saison 1973/74 war ihre letzte dort.

Glückliche Zeit am Maxim Gorki Theater

Es waren nicht nur neue Anforderungen, die Ursula Werner suchte. Sie wollte unbedingt nach Berlin zu ihrem Kind, das noch immer bei ihren Eltern lebte. Ihr Herz hatte die Schauspielerin an das Theater verloren und würde es noch immer vorziehen, wenn sie vor der Wahl stünde. Doch sie hatte damals sogar beim Fernsehen vorgesprochen. Intendant Heinz Adameck hätte sie für das Fernsehensemble eingestellt. Es fügte sich zu ihrem Glück anders. Albert Hetterle, der Intendant vom Maxim Gorki Theater, meldete sich. Er hatte sie als Charlie in den neuen Leiden des jungen W.“ gut in Erinnerung behalten. Jetzt hätte er einen Platz für sie im Ensemble, ob sie noch nach Berlin wolle. Und ob! Sie löste ihren Vertrag in Halle und begann ihr Engagement am Maxim Gorki Theater.

Für ihre Rolle als Generalswitwe Anna Petrowna Wojnizewa – hier mit Jochen Thomas – in Thomas Langhoffs Inszenierung „Platonow“ erhielt Ursula Werner 1984 den Kritikerpreis der „Berliner Zeitung“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Der Anlass ist gegeben, daran zu erinnern, warum das Maxim Gorki Theater 1952 gegründet wurde, sieben Jahre nach Ende des verheerenden deutschen Angriffskrieges auf die Sowjetunion, der 28 Millionen Sowjetbürger das Leben kostete. Es ging darum, den Deutschen die russische und sowjetische Literatur und Dramatik nahezubringen. „Das Theater hat sich immer als Ort der Völkerverständigung verstanden. Der Westen hat ja nie aufgehört, den Völkerhass gegen die Sowjetunion zu schüren.“ Das ist uns so gegenwärtig!

Ursula Werner 1977 als Frau Lehmann mit Monika Lennartz (l.) in Gerhart Hauptmanns Drama „Einsame Menschen“. Die beiden Schauspielerinnen verbindet eine lange Freundschaft Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

In ihrer drei Jahrzehnte währenden Zeit im Maxim Gorki Theater kamen auf Ursula Werner wunderbare Rollen zu. „Wir spielten zeitgenössische und klassische Werke, hauptsächlich russischer und sowjetischer Autoren.“ Sie nennt es ein Glück, dass sie unter der Regie von Thomas Langhoff arbeiten konnte. Sie erinnert sich an ihre erste Zusammenarbeit 1977, als er sie in Gerhart Hauptmanns Drama „Einsame Menschen“ als Frau Lehmann besetze. „Die Kulturfunktionäre versuchten, das Stück zu verbieten. Es sei eine dekadente Inszenierung. Albert Hetterle hielt große Stück auf seinen Regisseur, und wir brachten das Stück heraus.“

Ursula Werner als Mascha, Swetlana Schönfeld als Irina und Monika Lennartz als Olga (v.l.n.r.) in Thomas Langhoffs Inszenierung „Drei Schwestern“, die von 1979 bis 1989 am Maxim Gorki Theater gespielt wurden Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Die wunderbarste Aufgabe hätte sie, wie sie sagt, als Mascha in Anton Tschechows Tragikomödie „Drei Schwestern“ bekommen, die Thomas Langhoff 1979 mit ihr, Swetlana Schönfeld als Irina und Monika Lennartz als Olga inszenierte. „Es war ein fantastisches Arbeiten. Wir drei haben uns vor den Vorstellungen immer angefeuert. Die Mascha ist die wundervollste Rolle, die man sich denken.“ Wenn sie in ihrem schwarzen Kleid die Bühne betrat, war sie eine andere Ursula. Erotisch, aufmüpfig und bedingungslos in ihrem Lebens- und Liebesanspruch. Das Trio heimste zehn Jahre lang bei jeder Vorstellung Riesenapplaus ein. Der Ruf der drei Schwestern, „Wir wollen leben!“, als Sinnbild für die Sehnsucht nach Freiheit und einem Leben jenseits der Bevormundung durch Staat und Partei, wurde im Saal wohl verstanden. Das Publikum spürte nie Routine bei den Schauspielerinnen. „Die Rollen wurden mit uns älter, veränderten sich mit uns. Das machte es für alle immer wieder spannend“.

Ursula Werner als Mascha in „Drei Schwestern“, für sie die schönste Rolle in der gesamten Dramatik Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Mit dem Stück ging es auf viele erfolgreiche Gastspielreisen, so nach Wien und Düsseldorf. „Ich habe eine dreitägige Tourneepause genutzt und bin nach Paris gefahren. Das Bürgeramt in Düsseldorf tauschte meinen Ost-Pass problemlos gegen einen West-Pass aus. Paris war umwerfend. Zur Vorstellung war ich natürlich pünktlich zurück.“ Sie wollte ja nicht wegbleiben. Aber es gab bei jedem Gastspiel im Westen auch Schwund, weiß sie. Als Thomas Langhoff im Februar 2012 starb, standen Ursula Werner, Swetlana Schönfeld und Monika Lennartz auf der Trauerfeier, die Claus Peymann im Berliner Ensemble für ihn inszeniert hatte, noch einmal als die „Drei Schwestern“ auf der Bühne. „Wir hatten unsere Kostüme angezogen und spielten die Schluss-Szene. Es war ein sehr bewegender, unvergesslicher Abschied.“

Albert Hetterle hat sie 1974 ans Maxim Gorki Theater geholt und war ganze zwanzig Jahre ihr Intendant. „Als er mit 76 Jahren ging, bedeutete das für uns alle, das ganze Ensemble, einen ungeheuren Einschnitt. Mit Bernd Willms zogen Regisseure und Kollegen ein, die anders sozialisiert waren, eine andere Auffassung vom Theaterspielen hatten. Da blieben Kollisionen nicht aus.“ Da musste sich die gestandenen DDR-Schauspieler von einem zugereisten Regisseur sagen lassen: „Vergessen Sie mal Brecht und lernen, wie man richtig Theater spielt.“ Er hatte keine Ahnung. Nichts gehört von dem großen sowjetischen Schauspiellehrer, Regisseur und Theaterreformer Konstantin Stanislawski, nach dessen Methode die Schauspieler in der DDR auch ausgebildet wurden. Im übrigen lehren die berühmten amerikanischen Schauspielschulen von Lee Strasberg und Stella Adler nach der Stanislawski-Methode. „Mit ziemlicher Arroganz meinten die neu hinzugekommenen Westkollegen zu wissen, dass wir im Osten das Handwerk zwar perfekt beherrschen, aber ohne Empathie und nur DDR-Stücke spielen, keine Ahnung hätten, was im Westen so läuft.“ Welch ein Irrtum! „Inzwischen hat sich das schon verändert“, sagt Ursula Werner, die in den letzten Jahren viel in München gespielt hat und aktuell am Deutschen Theater mit Kolleginnen, die ihre Wurzeln nicht im Osten haben.

Mit Kurt Böwe und Sigrid Skoetz (r,) agiert sie als Natascha in Gorkis „Nachtasyl“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Viele schöne Rollen hatte Ursula Werner unter Albert Hetterle spielen dürfen. Sie wird die mitfühlende Natascha in Gorkis bekanntestem und erfolgreichstem Schauspiel „Nachtasyl“, das in einem russischen Obdachlosenheim um 1901 spielt. Geliebt hat sie ihre Rolle als Jelena Nikolajewa, die mit 24 schon Witwe ist und windig genug, sich ein reiches Bürgersöhnchen zu angeln. Das Stück, „Die Kleinbürger“, wurde 1982 von Albert Hetterle inszeniert.

Albert Hetterle inszenierte 1982 mit Ursula Werner als Jelena Gorkis „Kleinbürger“. Es wurde eins der meistbesuchten Stücke des Maxim Gorki Theaters Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

„Die russischen Dramatiker, ob Gorki, Tschechow oder Ostrowski, sind von großer Wahrhaftigkeit, so genau in den Dialogen. Ich habe sie sehr gern gespielt, auch, weil sie mutig in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität sind.“ In den 80er Jahren nahm Albert Hetterle zunehmend systemkritische sowjetischen Stück in den Spielplan auf. Da konnten nicht so schnell Einwände erhoben werden, schließlich kamen sie ja „von den Freunden“, wie es bei uns immer hieß. Ich erinnere mich an „Protokoll einer Sitzung“ und „Die Prämie“. Ursula Werner erzählt, wie sie ihren Vater und seine Brigade aus dem VEB Wärmeversorgung eingeladen hat, und mit ihnen nach der Vorstellung diskutierte. „Lebhafte Debatten führten die Zuschauer mit uns nach Aufführungen von Viktor Rossows Stück ,Das Nest des Auerhahns‘. Dass Versagen innerhalb des sozialistischen Systems durchaus nicht nur am Versagen eines persönlichen Charakters lag, kam ziemlich deutlich zum Ausdruck. Das Stück ist eine Kritik an Fehlern der Gesellschaftsordnung. Und es hieß ja bei uns, von der Sowjetunion lernen… “

Ursula Werner und Alfred Müller in Viktor Rossows „Das Nest des Auerhahns“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Sie lässt den Satz offen, ich weiß, was sie meint. Die Geschichte von einem DDR-Autoren geschrieben, hätte keine Chance gehabt. Da hätte auch nicht das Argument geholfen, dass man ja „von Freunden lernen“ will. Kritik am sozialistischen Realismus brauchte bei uns eine feingeschliffene Feder, die unsichtbaren Zwischenzeilen. Das Publikum des Maxim Gorki Theaters wusste aber die Parallelen in den Stücken zu finden. „Rainer Kerndls Drama „Der Georgsberg“ brachten wir nur bis zur Premiere. Nach drei Vorstellungen wurde es abgesetzt. Es ging um eine Provinzstadt, die ihren Berg an einen westdeutschen Konzern verhökert, der dort ein Luxushotel für Valuta-Gäste bauen will. Es wurde verboten. DDR verkauft sich nicht. Dabei passierte es schon an allen Ecken, nur gesagt werden durfte das nicht“, erzählt sie. Das wussten alle in der DDR. Hermann Kant hatte vergeblich gegen die Borniertheit der Funktionäre interveniert.

Rudi Strahls „Flüsterparty“ schaffte es nur bis zur Generalprobe und wurde dann untersagt. „Dabei war es eine ernstzunehmende Abhandlung über Jugendliche im sozialistischen Land DDR“, sagt Ursula Werner. Da wird geschildert, wie Abiturienten ihre Mitschülerinnen aufstacheln, sich durch Prostitution Westgeld zu besorgen, dass dann gemeinsam im Intershop für Schnaps und Zigaretten ausgegeben wird. In unbewohnten Lauben feierten sie dann stille Partys. Es durfte ja niemand bemerken. So etwas gäbe es nicht, wurde von Oben beschieden. Doch Rudi Strahl hatte die Geschichte von seinem Sohn. „Das waren die Wechselbäder, in denen wir uns bewegten. Immer die Angst der Kulturfunktionäre: Was bringt mir mehr Minuspunkte ein, wenn ich es verbiete oder wenn ich es gestatte? Das war die Unberechenbarkeit.“

Hoffnung, Wandel – immer geht’s weiter

Trotz der Argusaugen der Kulturfunktionäre gelangte systemkritische DDR-Stücke auf die Bühne des Maxim Gorki Theaters und in den Spielplan. Eine Sensation wurde am 30. März 1988 die Aufführung von Volker Brauns niederschmetternder Zukunftsvision „Die Übergangsgesellschaft“, in der das Ende der DDR stark durchschimmert. Braun hatte zu einem Trick gegriffen. Er verlegte Tschechows Drama „Drei Schwestern in die Gegenwart und übernahm teilweise die originalen Dialoge. Thomas Langhoff inszenierte das Stück mit dem „Schwestern“-Trio Ursula Werner, Swetlana Schönfeld und Monika Lennartz. Ursprünglich hatte Volker Braun das Stück für das Berliner Ensemble geschrieben. Er war der Hausautor des BE.

„Die Übergangsgesellschaft“ mit der Besetzung der „Drei Schwestern“ Swetlana Schönfeld, Klaus Manchen, Ursula Werner, Monika Lennartz und Hilmar Baumann (v.l.n.r) feierte eine sensationelle Premiere Repro: Bärbel Beuchler ©Maxim Gorki Theater

Da lag es fünf Jahre. Manfred Wekwerth, damals Intendant des BE, hatte nicht gewagt, die resignierenden Klagen über ein verfehltes, sinnloses Leben, die in drängende Fragen an die gesellschaftlichen Realitäten münden, herauszubringen. Auch wenn es 1988 noch niemand wirklich wusste, jeder spürte, dass sich die DDR ihrem Ende zuneigte. Als die Inszenierung 1990 aufgezeichnet wurde, war die Mauer schon gefallen. Gegen das Versprechen des Schriftstellers, dem BE etwas Neues zu schreiben, überließ Wekwerth das Stück dem Maxim Gorki Theater. Die Premiere endete mit tosendem Applaus. „Wir haben die Gemüter so bewegt, dass sich die Leute in den Gesprächen nach der Vorstellung offenbart haben. Sie sprachen sich von der Seele, was an ihnen schon lange genagt hat. Ihre Unzufriedenheit darüber, wie der Staat geführt wird. Wir haben unser Theater für freie Diskussionen geöffnet und damit eine Bewegung losgetreten.“

Es war die Zeit, in der sich die Schauspielerin in der Bürgerbewegung „Neues Forum“ engagierte, deren Zentrum die Gethsemane Kirche wurde. Ursula Werner war der Verbindungsmann zum Theater. „Wir hatten uns überlegt, was wir gegen die Dickfälligkeit und Ignoranz unserer Regierung tun können, die nicht merken will, dass alles den Bach runter geht. Wir wollten Reformen in der staatlichen Führung, in der Reise- und Pressefreiheit, offene Diskussionen, Meinungsfreiheit. Wir haben eine Resolution verfasst und die ganze Unzufriedenheit dere Bevölkerung öffentlich ausgesprochen.“ Das Ensemble des Maxim Gorki Theaters hat auf Vorschlag von Gregor Gysi schließlich die Demonstration am 4. November 1989 organisiert. „Es waren aufregende Tage“, erinnert sich Ursula Werner. Für den Abend hatte das Maxim Gorki Theater Volker Brauns „Übergangsgesellschaft auf den Spielplan gesetzt.

Noch in scheinbarer Ruhe wurde die Schauspielerin am 28. August mit dem Goethepreis für ihr Film- und Theaterschaffen geehrt. Er wurde 1949 vom Magistrat von Groß-Berlin gestiftet und alljährlich zur Feier von Goethes Geburtstag an Künstler und Wissenschaftler verliehen. Letztmalig 1989. „Ich kannte diesen Preis nicht und fragte Albert Hetterle, ob ich den annehmen könnte. Nimm ihn an, sagte er. Das ist Kunstpreis und Geld hängt auch dran. Mit meiner Mutter und meiner Tochter habe ich davon eine Reise nach Ungarn gemacht und eine große Summe der Gethsemane-Kirchgemeinde für die Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste gespendet. Ich wollte nicht alles für mich behalten“ Ursula Werner stand da in einer Reihe mit bekannten Berlinern wie ihren Kollegen Albert Hetterle, Alexander Lang, Peter Reusse, Alfred Müller, Lotte Loebinger, Monika Lennartz, Schriftstellern wie Hermann Kant, Günter Görlich, Rudi Strahl, Wolfgang Kohlhaase.

Ursula Werner im „DEFA-Zeitzeugengespräch“ 2020 ©DEFA-Stiftung/Teubner

Der Spielplan am Maxim Gorki Theater wandelte sich ab Mitte der 90er Jahre sehr, weg von sowjetischen Dramen, kritischen Gegenwartsstücken. Eine gewisse Effekthascherei und Selbstverwirklichung der Regisseure eroberte die Bühne. „Wenn ich einen Monolog spreche und hinter mir frisst jemand eine Zwiebel, und der Regisseur findet das gut, weil er keinen Plan hat, wohin er mit dem Stück will, weiß ich, wohin das Publikum guckt. Da kann ich aufhören.“ Ursula Werner spricht das auch aus, so wie sie früher auch nicht alles hinnahm, wenn ihr etwas nicht schlüssig erschien. Sie hat jedoch nie etwas eskaliert. „Ich bin ein sehr ausgleichender Typ und immer bemüht, die verschiedenen Standpunkte zu verstehen und zu transportieren“. Sie wollte nach der Wende die neue Demokratie auch am Theater mitgestalten, fungierte sechs Jahr lang als Personalratsvorsitzende. „Immerhin“, sagt sie, „klappte die Verständigung von unten nach oben, und ich konnte für die Kollegen einiges erreichen.“

Es gab kurz nach der Wende vielerlei Missverständnisse und Misstrauen, begleitet von Vorurteilen und verbalen Verletzungen. „Auf beiden Seiten“, erinnert sich Ursula Werner. „Da prallten Welten aufeinander. Aber wir Schauspieler saßen in einem Boot und mussten uns miteinander arrangieren.“ Spurlos vorüber gingen diese Umwälzungen nicht an ihr. Zum ersten Mal passierte es ihr, dass sie bei der Premiere eines Stückes plötzlich stockte, nicht mehr wusste, wo im Text sie war. „Mir wurde in der Szene ein Kleid angepasst. Ich stand auf einem Stuhl und verstummte. Ein Hänger passiert schon mal, aber ich war komplett draußen. Und die Souffleuse, sie hieß Steffi, schwieg auch, weil sie dachte, ich fange mich. Aber die Stille wurde lang, ich habe dann einfach gesagt: Lange nichts von Steffi gehört. Die Premierenfeier habe ich dann sausen gelassen, weil mich das so irritiert hat. Das musste mit der Wende zusammengehangen haben, wo man innerlich so zerrissen wurde.“

Wir denken in dem Moment beide an Peter Reusse, dem die tiefgreifenden Veränderungen 1990, das Aus von Film, Fernsehen, Rundfunk und Platte, seelisch so zusetzten, dass sie ihn fast zerstört haben. Er schloss 1993 hat mit seinem Leben als Schauspieler ab, schrieb Bücher. Im Juni des vergangenen Jahres ist er an einer schweren Krankheit gestorben. Ursula Werner blieb noch zehn Jahre am Maxim Gorki. 2008 spielte sie unter der Regie von Armin Petras ihr letztes Stück, Tom Lanoyes „Mefisto forever“. Sie war inzwischen 65 Jahre, quasi im Rentenalter. Was für sie aber keineswegs ein Ende im Ruhestand bedeutete. Schluss am Maxim Gorki Theater, ja. Aber sie hatte keinerlei Bedürfnis, sich zurückzuziehen.

Ursula Werner als Olga Benario in der Inszenierung „Erklär mir, Leben“ in den Münchner Kammerspielen Sreenshot ©Münchner Kammerspiele/Thomas Schmauser

Sie fand in den Münchener Kammerspielen eine neue Theaterfamilie. Ihre erste Rolle dort führte sie in eine neue Sphäre. „Du mein Tod“ erzählt die Geschichte des Transsexuellen Robert Eads (1945-1999). Eads wurde als Frau geboren, durchlitt eine Ehe, zwei Schwangerschaften und vollzog schließlich die Wandlung zum Mann mit über vierzig Jahren. Ursula Werner verkörperte Eads in einer sehr beeindruckenden Weise. Wie beiläufig, berichtet sie von Alltäglichkeiten, aber auch vom schweren Selbstfindungsprozess und den damit verbundenen äußeren Schwierigkeiten. Es war das Regiedebüt von Thomas Schmauser, mit dem sie gleich darauf „Erklär mir, Leben“ inszenierte.

Es ist die Geschichte der jüdischen Kommunistin Olga Benario-Prestes, die 1942 nach einem langen Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager in Bernburg vergast wurde. Erzählt wird aus einer Zelle im brasilianischen Gefängnis heraus, in der Olga Benario mit zwei jüngeren Frauen eingesperrt war. Die Gefolterten drohen den Verstand zu verlieren. Ursula Werner transportiert die psychische und physische Gewalt, den Versuch, ihr zu entrinnen, mit einer starken und intensiven Darstellung. Dabei agiert sie mit minimalistischen Mitteln, was einem den Atem nimmt.

Auf einer Nebenstrecke zur DEFA

Ursula Werner signiert für mich ihre Autobiografie „Und immer geht’s weiter“, die 2014 im Verlag Neues Leben erschienen ist. Das Bild auf dem bunten Untersetzer zeigt ihre Eltern Foto: ©Bärbel Beuchler

Mein Blick fällt auf die große Armbanduhr an der Schrankwand neben dem Sofa. Sie geht auf halb drei zu. Die Zeit rennt, und es gibt noch so vieles, was wir nicht besprochen haben. „Alles geht auch nicht, du willst ja kein Buch über mich schreiben“, lacht sie. Nein, will ich nicht, das gibt es schon. Ihre Autobiographie „Immer geht’s weiter…“, die 2014 im Verlag Neues Leben erschienen war. In der DDR war es normal, dass Schauspieler eine große Arbeitspallette zur Verfügung hatten. Film Hörspiel, Platte, Synchron, und einige, wie Ursula Werner, gaben zudem ihre Erfahrungen als Dozenten an der Schauspielschule weiter. Seit ihrer ersten Filmrolle 1967 in „Frau Venus und ihr Teufel hat sie praktisch nie aufgehört, neben ihrer Theaterarbeit zu drehen. DEFA und Fernsehen haben die kleine quirlige Frau, die zugleich soviel Ruhe und Besonnenheit hatte, immer gern besetzt.

In dem DEFA-Film „Netzwerk“ spielt Ursula Werner – hier mit Fred Düren – 1969 eine Krankenschwester. Es ist ihre dritte Filmrolle ©DEFA-Stiftung/Richard Günther, Wolfgang Reinke, Johann Wieland

Ursula Werner machte sich über jede Rolle, selbst so kleine wie die der Krankenschwester in „Netzwerk“ Gedanken. „Wir haben gelernt, unsere Figuren zu analysieren, ihr Umfeld, wer sind sie, was sollen sie.“ Sie drehte unter der Regie von Ulrich Thein mit Renate Geißler, Annekathrin Bürger und ihrem Hallenser Bühnenpartner den dreiteiligen Fernsehfilm Jule – Julia – Juliane“. Eine Ehegeschichte im Rückblick aus der Sicht der jungen Krankenschwester Juliane, in der es um Gleichberechtigung zwischen den Partnern geht. Sie wurde 1972 mit großem Erfolg ausgestrahlt.

Ursula Werner und Renate Geißler1972 in dem dreiteiligen Fernsehfilm „Jule – Julia -Juliane“ Quelle: Amazon, ©DDR-TV-Archiv

Ursula Werner war in Halle voll beschäftigt, als sie noch im selben Jahr eine Hauptrolle in dem zweiteiligen DDR-Fernsehfilm Zement“ bekam. Die Außenaufnahmen fanden im Zementwerk Halle und an der Schwarzmeerküste in Bulgarien statt. Halle ließ sich noch gut einrichten. Aber sie musste für einen Drehtag auch nach Baltschik. Sie erzählt mir ihre Odyssee. „Ich bekam drei Tage frei, einschließlich An- und Abreise. An dem Tag, als ich fliegen sollte, schneite und stürmte es in Berlin. Wir flogen dann von Dresden ab. Ich kam nachts in Sofia an, wurde in ein eiskaltes Auto verfrachtet und ans Meer gefahren. Alle waren am nächsten Morgen ausgeschlafen, nur ich hundemüde. Wir haben gedreht, abends bei Zigeunermusik gefeiert.“

Am nächsten Morgen ging esganz früh zurück nach Halle. Im Handgepäck hatte sie Film-Muster, die nach Babelsberg sollten. „Leider waren sie unbrauchbar, weil Hilmar Thate seine Mütze nicht aufhatte, die er im Gegenschnitt, gedreht in Halle, trug. Also Nachdreh im DEFA-Studio. So kann’s gehen.“

Ursula Werner als Polja mit Hilmar Thate als Gleb in dem zweiteiligen DDR-Fernsehfilm „Zement“ Quelle: Amazon ©DDR-TV-Archiv

Der Film nach dem Roman von Fjodor Wassiljewitsch Gladkow schildert die Konflikte in der jungen Sowjetunion nach der Revolution von 1917 zu Anfang der 20er Jahre. Regisseur Manfred Wekwerth hatte Ursula Werner die Rolle der jungen Kommunistin Polja gegeben. Neben Hilmar Thate und Renate Richter eine Schlüsselfigur. „Polja war voller Zerrissenheit, für eine Schauspielerin eine hoch interessante Aufgabe“ erinnert sie sich. Haften geblieben ist ihr besonders die Szene, in der Polja völlig fassungslos sagt: „Wozu die ganzen Opfer in der Revolution, alles vergeblich. Jetzt geht es ja mit diesen verdammten Ungleichheiten weiter.“ Der zweiteilige Schwarzweißfilm hatte am 4. August 1973 in einer Sondervorstellung im Rahmen der 10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im Berliner Kino Kosmos Premiere. Es blieb die einzige Vorführung auf der Leinwand. Die Fernsehausstrahlung erfolgte im November 1973. Erst im Dezember 1989 kam der Film wieder ins TV-Programm.

Namhafte DDR-Regisseure wie Hermann Zschoche („Bürgschaft für ein Jahr“, „Insel der Schwäne“, „Glück im Hinterhaus“, „Grüne Hochzeit“), Wolfgang Hübner („Einzug ins Paradies“), Siegfried Kühn („Unterwegs nach Atlantis“) und nicht zuletzt Roland Oehme wussten ihre schauspielerischen Fähigkeiten zu schätzen. Mit ihm drehte Ursula Werner zehn Jahre nach „Frau Venus und ihr Teufel“ ihren sechsten DEFA-Film, die Komödie „Ein irrer Duft von frischem Heu.

Dr. Angelika Unglaube (Ursula Werner) von der SED-Bezirksleitung soll den Gerüchten um das „Zweite Gesicht“ des Parteisekretärs von Trutzlaff nachgehen. Roalnd Oehme drehte die DEFA-Komödie „Ein irrer Duft von frischem Heu“ 1977 nach dem Lustspiel von Rudi Strahl ©DEFA-Stiftung/Klaus Zähler

Es ist die Verfilmung des gleichnamigen Bühnenstücks, das Rudi Strahl mit Blick auf Ursula Werner in der weiblichen Hauptrolle 1975 fürs Theater geschrieben hat. Die Uraufführung am Maxim Gorki Theater spielte allerdings Monika Lennartz, weil die eigentliche Zielperson anders besetzt werden sollte. „Es war ein ziemliches Verwirrspiel, wie das im Theaterleben manchmal so ist. Später habe ich im Stück die Rolle der LPG-Vorsitzenden übernommen, weil die Erstbesetzung ein Kind bekam.“

Dass sie mit der Komödie um den Parteisekretär des Kaffs Trutzlaff, der das zweite Gesicht haben soll, einen Kultfilm produzieren, hätte bei der DEFA keiner gedacht. Weil’s so schön war, sie zwinkert, hat sie mit Roland Oehme noch einige Filme gedreht. „Über die Jahre waren wir zu Freunden geworden. Sein Tod im vergangenen November hat mich erschüttert. Es war wieder einmal zu spät für einen Besuch. Immer hatte ich es mir vorgenommen, dann kam die Arbeit dazwischen.“ Mit berührenden Worten hat sie sich in der rbb-Sendung „Abschied ist ein leises Wort“ erinnert.

Kinderfilme waren für viele DDR-Schauspieler ein großer Reiz. Hier war Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit gefragt. Kinder merken, wenn einer nicht mit dem Herzen dabei ist. Mit großer Freude wirkte Ursula Werner in Produktionen der bekannten Kinderfilmregisseurin Karola Hattop mit. Mir fallen da ein „Ich liebe Victor“, ein Film über die Freundschaft und das Verliebtsein zwischen zwei Mädchen und einem Jungen, das Märchen von „König Phantasios und – wie könnte ich das vergessenen — der Jugendfilm „Jan Oppen“ nach dem gleichnamigen Buch von Klaus Beuchler.

Vom Prenzlauer Berg nach Cannes

Ursula Werner hatte das große Glück – oder nennen wir es wieder Fügung – in den 90er Jahren nicht von der Bildfläche zu verschwinden, wie so viele gute DDR-Schauspieler. In der Phase der Abwicklung des DDR-Fernsehens hatte Bodo Fürneisen noch das Psychodrama „Das Scheusal produziert. Es war sein Beitrag zum „Grand Prix Italia“ 1991 und wurde 1990 mit dem Münchener Fernsehpreis „Goldener Gong“ ausgezeichnet. Die ARD strahlte den Film im Mai 1992 aus. Der Plot: Vier unglaublich nette Schwestern zwischen 50 und 60 erzählen in einer Fernsehsendung von ihrer tollen Karriere. Ein Telegramm zerreißt die scheinbare Idylle. Die seit ihrer Kindheit aufeinander eifersüchtigen Schwestern schenken sich nichts. Die wunderbaren Charakterdarstellerinnen Ursula Werner, Christine Schorn, Jutta Wachowiak und Walfriede Schmitt spielten sich in Hochform. Ihnen zuzuhören und zuzuschauen war eine Wonne.

Mit Andreas Dresen und „Wolke 9“ auf Premierenfahrt in Paris Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner

Sie ist kein Workaholic. Sie arbeitet einfach nur gern. Es ist eine relativ stille Karriere, die sie nach der Wende vor der Kamera macht. Da ist die durchgehende Nebenrolle in der Kinderfernsehserie Schloss Einstein, in der sie als Frau Mell von 2001 bis 2005 mitspielte, da ist die Briefträgerin Frau Kortleben in dem ZDF-Vierteiler „Liebesau – die andere Heimat“, der in dem fiktiven ostdeutschen Ort in der Nähe von Halle zwischen 1953 und 1989 angesiedelt ist. Eine Dorf- und Familiengeschichte, in der sich die politischen Umwälzungen jener Jahre spiegeln. Eine Zeit, in der sich auch Ursula Werners Leben prägte.

Wichtig wurde für die Schauspielerin das Zusammentreffen mit Regisseur Andreas Dresen im Jahr 2000. Er besetzte sie in seinem mehrfach ausgezeichneten Sozialdrama „Die Polizistin“ mit der kleinen Rolle der Mutter Schmiedel und behielt die genaue, authentische spielende Darstellerin im Auge. Vier Jahre später steht sie in seiner Verfilmung von Christoph Heins Roman „Willenbrock“ als Kommissarin vor der Kamera. Die Schicksalsgeschichte eines ostdeutschen Gebrauchtwagenhändlers überzeugt durch ihre lebensnahen Figuren und ihren sozialen Realismus. Andreas Dresen wird mit dem Internationalen Literaturfilmpreis 2005 ausgezeichnet.

Ursula Werner und Horst Westphal spielen das verliebte Paar Inge und Karl in Andreas Dresens Film „Wolke 9“ Foto: Senator/DIF ©Andreas Dresen

Dann kam das Jahr 2008. Andreas Dresen rief an und fragte, ob sie bereit wäre, mit ihm einen Film zu machen, in dem es um Liebe und Sex im Alter geht. „Ich hatte seine großartigen Filme ,Stilles Land‘ und ,Halbe Treppe‘ gesehen. Und wir kannten uns von den Dreharbeiten für die ,Die Polizistin‘. Für mich ist er ein Regisseur, bei dem man einfach nur Ja sagen kann.“ Und das tat sie sofort. Der umsichtige Regisseur gab ihr noch Bedenkzeit, denn es ging auch um Nackt- und Sexszenen. Sie blieb bei ihrem Wort.

Mir brachte der Film die persönliche Bekanntschaft mit der Schauspielerin, bei der es mich jedes Mal freute, wenn ich ihren Namen las, hin und wieder auch einen ihrer Filme sah. Wir saßen uns nach der Pressevorführung am 27. April 2009 im Garten des „Quasimodo“ gegenüber, und es hat sozusagen „klick “gemacht. In dem Sinne, dass wir wussten, wir müssen nicht umständlich miteinander umgehen.

Zwischen Inge und ihrem Mann Werner ( Horst Rehberg ) ist die Liebe eingeschlafen, die Ehe nur noch ein Nebeneinanderher Foto: Senator/DIF ©Andreas Dresen

Andreas Dresens außergewöhnlicher Liebesfilm „Wolke 9“ hatte es 2008 zu Filmfestspielen nach Cannes geschafft. Im Jahr darauf ist Ursula Werner darauf für ihr ergreifendes, einfühlsames und leidenschaftliches Spiel der 70jährigen Inge, die nach 30 Jahren aus ihrer routinierten Ehe heraus eine Affäre mit einem noch älteren Mann beginnt, mit dem Deutschen Filmpreis „Lola“ als beste Darstellerin und dem Bambi geehrt worden. Ohne Scheu und Hemmungen, mit großer Natürlichkeit haben sich die Schauspieler Ursula Werner, Horst Rehberg und Horst Westphal auf das immer noch tabuisierte Thema Sex im Alter mit allem, was dazu gehört, eingelassen. In unserem Interview damals sagte sie mir: „Als wir den Film das erste Mal gesehen haben, saßen wir bei Andreas Dresen und waren ganz erstaunt, dass uns die Geschichte so mitgenommen hat. Obwohl wir sie mitentwickelt hatten und den Ausgang wussten. Es war wie ein Sog, der uns festhielt.“

Sie ist stolz auf ihre Leistung in diesem Film, der in vielen Ländern gezeigt wurde. Das gibt sie ohne falsche Zurückhaltung zu. Er hat ihr Aufmerksamkeit gebracht, im eigenen Land als auch international. Was ich – und sicher nicht nur ich – an der Schauspielerin schätze, ist ihre Bodenständigkeit im Privaten, ihre Authentizität in den Rollen. Was sie auf dem Theater von sich erwartet, dass das Publikum ihr abnimmt, was sie spielt, ist auch ihr Maßstab beim Film.

Ausbildungsleiter Borchardt (Fritz Schediwy ) konterkariert die Probenarbeit von Corinna Trampe (Ursula Werner) Szene in „Unten, Mitte, Kinn“ Foto: ©Filmgalerie451

Auf ein ihr gut bekanntes Terrain führt sie Nicolas Wackerbarths Kinofilm „Unten, Mitte, Kinn“. Schauspielschüler stehen vor dem Ende ihrer Ausbildung. Plötzlich ist der Ausbildungsleiter verschwunden. Eine Studentin kann den Altstar Corinna Trampe, eine dominante Diva, als Regisseurin für das Abschluss-Stück, Maxim Gorkis „Nachtasyl“, gewinnen. Sich selbst als Star oder Diva zu empfinden, liegt ihr fern. Sie weiß, dass sie eine gute Schauspielerin ist, sie gibt immer ihr Bestes in jeder Rolle. Dabei kommt es ihr nicht darauf an, vorn zu stehen, auch wenn es sie glücklich, besser zufrieden, macht, wenn es denn so ist. So ist das auch mit den Preisen, die ihr in ziemlicher Zahl zuteil werden.

Es sind die unterschiedlichsten Charaktere, in denen Ursula Werner ihre außergewöhnliche Darstellungskunst präsentieren darf. Bewegend ist ihre Figur der Schwiegermutter eines krebskranken Familienvaters (Milan Peschel) in Andreas Dresens mehrfach preisgekröntem Drama Halt auf freier Strecke“. 2012 erhielten Andreas Dresen und das Ensemble dafür den Deutschen Filmpreis Lola in Gold.

Ursula Werner als Lene Grundmann 2011 in dem Kinderfilm „Wintertochter“ Foto: ©epdfilm/zorro

Berührend und zugleich sehr nachdenklich stimmend ist der Kinderfilm „Wintertochter“, in dem sie mit einem zwölfjährigen Mädchen nach dessen biologischem Vater sucht. Er soll in Polen sein. Es wird auch eine Reise in die Vergangenheit von Lene Grundmann, die nie wieder in die alte Heimat zurückkehren wollte, die sie nach dem Krieg als Kind verlassen musste. Die inneren Wunden werden aufgerissen, schmerzhafte Erinnerungen wach. Man sieht es der Figur an, wie sie mit sich kämpft, etwas zuzulassen, das sie über Jahrzehnte verdrängt hat. Solche Rollen sind Ursula Werners Stärken. „Für diesen Film habe ich Barkas fahren gelernt“, erzählt sie. „Ich bin tatsächlich auch gefahren.“ Der Film mit ihr in der Hauptrolle wurde 2012 als bester Kinderfilm ausgezeichnet.

An einem Sommerwochenende kommt die zerstreute Familie Kerkoff zwischen Kühen und Bienenstöcken am Rande eines Klosters zusammen Uschs Tochter Kati will Nonne werden. Bei dieser Landpartie bleibt keine Wahrheit ungesagt. Szene aus „Schwestern“ mit Ursula Werner (Usch) und Jesper Christensen (ihr Bruder Rolle) Foto: Farbfilm Verleih, DIF, ©Dreamtool Entertainment/Wolfgang Ennenbach

Nach „Wolke 9 “ haben sich viele Türen für die nun schon 65jährige Schauspielerin geöffnet. Man sieht sie 2012 in der dramatischen Familiengeschichte Schwestern“, 2013 in „Bornholmer Straße“. 2015 steht sie in dem ZDF-Fernsehspiel Die Hände meiner Mutter“ vor der Kamera. Es geht um das noch nie offen angesprochene Thema des Kindesmissbrauchs durch Mütter. Das ging an die Nieren, auch der Darstellerin, die hier in ihrer Rolle als Therapeutin damit konfrontiert wird.

Zu ihren schönsten Dreharbeiten gehört für sie „Der Junge muss an die frische Luft“ nach der Autobiografie von Hape Kerkeling. Der Film erhielt die Lola“ in Bronze. Ursula Werner gab darin Oma Berta. Witzigerweise ist dies einer ihrer Vornamen. „Ich heiße Ursula, Anna, Berta“, sagt sie lachend. „Julius Weckauf, der den 12jährigen Hape spielt, ist ein unglaubliches Naturtalent. Seine Eltern haben ein Schreibwarengeschäft. Es hat einen riesigen Spaß gemacht, mit ihm zu spielen“, erinnert sie sich.

Ursula Werner als Hapes Oma Berta hatte ihn dieser Rolle einen Riesenspaß mit dem Darsteller Julius Weckauf Foto: DIF ©WarnerBrosEntertainment

Ihre Vermutung, dass der Film vielen Menschen Freude gemacht hat, fand große Bestätigung. Er erlebte mit 3,87 Millionen Kinobesuchern das beste Startwochenende 2018 und liegt damit auf Platz des Jahrescharts. Die Film- und Medienbewertung versah ihn mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“. Ursula Werner wurde in der Kategorie Schauspielerin in einer komödiantischen Rolle mit dem Schauspielerpreis 2019 ausgezeichnet.

Einen Film möchte sie selbst noch genannt wissen – Caroline Links Kinderfilm „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Es ist die Verfilmung von Judiths Kerrs gleichnamigen Roman, in dem sie ihre eigene Familiengeschichte adaptiert. Die unbeschwerte Kindheit des neunjährigen jüdischen Mädchens Anna Kemper endet mit Hitlers Machtergreifung 1933. Die Familie flieht, sie können nur wenig Gepäck mitnehmen. Ausgerechnet Annas Lieblingsspielzeug, ein rosa Kaninchen, bleibt zurück. Ursula Werner ist darin das Kindermädchen Heimpi. Der Film wurde bereits 1978 schon einmal vom WDR verfilmt. 2019 kam die Neuverfilmung der Sommerhaus Filmproduktion GmbH in die Kinos.

Was mir vor diesem Porträt gar nicht bekannt war, sind ihre vielen Kurz – und Debütfilme von Studenten, fast alle mit einem Preis ausgezeichnet. Ursula Werners Darstellungskuns, jedweder Rolle einen plausiblen Charakter, Stimme und Gesicht zu geben, überzeugend zu sein, hat sich offenbar bei Regie-Debütanten an den Filmhochschulen herumgesprochen. Über „F For Freaks habe ich anfangs etwas gesagt. Wahre Entdeckungen sind für mich die Kurzfilme „Am anderen Ende“ und „Nagel zum Sarg“ von Philipp Döring. In beiden fesselt Ursula Werner durch ein intensives Spiel. In ersterem verkörpert sie die Telefonseelsorgerinn Marianne, die für jeden Anrufer die richtigen Worte findet. Eines Nachts jedoch muss sie sich mit einem eigenen Problem auseinandersetzen.

Marianne ist die beste Telefonseelsorgerin. Nur vor ihrem eigenen Problem flüchtet sie Screenshot ©Leonard Lehmann

Ihre drogenabhängige Tochter sucht sie auf, um Geld zu fordern. Marianne leidet und versucht verzweifelt, Mittzwanzigerin von den Drogen abzubringen. In der Filmbewertung heißt es: Ursula Werner gibt dieser Frau mit einer grandiosen schauspielerischen Leistung ein markantes Gesicht und eine charaktervolle Stimme. (…) Eine atmosphärische Erzählung, auf Kürze zu einem großen und anrührenden Drama verdichtet. Besser geht es kaum!“ Bei den „Babelsberger Medienpreisen“ 2010 wird sie mit dem Schauspielerpreis ausgezeichnet, beim Grand OFF – World Independent Short Film Awards in Warschau als Beste Schauspielerin geehrt.

Ursula Werner lässt beim Zuschauer Verständnis und Empathie für die Täterin aufkommen ©Blue Elephant/Philipp Döring

Nach einer literarischen Vorlage von Wolfgang Kohlhaase – er schrieb auch an dem Drehbuch mit – drehte Philipp Döring das Kurzfilmdrama „Nagel zum Sarg. Ein Polizist steht vor der Tür einer alten Frau. Seit 30 Jahren trägt sie die Last mit sich herum, am Tod ihres Mann schuld zu sein. Sie pflegt sein Grab. Durch einen Zufall wird nun ein Schädel gefunden, in dem ein verrosteter Nagel steckt. In einem langen Monolog beichtet sie dem Polizisten, wie sie aus purer Verzweiflung eine Menge Schuld auf sich geladen hat. Ursula Werner vermag in einem intensiven Spiel, den Gewissenskonflikt dieser vom Schicksal grausam geprüften Frau subtil, ergreifend, aufwühlend deutlich zu machen. Auf dem Filmfest 2012 in Dresden gewann Philipp Döring den Förderpreis Goldener Reiter – nicht zuletzt dank der Hauptdarstellerin.

Die des Lebens müde Christine (Monika Lennartz) wird von ihrer Freundin Eva (Ursula Werner) auf einen Trip in das Nachtleben von St. Pauli entführt und muss sich mit einer Lebenseinstellung auseinandersetzen, für die sie sich viel zu alt fühlt ©Jäger & Becker Film

Die wunderbare Kurzfilmkomödie „Mädchenabend“ vereint 2011 nach vielen Jahren wieder die Tschechow-Schwestern Ursula Werner und Monika Lennartz. Die 74jährige Eva und die 75jährige Christine teilen sich als beste Freundinnen im Seniorenheim ein Zimmer. Letztere hat den Tod ihres vor Jahren verstorbenen Mannes nicht verwunden. Eines Abends entführt Eva die Freundin in einen Männerstripclub. Die beiden blühen, auch dank ihres erheblichen Alkoholkonsums, im wahrsten Sinne des Wortes auf. Eva, die stark auf Antidepressiva angewiesen ist, wird diese Nacht nicht überleben, Christine sich daraufhin wieder mehr dem Leben zuwenden. Die beiden Theaterkämpen lassen das Spiel zum Genuss werden. Und wieder gibt es das Prädikat „Besonders wertvoll“ und 2012 den Max-Ophüls-Preis als bester Kurzfilm. Ursula Werners wurde auf dem Festival in Saarbrücken als Ehrengast mit all ihren preisgekrönten Kurzfilmen und den Debütfilmen gefeiert.

Es ist schwer einen Schluss zu finden, wo lange noch nicht Schluss ist. Die Schauspielerin Ursula Werner hat in den Kammerspielen München eine neue Theaterheimat gefunden, spielt in Dresden und Berlin, und vor allem hat sie aktuelle Filmaufgaben. Während ich hier schreibe, dreht sie neben den Vorstellungen im Deutschen Theater einen neuen Fernsehfilm im Schwarzwald. „Rosengarten– die authentische Lebensgeschichte eines jungen Regisseurs. „Er ist der Sohn eines Syrers und einer Deutschen und bewegt sich zwischen zwei Welten. Er stellt sich die Frage: Wo ist man zu Hause?“, verrät sie mir. Ein Konflikt, den viele junge Ausländer, die in unser Land gekommen sind, für sich lösen müssen.

Karin Ugowski – Diese Goldmarie lieben nicht nur die Kinder

Man mag es kaum glauben, aber seit sechs Jahrzehnten zieht das DEFA-Märchen von Frau Holle, der fleißigen Goldmarie und der faulen Pechmarie in der Winterzeit Alt und Jung vor die Bildschirme. Man mag sagen, Tradition, Verbundenheit von Eltern und Großeltern zu den Märchenproduktionen aus DDR-Zeiten, die sie an ihre Kinder und Enkel weitergeben. Ich nehme mich da nicht aus. Vielleicht ist ja auch ein bisschen Nostalgie dabei. Und ehrlich gesagt, kann mich die rbb-Neuverfilmung des Märchens nach einem Drehbuch von Marlis Ewald nicht so sehr begeistern.

Die Außenkulisse für das Zuhause von Gold- und Pechmarie in dem 2008 gedrehten Märchen ist das Freilandmuseum Lehde Quelle: ARD/TV-Seiten

Mir fehlt das Märchenhafte, das verzaubern und in eine Welt entführen soll, die anders ist, als die uns umgebende. Regisseur Bodo Fürneisen hat seine Märchenversion in einer schönen Naturkulisse aufgenommen, im Freilandmuseum Lehde mit seinen historischen Katen. Zu wirklichkeitsnah, empfinde ich, nicht dazu angetan, mich dahin zu tragen, wo Märchen zu Hause sind. In die Welt der Phantasie. Und Frau Holle? Sie wirkt in ihrem dirndlartigen Kleid mit dem beblümten Strohhütchen oder der weißen Haube auf dem Kopf wie eine bayerische Landfrau im Sonntagsstaat. Mag daran liegen, dass die Starnbergerin Marianne Sägebrecht es so assoziiert.

Marianne Sägebrecht gibt eine wenig märchenhafte Frau Holle. Lea Eisleb spielt Marie, die fleißige der beiden Schwestern © Filmmuseum Potsdam

Wie bei fast allen neuen Märchenverfilmungen, sprechen die Darsteller in unserer Alltagssprache. In einem Märchen hat sie nichts zu suchen, ebensowenig wie Familiennamen. Zumindest sollten diese dann phantasievoll sein, etwas mit der Figur zu tun haben. In allen Frau Holle-Märchen haben die Schwestern oder Stiefschwestern nur Vornamen, heißen nicht Müller oder Weber wie Marie und ihre Schwester Louise. Das alles passt für mich nicht zu dem, wofür ich Märchen liebe – ihre Ort- und Zeitlosigkeit, ihre poetische Sprache. In den phantastischen Welten der Volksmärchen, wie „Frau Holle“ eines ist, bleiben die Fragen „Wo?“ und „Wann“ in den Texten fast immer unbeantwortet. Ich habe als Kind auch nie danach gefragt. Und mache es auch heute noch nicht, wenn sich das nicht nicht gerade aufdrängt wie eben bei der oben erwähnten rbb-Verfilmung.

Marie und ihre Freunde, die Holzfäller Mathias (Herbert Graedtke), Hannes (Rudi Pfaff) und Klaus (Jürgen Pöschmann), vor dem Haus der Stiefmutter. Die farbenfrohe Kulisse wurde im Atelier aufgebaut. Klar und stilisiert wie eine Kinderzeichnung Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung, Erich Gusko
Winterlandschaft im Atelier. Die Tannen sehen aus, als wären sie aus Papier gefaltet Foto: Screenshot © DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Das DEFA-Märchen gibt sich dem Phantastischen auf eine ganz besondere Weise vorbehaltslos hin. Regisseur Gottfried Kolditz und Autor Günter Kaltofen verbanden die Tugenden bester Märchenverfilmungen mit einem Experiment. Kolditz, der schon den DEFA-Kultfilm Schneewittchen“ auf die Leinwand gebracht hatte, hielt sich hier fast wörtlich an die Gebrüder Grimm. Er drehte das Märchen auch nicht in realer Natur, nicht in romantischen Dörfern oder auf wogenden Feldern, sondern ließ seine winterliche Märchenwelt ausschließlich im Atelier aufleben. Alles spielt sich in einer minimalistischen, stilisierten Dekoration ab, die das Szenenbildner-Duo Erich Krüllke und Werner Pieske entworfen hat.

Die Goldmarie legt Scheite auf das flackernde Feuer im Kamin, der vor einer schwarzen Wand steht Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Karin Ugowski, die als Goldmarie damals ihr Filmdebüt gab, erinnert sich noch gut. „Kolditz hat etwas gemacht, das mich zuerst irritierte. Es gab keine Wände in der Kulisse. Die Szenerie hatte etwas von einer Theaterbühne, die nirgendwo endet. Die Dekorationen hatten kein Hinterland, waren eindimensional. Dazwischen bewegten wir uns, hantierten mit Pferd und Wagen, befeuerte ich den Kamin mit Holzscheiten oder saß mit meinem Spinnrad am Brunnen.“ Die Faule wälzt sich in ihrem Bett, das im Nichts steht. Denn rundherum ist alles dunkel. Im Haus von Frau Holle führt die Treppe, von der man nur das Geländer sieht, für den Zuschauer in den Wolkenhimmel.

Frau Holle (Mathilde Danegger) kommt die Treppe hinab, die in der Luft zu hängen scheint Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Die Akteure spielten vor farbigen Hintergründen, sodass die Szenen wie Bilderbuchseiten erscheinen. Jede hatte ihren eigenen Farbton. Das Wandbord mit den Tellern, Tassen und Krügen im Haus der Stiefmutter schwebte vor einer schwarzen Wand im Raum. Die Wiese mit den weißen Margeriten leuchtete vor hellem Blau, Frau Holles Welt war in Weiß getaucht.

Die Pechmarie (Katharina Lind) holt sich Naschwerk vom Wandbord, das im Nichts schwebt. Tassen, Teller und Krüge sind durch die Einfarbigkeit ihrer Tiefenausdehnung beraubt. Auch die Holztruhe wirkt wie gemalt Foto:Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Corinna A. Rader schrieb über die Szenografie dieses Märchenfilms im DEFA-Journal „Leuchtkraft 2021“: Das Szenenbildner- Duo Erich Krüllke und Werner Pieske habe „eine Spielart der Stilisierung entwickelt, die in ihrer Konsequenz nicht mehr steigerbar war. Durch die Auflösung von Raumgrenzen erzeugten sie Schauplätze mit scheinbar unendlicher Ausdehnung, innerhalb derer alle Ausstattungsobjekte vom Bett bis zum Baum derselben abstrahierenden Reduktion unterworfen wurden.“

König Drosselbart (Manfred Krug) hat den Hochmut der Prinzessin (Karin Ugowski) gebrochen. Er führt sie über die Terrasse in sein Schloss ©DEFA-Stiftung/Ekkehard Hartkopf, Max Teschner

Krüllkes und Pieskes Kunstgriffe inspirierten danach andere Regisseure wie Walter Beck, der 1965 das Grimmsche Märchen „König Drosselbart“ verfilmte, oder Ursula Schmenger 1975 für ihren Film Die Regentrude“. Doch keine der nachfolgenden Märchenproduktionen, erreichte die visuelle Stringenz von Frau Holle, resümiert Corinna A. Rader.

Faszinierend für Kinder die Margeritenwiese, auf der ein wunderhübscher Schmetterling auf einer Blüte sitzt Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Es war ein ungewöhnliches Experiment, einen Märchenfilm wie ein lebendiges Bilderbuch zu gestalten. Er sollte vor allem die ganz kleinen Kinder erreichen, und ihre visuelle Wahrnehmung beginnt bekanntlich mit ganz einfachen farbigen Zeichnungen.

Eine liebevolle Bastelarbeit der Szenenbildner Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Das Experiment ist gelungen. Die DEFA begab sich auf einen neuen Weg in der Machart ihrer Märchenfilme. „Frau Holle“ ist ein alter Film, doch keineswegs altbacken und altmodisch in seiner Erzählweise.
Während ich hier schreibe, schaut sich meine 6jährige Enkelin den Film auf dem Tablet an. Sie ist ganz dabei, kommentiert manches, was sie sieht: Die Mutter ist aber böse zu der älteren Tochter. Die ist fleißig. Und als die Pechmarie mit schwarzer Farbe überschüttet wird: Das hat sie nun davon, weil sie so faul war. Nebenbei malt sie etwas. Ist dir langweilig, will ich wissen. Lina schüttelt den Kopf. Auf ihrem Blatt Papier erkenne ich den Backofen. Auch ich habe noch heute Freude an den klaren schönen Bildern, den liebevollen Details, wie dem flatternden Pfauenauge auf einer Margerite. Ich bin fasziniert von der lieblichen Stimme der Goldmarie und dem warmen Timbre der Frau Holle, gespielt von der wunderbaren Mathilde Danegger.

Die Stiefmutter wird gespielt von Elfriede Florin, Katharina Lind ist die faule tochter, die am liebsten im Bett liegt Foto: Screeshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Katharina Lind als faule Stiefschwester ist mit ihrer Ruppigkeit das Extrem zur Freundlichkeit und Sanftheit von Karin Ugowskis Goldmarie. Sie erzählte mir in einem Interview, dass ihr diese Rolle gefiel, weil sie lebensnäher, menschlicher war als die Goldmarie. Und auch sie hat ihre Fans. „In Autogrammbriefen, die ich immer noch bekomme, schreiben Erwachsene, dass die Pechmarie ihr Vorbild war. Sie mochten sie, weil sie sich gewehrt hat. Viele Kinder haben sich mit ihr identifiziert, die nicht perfekt waren, die nicht diesen Gehorsam hatten, dieses Positive wie die Goldmarie. Ich bleibe auch lieber im Bett, als zur Schule zu gehen, schreiben sie. Andere erzählen, dass sie keine Lust haben, zu Hause zu helfen. Die Pechmarie ist eigentlich so, wie die Mehrheit der Kinder schon immer war.“ Ihre Rolle würde Katharina Lind gern noch mal spielen, nur dann noch trotziger, aggressiver. Weil sich inzwischen die Kinder dahin bewegen.

Mitten im Winter sitzt Marie am Brunnen und spinnt. Unendlich scheint der Raum bis zum blauen Horizont. Karin Ugowski hat das Spinnen bei einer Schwester im Oberlinhaus Babelsberg extra für ihre Rolle erlernt Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Es ist unübersehbar, dass der Film die Moral der Geschichte herausgearbeitet hat ohne zu moralisieren. Auf eine kluge Weise, vermittelt er den Kindern unmerklich, was ist gut, was ist böse, was darf man und was soll man nicht tun. Meine Enkelin ist der Beweis. Man mag heute über die unverhohlene pädagogische Absicht denken, was man will. Verkehrt ist es jedenfalls nicht, Kindern eine Richtlinie anzubieten, die ihnen hilft, sich zu orientieren. „Ich bin ja kein Freund von nicht solchen pädagogischen Zeigefingern“, sagte mir Karin Ugowski, „aber den Kindern hat der Film gefallen und tut es noch immer. Wobei man den DEFA-Märchen der 60er Jahre lassen muss: Es gibt darin keine Gewalt, sie sind auf ein humanistisches Weltbild gerichtet.“

Mathilde Danegger ist eine Frau Holle, wie man sie sich nach Grimms Erzählung vorstellt Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Karin Ugowski ist eine Goldmarie, die von den Kinder geliebt wird. Wenn sie damals mit ihrem kleinen Sohn zum Spaziergang aus dem Haus kam, bildete sich gleich eine Traube von Kindern aus der Straße um sie. Ein Junge aus Großräschen schrieb ihr: „Karin Ugowski, was machst du heute Abend? Ich komme mal vorbei. Wenn du nicht da bist, schlafe ich vor deiner Tür.“ Eltern haben sie vereinnahmt. „Eine Mutter bat mich, ihrer Tochter zu schreiben, sie soll nicht mehr so faul sein. Und heute ist es schon manchmal ulkig, wenn die Oma der Enkelin sagt: Guck mal, das ist die Goldmarie aus Frau Holle! Das Kind ist dann irritiert, ich könnte ja jetzt auch eher Frau Holle sein“, erzählte mir die Schauspielerin, als wir 40 Jahre später über ihre Rolle und den Film sprachen.

Faksimile meines Artikels in der SUPERillu 49/2006 zur Veröffentlichung der DVD „König Drosselbart

Die Rolle der Goldmarie führte die damals 19jährige Schauspielstudentin Karin Ugowski direkt in die Schublade Märchen/Prinzessin. Es folgte ein Jahr später „Die goldene Gans“, danach war sie die stolze Prinzessin in Walter Becks Märchenadaption „König Drosselbart“. Ihrem Selbstbewusstsein tat das gar nicht gut. „Ich litt darunter, weil mich der Neid meiner Kommilitoninnen schwer traf. Nach dem Studium, als sie am Berliner „Maxim Gorki Theater“ engagiert war, selbst noch an der Volksbühne, hing ihr die DEFA-Prinzessin, die gelockte Schönheit, lange nach. „Trotzdem bin ich froh, diese Rollen gespielt zu haben. Der Spaß an der Arbeit, zum Beispiel auch mit Manfred Krug als König Drosselbart, hat mich entschädigt.“ Ihren eigenen Prinzen hat Karin Ugowski nach zwei Enttäuschungen in dem Maler Günter Horn gefunden, mit dem sie seit 1993 verheiratet ist. Beide haben im mecklenburgischen Grammentin einen Kunsthof.

Für Karin Ugowski war die Goldmarie ihre erste Filmrolle Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Allein in Deutschland kam das Märchen mehr als ein Dutzend Mal auf die Leinwand. Der vermutlich erste Film von 1908 ist verschollen, wie vieles aus der Frühzeit des Kinos. Nur der Name des Produzenten ist noch bekannt. Er hieß Heinrich Ernemann und besaß in Dresden einen der größten Betriebe für Kinotechnik im damaligen Deutschen Reich. Er baute und erfand Kameras und Projektoren.

Die DEFA nutzte das Märchen 1952 als Vorlage für einen der ersten Puppentrickfilme, die in der DDR entstanden sind. Der Bühnenmaler und Filmarchitekt Johannes Hempel war damals fast auf sich allein gestellt, denn es gab das DEFA-Studio für Animations- und Trickfilme in Dresden noch nicht. In mühseliger Tag- und Nachtarbeit in einem eigens für diese Produktion in Babelsberg eingerichteten Atelier schuf er die Entwürfe für die Puppen und malte die Dekorationen. Im Oktober 1953 kam der Film ins Kino.

Die Goldmarie in Schonger Film wird von der 13jährigen Kinderdarstellerin Madeleine Binsfeld gespielt, Frau Holle von der bekannten österreichischen Schauspielerin Lucie Englisch Foto: Screenshot ©schongerfilm/Klaus Beckhausen

Zweimal nahm sich der westdeutsche Produzent Hubert Schonger, der vom Naturfilm kam, des Märchens an – einmal 1947, dann 1961. Ihm lag daran, dass alle Mitwirkenden eine größtmögliche Nähe zu kindlichen Erfahrungswelten herstellten. Die Inszenierung des „Märchens von der Goldmarie und der Pechmarie“ legte er in die Hände von Regisseur Peter Podehl, der 1953 bei der DEFA den wundervollen Märchenfilm „Der kleine Muck“ gedreht hat. Diesen Zauber erreichte er mit der Holle-Verfilmung 1961 nicht. Zumal die Handlung hier nicht der klassische Version des Märchens folgt. Frau Holle schüttelt nicht nur ihre Kissen, damit Schnee auf die Erde fällt.

Marie (Madeleine Binsfeld) muss in der Regenkammer dafür sorgen, dass die Fische Wasser speien. Dann regent es auf der Erde Foto: Screenshot ©schongerfilm/Klaus Beckhausen

In ihrem Haus gibt es eine Wetteruhr, die bestimmt, wann aus den Wetterkammern Sonne, Regen, Wolken und Wind auf die Erde gelassen werden. Die Geschichte ist betulich, fast langweilig inszeniert, wirkt moralisierend. Lucie Englisch hebt als Frau Holle sehr oft und dogmatisch den pädagogischen Zeigefinger. Die sehr einfache Dekoration hat wenig märchenhaften Charme. Es kommt beim Zuschauen keine Stimmung auf. Der Film ist auf Youtube verfügbar.

Der Stadtbrunnen, an dessen Rand das Gänseliesl, der Schwarze Peter, Hans im Glück und Frau Holle stehen, birgt ein Geheimnis Foto: Screenshot ©Fritz Genschow Filmproduktion/Gerhard Huttula

Ich habe mir noch eine weitere Frau-Holle-Verfilmung angesehen. Sie stammt aus dem Jahre 1954. Regisseur Fritz Genschow hat Geschichte sehr viel anders erzählt, als wir sie bei den Gebrüder Grimm finden.

Sie spielt in einer kleinen Stadt, in der es keine Kinder gibt. Nach einer großen Überschwemmung sind viele Kinder Waisen geworden. Frau Holle hat sie in ihr Reich geholt. Nur eine Witwe hat noch zwei Töchter. Die eine ist schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Beide Töchter geraten wie in Grimms Märchen durch den Brunnen in Frau Holles. Der Brunnen birgt jedoch ein Geheimnis. Zwei der Figuren auf seinem Rand können lebendig werden, sind aber unsichtbar. FrauHolle und der Schwarze Peter, der nur Unfug und Schabernack treibt.

Frau Holle, gespielt von Renée Stobrawa, hat sich aus ihrer steineren Hülle auf dem Brunnen gelöst und bewegt sich unsichtbar zwischen den Menschen auf dem Markt. Sie ist wie eine gute Fee Foto: Screenhot ©Fritz Genschow Filmproduktion/Gerhard Huttula

Einst war so: Wer aus Brunnen trank und sich ein liebes Mädel oder eine netten Jungen wünscht, dem schickte Frau Holle ein solches Kind. Doch der Schwarze Peter hat den Brunnen mit Unrat verunreinigt. Das stinkende Wasser wollte niemand mehr trinken, sodass bald keine Kinder auf die Welt kamen und die Menschen vergaßen, dass es überhaupt welche gibt. Es kommt dann dazu, dass der Schwarze Peter die Kinder aus dem Reich von Frau auf die Erde entführt und sie dann allein lässt.

Die gutherzige Rosemarie (Rita-Maria Nowottnick-Genschow) wurde für ihren Fleiß mit Gold belohnt. Die Schauspielerin spielte in den 50erJahren noch in anderen Märchenadaptionen Foto: Screenshot © Genschow Filmproduktion/Gerhard Huttlua

Rosemarie, die als Goldmarie in die Stadt zurückgekehrt war, bittet gutmütige Menschen, sie aufzunehmen. Auch für ihre Schwester Elsemarie, die für ihre Liederlichkeit und Faulheit mit Pech überschüttet wurde, legt Rosemarie ein gutes Wort bei Frau Holle ein gutes Wort ein… Diese ungewöhnliche Version des Märchens hat ihren Reiz. Es wird in Versen gesprochen, Kinderlieder untermalen die Szenen. Alles wirkt sehr kindlich verniedlicht. Das ist wohl dem westdeutschen Zeitgeist geschuldet, in den Kinder- und Familienfilmen eine heile Welt zu zeigen, in der es harmonisch zugeht, in der Konflikte ausgespart werden oder nur in geglätteter Form angedeutet. Sie werden durch einen „guten Geist“, in diesem Fall Frau Holle oder auch Rosemarie, aufgelöst. Alle Filme, die ich hier beschrieben habe, sind als Video auf DVD oder im Netz zu sehen.

Die goldene Gans. Sie konnte einfach nicht den Schnabel halten

Wohl kein ein Kind wächst ohne die Hausmärchen der Gebrüder Grimm (Jacob 1785-1863 und Wilhelm 1786-1859) auf: „Hänsel und Gretel“, „Der Froschkönig“,Dornröschen“ oder „Die goldene Gans“. Viele der Märchen hat die DEFA verfilmt. Sie sind immer noch präsent, als DVD oder werden – wie jetzt zur Weihnachtszeit – im Fernsehen ausgestrahlt. Für mich war es jedesmal ein großes Vergnügen, mit den Schauspielern über ihre Erlebnisse und Erinnerungen an die Dreharbeiten zu sprechen. Meine Märchenretropspektive beginne ich hier mit einem Interview, das ich im Sommer 2007 mit den Hauptdarsteller des Märchenfilms „Die goldene Gans“ geführt habe.

Diese Geschichte vom Schusterjungen Klaus und seiner wundersamen Gans hat die DEFA 1963 mit dem damals 21-jährigen Kaspar Eichel in der Hauptrolle verfilmt. Die schöne Prinzessin, der vor Langeweile in ihrem Schloss das Lachen verging, spielte Karin Ugowski. Ich traf mich mit den Beiden auf dem malerischen Gehöft von Karin Ugowski und ihrem Mann Günter Horn am Kummerower See. Da ich die Schauspieler gut kenne, sprechen wir uns mit Du an.

Kaspar Eichel und Karin Ugowski schauen durch ein imaginäres Fenster. Das Ölgemälde von Andreas Freitag ist eins von vielen Bildern an der Landstraße zum Gehöft von Karin Ugowski © Michael Handelmann

Schier endlos zieht sich die Straße, ehe man das rotbraune, hinter Feldern und Seen versteckte Gehöft von Karin Ugowski und ihrem Mann erreicht. An der Seite des Malers Günter Horn hat die Schauspielerin inmitten der mecklenburgischen Schweiz den Raum zum Leben gefunden, der sie glücklich macht. Einige von Horns origi­nellen Bildern stehen auf Staf­feleien montiert am Wegesrand. Landschaftsbilder in der Land­ schaft.

Vielen Dank für die Einladung. Hier bekommt man glatt Urlaubsgefühle

Karin Ugowski: Ja, wenn ich im Dorf an der Kirche vorbei bin und in den Weg zum Gehöft einbiege, vergesse ich Babelsberg und den Stress der Dreharbeiten. Ich atme die wunderbare Luft ein und freue mich auf meinen Garten, meinen Mann. (Karin Ugowski spielte von 2005 bis 2009 in der Daily-Soap eine durchgehende Rolle)

Kaspar Eichel: Ihr habt es ist wirklich schön hier. Du musst mit mir einen Rundgang machen.

Kaspar Eichel und die goldene Gans. Als wir 2007 diese Aufnahmen im Wald von Grammenthin machten, war es eine Attrappe, 1964 eine echte Gans. Damals war der Schauspieler noch Student und gerade mal 21 Jahre alt © Michael Handelmann; DEFA-Stiftung/Horst Blümel (kl. Foto)

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Erzählt mir doch bitte etwas über eure nachthaltigste Erinnerung an den DEFA-Märchenfilm „Die goldene Gans

Kaspar Eichel: Bei mir ist es so eine Hassliebe. Man wird als Schauspieler oft mit einer Rolle identifiziert, die einem selbst gar nicht so wichtig war. Wie diese, auf die ich immer wieder angesprochen werde. Wenn die Leute dann aber sagen: „Nun ham’se sich mal nicht so, Herr Eichel, wir sind mit ihnen groß geworden, sie waren unser Vorbild für die Schule“, dann ist das schon ein schönes Gefühl.

Sie kleben an der goldenen Gans: der Musikant (Karl Heinz Oppel), der Wirt (Fritz Schlegel), die Schwestern Gret (Renate Usko) und Lies (Katharina Lind) und Klaus (Kaspar Eichel) © DEFA-Stiftung/Roland Dressel)

Karin Ugowski: Für mich war die Rolle ja noch mal was anderes als für Kaspar, der schon vorher in Werner Holtgespielt hatte. Ich war das Jahr zuvor die Goldmarie in „Frau Holle“. Als ich dann für die Prinzessin ausgesucht wurde, haben mich meine Kommilitoninnen richtig doof angemacht: Na, du mit deinem Aussehen kannst ja bloß Märchen spielen. Deshalb wollte ich die Prinzessin gar nicht so gern spielen. Außerdem hatte ich zu der Zeit das Angebot, im Hans Otto Theater Potsdam die Ophelia zu spielen. Der Rektor entschied dann: Wir sind eine Filmhochschule, du drehst.

Ihr habt das also als eine Enttäuschung empfunden?

Kaspar: Nein. Wir waren frisch von der Schule runter. Dass man da so eine Rolle bekommen hat, war ein tolles Gefühl. Aber wir erwarteten größere Herausforderungen. Ich fand, Klaus braucht mehr Action, wie es heute heißt. Das hat man dann geändert. Ich durfte mit Prinz Störenfried ordentlich fechten. Das war vielleicht eine gewisse Unzufriedenheit der jungen Aufstrebenden.

Die Langeweile hat der Prinzessin (Karin Ugowski) das Lachen genommen. Ihr Vater (Heinz Scholz), der König, versucht zu aufzuheitern DEFA-Stiftung/Roland Dressel

Karin: Wenn ich jetzt darüber nachdenke, muss ich sagen: Am Anfang war ich traurig, verletzt, dass ich eben Märchen gespielt habe und die durften sich Herausforderungen stellen. Im Nachhinein sehe ich das ähnlich wie Kaspar und muss lachen, wenn ich an die Bemerkungen meiner Kommilitoninnen denke. Die mich belächelt haben, drängelten sich später danach, Märchenfilmen zu drehen. Auch solche, bei denen sich die Kinder gegruselt haben. Wenn ich mal nicht mehr bin – die Märchenfilme bleiben, werden immer wieder gern gesehen, wie es sich zeigt. Da kann ich doch nur froh sein und mir sagen: Gut, die Theaterrolle, die du wolltest, hast du nicht gekriegt. Aber das weiß außer dir keiner. Damit habe ich mich getröstet.

Kaspar: Ich verstehe Karins Komplexe damals. Sie war der Typ „bürgerliche Schönheit“, gefragt war aber der proletarische Typ. Bei meiner Rolle war es genauso. Ich habe bloß erst hinterher erfahren, dass die Kollegen, die sie vor im Brustton der Überzeugung abgelehtn haben, heimlich nachts zu Probeaufnahmen waren.

Kaspar Eichel und Karin Ugowski hatten viel Spaß beim Drehen ©DEFA-Stiftung/Roland Drassel

Karin: Die Sticheleien haben mich ganz schön fertig gemacht. Das war ganz schlimme, wenn ich hörte, du hast eine bürgerliche, sogar spätbürgerliche Ausstrahlung. Fast noch Marika Rökk oder Ufa. Das ging soweit, dass ich die Rolle der Ehefrau von Göring in István Szábos Film „Mephisto“ abgeölehtn habe. Die wurde dann von Christine Harborth gespielt. Ich hatte leider kein Hinterland wie Kaspar, das mir jemand den Rücken stärkte. Du wusstest durch deinen Vater, wie man in der Branche tickt.

Dein Vater war Wito Eichel. Hat er dich animiert, Schauspieler zu werden?

Kaspar: Mein Vater war künstlerischer Leiter im Synchronstudio und später Rektor an der Filmhochschule Babelsberg. Vielleicht hat mich das unbewusst beeinflusst. Ich wollte von Anfang an Schauspieler werden. In der Schule war ich der Kasper und nur gut, wenn wir Stücke gelesen haben. Ich las oder besser, spielte den DorfrichterAdam in Shakespeares „Der zerbrochene Krug“. Das war für mich das Größte. Schule hat mir erst Spaß gemacht, als ich auf die Schauspielschule ging. Da fand ich alles fantastisch und habe im Unterricht immer zugehört.

Wie bekamt ihr beiden eure Rollen?

Uwe-Detlev Jessen und Peter Dommisch als die faulen Brüder Kunz und Franz Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung; Karl Plintzner

Kaspar: Regisseur Siegfried Hartmann kam nach Senftenberg, wo ich am Bergarbeiter-Theater schon das Märchenstück „Die goldene Gansgespielt habe. Autor war Günter Kaltofen, der dann auch das Drehbuch für den Film geschrieben hat. Ich wurde zu Probeaufnahmen eingeladen und bekam die Rolle. Mein Oberspielleiter am Theater, Uwe-Detlev Jessen, wurde gleich mit eingekauft. Er spielt im Film den faulen Kunz.

Gab es einen Karrieresprung?

Kaspar: Eigentlich nicht. Es ging kontinuierlich weiter. Ich habe vorwiegend Theater gespielt. Aber auch gedreht, das stimmt. 1965 „Tiefe Furchen“ und „Berlin um die Ecke“. Das war der vierte Film der Berlin-Reihe, der wurde aber erst nach der Wende gezeigt. Regisseur Gerhard Klein und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaaseerzählten realistisch vom Alltag kleiner Leute in dieser Zeit. Da ging es um Probleme, die man damals lieber verschwieg.

War dieses Doppelleben problematisch für dich?

Kaspar: Es war schon stressig. Tagsüber spielte ich in Senftenberg zwei Vorstellungen. Abends holte mich ein Fahrer der DEFA mit dem Auto ab und fuhr mich nach Babelsberg. Wir haben dort dann nachts gedreht. Das Gemeine aber war, dass Günter Kaltofen für das Drehbuch die Bühnendialoge einfach nur umgestellt hat. Da nicht durcheinander zu kommen, das war schon mühsam. Aber es hat sich für ihn sicher gelohnt. Der Film wurde in alle Welt verkauft, lief sogar in New York am Broadway.

Kaspar Eichel mit Jochen Thomas (M), der den Raufbold spielteund, Gerhard Rachold als Prinz Störenfried ©DEFA-Stiftung/Roland Drassel

Karin: Da fällt mir ein: Bei der Premiere in Berlin saß der kleine Sohn von dem Raufbold, der immer so gebechert hat, mit im Kino. Als der nun seine Suffnase ins Bild steckte, rief der Kleine. „Das ist mein Papa“, und das ganze Kino lachte.

Karin hatte früher lange blonde Haare, wie die Prinzessin. Hattest du auch Locken wie Klaus?

Kaspar: Nein. Der Maskenbildner hat sie mir jedenTag mit der Lockenschere gebrannt.

Karin: Ich trug aber auch eine Perücke, weil ich dieses Zopfkrönchen auf dem Kopf hatte. Das immer neu zu flechten hätte zu lange gedauert.

Schuster Klaus hat die Prinzessin zum Lachen gebracht und ihr Herz gewonnen © DEFA-Stiftung/Roland Drassel

Ich staune jedemal, wenn ich den Film sehe, wie ruhig die Gans mitgespielt hat.

Kaspar: Das täuscht. So ruhig war die gar nicht. Sie schnatterte manchmal ganz schön laut. Wir mussten dann warten, bis sie sich beruhigt hat. Damit ich sie überhaupt halten konnte, waren ihre Beine zusammen gebunden.

Karin: Man glaubt gar nicht, welche Kraft diese Vögel in den Flügeln haben.

Wo habt ihr gedreht? Es ist ja wirklich eine märchenhafte Kulisse.

Kaspar: Alles wurde im Studio aufgebaut. Die DEFA-Handwerker hatten es drauf, dass selbst der künstleiche Wald echt aussah.

Mit welchem Trick zog eigentlich die Gans Menschen und Gegenstände an? Hat man Magneten versteckt? Damals gab ja es noch keine Computer.

Katharina Lind und Kaspar Eichel mit der goldenen Gans. Das Tier wurde mit Goldlack besprüht. Damals hatte man keine andere Möglichkeit © DEFA-Stiftung/Horst Blümel

Kaspar: Man befestigte ganz dünne Kupferlongen an den Sachen, an dem ein Techniker dann ganz vorsichitg zog. So schwebten die Geige und der Geigenbogen auf die Gans zu, die Röcke der Mädchen oder das Florett von Prinz Störenfried, als ich mit kämpfe. Manchmal riss der Draht,  und das Ganze musste noch mal gedreht werden. Es war ziemlich aufwendig. Hätte es damals schon Computer-Tricks gegeben, hätte man die Gans auch leicht einfärben können. Unsere wurde mit Goldbronze besprüht, was ihr nicht so gut bekam.

Ralph. J. Böttner spielt den Hauptmann des Königs Foto: screenshot ©DEFA-Stiftung/Karl Plintzner

Karin: Erinnerst du dich, wie der Kameramann den Hauptmann der königlichen Wache ewig am Schwanz vom Esel hängen ließ?

Kaspar:  Klar, den konnte keiner so recht leiden. Und Karl ließ ihn die Einstellung zigmal wiederholen und tat, als ob er das filmte. Dabei hatte er gar keinen Film in der Kamera.

Karin: Wir haben die Einstellung aber auch tatsächlich x-mal gedreht, weil die ORWO-Filme unterschiedliche Farbstiche hatten. Mal waren sie bläulich, mal grün- oder rotstichig. Im Schnitt mussten die Farben dann aber übereinstimmen.

Katharina Lind musste sehr aufpassen, als sie auf die Wippe kletterte. Kaspar Eichel hielt sie aber gut fest Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Karl Plintzner

Ein paar Szenen sahen ja gefährlich aus. Zum Beispiel, als alle auf die Wippe stiegen.

Karin: Das war schon nicht ohne, als Katharina mit der Gans auf die Wippe klettern musste. Dem Regisseur mangelte es da etwas an Phantasie, dass dabei auch etwas passieren könnte. Katharina, also die Lies, wurde leicht hysterisch. Sie hätte sich bei der Aktion sämtliche Gräten dabei brechen können.

Eine halsbrecherische Aktion. Jochen Thomas hängt als Hauptmann der Wache an einem Flaschenzug. Franz (Peter Dommisch) muss ihn hochziehen Foto: screenshot © DEFA-Stiftung/Karl Plintzner

Kaspar: Gefährlich war es auch, als wir die Kiste mit dem Flaschenzug nach oben zogen. Die hatte ein ziemliches Gewicht, und wir mussten uns ganz schön an das Seil hängen. Einmal krachte sie runter. Uwe-Detlev Jessen und Peter Dommisch, meine faulen Brüder, konnten gerade noch so zur Seite springen.

Kaspar, du hast vorhin das Synchronstudio angesprochen. Das ist ja inzwischen dein zweites Zuhause. Die Liste deiner Rollen ist lang. Man hört dich unter anderem als Robert Redford. Was ist das für ein Gefühl?

Kaspar Eichel 2020 im „DEFA-Zeitzeugengespräch“ © DEFA-Stiftung/Teubner

Kaspar: Ehrfurcht ist schon da, aber wenn die Arbeit losgeht, ist es ein ganz normaler Job. Dass ich den Redford spreche, ist ein Riesenglücksfall. Aber ich gebe auch anderen bekannten Hollywoodschauspielern die Stimme: Richard Dreyfuss und Dennis Hopper. Es macht einfach einen Riesenspaß.

Gibt es Gedanken ans Aufhören? Ihr steht ja beide kurz vor der Rente.

Ich traf Karin Ugowski 2007 auf ihrem Gehöft, dem Kunsthof, in Grammentin © Michael Handelmann

Karin: Nein, obwohl ich mir jedes  Jahr vorgenommen habe: Nun nicht mehr. Der Beruf ist eine Droge. Und wenn man gute Kollegen hat, macht er doppelt Spaß. Allerdings habe ich Zeit für mein Privatleben, für Streicheleinheiten.

Kaspar: Ich werde in Rente gehen, doch nicht aufhören zu spielen. Aber nur noch das, was Spaß macht.

Schauspieler Jan Spitzer – Ein Leben lang unangepasst und gelassen

Er hatte verpennt, weil ihn niemand geweckt hat. Jan Spitzer hörte nie allein den Wecker. Das war sein Fluch. Schon immer. Wirklich zu schaffen gemacht hatte ihm das nicht. Nicht einmal, als er sich zum Abitur verspätete. Zu einem Glücksumstand geriet ihm das im Herbst 1967. Er studierte das letzte Jahr an der Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“. An einem Morgen hatte er es mal wieder nicht rechtzeitig aus dem Bett geschafft. Er kam in den Hörsaal, lümmelte sich in Jeans und Lederjacke wie immer desinteressiert in die Bank. Doch etwas war anders als sonst. „Ich wunderte mich, dass alle so aufgekratzt waren“, erinnerte sich Jan Spitzer 45 Jahre später in unserem ersten und einzigen Interview. Die Lederjacke ist mit ihm alt geworden. Er trug sie auch, als wir uns im Sommer 2012 an der Dahme im historischen Café Liebig trafen.

Im Januar 1968 begann Regisseur Egon Günther (r.) mit den Dreharbeiten für den DEFA-Film „Abschied“. Die Hauptrolle, den Bürgersohn Hans Gastl, spielt der damals 20jährige Schauspielstudent Jan Spitzer. Foto: ©DEFA-Stiftung/Peter Dietrich, Wolfgang Ebert, Repro: André Kowalski

Die Unruhe verursachten zwei Herren, die vorn neben dem Dozenten saßen. DEFA-Regisseur Egon Günther und Produktionsleiter Herbert Ehler suchten unter den Studenten nach dem Hauptdarsteller für die Verfilmung von Johannes R. Bechers autobiografischem Roman „Abschied“. Er gehörte in der DDR zur Pflichtlektüre an den Erweiterten Oberschulen. Die Handlung spielt in der Zeit zwischen der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914. Hans Gastl, Sohn des Münchener Oberstaatsanwaltes, rebelliert gegen Verlogenheit, Scheinmoral und vor allem die Weltsicht seines militaristisch eingestellten Vaters. Er will anders sein, als es die gesellschaftlichen Normen seiner Klasse vorgeben, sucht sich Freunde außerhalb seines Standes und lehnt den Krieg ab. Schließlich bricht er als 18jähriger mit seiner Familie und aus seinem bisherigen Leben aus.

„Abschied“ – der Film und seine Folgen

Der Versuch, in der Filmerzählung der Chronologie des Romans zu folgen, funktionierte nicht. Zu schwer, zu langatmig. Dank seiner Erfahrung als Dramaturg und Szenarist fand Regisseur Egon Günther den Ausweg. In Episoden lässt er Hans Gastl in heiter-überlegener, ironisch-distanzierter Sicht auf die eigene konfliktreiche Entwicklung zurückblicken. Dieser Hans Gastl hatte nichts mehr mit der Becherschen Romanfigur, dem Alter Ego des Dichters, zu tun. Günther zeigt die Situation sehr junger Leute, die ihren Weg finden müssen, als sich das wilhelminische Deutschland in einem nationalistischen Kriegstaumel befindet. Gedacht ist der Film für ein ebenso junges Publikum ein halbes Jahrhundert später. „Gastl war ein Aussteigertyp, nonkonformistisch“, beschrieb Jan Spitzer seine Rolle.

Hans Gastl widerstrebt das Leben seiner Familie © DEFA-Stiftung/ Peter Dietrich, Wolfgang Ebert

Nicht, weil er zu spät kam, hatte der 20jährige an jenem Morgen die Aufmerksamkeit des Regisseurs auf sich gezogen. Sein ganzer Habitus entsprach dem Typ, den sich Egon Günther vorstellte. Eine Mischung aus Lässigkeit und Widerspruch, ein bisschen provokant. Von schmaler Statur, mit feinen, jungenhaften Gesichtszügen konnte Jan Spitzer den Vierzehnjährigen wie auch den fast 20jährigen Hans Gastl verkörpern. So genau wusste Jan Spitzer den Grund dafür nicht, dass Egon Günther ihn zu Probeaufnahmen nach Babelsberg bat. Er vermutete, es seien eher seine längeren Haare gewesen.

Im Januar 1968 wurden die Dreharbeiten begonnen und im Mai beendet. Jan Spitzer lieferte ein brillantes Schauspieldebüt ab. „Ich bekam einen Höhenflug durch die Rolle“, gestand er rückblickend. Es war ihm nicht zu verdenken. Man sah ihn überall in der Republik auf großen Plakaten mit der Heidemarie Wenzel, die die Rolle der Prostituierten Fanny spielt, und ihm im Bett. Er war das Gesicht des Films, der noch vor seiner Premiere am 10. Oktober 1968 mit dem „Staatlichen Prädikat Besonders wertvoll“ ausgezeichnet wurde. Erstmalig in der DEFA-Geschichte durfte die Nachricht von der Auszeichnung vorab auf der Plakatwerbung erscheinen. „Wir hatten einen phantastischen Kino-Anlauf mit ausverkauften Vorstellungen in den großen Filmtheatern. 607 000 Besucher in nur sechs Wochen!“ Es war ihm anzumerken, dass er stolz darauf war, diese Rolle bekommen zu haben.

Jan Spitzer traf sich mit mir im Sommer 2012 zum Interview an der Dahme © André Kowalski

Bei allen Bezirkspremieren und Sondervorführungen bekamen die Künstler frenetischen Applaus. Nur im Haus der Offiziere in Strausberg erregte es Unmut bei der hochdekorierten Generalität, dass der jugendliche Held unbekümmert in Jeans auf die Bühne sprang. Jeans oder Nietenhosen, wie man damals noch sagte, waren als „Bekleidungstextil des Klassenfeindes“ unerwünscht, an den Schulen oft gar verboten. Die 60er Jahre waren ein unablässiger Kampf des sozialistischen Systems gegen westliche Einflüsse. Jeans wurden als ideologisches Bekenntnis ihres Trägers gewertet. Ein solches Statussymbol waren sie für Jan Spitzer nicht. Als solches galt ihm seine Lederjacke. „Sie war für mich in der DDR ein Stück Unangepasstheit.“

Jan Spitzer kam am 16. Mai 1947 in Sangerhausen zur Welt. Der Krieg war gerade zwei Jahre vorbei. Die stark zerstörte Stadt im Aufbau begriffen. Der Vater arbeitete in der nahen Kupferschieferzeche, als hier die Förderbänder ab 1951 wieder liefen. Die Eltern hatten bereits zwei Töchter, fast schon junge Mädchen. Der Junge war ein Nachzügler und genoss den Vorzug, besonders umsorgt zu werden. Schon als Kind zeigten sich sein Talent und seine Leidenschaft für Musik. „Ich habe acht Jahre Klavierunterricht genommen, mir das Gitarrespielen beigebracht und kleine Stücke und Lieder komponiert.“ Mit anderen Jungs aus Sangerhausen gründete er 1963 die Amateurband THE SOUNDS. Sie spielten Beatles und Stones hoch und runter, Kinks, Procol Harum… „Rocksongs wurden ganz persönlich genommen, je nach Befindlichkeit.“ Verliebt war er damals in ein Mädchen aus seiner Straße, die später seine Frau und Mutter seiner Töchter Juschka und Johanna–Julia wurde. Beide sind dem Beruf des Vaters gefolgt. Sie wollten es so.

Eigentlich hätte Jan Spitzer anstatt Schauspieler ebenso gut Musiker werden können. Aber es gab eine Sehnsucht, die die Weiche anderswohin stellte. „Immer, wenn ich in meinem Heimatkino im Zuschauerraum saß, hatte ich mir als kleiner Junge gewünscht, auch einmal oben auf der Leinwand sein.“ Am 13. Oktober 1968 hat sich sein Wunsch erfüllt. Das Filmtheater Sangerhausen lud ihn und das „Abschied“-Filmteam zu einer feierlichen Vorstellung ein. Einer seiner glücklichsten Momente.

Eine Woche nach der 9. Tagung des ZK der SED im November 1968 verschwand der Film jedoch aus den Kinos. Ihm wurde Skeptizismus und Subjektivismus vorgeworfen, nachdem Staats- und Parteichef Walter Ulbricht in seinem Referat mit einem Seitenhieb auf die Kunst aufgewartet hatte: „Das humanistische Erbe ist für uns weder museales Bildungsgut noch Tummelplatz subjektivistischer Auslegungen“, zitierte das Zentralorgan Neues Deutschland am 25. Oktober 1968.

Hans Gastl findet in der Prostituierten Fanny (Heidemarie Wenzel) eine Freundin und Geliebte © DEFA-Stiftung/Peter Dietrich, Wolfgang Ebert

Von allen Seiten wurde nun heftig gegen den Film polemisiert. Organisierte Leserzuschriften im ND verrissen ihn. Vergeblich intervenierte Bechers Witwe Lilly im Kulturministerium und beim SED-Zentralkomitee. Jan Spitzer bekam eine Ausgabe des „Sonntag“ zugeschickt, in dem ein Foto von ihm und Heidemarie Wenzel mit entblößten Brüsten abgedruckt war. Daneben eine Randnotiz von Lotte Ulbricht: „Das soll unser Hans sein?!“ Ein direktes Aufführungsverbot für den Film gab es allerdings nicht. Er durfte auf Anforderung in Filmklubs, Filmkunsttheatern und Sonderveranstaltungen gezeigt werden. Erweiterte Oberschulen nahmen ihn in den Literaturunterricht der Abiturklassen als Ergänzung zu Bechers Roman auf.

Er passte in viele Schubfächer

Mit dem Film setzte ein, was Jan Spitzer so erklärte: Im Grunde genommen sei er ein phlegmatischer Typ, immer auch ein bisschen faul. Ihm sei alles in den Schoß gefallen. So wie die Rolle des Hans Gastl und alle, die danach kamen. „Ich habe mich für eine Rolle nie verbiegen müssen“, reflektierte er als 65-Jähriger.

Jan Spitzer 1968 als Dorfschmied Ruprecht mit Monika Gabriel als Eve in der DEFA-Komödie „Jungfer, sie gefällt mir“ © DEFA-Stiftung/Herbert Krois, Peter Schlaak

Er hatte das Studium gerade abgeschlossen, als ihn Regisseur Günter Reisch für sein turbulentes Spektakel „Jungfer, sie gefällt mir“ als Dorfschmied Ruprecht vor die Kamera holte. In der Adaption von Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ schlägt sich der frischgebackene Schauspielabsolvent wacker neben Wolfgang Kieling – als sein Widersacher Dorfrichter Adam – und Rolf Ludwig als Schreiber Licht. Die Dreharbeiten mit Monika Gabriel als Eve hätten Spaß gemacht, ein filmisches Highlight sei das DEFA-Stück aber nicht geworden, urteilte er im Rückblick.

Jan Spitzer als Leutnant Gerd von Ducherow in der 1969 von Egon Günther gedrehten Romanverfilmung „Junge Frau von 1914“, Erstsendung 17. Januar 1970 Foto: Screenshot © DFF/Erich Gusko

Die Arbeit und die Freundschaft mit Egon Günther haben ihn geprägt, in seinen künstlerischen Ansichten und Ansprüchen, vor allem in seinem politischen Denken – die Grauzonen zwischen dem Schwarz und Weiß zu erkennen, zu wissen, wo man steht und warum. Der „Prager Frühling“ 1968 in der ČSSR hatte auch in der DDR bei vielen Menschen Zweifel und Kritik an der Parteipolitik der SED hervorgerufen. Die Kunst stand unter ideologischer Beobachtung. Zu sehen, wie man dieses Korsett mit künstlerischen Mitteln durchbrechen kann, darin war der DEFA-Regisseur Egon Günther ein Avantgardist, geriet jedoch häufig in Konflikt mit den künstlerisch und politisch Verantwortlichen. Seine Literaturverfilmungen waren jedoch immer ein Erfolg, an dem Jan Spitzer ein weiteres Mal im Sommer 1969 teilhaben durfte. Wenn auch nur in einer kleinen Rolle. Er spielte in Günthers Fernsehfilm „Junge Frau von 1914“, dem zweiten Teil der Arnold-Zweig-Trilogie Der große Krieg der weißen Männer“, den adligen Leutnant von Ducherow.

Single 1970 „Wer bist du“

Nach Abschluss der Filmarbeiten trat Jan Spitzer sein erstes Theaterengagement in Altenburg an, das ihm Freiraum ließ für seine Musik. Er profilierte sich ziemlich erfolgreich als Sänger. Es entstanden Rundfunkaufnahmen wie „Mädchen aus Berlin“ und Wer bist du?“, komponiert von Walter Kubiczek. Mit seinem Song „Ich warte noch“, nahm er am Schlagerwettbewerb 1970 teil. Anlässlich des 20. Jahrestages der Gründung der DDR am 7. Oktober 1969 stand in Altenburg Horst Salomons Lustspiel „Ein Lorbaß“ auf dem Spielplan mit Jan Spitzer in der Titelrolle. Es war seine Idee, das an vielen Theater gern gespielte Gegenwartsstück als Musical auf Bühne zu bringen. Er übernahm Komposition und Arrangement. Was ihm in gewisser Weise später „auf die Füße fallen“ sollte.

Nach seinem 18monatigen Wehrdienst bei der NVA in Leipzig ist er im November 1971 ans Landestheater Halle gewechselt. Inzwischen mit seiner Jugendliebe aus Sangerhausen verheiratet und Vater der zweijährigen Juschka, hatten sie in Halle eine Wohnung bekommen. Regisseur Horst Schönemann inszenierte 1972 Ulrich Plenzdorfs Die Leiden des jungen W.. Jan Spitzer hätte gern die Titelrolle gehabt. Sein Pech: Horst Schönemann hatte von seinem Erfolg als Komponist und Sänger gehört und wollte von ihm lieber die Bühnenmusik. Die Figur des aufsässigen 17jährigen Ausreißers Edgar Wibeau, der seine Lehre abbricht, einer unglücklichen Liebe verfällt und am Ende tödlich verunfallt, bekam Reiner Straube.

Für die Rolle des Edgar Wibeau in der Hallenser Theateraufführung „Die neuen Leiden des jungen W.“ war Spitzers Ausstrahlung zu westlich elitär, er wirkte nicht proletarisch © Tassilo Leher

Tatsächlich ging Jan Spitzer die Rolle jedoch verlustig, die genau seins gewesen wäre, weil ihm das Proletarische fehle, er wirke zu westlich elitär, klärte ihn die Dramaturgin auf. Er musste lächeln, als er das erzählte. Es wäre für ihn kein Akt gewesen, beides zu tun, zu spielen und die Musik für das Stück zu schreiben. Neidlos habe er damals anerkannt, dass Reiner Straube die Figur perfekt spielte, urwüchsig, komisch. Eigentlich, meinte er in unserem Gespräch, sei das ein Filmthema gewesen, die Geschichte aber für die DDR zu provokativ, zu gesellschaftskritisch. Dass in der Republik über den Umgang mit jungen Menschen, die sich die Freiheit nehmen, anders leben zu wollen, sich nicht in das soziale Gefüge einzupassen, heiß diskutiert wurde, ließ sich nicht verhindern. 1976 wurde Plenzdorfs Drehbuch in der BRD verfilmt.

Einmal noch schrieb Jan Spitzer für ein Bühnenstück die Musik. Er war 1973 mit Regisseur Christoph Schroth ans Staatstheater Schwerin gegangen. Sie planten, „Romeo und Julia“ richtig groß aufzuziehen, mit ihm als Mercuzio. Das daraus nichts wurde, bedauerte der Schauspieler schon. Doch eine „Riesenrolle“ in der Verfilmung von Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland“ zu spielen, war ein größerer Reiz. Mit ätzender Schärfe beschreibt Mann den Berliner Kulturbetrieb und die dekadente Schickeria der 1890er Jahre.

Erwin Geschonneck in der Rolle des Bankiers Türckheimer und Jan Spitzer als talentfreier Provinzliterat Andreas Zumsee 1974 in der Fernsehverfilmung von Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland“ © DDR-Fernsehen/Helmut Bergmann, Repro: André Kowalski

Der mittellose und wenig talentierte Provinzliterat Andreas Zumsee findet durch Beziehungen und Glück im Salon des reichen Bankiers James Louis Türkheimer sein Schlaraffenland. Protegiert und finanziell von dessen Ehefrau unterstützt, steigt er in der Gesellschaft hoch auf und wird am Ende von ihr zu Fall gebracht. Eine Figur, die von Jan Spitzer in ihrer Selbstüberschätzung, Arroganz und Eitelkeit überzeugend gezeichnet wird. An seiner Seite Marylu Poolmann, Katharina Thalbach, Erwin Geschonneck und Jaecki Schwarz. Der Preis dafür, dass ihn das Theater für den Film freigab, war eine Bühnenmusik für Romeo und Julia“. Er hat sie im Zug von Schwerin nach Berlin komponiert und die Lieder eingesungen. Stolz erzählte er mir, dass er nach so vielen Jahren manchmal noch Anfragen für diese Musik bekommt, aber leider die Bänder nicht mehr habe.

So sehr es ihm auch Spaß machte, zu komponieren und zu singen, ab Mitte der 70er Jahre konzentrierte sich Jan Spitzer auf die Schauspielerei. Er passte mit seiner Wandelbarkeit in viele Schubladen. Besonders wohl hat er sich in der Abteilung Kinderfilm und Märchen gefühlt. „Die Drehbücher hatten eine hohe Qualität, sprachlich und szenaristisch. Was man heute selten findet“, bedauerte er.

Der kleine Philipp (Andij Greissel) wünscht sich eine Flöte. Der Vater (Jan Spitzer) geht mit ihm in eine Musikalienhandlung. Der Verkäufer schenkt ihm ein ganz besonderes Instrument. © DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Der bekannte Kinderfilmregisseur Rolf Losansky besetzte ihn 1975 in seinem zauberhaften Kinderfilm „Philipp, der Kleine“, nach der Erzählung von Christa Kožik. Warmherzig und zärtlich spielt Jan Spitzer den alleinerziehenden Vater, der als Lokomotivführer arbeitet und seinen Sohn nachts oft allein lassen muss. Eine Situation, in die sich der mittlerweile zweifache Vater gut hineinversetzen konnte. Tochter Johanna-Julia hatte gerade das Licht der Welt erblickt. Der 28jährige liebte seine Kinder sehr. Doch wie der Lokomotivführer war er für sie häufig ein abwesender Vater.

140 Vorstellungen gab er in der frivolen Show „Ständig unanständig“ in der Kleinen Revue des Friedrichstadpalastes als Ovid, hier mit und Hildegard Alex als Venus

Der Beruf habe sein Privatleben oft torpediert, erzählt er. Die Ehe hielt den häufigen Trennungen nicht stand. „Wir haben uns getrennt, es tat weh.“ Nach dem ersten Schmerz empfand er die Zeit des Ungebundenseins schön. „Da kam das Gefühl des wieder Freisein auf, man hat alles neu empfunden.“ Auch seine zweite Beziehung ging auseinander. Er kam 1983 von viermonatigen Dreharbeiten für die Verfilmung von Anna Seghers Erzählung „Überfahrt“ in Brasilien und Argentinien zurück, als ihn kurz darauf seine Lebensgefährtin verließ. Sie war sehr jung, hatte andere Lebensziele als er. „Sie wollte unbedingt in den Westen, ich nicht. Sie hat geheiratet und ist kurz vor der Wende mit ihrem Mann und unserer Tochter ausgereist.“ Die 1980 geborene Emma hat wie ihre Halbgeschwister das Schauspielergen ihres Vater geerbt. Sie spielte als Teenager in einigen Filmen mit. Inzwischen lebt sie in Spanien und arbeitet als Übersetzerin.

Jan Spitzer spielt den ältesten Sohn des Siedlers John Ruster (Kurt Böwe ), der mit seiner Familie 1756 in Nordamerika Indianerland besiedelt. Im Wald von Eiche-Golm mussten die beiden echte Rodungsarbeiten durchführen Foto: Screenshot © DEFA-Stiftung/Otto Hanisch

In Jan Spitzers Filmbiographie finden sich nur wenige Nebenrollen. Wenn ihm das Drehbuch gefiel, nahm sie gern an. Der Grund unseres Treffens damals im Juli 2012 war Kinderfilm Blauvogel“, die Geschichte des neunjährigen Sohnes weißer Siedler 1756 in Nordamerika, der von Irokesen geraubt wird. Neben Kurt Böwe, Jutta Hoffmann, Marina Krogull spielt er den ältesten Sohn der Familie. Die DEFA hatte ihn für diese Rolle aus dem Sommerurlaub in Kühlungsborn geholt. „Das war eine echte Überraschung. Ich habe dieses Buch als Kind geliebt und mich sehr gefreut, dass Ulrich Weiß mir diese Rolle gegeben hat.“ Schmunzelnd erzählt er von den Rodungsarbeiten zu Beginn des Films. „Kurt Böwe und ich haben ziemlich große Flächen wirklich gepflügt und im Wald von Eiche-Golm Bäume gefällt, so wie man es damals gemacht hat. Ulrich Weiß war sehr auf Authentizität bedacht“.

Der größte Teil des Abenteuerfilms entstand in Rumänien. „Man fuhr über eine Stunde in die Berge. Das war eine kurvenreiche Strecke. Der Fahrer fuhr wie ein Kamikaze. Ich habe noch nie so geschwitzt bei einer Autofahrt“, lässt er die Szenen noch einmal Revue passieren. Die Bedingungen im Land waren kompliziert und die Kontrollen an den Grenzen streng. Fast wären vielen Meter Negativmaterial, das Jan Spitzer beim Rückflug im Gepäck hatte, vom Zoll vernichtet worden. „Trotz eines offiziellen Begleitschreibens wollte man meinen Koffer durchleuchten“, erzählt er. Es konnte verhindert werden. Der Film machte Furore bei internationalen Kinderfilmfestivals.

Schäfer Konrad will um die Prinzessin freien und löst mit Hilfe seiner Zauberflöte alle Aufgaben, die sie stellt ©MDR/DRA/Klaus Mühlstein

Ein wunderschöner Märchenfilm ist „Der Hasenhüter“, den Ursula Schmenger mit Jan Spitzer 1976 drehte. Sein Schäfer Konrad ist ein gewitzter, fröhlicher Bursche, der erkennt, dass Reichtum nicht das Erstrebenswerte im Leben ist. Auch in Wolfgang Hübners Adaption des Grimmschen Märchens „Gevatter Tod“ ist seine Figur, der Medicus Jörg, ein Sympathieträger. Man ist bei ihm, wenn er den Tod überlistet und das Leben eines kleinen Jungen rettet. Doch er lässt sich verführen, fällt seiner Selbstüberschätzung anheim.

Jan Spitzer als intelligenter, sich aber selbst überschätzender Medicus Jörg 1980 im Märchenfilm „Gevatter Tod“ Foto: screenshot ©DEFA-Stiftung/Karl-Ernst Sasse

Das Märchen erzählt, wie ein armer Bauer in der Zeit der Pest einen Paten für sein 13. Kind sucht. Er nimmt den Tod, weil er ihm gerecht erscheint. Er sei zu allen gleich, begründet es der Vater, der zuvor Gott und Teufel abgelehnt hatte. Der Tod öffnet dem Sohn die Türen zum Studium der Medizin an italienischen Universitäten. Als er dem Bürgermeister, der an der Pest erkrankt ist, vor dem Tod rettet, indem er seinen Paten überlistet, steigt er auf in die Bürgerschaft. Er wird selbstgefällig und hintergeht den Tod ein weiteres Mal, obwohl ihn dieser gewarnt hat. Arroganz und schließlich die Verzweiflung, dass er damit dem kleinen Jungen das Leben genommen hat, zeigt Jan Spitzer subtil. Gegen das Klischee vom klapperdürren Sensenmann besetzte Regisseur Wolfgang Hübner diese Rolle mit dem freundlich daherkommenden lebensprallen Dieter Franke. Das Märchen scheint mir eher für Erwachsene gedacht denn für Kinder, sowohl von der mittelalterlichen anmutenden Sprache her als auch dem tiefen philosophischen Hintergrund.

Jan Spitzer als Rittmeister von Rosen mit der polnischen Schauspielerin Marzena Trybała als Gräfin Cosel, die einflussreiche Mätresse August des Starken, in dem 1987 entstandenen zweiten Teil des sechsteiligen Fernsehfilms „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ © DDR-F/Siegfried Skoluda, Wolfgang Kroffke, Repro: André Kowalski

Immer waren es Filme großartiger DEFA-Regisseure, die Jan Spitzers Karriere befördert haben. Wie Hans-Joachim Kasprziks dreiteiliger Fernsehfilm „Abschied vom Frieden“ . Offensichtlich hinterließ der jnunge Schauspieler in seiner Nebenrolle einen Eindruck, der ihm zehn Jahre später in Kasprziks sechsteiligem Fernsehroman „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ die Rolle des attraktiven Rittmeisters von Rosen einbrachte. Mit seiner Hilfe versucht Gräfin Cosel letztmalig aus ihrer Haft auf Burg Stolpen zu fliehen. Die Filme wurden sogenannte Straßenfeger.

Autor und Regisseur Fritz Bornemann übertrug Jan Spitzer die Hauptrolle in dem bereits erwähnten Fernsehfilm „Überfahrt nach Anna Seghers gleichnamiger Erzählung, der 1983/84 in einer Koproduktion des DDR-Fernsehens mit Kuba entstand. Es ist die Geschichte des Erfurters Ernst Triebel, der zu unterschiedlichen Zeiten drei Seereisen von Deutschland nach Brasilien unternommen hat. Eine interessante Aufgabe für Jan Spitzer, der sich hier vom 14jährigen bis zum 50jährigen wandelt.

Jan Spitzer als Ernst Triebel nach dessen zweiter Reise mit Heidrun Welskop als seine Ehefrau Hertha © DDR-F, Repro: André Kowalski

Als Schuljunge flüchtet Triebel 1938 mit seinen Eltern in das südamerikanische Land, kehrt 1946 in die „Ostzone“ nach Deutschland zurück und begleitet 1951 als Portugiesisch-Dolmetscher einen Leipziger Wissenschaftler zu einer Ausstellung nach São Paulo. Die dritte Reise führt ihn in den 70er Jahren als promovierten Tropenmediziner nach Brasilien. Das Bindeglied für die Reisen ist Triebels Suche nach seiner Jugendliebe Maria Luisa. „Wir waren vier Monate mit einem Frachter der DSR unterwegs, mussten für die Dreharbeiten in Brasilien und Argentien auch an Land gehen“, erinnerte sich Jan Spitzer. Was er dort erlebt hat, hinterließ bei dem damals 37jährigen beklemmende Eindrücke.

Jan Spitzer als Friedrich Engels und Jürgen Reuter als Marx 1978 in der TV-Serie „Marx- und Engels – Stationen ihres Lebens“ © Waltraut Denger/FF.dabei

Es ist eine lange Liste der Filme, in denen Jan Spitzer bis zum Ende der DDR spielte. Nicht vergessen sei hier „Bürgschaft für ein Jahr“, der Fernsehmehrteiler „Broddi“ und die TV-Serie Marx und Engels –Stationen ihres Lebens“. Eine neue Weiche stellte die Wende für seine berufliche Laufbahn. Er verlegte sich aufs Synchronisieren. „Ich habe die Schauspielerei gern gemacht, aber es kamen keine Rollenangebote mehr mit künstlerischen Anspruch. Er drehte Episodenrollen in den Serien Klinik am Alex“, Für alle Fälle Stefanie“ und 2011 bei Bernd Böhlich einen letzten guten Film, Niemand ist eine Insel“ mit Iris Berben. Auf eine Alterskarriere vor der Kamera hat er 2012 nicht mehr gehofft. Das sah er ganz realistisch.

Karriere machte er nach der Wende als Synchronsprecher. Eine Arbeit, die auch wieder Ruhe in sein bis dahin unstetes Leben brachte. Er hatte Zeit für seine neue Familie. Im Sommer 1980 hatte er im Berliner Künstlerklub „Die Möwe“ die 23jährige Schauspielerin Elke Winter kennengelernt. Anfangs waren es Zufälle, die sie sich immer wieder mal begegnen ließen. Beide waren damals noch verheiratet. Dann gingen die Ehen auseinander. Aus den Zufällen wurden Absichten. „Wir haben Ende der 80er Jahre geheiratet“, erzählt sie mir in unserem Gespräch wenige Tage nach dem Tod ihres Mannes. Diese Liebe machte den Schauspieler glücklich.

Elke Winter-Spitzer 1986 als Lissi Eisermann im Polizieruf 110: Parkplatzliebe“ © DFF

1990, er war inzwischen 43 Jahre, wurde Jan Spitzer noch einmal Vater. 1996 hörte seine Frau als Schauspielerin auf. „Es war eine schwierige Zeit für diesen Beruf, vor allem für Frauen ab Vierzig. Ich brauchte Regelmäßigkeit und habe als Theaterpädagogin am Schiller-Gymnasium Potsdam darstellendes Spiel unterrichtet.“ Die letzten Lebensmonate des Schauspielers haben ihr viel abgefordert. Als sie im Juli das Rentenalter erreichte, gab sie ihre Arbeit auf. „Jan brauchte mich rund um die Uhr.“ Ihr gemeinsamer Sohn Maximilian folgte dem Weg des Vaters. Schon als Zehnjähriger sprach er seine ersten Synchronrollen, absolvierte dann aber nach dem Abitur nicht die Schauspielschule, sondern machte an der Medienakademie AG Berlin seinen Bachelor für angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaft. Der heute 32jährige arbeitet unter anderem als Journalist, ist hauptsächlich aber als Synchronsprecher tätig . Wenn man ihn hört klingt er wie sein Vater.

Jan Spitzer mit Kathrin Saß 1981 in dem DEFA-Film „Bürgschaft für ein Jahr“@DEFA-Stiftung/Waltraud Patheneimer

Wie diese hohe Kunst funktioniert, hat Jan Spitzer bei DEFA-Synchron Take für Take erlernt. Bald galt er in der DDR und später im Westen als einer der besten Synchronsprecher. „Die Kollegen aus dem Westen waren tolerant, sie erkannten an, dass ich das Metier beherrsche.“ Ehrfurcht beschlich ihn, als er das erste Mal mit den bekannten Synchronsprechern Arnold Marquis, die Stimme von John Wayne, Kirk Douglas und Robert Mitchum, und Michael Chevalier, die Stimme von Charles Bronson und Omar Sharif, zusammen vor dem Mikrofon stand.

Er holte alles Potenzial aus seiner enorm vielseitigen Stimme heraus. „Ich habe von Rechtsanwälten, feinsinnigen Typen über die übelsten Ganoven bis hin zum sprechenden Klodeckel in einem Comic schon alles gespielt“, umschrieb er seine Rollenprofile. Anfang der 1990er gab amerikanischen und britischen Kollegen wie Michael Rudder in „Krieg der Welten“, Robert O’Reilly in „Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert“ oder Tim Curry in der Zeichentrickserie „Mighty Ducks – Das Powerteam“ seine Stimme.

Am 23.März 2021 gab Jan Spitzer der Sprecheragentur „Die Media Paten“ ein Interview zu seiner Karriere als Synchronsprecher. Es war sein letzter Auftritt. Am 4. Novmeber 2022 ist er einer schweren Krankheit erlegen Foto: Screenshot/Die Media Paten

Chris Cooper („American Beauty“, „Die Bourne Identity“), Ted Levine und Robert Foxworth sind ebenfalls mit seiner Stimme bei uns zu hören. Geradezu geschwärmt hatte Jan Spitzer von den Zeichentrickserien, in denen er den bekannten kanadischen Sprecher Maurice LaMarche synchronisieren durfte. „Alles dreht sich um zwei Labormäuse, den etwas einfach gestrickten Pinky (LaMarche/Spitzer) und den großköpfigen, mit Intelligenz versehenen Brain, die versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Sich hier an LaMarche zu messen, hat mir unglaublichen Spaß gemacht“, erinnerte sich Jan Spitzer und gab eine stimmliche Kostprobe.

Von 1999 an hat er in allen deutschen Synchronfassungen die Rollen des amerikanischen Schauspielers J. K. Simmons übernommen. Filme wie das Sportdrama „Aus Liebe zum Spiel“ (1999) mit Kevin Costner, der Tragikomödie „Up in the air(2009) mit George Clooney, der britische Thriller Schneemann“ (2017) mit Michael Fassbender oder der Action-Thriller 21 Bridges“ (2020) stehen in den Wiederholungsprogrammen des deutschen Fernsehens. Die Kriminal-Serie Goliath und die Science-Fiction-Fantasy-Komödie „Ghostbusters: Legacy waren 2021 Jan Spitzers letzten Synchronarbeiten als J. K. Simmons.

In den 30 Jahren als Synchronsprecher gab Jan Spitzer 2387 Rollenfiguren mit seiner Stimme Charakter und Emotionen. Am 4. November 2022 ist der Schauspieler nach längerer Krankheit verstorben.

Abschied von Peter Reusse Der Eismann ist gegangen

Tagelang schob ich es vor mir her, diesen Text zu schreiben. Es fällt mir schwer, weil ich Peter Reusse so lebendig im Sinn habe. Gerade so wie hier auf dem Foto. Es entstand im Juni 2015. Ich sollte etwas über die DEFA-Filmkomödie „Ein irrer Duft von frischem Heu“ schreiben. Der Film gehört zu den besonders beliebten DEFA-Produktionen und ist die erste Adresse, die fast jeder nennt, fragt man nach Filmen mit Peter Reusse. Eine Figur, wie maßgeschneidert für den damals 35jährigen, unangepasst, ein bisschen schräg, so wie sich Reusse auch selbst beschrieb.

„Ein irrer Duft von frischem Heu“ 1976/77: Pastor Himmelknecht (Martin Hellberg) und Parteisekretär Mattes (Peter Reusse) liegen ständig im Streit. Der Kirchenmann glaubt nicht an die Wunderkräfte, die Mattes zugeschrieben werden © DEFA-Stiftung/Klaus Zähler

Das lag ganz im Sinne des Autors Rudi Strahl, dessen gleichnamiges Bühnenstück 1975 im Maxim Gorki Theater ein Publikumserfolg war. Die DEFA griff zu, und Regisseur Roland Oehme verfasste das Drehbuch für den 1976/77 produzierten Film unter Mitwirkung des Autors. Auf sehr komödiantische Weise trifft Kirche auf Partei – oder umgekehrt. Der Pastor sitzt in den Parteiversammlungen, der Parteisekretär sagt „Grüß Gott“. Ihre Info-Kästen für Mitteilungen an die Dorfbewohner stehen nebeneinander – auf Augenhöhe. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Peter Reusse kannte das Bühnenstück übrigens nicht.

Am 11. Juni 2022 holte ein heimtückischer Krebs den Schauspieler aus einem Leben, das er mir so beschrieben hat: „Es gibt gute Phasen. Glück ist das Luxuriöseste, das einem Menschen widerfahren kann. Wenn man ganz ehrlich ist, tief in sich hineinhört, ist das nicht so viel. Die Momente sind rar.“ Dahinter stehen drei Jahrzehnte Film, Theater, Hörspiel, Schallplatte, Synchron, die 1993 mit einem unerklärlichen Blackout bei einer lockeren Theaterprobe zu O’Neills Stück „Der Eismann kommt“ endeten. Danach hat Peter Reusse nie wieder eine Bühne betreten, keinen Film mehr gedreht, kein Hörspiel aufgenommen, nicht synchronisiert. Ende. Aus. Im Februar war er 81. Jahre alt geworden. Ich habe mit ihm telefoniert, ihm wie seit Jahren gratuliert. „Ach, die Beuchlerin“, freute er sich, „schön, dass Sie an mich denken.“

Peter Reusse 1997 zu Hause in der Berliner Geschwister-Scholl-Straße. In seiner Zeit als Schauspieler war die Malerei sein „Feierabendbier“ nach den Theatervorstellungen. Nach seinem Zusammenbruch 1993 wurde sie neben dem Schreiben Teil seines neuen Lebens ohne Film und Bühne © Boris Trenkel

Seit unserem ersten Interview an einem Samstagnachmittag im November 1997 nannte er mich so. Es war seine Art eines lockeren, gleichzeitig respektvollen Umgangs. Ich weiß nicht mehr genau, welches Thema ich in unserem letzten Telefonat angesprochen hatte. Ich glaube, ich erzählte, wie mich das unsägliche Gendern auf die Palme bringt. Er ging nicht darauf ein: „Komm“, lass uns den Tag nicht mit Misslichkeiten verderben.“ Es wunderte mich, weil wir sonst immer über Aktuelles unsere Meinung austauschten. Egal, ob zu Ostern oder Weihnachten, wann immer wir telefonierten. Heute verstehe ich seine Reaktion. Er brauchte seine Kraft, um der schon weit fortgeschrittenen Krankheit so lange es geht zu widerstehen. „Er wollte keine Therapie. Da hat er sich mit seinem sturen Charakter durchgesetzt. Ich bin so stolz auf ihn“, erzählte mir seine Frau. Sigrid Göhler hatte mich zwei Tage nach seinem Tod angerufen. Ich hatte gezögert, sie so kurz danach anzurufen. „Es ging mir ähnlich“, sagt sie und lacht, „ich habe den Hörer eben gerade erst noch einmal aufgelegt. Aber ich wollte es Ihnen persönlich sagen, auch Peters wegen.“ Sie erzählt ruhig. Meine Bedrückung schwindet. Drei Monate hatten die beiden nach der Diagnose noch Zeit miteinander. Die Schauspielerin war die starke Frau an seiner Seite. „Mine ist mein Halt, mein Mittelpunkt“, beschrieb er mir ihre Beziehung, die seit 1961 anhielt.

„Das Rabauken-Kabarett“ wurde 1960 in einer thüringischen Schiefergrube gedreht. Es geht um eine Lehrlingsbrigade, die mit ihren Eskapaden über die Stränge schlagen. Die 18jährigen sind disziplinlos, brechen im Betriebskonsum ein und klauen Schnaps. Peter Reusse ist hier in seiner ersten Filmrolle zu sehen Foto: © DEFA-Stiftung/Karin Blasig, Jost Dost

Aufgefallen ist mir Peter Reusse, da war ich 13 Jahre. Ich sah ihn in dem 1960 gedrehten DEFA-Film „Das Rabauken-Kabarett“. Für den damals 19-jährigen Studenten der Filmhochschule war der Lehrling „Freitag“ die erste Filmrolle. Jungenhaft, lässig, aufmüpfig, sympathisch. Diese Attribute sind ihm immer geblieben. Er war eine Frohnatur, besser ein fröhlicher Mensch, der gern alcht und herumalbert. Und nicht weniger war er jemand mit einer großen Phantasie, fähig zu philosophischen Gedanken und großem Ernst. „Ich habe meinen Schauspielerberuf sehr ernst genommen. Bin immer volle Pulle gefahren, habe mich sehr verbraucht, da ich das Produkt war. Ein komplizierter Prozess. Schon erstaunlich, wie man das hinkriegt, Betroffener in jeder Beziehung zu sein. Jetzt mache ich zum ersten Mal, was ich wirklich will, bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ich bin Einzelkämpfer. Das ist gewöhnungsbedürftig“, konstatierte er in unserem Gespräch damals im Herbst, vier Jahre nach seiner „psychischen Attacke“. Sie überfiel ihn so unerwartet wie nur irgendwas, hat ihn aus seiner Bahn geworfen, auf der er unermüdlich unterwegs gewesen war. Mehr oder weniger zufrieden.

Nach langer Pause hatte er am Deutschen Theater endlich wieder eine gute Rolle bekommen, den Hickey in O’Neills Stück Der Eismann kommt“. Er mochte das Stück. Die Arbeit machte Spaß, er war selig wie ein Kind. Glücksmomente. Bei einer lockeren Sprechprobe passierte das, wofür er nie eine wirkliche Erklärung fand. Alles lief wie am Schnürchen. Plötzlich war der Text weg. Verschwunden ins Nichts. War auch nicht wieder hervorzuholen. „Alles um mich herum war wie in Watte gepackt. Ich wollte reden. Aber irgendjemand hatte bei mir den Ton abgestellt“, beschrieb er mir seinen Zustand damals.

Es fiel ihm auch nach 22 Jahren noch schwer, über seine Angstzustände zu reden ©Nikola Kuzmanic

Angstzustände, Depressionen gegen die er allein nicht ankam. Es genügte nicht, sich selbst zu ermuntern: Du bist kerngesund, glücklicher Familienvater, noch immer verliebt in deine Frau, hast 80 Filme gedreht, 90 Hörspiele und zig Platten aufgenommen, an den besten Theatern des Landes gespielt – du hast keinen Grund zum Lamentieren. Er war ganz unten, auf der Flucht vor allem und jedem. Als er sich bei Selbstmordgedanken ertappte, begab er sich in der Bonhoeffer-Nervenklinik in psychiatrische Therapie. Fünf Monate seelische Schwerstarbeit. Ans Licht kamen viele Anlässe, die ihren Anteil daran hatten, dass sein Gehirn den Aus-Knopf drückte. Verdrängte Konflikte, nicht ausgelebter Schmerz, überspielte Trauer, berufliche Enttäuschungen. In der Summe einfach zu viel.

Gehalten und immer wieder aufgefangen, wenn es nach unten ging, hat ihn Mine, wie er seine Frau liebevoll nannte. Der Kosename blieb übrig von ihren Trauringen, auf denen eingraviert war: „Du bist min, ich bin din“, als Peter Reusse seinen Ring bei einem Autounfall verlor. Der attraktive jungenhafte Typ und das ernsthafte junge Mädchen hatten sich 1959 als Kommilitonen auf der Filmhochschule kennengelernt, gingen ins selbe Studienjahr. Bei gemeinsamen Synchronarbeiten für den bulgarischen Film „Erste Liebe“ 1961 sind sie sich nähergekommen, wie mir die Schauspielerin bei einem späteren Interview erzählte. „Wir mussten immer ein paar Tage nach Weimar ins Synchronstudio und übernachteten im Hotel Elephant. Wir konnten nicht verhindern, dass wir uns sympathisch waren.“ Im Januar 1965 heirateten sie, im Juni kamen ihre Zwillinge Bettina und Sebastian zur Welt.

Peter Reusse erzählte mir bei den Fotoaufnahmen, wie ihn seine Schiffermütze bei den Dreharbeiten für den DEFA-Film „Ein irrer Duft von frischem Heu“ das Leben gerettet hat. Rechts seine Frau Sigrid Göhler © Nikola Kuzmanic

Peter Reusse war jemand, der schwer loslassen konnte. „Ich bin ein stetiger Mensch, was ja allein schon an der biblischen Dauer seiner Ehe zu merken ist. Hopp oder topp, wie das jetzt im Filmgeschäft läuft, ist nicht meins.“ Er hat viel begraben müssen nach der Wende, in die er sich mit großem Engagement geworfen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er politisch aktiv geworden. Gemeinsam mit Kollegen des Deutschen Theaters hatte er die große Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz organisiert, hat sich für die Öffnung der Stasi-Archive eingesetzt. Es sollte anders werden. Offener, luftiger. „Am nervigsten empfand ich das Überschaubare, das Abgesteckte, das Geordnete in der DDR“. Die Visionen, die Hoffnung, das starre System zu reformieren, Freiheiten für die Menschen im eigenen Land zu schaffen, zerplatzten wie Seifenblasen, als der massenhafte Schrei nach der D-Mark zur Übernahme des westdeutschen Gesellschaftssystems führte. Mit der erzwungenen Unterordnung unter das neue Gesellschaftssystem ist dem beliebten Schauspieler weggestorben, was ihm 25 Jahre Heimat gewesen war – Rundfunk, Film, Fernsehen, Schallplatte und mit ihnen Menschen, zu denen er gehörte.

In einem DEFA-„Zeitzeugengespräch“ 2014 erinnert sich Peter Reusse an Dreharbeiten seiner wichtigsten Filme. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer zu Hause auf dem Kolberg. Die Keramikfigur ist eine seiner künstlerischen Arbeiten, die er nach seinem Ausstieg aus dem Schauspielerberuf 1993 geschaffen hat Screenshot/DEFA-Stiftung, Katrin und Ferdinand Teubner

Die Therapie war nur der erste Schritt gewesen. „Ich brauchte eine andere kreative Arbeit, um so schnell wie möglich zurück in ein normales Leben zu finden.“ Den Schauspielerberuf legt man nicht ab wie eine alte Jacke. Gerade, wenn man ihn so intensiv gelebt hat wie Peter Reusse. Dorthin zurück konnte und wollte er nicht mehr. Die Alternative war das Schreiben. Er wusste, das konnte er. Als junger Schauspieler hatte er sich unter dem Pseudonym Sascha Rüss mit Interviews, Geschichten, Reiseberichten, Zeichnungen und Fotos von Theatertourneen Geld dazu verdient. „Als Absolventen bekamen wir 425 Mark im Monat, da hat’s wirklich richtig an Geld gemangelt.“ Er schrieb für die LDZ – Zentralorgan der LDPD –, das „Neue Leben“ und das Magazin“. Bewegte sich mit seinen Geschichten auf einer Strecke, die er für „ungefährlich“ hielt. Die Selbstzensur funktionierte nicht immer. „Knock out“ titelte er eine kleine Erzählung fürs „Neue Leben“, die noch dazu frivole Liebesszenen enthielt. Er bekam einen Rüffel für einen ominösen Kerl, den keiner kannte.

1956. Peter Reuse ist in der 9. Klasse an der Weinbergschule Kleinmachnow. Hier wird er gerade für seine Rolle als Puck in der Schulaufführung „Der Sommernachtstraum“ geschminkt Foto: Privatarchiv Peter Reusse

Eigentlich wollte Peter Reusse Kunst studieren. Er hatte großes Talent fürs Zeichnen und Malen. Die Zulassung der Kunsthochschule Weißensee kam nur etwas zu spät. Da hatte er sich schon für die Schauspielerei entschieden. Nach einer Schulaufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum“, 1956, in der er den Puck spielte, fand seine Deutschlehrerin, er sei ein „Jahrhunderttalent“ und lancierte seine Bewerbung an die Filmhochschule Babelsberg. Und sie hatte gut daran getan.

Gleich nach dem Abitur 1959 begann er mit dem Studium in Babelsberg. Weil die Schauspielstudenten damals gern von Film und Fernsehen engagiert wurden, blieb Peter Reusse der Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee erspart. 1961 gab es einen Zwischenfall. Die Studenten kamen aus den Ferien. Alle wetterten gegen die Mauer, fühlten sich als starke Opposition. Zur Armee wollte keiner. Doch vor die Wahl gestellt, sich für den Dienst bei der NVA bereitzuerklären oder die Schule verlassen zu müssen, war es aus mit dem Widerstand. Einzig Peter Reusse weigerte sich. Als man ihn exmatrikulieren wollte, schrumpfte auch seine Standhaftigkeit. Er wollte ja Schauspieler werden. Das Schicksal, sprich: die DEFA-Produktionsleitung, meinte es gut mit ihm. Jedes Frühjahr bekam er eine neue Besetzungskarte. So konnte er auch nach der Einführung der Wehrpflicht 1962 nie eingezogen werden. War ein Film erst einmal angefangen, ließ sich ein Darsteller nicht einfach ersetzen. Er hatte eine lange Glücksphase.

Peter Reusse als Anton Dschick und Manfred Krug als Ingenieur Tom in „Beschreibung eines Sommers“, 1962 Screenshot/© DEFA-Stiftung, Hans Heinrich

Nach dem „Rabauken-Kabarett“, das Regisseur Werner W. Wallroth 1960 mit den Studenten des ersten Studienjahrs der Filmhochschule inszenierte, folgten darauf gleich vier wichtige Filme, in denen Peter Reusse mitspielte: Er war ein Indio in dem fünfteiligen Fernsehfilm Das grüne Ungeheuer“ (1962), einer der freiwilligen jungen FDJler auf der Großbaustelle Wartha in „Beschreibung eines Sommers“ (1962), der unbekannte Kindsvater in „Monolog für einen Taxifahrer“ (1962). Der Kurzfilm wurde allerdings gleich aus dem Verkehr gezogen und erst 1990 gezeigt. Er diskreditiere und verfälsche das Bild der sozialistischen Gesellschaft, hieß es 1963 auf einer Beratung des Politbüros des ZK der SED mit Schriftstellern und Künstlern. Ein Loblied dagegen wurde auf den Jugendfilm von Rudi Kurz „Die aus der 12b“ (1962) gesungen. Peter Reusse mimt den windigen Lothar, der einen Mitschüler erpresst, ihm Westbücher zu besorgen, und von der Schule fliegen soll. Aber das Kollektiv setzt sich für ihn ein. In seinem Diplomjahr 1963 wird Peter Reusse von Frank Vogel in der Liebesgeschichte Julia lebt“ als deren Bruder Kalle besetzt.

Die aus der 12b“,1961: Lothar (Peter Reusse, l) wird von Reinhard (Justus Fritzsche) in die Mangel genommen. Er gesteht, dass er den Mitschüler Dieter erpresst hat © DEFA-Stiftung/Hans Bernd Baxmann

So brachte der junge Schauspieler nach seinem Abschluss an der Filmhochschule 1964 schon jede Menge praktische Erfahrungen mit in den Beruf. Regisseur Frank Vogel gab ihm die Hauptrolle in seinem Schwarz-Weiß-Film „Denk bloß nicht, ich heule“. Die Rolle des Oberschülers Peter Neumann, der mit seinen provokatorischen Scherzen ständig Ärger macht, und der schließlich in einem Aufsatz offen verkündet, dass er „die Republik nicht braucht“, sollte Peter Reusses „Knaller“ werden, damit wollte er starten. Gemeinsam mit „Das Kaninchen bin ich“ wurde der Film am Vorabend des 11. Plenums Mitgliedern des ZK der SED gezeigt. Beide Produktionen wurden – wie die gesamte DEFA-Produktion von 1964/65 verboten.

Nach seinem Rauswurf aus der Schule zieht Peter Neumann (Peter Reusse, r.) zu seiner Freundin Anne (Ann-Kathrein Kretzschmar) aufs Land und will sich dort aufs Abitur vorbereiten. Aber auch dort gibt es Konflikte. Annes Vater, LPG-Vorsitzender, ist gegen ihre Verbindung mit dem Republikverweigerer © DEFA-Stiftung/Jörg Erkens

„Dieser Film mit Peter Reusse in der Hauptrolle stellte unbequeme Fragen, führte einen Helden vor, wie man keinen haben wollte, eine extreme Situation. Dafür gab es das Prädikat: Besonders schädlich“, schrieb das „Neue Deutschland“ nach der Premiere von „Denk bloß nicht, ich heule“ auf der Bienale am 10. Februar 1990. Der Schauspieler selbst hatte damals gar nicht mitbekommen, dass der Film nicht ins Kino gekommen war. Peter Reusse hatte sein erstes Engagement am Theater in Brandenburg begonnen und den Fortgang aus den Augen verloren. „Das Irre ist, wir sind dann 1990 mit den Verbotsfilmen durch die ganze Republik getourt. Kurt Maetzig war dabei. Keiner konnte verstehen, was an dem Film so staatsgefährdend gewesen sein soll.“

Peter Reusse hat seine Rollen immer 1:1 genommen, wie er sagte. Ihm war daran, gelegen, seine Figuren in sozialer und gestischer Genauigkeit zu treffen. „Die Rolle war in meinem Kopf, wurde gelebt und dann gespielt, wie ich sie mir zurechtschnitt.“ Dafür beobachtete die Menschen, in deren Alltag seine Figuren angesiedelt waren. Man fand ihn auch in der Staatsbibliothek, wenn er sich auf eine historische Figur wie Peter I.“ vorbereitete. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit kamen die Rollen, die er spielte, auf diese Weise sehr nah an ihn heran. Auf einen Typ festlegen ließ sich Peter Reusse nicht, blieb als Schauspieler wandlungsfähig. Was ihm von Nutzen für die Theaterarbeit war. Sah man ihm im Fernsehen als EDV-Ingenieur, stand er im Deutschen Theater als Souffleur Nikita in Tschechows „Schwanengesang“ auf der Bühne.

„Familienbande“, 1982. Peter Reusse mit Roman Kaminski als die Brüder Markus und Frank Rabban © DEFA-Stiftung/Heinz Puhfahl

Vor allem das Fernsehen gab ihm viele Möglichkeiten, sich als Schauspieler zu profilieren. In Kriminalfilmen hatte er oft den Part zwielichtiger Gestalten und Ganoven. Meist waren es differenzierte Schicksale wie das des Westberliner Antiquitätenhändlers Markus Rabban in dem DEFA-Film „Familienbande“, die seine Spielkunst forderten. Nur nicht klischeehaft werden, war seine eigener Anspruch. „Der echte Gaukler ist nicht selbstzufrieden“, war so eine Aussage von ihm. Die von der DDR-Kunst geforderte schöpferische Ungeduld war für ihn nicht irgendein Terminus. „Das ist schon etwas, das in einem ruckelt und zuckelt.“ Mit den Jahren ist er immer besser geworden.

Peter Reusse als Wilhelm Thiele und Jenny Gröllmann als Minna 1983 in dem DEFA-Film „Es geht einer vor die Hunde“ Screenshot © DEFA-Stiftung/ Siegfried Mogel

Wie subtil er Charaktere erfassen und darstellen konnte, lässt sich gut anschauen in dem sozialkritischen Drama „Es geht einer vor die Hunde“, der 1983 nach dem einzigen Roman des Malers und Bildhauers Otto Nagel entstand. Die Handlung spielt 1924 zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Im Mittelpunkt steht das Schicksal des arbeitslosen Schweißers Wilhelm Thiele, der auf der Suche nach Arbeit durch widrige Umstände immer tiefer in das Milieu der Stadtstreicher gerät, und seiner Frau Minna. Eine tief berührende und realistische Wahrnehmung des Lebens im damaligen Berliner Wedding. Am Ende wirft sich Minna mit ihrem Baby vor einen Zug und Wilhelm wird von ihrem Exfreund, dem Gauner Emil, im Gefängnis erschossen.

Berlin 1947. Martin Stein (Peter Reusse) kommt aus sowjetischer Gefangenschaft nach Hause. Er findet seine Mutter (Lissy Tempelhof) und seine beiden jüngeren Brüder in einer Hinterhofwohnung. Screenshot © DDR-Fernsehen/Günter Eisinger

Eine ganz andere Richtung nimmt die Geschichte des Martin Stein in dem 1976 von Manfred Mosblech gedrehten dreiteiligen Fernsehfilm „Heimkehr in ein fremdes Land“. Hier spielt Peter Reusse einen jungen Wehrmachtssoldaten, der in einem sowjetischen Gefangenenlager die Grauen des Zweiten Weltkriegs überlebt hat. Er muss unter härtesten Bedingungen zwei Jahre in einem sibirischen Steinkohlebergwerk schuften. Mutlos und verbittert will er sein Leben beenden. Ein Mitgefangener verhindert das. Nach einem Gespräch mit dem Kommissar des Lagers, wird Martin nachdenklich. Er soll arbeiten, leben. Irgendwann geht es auch für ihn zurück in die Heimat, nach Deutschland. Als der in Breslau Geborene 1947 in das zerstörte und geteilte Berlin kommt, ist das nicht seine Heimat. Die Mutter und seine zwei Brüder mussten ihre Heimat Breslau verlassen und leben im Osten in einer kleinen Hinterhofwohnung. Martin muss sich zwischen zwei Welten entscheiden. Der der Schieber, die den neuen Staat hassen, und der derjenigen, die sich für den Neuaufbau engagieren. Unpathetisch zeigt Peter Reusse die innere Wandlung des Jugendlichen, der sich geschworen hatte, nie wieder eine Uniform anzuziehen. Doch als sein Freund, der alte Kommunist Hüttenrauch, bei dem er wohnt, ermordet wird, beschließt er, zur Volkspolizei zu gehen.

Ähnlich wie Martin sah sich Peter Reusse als Wanderer zwischen zwei Welten. Er erklärte es mir mit einem Blick auf seine Biografie. „Wir wohnten in Teltow-Seehof unmittelbar an der Grenze. Mein Vater arbeitete in Westberlin, er war promovierter Physiker. Ich ging vier Jahre im amerikanischen Sektor in Lichterfelde-Süd zur Schule. Für uns Kinder existierte die Grenze nicht. Es gab keinen Stacheldraht. Ich erinnere mich nur an ein paar Schilder. Wir spielten auf dem Feld Fußball, hatten unsere Abenteuer mit den Schiebern. Dann kam 1949 die Teilung in zwei Staaten. Und wir Kinder von hüben und drüben konnten nicht mehr miteinander spielen. Ich musste in die Schule nach Teltow. Als Kind verstehst du nicht, warum, was dort, wo du deine Freunde hast, plötzlich schlecht sein soll, fühlst nur einen Schmerz.“ Über die Hälfte seiner Sippe ging damals nach drüben. Auch der Vater blieb im Westen. Die Eltern ließen sich scheiden. Für den Sohn war das schwer zu verkraften, dass die Familie zerbrach, der Vater ihn, die Schwester und die Mutter verließ. Es hing ihm sein Leben lang nach. Blieb unaufgearbeitet. 1992 starb der Vater. Die Arbeit verhinderte, dass Peter Reusse Abschied an seinem Grab nehmen konnte.

Autogrammfoto von 1962 ©DEFA-Stiftung/Klaus D. Schwarz

Der Bau der Mauer 1961 war ein gravierender Einschnitt im Leben der Familie Reusse – wie bei vielen Leuten. „ Es passierte direkt hinter ihrem Haus. Wir standen dabei, als der Zaun gezogen wurde. Da war Feld und plötzlich das Ende. Es ging einfach nicht in den Kopf. Man war so verwirrt über den Vorgang. Ich hatte da ein echtes Problem. Es war ein rein menschliches, weit weg von Politik und Kommunismus. Ich konnte nicht nachvollziehen, wie man so etwas machen konnte.“ Dieses Gefühl saß wie ein Widerhaken in ihm fest, prägte seine politische Haltung. Fünf Jahre zuvor hatte Peter Reusse im Schulwettbewerb des Bezirks Potsdam für seinen kritischen Aufsatz „Unser Leben an der Grenze“ als Preis einen Fotoapparat „Perfecta“ bekommen.

„Ich habe mich nie zur DDR als Staat zugehörig gefühlt, ich habe hier gelebt, gearbeitet, hatte meine Beziehungen. Wir sind nie zu Demonstrationen gegangen, hängten keine Fahne aus dem Fenster. Aber ich hatte auch nie die Sehnsucht, Westdeutscher zu werden“, rekapitulierte er 1998 im Rückblick auf seinen Werdegang. War er „draußen“, mit dem Theater im Westen, hat er das kleine Land dennoch immer verteidigt. Den intimen Kontakt mit der Grenze hat Peter Reusse nie verloren. „Die Markierungen zwischen Ost und West funktionieren trotz schicker Glasbauten, ohne dass ein Schild dasteht. Ich bin ein Emigrant im eigenen Land. Heimat findet nur im Kopf statt“, konstatierte er.

Peter Reusse und Corinna Harfouch in der letzten DEFA-Produktion „Zwischen Zehlendorf und Pankow“, 1990/91, die von der Kritik als zu schwülstig und langatmig zerrissen wurde. Die kleinen Alltagsgeschichten kämen dabei unter die Räder. © DEFA-Stiftung/Otto Hanisch

Mit der der letzten Regiearbeit von Horst Seemann „Zwischen Pankow und Zehlendorf“, einem Ost-West-Familiendrama, das im Nachkriegsjahr 1953 spielt, endete Peter Reusses Karriere als DDR-Schauspieler. „Was danach kam, war nichts mehr, worin ich einen Sinn für mich als Schauspieler sah.“ Er hätte sich gern auf andere Weise einen neuen Weg gesucht. Aber so hat ihn Schicksals gezwungen, einen neuen Lebensanlauf zu nehmen und als Autor, Maler und Keramiker seine kreative Erfüllung zu finden. Letzteres als professioneller Dilettant – so seine Worte. Was er uns hinterlässt in seinen Büchern und Filmen sind Blicke in unsere vergangene Gegenwart.

Am 2. Juli 2022 hat die Familie den Schauspieler unter einer Kiefer im Friedwald von Hangelsberg beigesetzt.

Pavel Trávnicek wird im Märchenfilm „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ von dem Schauspieler Peter Reusse synchronisiert © DEFA-Stiftung/Filmstudio Barrandov /Jaromir Komarek

Ein Nachsatz:
Wenn in der Weihnachtszeit das beliebte DEFA-Märchen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ ausgestrahlt wird, und Prinz Pavel Trávniček nicht nur das Herz von Aschenbrödel erobert, sondern auch das der kleinen Mädchen, hat daran auch Peter Reusse seinen Anteil. Denn er ist die deutsche Stimme des tschechischen Schauspielers. So bleibt er unvergessen.

Chris Doerk – Acht Jahrzehnte auf dem Rad der Zeit

Das Rad der Zeit, es dreht und dreht und dreht
Und wir sind sprachlos
Dass die Zeit so schnell vergeht
Wenn man’s bemerkt
Ist es dann meistens schon zu spät
Träume bleiben Träume
Wehmut bleibt
Und schneller, immer schneller dreht das Rad der Zeit.

Wo ist die Zeit, die schöne, wo ist sie geblieben
Wir wollten soviel tun und ewig lieben
Wollten die Welt ein bisschen besser machen
gab wenig zu weinen, viel zu lachen
Doch die Zeit hat mit der Zeit davon so viel zerstört
was sind unsere Werte heut’ noch wert?

Das Rad der Zeit, es dreht und dreht und dreht…

Ein Blick auf das Bild und unweigerlich frage ich mich: Diese Frau will 80 sein? Aber Fakt ist Fakt. Am 24. Februar hat Chris Doerk ihr achtes Lebensjahrzehnt vollendet. Das Foto entstand vergangenen Sommer in Suhl auf dem Südthüringer SOS-Festival. „Es war unglaublich, wie sie das Publikum begeisterte. Und das waren nicht nur Fans, die sie von früher kannten“, schwärmte Fotograf Michael Reichel geradezu, als ich ihn um die Aufnahme bat. Die Sängerin war als Stargast eingeladen worden, denn man zeigte das DEFA-Musical „Heißer Sommer“. Wohl jeder, der in der DDR zu dieser Zeit Jugendlicher war, kennt die humorvolle Liebesgeschichte zwischen Stupsi und Kai aus dem Jahr 1968. Das Musical avancierte zum Kultfilm, nicht zuletzt wegen der Hauptdarsteller Chris Doerk und Frank Schöbel. Millionen DDR-Bürger schwärmten für das Gesangsduo, manche mehr für sie, manche mehr für ihn, und zusammen galten sie als das Traumpaar. Das spielten wir auf der Bühne auch noch, als die Liebe und unsere Ehe schon längst Risse hatte. Und das tat weh“, gibt Chris heute zu.

Chris Doerk und Frank Schöbel im DEFA-Filmmusical „Heißer Sommer“ 1967/68 © DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Lang ist es her. Das Rad der Zeit, es dreht und dreht und dreht, und wir drehen uns mit. Wenn man jung ist, sieht man keinen Grund, sich nach hinten umzuschauen, innezuhalten und zu reflektieren, was denn alles so passiert ist. Das ändert sich, je weiter man sich vom Anfang seines Lebens entfernt. Vor fünf Jahren erklärte mir Chris Doerk noch, dass sie nicht zur Nostalgie neigt, als ich sie fragte, ob sie denn ab und zu an ihre Kindheit und Jugend denke. Also ließen wir es damals sein, nachzugraben. Die Zeit dafür war für sie noch nicht gekommen. Als uns die Corona-Pandemie heimsuchte und Auftritte und Konzerte auch für Chris Doerk ausfielen, stellten sich die Rückblicke von selbst ein. „Da tauchten mit einem Mal Bilder aus Kinder- und Jugendjahren in meinen Träumen auf, Dinge, die ich längst vergessen glaubte“, sagt Chris. Sie begann an einem neuem Album zu arbeiten. Ein paar Tage vor ihrem 80. Geburtstag meldete sie sich bei mir – wie so oft – per What’sApp. „Ich habe die CD endlich fertig. Hör mal rein und sag mir, wie sie dir gefällt“, bat sie und schickte mir die Platte.

„Das Rad der Zeit“, Musik, Text und Gesang Chris Doerk

Es sind wunderbare Lieder, lyrisch, temperamentvoll, fröhlich und nachdenklich wie Chris selbst, voller Vitalität. Bis auf die kubanischen Lieder singt sie eigene Texte. Jeder für sich eine kleine Reminizenz an ihr Leben wie „Das Rad der Zeit“ oder „Träume mit gebrochenen Flügeln“.

Chris Doerk beim Internationalen Chansonfestival 1970 in Varadero Foto: privat

Ich erinnere mich, wie sie mir von dem internationalen Chanson-Festival 1970 in Kuba erzählt hat. Ihrem ersten Aufenthalt auf der Insel, die für viele DDR-Bürger ein Sehnsuchtsort war. Man konnte Reisen dorthin über das DDR-Reisebüro zwar buchen, doch sie waren sehr teuer. Wenn ich mich richtig erinnere, kostete ein zweiwöchiger Urlaub 6.000,00 DDR-Mark. Dafür hätte ich ein paar Jahre sparen müssen. So groß war der Reiz dann doch nicht, dass ich mir das gönnte. Chris ist damals von der Künstleragentur der DDR zu diesem Festival in Varadero delegiert worden. Sie schwärmt noch immer davon. „Das Schöne daran war, dass es nicht um Preise ging, sondern um den reinen Spaß am Musikmachen. Das wunderbare Land und seine Menschen haben mich seitdem nicht mehr losgelassen. Ihre Herzlichkeit, ihre Lebenslust, mit der sie ihr nicht gerade leichtes Leben führen, sind mir so wesensnahe.“

Es gab für sie in den folgenden 16 Jahren immer wieder Gelegenheiten, ein paar Wochen auf Kuba zu verbringen. Die Insel und die Freunde, die sie dort fand, machten sie glücklich. Sie taten ihr gut, als ihre Ehe mit Frank Schöbel zerbröckelte. „Kuba war meine zweite Heimat geworden. Ein Zufluchtsort, an dem ich meine Gefühle ordnen konnte. 1973 musste ich eine Entscheidung für mich treffen, mir klar werden, ob ich mit Frank weiterleben will.“ Sie entschied sich, wie bekannt, für die Scheidung.

Chris und „Papa“ Gregorio Fuentes 1975 in Cojimar © Klaus. D. Schwarz

Einen Menschen auf Kuba hatte sie besonders ins Herz geschlossen. Das war Papa Gregorio, wie sie den berühmten Bootsmann von Hemingways Yacht Pilar nennt. Sie erzählt mir, wie es dazu kam. Ende 1974 war Chris zu Fernsehaufnahmen in Havanna. Der Fotograf und Bildjournalist Klaus D. Schwarz, ihr neuer Mann und Manager, begleitete sie. Nachdem alles abgedreht war, blieben noch einige Tage, um Freunde zu besuchen, herumzufahren und das Land zu entdecken. „Wir trafen uns mit meiner Freundin Mirta. Sie erzählte uns, dass in Cojímar, einem kleinen Fischerdörfchen östlich von Havanna, Hemingways Yacht Pilar liegt und sein Bootsmann Gregorio Fuentes lebt. Den wollten wir unbedingt kennenlernen. Mirta fuhr mit uns nach Cojìmar, und wir haben den alten Fischer wirklich gefunden. Als wir uns nach Stunden von Gregorio verabschiedeten, umarmte er mich und sagte, ich wäre jetzt seine fünfte Tochter.“ Klaus D. Schwarz hat später einen Dokumentarfilm über „Papa“ Gregorio gedreht.

Ganz links im Bild steht Chris am Zaun des Häuschens in Cojimar, das ihr Freunde für ihre Kuba-Aufenthalte überließen Foto: privat

Wenn Chris nach Kuba reiste, bekam sie von Bekannten immer einen Packen Briefe mit, die sie dann als Postillion verteilte. „So lernten Klaus und ich einen Architekten und seinen Freund kennen. Zwei kluge junge Männer“, erzählt sie. Irgendwann erwähnte sie beiläufig, dass sie die Hotels satt habe. Sie würde lieber mitten unter Kubanern wohnen. „Die Beiden lachten und meinten: Den Wunsch können wir dir erfüllen, wir haben eine Casita in Cojímar. Da kannst du wohnen. Damit war mein Glück perfekt. „La Casita“ für die „La Alemanita“, die kleine Deutsche, sagten die Leute, wenn Chris kam. Ein kubanisches Sprichwort heißt: Hast du Freunde, hast du Zuckerfabrik. Lachend erzählt Chris eine hübsche Anekdote über die Casita.

Blick auf den Korallenstrand, vor dem die Casita stand. Ein Jahrhundertsturm hat das Häuschen samt Hof dem Erdboden gleichgemacht. Übriggeblieben ist nur das Mäuerchen auf dem der Zaun stand Foto: privat

„Die Jungs hatten den steinigen Hof hinter dem Haus mit Sand bedeckt, den sie vom Strand hochgekarrt haben. Das sah wirklich schön aus. Dann erlebte ich den ersten Sturm. Er peitschte die Wellen hoch ins Dorf bis an meine Veranda. Sie leckten an den Fenstern, das fühlte sich abenteuerlich an. Auf ihrem Rückweg ins Meer nahmen sie den Sand vom Hof mit, der sich wie eine Zunge auf der Straße ausbreitete. Dann passierte etwas Komisches. Von allen Seiten kam die Dorfbewohner mit ihren Eimern und mausten meinen Sand. Ich fragte mich, was die damit wollen. Gregorio erklärte mir, dass die Leute den Sand zum Bauen brauchen. Ihn von der Straße zu schippen ist natürlich bequemer als ihn kilometerweit vom Strand herzuholen. Von da an hatte ich neben der Tür für den Fall, dass wieder ein Sturm kommt, eine Schaufel bereit stehen. Und die Stürme kamen oft. War’n sie vorbei, schippte ich flink wie der kleine Maulwurf den Sand zurück in den Hof, um möglichst viel vor den „Bauherren“ zu retten.“

Chris’ Freundin America (in der blauen Bluse), die Lieblingsenkelin von Hemingways Kapitän Gregorio Fuentes. So sieht die Straße aus, in der sich die Casita befand, heute aus Foto privat

Im Frühjahr 1989 besuchten Chris und ihr Mann Kuba noch einmal. Es sollte das letzte Mal sein. „Ich wollte nach zwei Jahren Pause wegen einer Stimmbandentzündung meinen Seelen-Akku aufladen und wieder loslegen.“ Das Meer und die Casita in Cojímar waren genau das, was sie brauchte. Natürlich besuchte sie auch ihren „Papa“ Gregorio. Er war inzwischen schon 90 Jahre alt. „Papa Gregorio plauderte immer noch gern über die Zeiten, als er mit Ernest Hemingway aufs Meer fuhr oder mit ihm vor seiner Casa saß. Nur manchmal wirkte er ein bisschen müde, schaltete ab und hing seinen Gedanken nach. Seine Töchter schrieben mir 2002, dass er seine Ruhe gefunden hat. Er ist 105 Jahre geworden.“

Das Buch, das 2002 erschien, ist über Amazon erhältlich Foto: Klaus. D. Schwarz

Über Papa Gregorio und viele andere Menschen, die zu Freunden geworden sind, erzählt Chris in ihrem Buch „La Casita – Geschichten aus Cuba“. Die Lieder auf ihrer neuen CD sind eine Hommage an ihre zweite Heimat, die Kuba für sie geblieben ist. Heute als Tourist nach Kuba reisen will sie jedoch nicht. Jedenfalls noch nicht. „Ich würde die Armut nicht ertragen. In den Geschäften gibt es heute fast alles, Brot, Gemüse, aber durch die Inflation ist es so teuer, dass die Bevölkerung das kaum bezahlen kann.“ Wehmut schwingt mit, als sie davon erzählt.
Die Casita in Cojímar wurde 1993 von einem Jahrhundertsturm dem Erdboden gleichgemacht. „Was du auf dem Foto siehst, ist das Mäuerchen auf dem der Zaun stand“, sagt Chris. Ihre Freundin America, die Enkelin von Papa Gregorio, hat ihr das Foto heute geschickt.

Zurück ins Heute, zum neuen Album von Chris. Als ich sie frage, mit wem sie „Maria Isabel“ singt, erfahre ich eine verrückte Geschichte. Lars Sens von der AC/DC Coverband „Dr. Kinski“ hat den kubanischen Sommerhit von 1969 mit ihr aufgenommen. Übrigens einst auch ein Doerk/Schöbel-Hit. Lachend erzählt Chris von ihrer ersten Begegnung mit „Dr. Kinski“. Es passierte bei einem „hautnah“-Konzert mit Frank Schöbel im Tierpark. „Da saß in der fünften Reihe ein großer Mensch in schwarzen Klamotten, die Haare nach hinten gegelt. Er passte überhaupt nichts ins Bild“, erzählt Chris und lacht laut. Sie hielt ihn für einen Westmanager, der wegen Schöbel gekommen war. Großer Irrtum. „In einer Auftrittspause kam er hinter die Bühne, stellte sich vor und erklärte, sein größter Wunsch sei es, einmal mit mir Highway to Hell zu singen. Ich kannte weder ihn noch die Band und dachte: Ist nicht meine Musik, macht aber vielleicht Spaß. Und dass ein Rocker Chris-Fan ist, fand ich lustig.“

Chris Doerk und Lars Sens interpretieren den
kubanischen Sommerhit von 1969 „Maria Isabel“

Sie sagte zu und rockte kurze Zeit darauf mit „Dr. Kinkski“ im legendären Müggelheimer Strandhotel „Neu Helgoland“ vor einem Publikum, dass sich fast nicht mehr einkriegte. „Unsere Begegnung hatte was Schicksalhaftes“, sagt Chris. „Lars verdanke ich, dass ich 2011 mein Album ,Nur eine Sommerliebe‘ produzieren konnte, nach über 20 Jahren das erste wieder mit neuen Liedern. Bis auf einen Titel habe ich alle selbst geschrieben. Ein Text ist von Lars. Leider gibt es seine Band nicht mehr“, bedauert sie.

Lars Sens alias Dr. Kinski ist seit vielen Jahren ein Fan von Chris Doerk Quelle: Deutsche Mugge.de/Frank Iffert

Beim Recherchieren über Lars Sens und „Dr. Kinski“ – ich hatte wie Chris damals nie zuvor von der Band gehört – fand ich ein Interview mit ihm auf Deutsche Mugge.de. Darin konstatiert er: „Persönlich gefiel mir die Zusammenarbeit mit Chris Doerk am meisten. Ich durfte mit einer Schlager-Diva, die viele Menschen aus ihrer Jugend kennen, auf einer Bühne stehen und AC/DC-Nummern singen. Diese Konstellation war sehr schräg und schön. Chris besitzt eine Bühnenpräsenz und eine Ausstrahlung, die nur ganz wenige haben. Ich sang mit ihr das alte Schöbel-Doerk-Duett Links von mir, rechts von mir, da hab ich fast geheult vor Glück.“ Als ich ihr das vorlese, ist sie erst einmal einen Moment still. „Was ist?“, frage ich. „Ich bin ganz baff, verrückt!“, lacht sie dann.

Chris Doerk mit mir am Teltowkanal 2006 beim Interview © Jürgen Weyrich

Fast zwei Jahrzehnte bin ich mit der Sängerin befreundet. Unser erstes Interview führten wir zu eben jenem DEFA-Musical „Heißer Sommer“. Ich ließ mir von Chris erzählen, was so am Rande der Dreharbeiten geschah. Wir erinnern uns beide gern an jenen Junitag 2006, an den Spaziergang am Teltow-Kanal, an die lustigen Fotos, die Jürgen Weyrich schoss. Ich habe bei meinen Interviews selten so viel gelacht.

Ich glaube, ich habe Chris noch nie in schlechter Stimmung oder resignierend erlebt. Und wenn wir über weniger gute bis schlimme Zeiten gesprochen haben, behielt sie trotzdem ihre Heiterkeit. „Lachen war immer mein Rettungsanker. Es ist mein Plus, um mich nicht niederbeuteln zu lassen.“ Es half ihr, wenn sie nicht wusste, wie es weitergeht. Wie nach ihrer Scheidung und dem damit einhergehenden Zerfall des Duos Doerk/Schöbel 1974. Um ihre Karriere allein fortsetzen zu können, ging sie damals auf Konzertreisen ins Ausland. Zu Hause hielt Frank Schöbel das musikalische Unterhaltungsterrain besetzt. Chris machte zwangsläufig einen Strich unter diesen Teil ihres Lebens. „Ich hatte keine Chance in seinem Dunstkreis, meine Karriere fortzusetzen.“
Die DDR-Plattenfirma Amiga kündigte merkwürdigerweise kurz nach der Trennung ihren Vertrag, obwohl ihre Soloplatten erfolgreich liefen. Wechsel in der Chefetage, und der Neue mochte keine Schlager. So ist es Chris im Gedächtnis. Vielleicht aber lag es auch daran, dass sie plötzlich kein Star mehr war, wenngleich dieser Begriff in der DDR nicht verwandt wurde. „Mir war der Boden unter den Füßen weggezogen.

Peter Bause, Frank Schöbel und Chris Doerk 1972 bei Dreharbeitn für die DEFA-Komödie „Nicht schummeln, Liebling!“ ©DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

Ohne Klaus hätte ich dieses Tief nicht durchgestanden“, erklärt Chris. Der Fotograf Klaus D. Schwarz, den sie 1972 bei den Dreharbeiten zur DEFA-Komödie „Nicht schummeln, Liebling“ kennenlernte, als er für das Jugendmagazin „Neues Leben“ fotografierte, wurde ein Freund. Er nahm sich Zeit, ihr zuzuhören, baute sie auf, wenn sie am Verzweifeln war. „Dass Klaus in mich verliebt war, ahnte ich nicht. Er machte mit mir Fotos für das Jugendmagazin und dabei haben wir viel geredet. Mir war klar, dass ich mich nicht abdrängen lassen durfte. War nur die Frage, was tun? Klaus meinte, ich müsse auf Tournee gehen, müsse raus aus der DDR, weg von dem Klüngel um Amiga und Fernsehen.“

1974 drehte das polnische Fernsehen mit Chris eine Musiksendung. Hier bespricht der polnische Regisseur mit ihr Einstellungen Foto: privat © Klaus D. Schwarz

Der namhafte DDR-Bildjournalist ließ seine Profession ruhen, übernahm für Chris das Management und verschaffte ihr wieder Boden unter den Füßen. Ihre freundschaftliche Zuneigung für ihn schlug allmählich in Liebe um. „Klaus war aber nicht der Grund, dass ich mich 1974 scheiden ließ, was gern mal erzählt wird. Meine Ehe mit Frank Schöbel bestand ja schon seit 1973 nur noch auf dem Papier“, hebt Chris hervor. Seit 48 Jahren sind sie und Klaus D. Schwarz nun schon ein Paar. Ihr Mann begleitete sie auf fast allen Tourneen. Durch seine Arbeit als Bildjournalist hatte er viele Kontakte in der ČSSR, in Polen, Bulgarien und so rissen die Einladungen für die beliebte Sängerin nicht ab. Anderthalb Jahre war sie mit der Uve Schikora Combo unterwegs, bis der Bandleader 1976 von einer Kuba-Reise nicht in die DDR zurückkehrte. Von da an hieß es in den Veranstaltungsprogrammen „Chris & ihre Musikanten“ treten auf. „Die Menschen waren unheimlich gastfreundlich. Bei den Konzerten haben sie uns gefeiert. Es war ihnen egal, dass sie noch nie von uns gehört hatten.“

Mit solchen Bussen waren die Künstler unterweg. Foto aus der mdr Doku „Stars an der Trasse“

Die Glücksgefühle von damals spürt Chris beim Erzählen wieder. Wunderbare Erinnerungen hat Chris an ihre Konzerte in der Sowjetunion. „Die Tourneen waren der Hammer! Wir haben 1986 sieben Wochen das Land bereist. Ob in Armenien, Kasachstan oder in Irkutsk hoch oben im sibirischen Norden, ich habe selten eine solche Begeisterung erfahren. Besonders, wenn ich russisch gesungen habe.“ Sie macht eine Denkpause. „Meine erste Konzertreise in die SU war im Juni 1977 mit der Gruppe Express. Wir hatten eine Einladung in die Ukraine, nach Winnyzia. Bei der Reisevorbereitung sagte man uns, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in Winnyzia furchtbare Massaker verübt hatten, und ich bin mit einem mulmigen Gefühl dorthin gefahren. Meines Wissens waren wir die ersten deutschen Künstler, die nach dem Krieg dort aufgetreten sind. Aber die Leute waren zauberhaft, egal, wohin wir kamen.“ Sie macht eine Pause. „Wo es friedlich war, ist jetzt Krieg.“ Wir beschließen, das sich aufdrängende Thema beiseite zu schieben. Es nimmt uns die Luft.

„Opa mussten wir zurücklassen“

Ihre ersten drei Lebensjahre verbrachte Chris mit ihrer Mutter bei den Großeltern in dieser Straße. Opa Schmolinski war Werkmeister in einer Stellmacherei, die Oma Schneiderin Fotoquelle: wikimedia.org

Dennoch kommen wir nicht ganz daran vorbei, wenn wir über Bilder ihrer Kindheit sprechen wollen. Deutschland machte sich das dritte Jahr mit verheerenden Eroberungs- und Vernichtungsfeldzügen über die Welt her, als Christa Maria Doerk im Februar 1942 in Königberg, dem heutigen russischen Kaliningrad, geboren wird. Ein niedliches Mädchen mit dunklen Haaren, der Liebling ihres Opas. „Er war Werkmeister in einer großen Königsberger Stellmacherei und hat für mich eine wunderschöne Wiege gebaut. Opa muss ein toller Mann gewesen sein. So ein ganz Sanftmütiger, eine Seele von Mensch“, schwärmt Chris von ihm. Die Mutter erzählte ihr, wie der Opa einem Kutscher die Peitsche aus der Hand riss, als der auf sein Pferd eindrosch. „Opa war sehr tierlieb und konnte wohl richtig böse werden, wenn er so etwas sah.“
In der Familie Schmolinski hatte die Oma quasi die Hosen an. Sie war herzensgut, aber streng, und an Opa hatte sie immer etwas auszusetzen.“ Chris lacht: „Wurde ihm ihre Nörgelei zuviel, brubbelte er in seinen Bart: Halt di Mul!, und machte die Tür von draußen zu. Trotzdem haben sich beide sehr geliebt.“

Der Opa ist in ihrem Bewusstsein ganz präsent mit einem Kindergedicht, das er ihr beibrachte, kaum dass sie sprechen konnte. „Ich war zwei, da hat er mir das aufgedrückt“, lacht sie und sagt den Vers auf:

Mit elf Monaten stand Chris zum ersten Mal in ihrem Bettchen und schaut neugierig in Opas Fotoapparat. Das Kleidchen hat die Oma genäht. Foto: © privat

Es war einmal ein hübsches Ding von Farben und Gestalt,
ein kleiner bunter Schmetterling, kaum wenig’ Stunden alt.
Zu jeder Blüte flog er hin und rief, stolz im Gesicht:
Ei, seht doch mal, wie hübsch ich bin!
Bewundert ihr mich nicht?

Und wenn es hieß: „Bewundert ihr mich nicht“, zog sich die kleine Chris an der Tischkante hoch und stahlte alle an. Natürlich haben alle das süße Ding bewundert, das so klein schon so schön ein Gedicht aufsagen konnte. „Ich bedauere so sehr, dass ich Opi nicht erleben konnte, als ich älter war. Er musste in Königsberg bleiben, als wir 1945 evakuiert wurden. Wir kamen mit dem letzten Zug aus der Stadt, es durften nur Frauen und Kinder mitfahren.“

Chris’ Mutter wohnte mit ihrem Baby bei ihren Eltern. Sie hatten eine Wohnung in einem großen Stadthaus in der Tragheimer Kirchenstraße. Sie war vierundzwanzig, als Chris zur Welt kam, ihr Mann Hermann Doerk schon zwei Jahre im Krieg. An eine eigene Wohnung hatte das Paar noch gar nicht denken können. „Meine Eltern kannten sich schon vor dem Krieg. Wann sie geheiratet haben, weiß ich nicht“, sagt Chris. Auf dem Foto, das sie gefunden hat, steht kein Datum. Es spielte im Leben von Hildegard und Hermann Doerk auch keine Rolle. Sie führten ein etwas anderes Leben, wie Chris es ausdrückt. Ihren Hochzeitstag haben sie nie gefeiert und vielleicht selbst vergessen. „Papa war gleich zu Kriegsbeginn einberufen worden. Die Hochzeit muss danach gewesen sein. Auf dem Hochzeitsfoto trägt er Uniform. Ein hübscher Kerl“, beschreibt ihn Chris, „alle Mädchen haben ihm Avancen gemacht. Da wurde meine Mutter richtig eifersüchtig. Was total grundlos war. Papa hat sie nie betrogen, nicht einmal, als sich ihm in einem Pariser Bordell die Gelegenheit bot. Er war ihr absolut treu.“

Chris’ Vater, der Friseurmeister Hermann Doerk aus Tapiau mit 27 Jahren, als er sich in die hübsche 20jährige Hildegard Schmolinski verliebte Foto: privat

Der Krieg hatte den Wehrmachtssoldaten Hermann Doerk nach Italien verschlagen. Hier geriet er bald nach seiner Rückkehr aus dem Fronturlaub 1944 in amerikanische Gefangenschaft. Man kann es als Glück bezeichnen, denn der Italienfeldzug der Alliierten kostete zigtausend Soldaten das Leben. Auf beiden Seiten. „1947 wurde Papa aus der Gefangenschaft entlassen und machte sich mit einigen Kameraden zu Fuß auf den Weg nach Deutschland. Als sie in Paris ankamen“, gibt Chris die Erzählung ihres Vaters wieder, „wollten die Männer unbedingt mal in einen Puff. Papa reizte das nicht. Doch die anderen schleppten ihn mit und schubsten ihn zu einer Nutte ins Zimmer. Da saß er angezogen auf dem Bett, und als sich die Dame vor ihm frisch machte, kriegte er einen solchen Lachanfall, dass sie ihn mit einem Fußtritt nach draußen beföderte.“ Chris feixt. „Damit war er aus dem Schneider ohne sich eine Blöße zu geben.“

Ihre Art, über alles lachen zu können, hat Chris Doerk von ihrem Vater geerbt. Ihre Mutter mochte Albereien nicht so. „Sie kam da nach ihrer Mutter“, sagt Chris und erzählt von einem Brief der Oma an ihre Eltern. „Ich war 15 und durfte noch in den Westen fahren. Oma lebte bei Hamburg über einer Sargtischlerei. Wenn man zu ihr in die Wohnung wollte, musste man durch die Werkstatt, und dann ging es eine Stiege hoch. Ich fand das gruselig. Einmal gab sie mir 20 Mark, damit ich mir Hamburg ansehen konnte. Ich kam nur bis zum Alsterhaus, das am Bahnhof lag. Stundenlang bin ich in dem riesigen Kaufhaus die Rolltreppen rauf und runter gefahren. Ich hatte vorher noch nie eine Rolltreppe gesehen. Gekauft habe ich mir zwei große saftige Pfirsiche. Oma wollte wissen, was ich Schönes gemacht habe. Ich erzählte ihr von meinem Rolltreppenabenteuer. An meine Eltern schrieb sie dann: Euer Kind weiß sich zu amüsieren. Meine Mutter war in Sachen Humor noch ein bisschen verschärfter. Papa hat mir mal erzählt, dass sie gern von Königsberg an die Ostsee gefahren sind. Da wuchsen am Strand Haselnusssträucher. Als er ihr eine Handvoll Nüsse brachte, hat sie ihm die einfach aus der Hand gekloppt und fand es komisch. Meine Mutter war schon speziell.“

Chris 1943 Jahren auf dem Schoß ihrer Mama in der Küche der Königsberger Wohnung ihrer Großeltern Foto: ©Privat.

Was den Krieg betraf, waren Chris’ Eltern nicht sehr mitteilsam. Sie hatten einen Strich unter diese Zeit gezogen, wie die meisten Menschen, und fingen ihr Leben neu an. Chris hat ihren Vater nicht nach dem gefragt, was er erlebt hatte. „Wenn er mal etwas erzählte, war es etwas Lustiges“, sagt sie. Wie eben die Sache in dem Puff. Wann und wo die Liebesgeschichte von Hildegard und Hermann Doerk begann, kann ihre Tochter nur vermuten. „Das spielte in unseren Gesprächen nie eine Rolle, und es hat mich auch nicht so brennend interessiert. Du bist die Erste, die mich danach fragt.“ Vielleicht sind sie sich zum ersten Mal am Strand begegnet, wohin die Jugend der Gegend im Sommer zum Baden fuhr oder beim Tanz. Hildegard Smolinski wirkte sehr anziehend. „Sie trug immer schicke Kleider, die Oma ihr schneiderte.“ So, wie sie auch für die kleine Chris Kleidchen, Jacken und Blüschen nähte. Die Oma hat ihre Enkelin auch später noch verwöhnt und ausstaffiert. „Sie nähte mir für die Konfirmation ein Kleid aus schwarzem Taft mit weißen Blüten. Kein anderes Mädchen hatte so ein schönes Kleid.“ Besonders geliebt hat Chris ein weißes Sommerkleid aus Seide mit rosa Tupfen, Puffärmelchen und einem großen Ausschnitt. „Es hatte einen Tellerrock mit aufgesetzten Rüschen! Wenn ich mich drehte, flog er ganz hoch. Darin kam ich mir vor wie eine sein.“

Blick von der Promenade über den Schlossteich zum Schloss. Es waren wohl diese Absperrungen, die Chris in ihren Kinderträumen sah. Quelle: wikipedia.org

Zurück nach Königsberg. Die Stadt nordöstlich des Frischen Haffs an der Danziger Bucht war von jeher ein Verkehrsknotenpunkt, ein wirtschaftliches und geistig-kulturelles Zentrum mit Universitäten, Hochschulen, Theatern, Museen. Ein merkwürdiges Bild tauchte in Chris’ Kinderträumen immer wieder auf. „Ich sah dicke Ketten, die zwischen Säulen hingen und fragte meine Mutter, was das sein könnte. Sie meinte, das müssten die Ketten zwischen den Pollern an der Promenade rund um den Schlossteich sein, wo sie mit mir gern spazieren ging. Die Ketten hätte ich wohl aus dem Kinderwagen gesehen.“ Viel mehr findet Chris von der Stadt in der Pregelniederung nicht in ihrem Gedächtnis.

Der Krieg schien an Königsberg vorüberzugehen. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 flog die sowjetische Luftwaffe einige Bombenangriffe, die der Stadt aber keinen großen Schaden zufügten. Die Menschen lebten mit der Illusion, der Krieg im Großen würde sie verschonen. Niemand glaubte, dass noch eine Katastrophe hereinbrechen würde. Man ging seiner Arbeit nach, gönnte sich einen schönen Feierabend in den Terrassencafés am Schlossteich. Oper und Theater spielten noch.
Im Frühjahr 1944 hatte Hermann Doerk Heimaturlaub bekommen. „Für meine Mama waren das glückliche Tage. Ich habe keine Erinnerung daran“, sagt Chris. Sie hat ein Foto gefunden, dass das kleine Familienglück zeigt. „Ich war etwas über zwei Jahre, als es aufgenommen wurde.“ Ihr Vater steckte es ins Portemonnaie, als er sich zu seinem Standort in Italien verabschiedete. Es sollte drei Jahre dauern, ehe er seine Frau und seine kleine Tochter wiedersehen würde.

Königsberg nach den beiden Luftangriffen der Royal Air Force im August 1944 Quelle: Wikipedia/© gemeinfrei Fritz Krauskopf

Im Sommer 1944 brach über Königsberg die Hölle los. Ende August zerriss Sirenengeheul die stillen Nächte. Fliegeralarm. Chris’ Mutter packte ihr Kind in Kissen und rannte zusammen mit der Oma in den Keller. Britische Bomber legten fast die gesamte Stadt in Schutt und Asche. Ziel waren zivile Einrichtungen, Wohngebäude, Schulen, Kirchen, der Dom, die Krankenhäuser, die Universitäten, das Schloss – es brannte tagelang. Militärische Objekte, Hafen und Bahnanlange blieben unversehrt. Die Strategie der Briten war, die Bevölkerung zu demoralisieren. Die Aktion „Blenny“ forderte 5.000 Tote, 200.000 Königsberger wurden obdachlos.

Auch der Stadtteil Tragheim wurde getroffen. Das Haus, in dem Chris’ Großeltern mit Tochter und Enkelin wohnten, bekam zum Glück nichts ab. So schlussfolgert Chris. „Meine Mama hat nie erzählt, dass wir irgendwo unterkommen mussten. Wirklich ruhig geschlafen haben sie danach nicht mehr.“ Angst machte sich unter den Bevölkerung breit, als durchdrang, dass an der Ostfront die Heerestruppe Mitte von der Sowjetarmee zerschlagen worden war und die „Russen“ nach Ostpreußen einrückten. Überall packten die Leute zusammen, was sie tragen konnten und machten sich auf den Weg nach Westen, in das scheinbar sichere Deutschland. Chris’ Großeltern hatten bis zum Schluss die Hoffnung, das Kriegsende zu Hause erwarten zu können. Als die Rote Armee im Januar 1945 dicht vor Königsberg stand, beschlossen auch sie, wegzugehen. Bleiben war zu gefährlich. „Opa hat uns zum Bahnhof gebracht. Es war der letzte Zug aus Königsberg heraus, bevor die Stadt eingekesselt und zur Festung wurde. Opa hat mich auf den Arm genommen und gesagt: ,Mach’s gut mein Süßchen. Ich werde dich sicher nicht wiedersehen, und das tut sehr weh’. Dabei liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Die Männer mussten zurückbleiben. Wir haben nie erfahren, was mit Opi passiert ist.“

„Wir waren nicht willkommen“

Chris mit ihrer Mama und ihrem Papa bei dessen Fronturlaub 1944 in Königsberg Foto: © privat

An der deutschen Grenze war für die Flüchtlinge Endstation. Danach mussten alle sehen, wie sie weiterkommen. „Oma schlug sich nach Hamburg durch zu meiner Tante. Mama flüchtete mit mir quer durchs Erzgebirge. Ich habe noch die vage Erinnerung, dass wir in schrecklichen Unterkünften übernachteten, die wir uns mit Soldaten teilten. Von denen haben wir uns die Krätze geholt, denn es gab nur wenige Handtücher. Es hat mich überall gejuckt.“ Irgendwann erreichten Mutter und Tochter Meißen. Hildegard Doerk versuchte auf dem Amt eine Wohnung zu bekommen. Man wies sie harsch ab, es gäbe keine freie Wohnung, und sie solle doch die Landstraße zurückgehen, die sie hergekommen war. „Uns hat keiner mit offenen Armen empfangen“, erinnert sich Chris.

Der Krieg hatte die Menschen hart gemacht. Man sah sie nicht gern, die Flüchtlinge, die Habenichtse, die Eindringlinge in das eigene Dasein, in dem man selbst zu kämpfen hatte. Nun muss man gerecht sein. Das traf nicht auf alle Meißner zu. Hildegard Doerk und ihre dreijähige Tochter kamen bei einer Frau und ihrer erwachsenen Tochter unter. In einem Durchgangszimmer. Chris hat es noch so einigermaßen vor Augen: Tisch, Bett, Kommode, zwei Stühle, ein Hängeregal für Tassen und Schüsseln. „Die Tochter des Hauses musste bei uns durch, wenn sie in ihr Zimmer wollte. Eines Tages brachte sie einen Russen mit. Der hat sich gleich in mich verguckt. Von ihm bekam meine Mutter Milch für mich und etwas zu essen. Einmal hat sie das Brot, das er mitgebrachte, gewaschen, weil es so nach Benzin roch. Als es wieder trocken war, haben wir es gegessen. Kein Witz. Das waren schlimme Zeiten mit viel Hunger.“

Fast zwei Jahre lebten sie in Meißen. Hildegard Doerk hangelte sich so durch mit Gelegenheitsarbeiten, Kartoffelnstoppeln, Rübenziehen, und manchmal klaute sie Kohlen für den Ofen im Zimmer. Oft musste sie ihre Tochter allein lassen. „Ich war ein braves Kind. Bin nie weggelaufen. Wenn sie mich vor einem Laden setzte, blieb ich dort, bis sie wieder kam.“ Chris war vier, als ihre Mutter in Krankenhaus musste und sie für zwei Wochen zu einer fremden Familie gab. „Das waren sehr nette Leute. Sonntags gab es Kuchen, Bisquitschnitte mit Erdbeermarmelade. So was Schönes hatte ich noch nie gegessen. Das war für mich das Paradies.“ Angst hatte sie nicht, dass die Mutter sie nicht wieder abholen würde. Denn sie war ja immer wiedergekommen. „Es ging mir gut. Ich erinnere mich, wie ich mit anderen Kindern auf dem benachbarten Schulhof gespielt habe. Da gab es einen Maulbeerbaum. Die Kinder sammelten die Früchte auf und haben sie gegessen. Ich habe sie gleich wieder ausgespuckt. Die schmeckten eklig.“ Chris schüttelt sich bei dem Gedanken daran.

Inzwischen war das Jahr 1947 erreicht. Es sollte eine Zeitenwende in Chris’ Leben werden. Ihr Vater kehrte zurück. Für sie ein unbekannter Mann, der ihr gleich den Hintern versohlte. Lachend erzählt sie, wie es dazu kam. Sie war allein zu Haus, saß am Tisch und malte, bis ihr langweilig wurde. „Ich guckte, was ich noch machen könnte und fand Mamas Schere. Ich setzte mich vor den Spiegel schnitt mir die Haare.“ Damit war die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter immer noch nicht überbrückt. Auf dem Wandregal entdeckte Chris den Topf mit Sirup, den ihre Mutter aus gestoppelten Zuckerrüben gekocht hatte. Den Sirup gab es morgens aufs Brot. Darauf kriegte die Fünfjährige Appetit. Das kleine Wesen reckte sich, machte sich so groß, wie es nur ging, und angelte mit den Fingerspitzen nach dem Topf. „Dabei ist er natürlich umgekippt. Der Sirup kleckerte mir auf die Haare und auf den Fußboden. Mama hat mit mir ziemlich geschimpft, als sie das Malheur sah.“
Eigentlich wäre der Vorfall für beide erledigt gewesen. Doch diesmal nicht. Chris weiß noch ganz genau, was passierte. „Am nächsten Tag stand ein wildfremder Mann mit Bart vor unserer Tür. Mama fiel ihm um den Hals. Sie lachte und weinte und erzählte ihm gleich, was ich gemacht hatte. Warum tut sie das, dachte ich. Da hatte er mich auch schon übers Knie gelegt und gab mir was auf den Po. Ja, das war Papas Einstieg in mein Leben.“

„In Böhla blieben wir die Zugezogenen“

Kurz nach der Rückkehr des Vaters zog die Familie nach Böhla Bahnhof, damals ein Ortsteil von Böhla, heute von Priestewitz. Eine ländliche Idylle mit Feldern, Wiesen, Wald und Gehöften zwischen Meißen und Großenhain. So hat Chris ihre Kindheitswelt im Kopf. „Ein bisschen ab vom Schuss“, erinnert sie sich. „Die Bauern bestellten ihre Felder, bewirtschafteten ihre Höfe mit Kühen, Schweinen, Hühnern, Gänsen… Was in Berlin, der Hauptstadt, passierte, war für sie weit weg. Politik spielte nur eine Rolle, wenn es sie selbst betraf. Die landwirtschaftliche Kollektivierung, der Zusammenschluss der Einzelbauern zu Produktionsgenossenschaften, war in den 50er Jahren so ein Thema. Darüber wurde dann beim Haareschneiden oder Lockendrehen im Friseurgeschäft meines Vaters geredet.“
Hermann Doerk hatte vor dem Krieg in seiner Heimatstadt Tapiau, 35 Kilometer östlich von Königsberg, als Friseur gearbeitet. Fleißig und sparsam wie er war, hatte er viel auf die „hohe Kante“ legen können. „12.000 Reichsmark“, weiß Chris. Für den Neuanfang hatte er ein eigenes Geschäft gesucht und in Böhla Bahnhof gefunden. Eine Friseurmeisterin ging in Rente und verkaufte ihm ihren Laden. Und eine Wohnung für seine Familie fand er auch in dem Dorf. Gleich gegenüber vom Gasthof, der eine wichtige Rolle in Chris’ Leben spielen sollte.

Für die Dorfbewohner blieben die Doerks lange die „Zugezogenen“, die Fremden. „Sie haben zwar den Salon nach einer Weile angenommen, schätzten meinen Vater, der nicht nur ein guter Friseur war, sondern auch ein zugänglicher, freundlicher und kluger Mensch. Aber wenn ich zurückdenke, waren wir eigentlich nur gelitten. Trotzdem hatte ich eine schöne Kindheit“, sagt sie. Das burschikose Mädchen spielte lieber mit den Jungs als mit den Mädchen in ihrem Alter. „Das waren so richtige Susen, die bei jedem Kratzer heulten. Es gab sowieso nur zwei in meinem Alter, und die Jungs haben mich irgendwann akzeptiert.“ Was heißt das genau, will ich wissen.

Die Grundschule, in die Chris bis zur 2. Klassen ging, war in Baßlitz. Die blaue Linie markiert den Weg über die Felder, den die Kinder zur Abkürzung nahmen. Kartendaten ©2022 GeoBasis-DE/BKG (©2009), Google

„Die Dorfjungs waren ziemlich fies zu mir. Im Winter haben sie meine Kapuze voll Schnee gepackt. Ich habe mich nicht getraut, mich zu widersetzen. Die waren größer als ich und gingen schon in die zweite Klasse. Also habe ich den Schnee bis zu Schule geschleppt. Zwanzig Minuten querfeld ein. Da steckte ich Murkel bis zum Schritt im Schnee, wenn es doll geschneit hat.“ Heute würde die Kinder sie Opfer nennen. Aber Chris war kein Opfer. Sie hat sich ziemlich bald nichts mehr gefallen lassen und zeigte den Bengels, dass sie sich wehren kann. Ihr fallen noch die Namen der beiden Lehrer ein, die sie in Baßlitz hatte: Fräulein Schwabhäuser und Herr Mittelstädt. „Es gab in der alten Dorfschule nur zwei Klassen, die erste und die zweite. Danach mussten wir für die nächsten zwei Jahre in die Schule nach Lenz. Ab der 5. Klasse bin ich in Großenhain zu Schule gegangen.“ Gern ist sie nicht zur Schule gegangen. „Ich hatte keine Lust zum Lernen, war auch nur eine mittelmäßige Schülerin. Lernen war für mich Zwang, und das hasste ich.“

Der Baßlitzer Dorfteich im Januar 2022. Die alte Schule gibt es wohl nicht mehr. Quelle: google maps /© Philip Lange

Am liebsten stromerte Chris durch die Wiesen und den Wald, beobachtete das Treiben der Ameisen, die Habichte und Bussarde, die über den Feldern kreisten. „In Baßlitz gab es einen Teich in der Nähe unserer Zweiklassenschule, in dem man leider nicht baden durfte, weil die Kühe da reingingen. Die Versuchung war groß, wenn im Sommer die Sonne glühte.“ Kühe mochte Chris, von Weitem! Sie saß gern auf der Weide und sah ihnen zu. Ganz besonders, wenn sie Kälbchen hatten. Manchmal hatte sie ihren Zeichenblock dabei und malte. Die Bauern schimpften und scheuchten das unvernünftige Kind weg. „Die Tiere können dich umrennen, warnten sie mich. Es ist mir nie etwas passiert.“

Chris mit ihrer Schulfreundin Margot Mißbach, 1953 Foto: privat

Chris’ Böhlaer Kindheitswelt ist voller Abenteuer. Jeden zweiten Abend schickte die Mutter sie zum Beispiel mit einer Kanne zum Milchholen nach Geißlitz. „Der Bauernhof war etwas über einen Kilometer entfernt. An dem Weg stand dichtes Gebüsch. Im Winter, wenn es so früh dunkel wurde, war das schlimm. Hinter jedem Strauch habe ich jemanden vermutet. Aus Angst habe ich mit ganz tiefer Stimme gesungen und lief mit schwerem Schritt, als wäre ich ein Mann.“ Manchmal gab ihr die Bäuerin gleich etwas von der frischen Kuhmilch zu trinken. Niemand machte sich damals Gedanken darüber, dass es ungesund sein könnte. „Hast du schon mal frischgelegte warme Eier geschlürft?“ fragt mich Chris. „Schmecken wie weichgekochte. An eine Salmonellengefahr dachte da auch noch keiner. Uns hat als Kinder nicht so schnell etwas umgeworfen. Wir hatten noch genug Abwehrstoffe.“ Sie erzählt, wie sie in den großen Ferien im Sommer bei einem Bauern auf dem Hof half. „Ich habe den Stall ausgemistet, Schweine und Kühe gefüttert, mit auf dem Feld gearbeitet. Gehackt, Unkraut gejätet. Das machte mir alles Spaß. Ich werde nie vergessen, wie wir mit Erde an den Fingern frische Schmalzbrote aßen, dazu Muckefuck tranken. Wir saßen am Feldrand, die Luft flirrte in der Mittagshitze, eine herrliche Zeit.“

Chris im Feruar 2017 in den Kleinmachnower Kibitzbergen, nur wenig Schritte von ihrem Haus © Nicola Kuzmanić

Auch als Erwachsene ist Chris ein Naturmensch geblieben. Mit den Händen in der Erde wühlen, pflanzen – das macht sie glücklich. Ihr Garten am Haus in Kleinmachnow ist ein wildes Pflanzenparadies. Überall wachsen Kräuter, die sie selber zieht oder die einfach so da sind, weil der Wind ihre Samen von irgendwo hergetragen hat. Chris ist eine „Kräuterhexe“, die weiß, was wofür gut ist, woraus man Tee oder Cremes und Salben machen kann. „Die alten Frauen aus unserem Dorf haben auf den Wiesen und im Wald Blätter, Kräuter und Blüten gesammelt. Mit denen bin ich mitgegangen und fand das unheimlich spannend. Sie haben mir gezeigt, was die Natur alles an Nützlichem birgt. Aus Scharfgabe, jungem Löwenzahn und fetter Henne, die bei uns am Straßenrand wuchsen, habe ich mir mit Honig und Zitrone Salat gemacht. Auf dem Weg zur Schule nach Baßlitz wuchs auf der Wiese erstaunlicher Weise Kümmel, den ich für zu Hause holte. Meine Mutter hat immer den Kopf geschüttelt, woher ich das alles weiß.“

„Meine Mutter wollte keine Tochter“

Zuneigung, Herzlichkeit und Wärme zu zeigen, fiel der Generation unserer Eltern schwer. Sie hatten den Krieg miterlebt und selbst eine Kindheit mit mehr oder weniger harter Strenge erfahren. „Mein Papa hat mich streng erzogen, ließ mir aber viele Freiheiten. Er verlangte nur, dass sich Mama und er auf mich verlassen können. Da gab es öfter mal eins hinten drauf, wenn ich nicht pünktlich nach Hause kam. Auch noch, als ich schon ein junges Mädchen war, tolerierte Papa nicht mal drei Minuten Verspätung. Er machte sich eben Sorgen und wollte nicht, dass mir etwas passiert.“ So sieht sie das heute. „Und geschadet hat’s mir auch nicht. Wenn ich sehe, wie Eltern heute mit ihren Dreijährigen diskutieren, wundert mich nichts mehr.“

Hermann Doerk war ein fröhlicher Mensch, der gern Späße machte und gern lachte. Das hat er seiner Tochter vererbt Foto: privat

Chris’ Vater war ein echter Spaßvogel. Eines Tages entdeckte sie auf dem Schrank im Laden einen Karton, auf dem „Mondos“ stand. Sie wollte wissen, was das ist. „Papa sagte, es seien kleine Bücher.“ Nun hatten Doerks kurz darauf eine kleine Feier zu Hause und Chris beobachtete, wie der Vater aus dem Karton ein paar der „Bücher“ nahm und verteilte. „Und dann sah ich, wie die Erwachsenen kleine Luftballons aus den Büchern holten und unter Gejohle aufbliesen.“ Die Pointe dieser Geschichte ist aber eine andere.

Eines Sonntags kam die Achtjährige ganz stolz mit solchen Luftballons nach Hause. Chris amüsiert sich noch immer darüber. „Unser Haus stand gegenüber dem Gasthof, wo samstags Bands zum Tanz spielten. Die Jugend aus der ganzen Umgebung vergnügte sich da. Auf der Wiese gleich daneben stand ein Apfelbaum, der trug große rotbäckige Äpfel. Keine Ahnung, welche Sorte das war, aber die schmeckten so gut, dass ich mir immer welche aufsammelte. Der Wirt hatte es mir erlaubt. Nach so einem Tanzabend im Sommer lagen zwischen den Äpfeln lauter Luftballons, also was ich dafür hielt. Die habe ich auch noch eingesammelt und wollte sie meinem Papa geben. Ich habe noch sein entsetztes Gesicht vor Augen. Verdattert musste ich die schönen Luftballons wegwerfen.“ Warum sie das sollte, erklärte der Vater nicht. „Später kam ich selbst hinter den Sinn der Luftballons.“

Das Verhältnis der Mutter zu ihrer Tochter fühlte sich für Chris lieblos an. Da fehlten Herzlichkeit und Wärme wie sie der Vater hatte. Nur einmal spürte Chris so etwas wie Verbundenheit. „Mama und ich haben zur gleichen Zeit Radfahren gelernt. Auf so einem alten Schinken von Mamas Freundin. Wir hatten echt Spaß dabei, wie wir herumwackelten, uns gegenseitig hielten und zigmal im Straßengraben landeten, ehe wir den Bogen raus hatten.“

Vor ihrem Unfall 2013 hat die passionierte Radlerin am Prominenten-Radrennen im Berliner Velodrom teilgenommen. Hier steht Chris zwischen den Tandemweltmeistern Werner Otto (l.) und Jürgen Geschke Foto: privat

Mit vierzehn bekam Chris ein eigenes Fahrrad. Nicht irgendeins, sondern ein goldfarbenes Sportrad mit Alufelgen, Gangschaltung und Freilauf. Hermann Doerk belohnte seine Tochter für den guten Abschluss der Grundschule – die endete damals mit der 8. Klasse. Ihren Zehnklassenabschluss machte Chris dann 1958 an der Mittelschule in Großenhain. Das Rad war ein Geschenk fürs Leben. Sie hat es mit nach Berlin genommen. Dort blieb es als „Schmerzensgeld“ bei Frank Schöbel zurück, als Chris nach der Scheidung 1974 aus der gemeinsamen Wohnung im Berliner Allende-Viertel auszog. Später kaufte sie sich ein neues. „Ich bin liebend gern Rad gefahren. Seit ich nach einem Unfall 2013 am Knie operiert werden musste, geht das nicht mehr so gut. Ich bin im Bus mit dem Knie gegen eine Haltestange geknallt, weil der Fahrer so abrupt gebremst hat.“ Zum Einkaufen steigt sie dennoch auf ihren Drahtesel. Kleinmachnow hat glatte Straßen, keine Berge. Und mit dem Bus kommt man nicht überall hin. Vor ihrem Unfall hat sie sogar beim Prominenten-Rennen im Berliner Velodrom mitgemacht. „Ich bin fuhr Tandem mit Jürgen Geschke.“

Die Erinnerungen an ihre Mutter sind für Chris ein schwieriges Kapitel. Heute noch. „Mama ließ mich immer spüren, dass ich nicht das Kind geworden bin, das sie wollte. Sie hat Dinge gesagt, die keine Mutter ihrem Kind sagen sollte.“ Da ist die tragische Geschichte mit ihrem Bruder Bernhard. Chris war neun, als er zur Welt kam. „Er starb bei der Geburt. Die Nabelschnur hatte sich um seinen Körper und den Hals geschlungen. Die Hebamme konnte das Baby nicht befreien und der Arzt, den sie rechtzeitig gerufen hatte, kam viel zu spät.“ Eine Verknüpfung unglücklicher Umstände.
Das Bild des Babys, das wie schlafend in einem kleinen Holztrog liegt, hat Chris im Gedächtnis behalten. „Ich sehe den Kleinen noch vor mir. Ein süßes Kind mit schwarzen Locken und langen dunklen Wimpern. Ein Traumkind. Es tat mir so leid, dass der Kleine nicht lebte. Mama mich furchtbar beschimpft, ich sei Schuld am Tod ihres Kindes, weil ich immer Kreuze gemalt habe. Tatsächlich hatte ich kurz zuvor Bilder mit Engeln und Kreuzen gemalt. Aber ich verstand nicht, was sie mit dem Tod des Babys zu tun hatten und habe geweint. Im Rückblick kann ich meiner Mutter das nicht übelnehmen. Sie war todunglücklich und sich vielleicht nicht bewusst, was sie mir mit dieser Schuldzuweisung angetan hat.“ Der Alltag ließ Chris das vergessen. Und sie liebte ihre Mutter ja auch.

Chris mit ihrem fünfjährigen Bruder Andreas vor dem Friseurladen ihres Vaters in Böhla Bahnhof. Die 16jährige hatte sich gerade eine Dauerwelle machen lassen Foto: privat

Zwei Jahre später kam dann endlich der langersehnte Junge zur Welt. „Für dieses Kind hat meine Mutter viel auf sich genommen. Sie lag drei Monate im Krankenhaus. Andreas kam im 7. Monat zur Welt“, erinnert sich Chris. Das damals elfjährige Mädchen freute sich auf den Bruder, weil er ihre Mutter glücklich machte. „Ich ahnte ja nicht, dass ich nun bei Mama abgeschrieben war. Für sie gab es nur noch ihren Jungen. Eine wahre Affenliebe war das“, beschreibt Chris den Zustand. Sie war alles andere als glücklich. Die Mutter machte die große Schwester für alles verantwortlich, was dem Kleinen passierte, wenn er sich wehtat, sich eine Schramme holte oder hinfiel. Chris litt unter der Ungerechtigkeit. „Deshalb konnte auch kein normales Schwester-Bruder-Verhältnis zwischen Andreas und mir entstehen, obwohl ich ihn mochte.“
Zum Glück gab es ja den Vater mit seiner ansteckenden Fröhlichkeit, der seine Tochter in den Arm nahm und ihr zeigte, dass er sie lieb hat. Bei ihm durfte sie schon mal den alten Männern aus dem Dorf mit der Haarschneidemaschine die Glatze scheren. „Die waren immer zufrieden und gaben mir ein paar Groschen für die Sparbüchse.“ Die Mutter, die im Damensalon den Frauen die Dauerwellen eindrehte, sah das gar nicht gern. Der Vater lachte dazu nur.

Chris war nicht eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder, der ihr sogar manchmal leidtat, weil die Mutter ihn so überbehütete. Den Begriff Helicopter-Mama gab es noch nicht. Aber Chris fragte sich, warum die Mutter sie nicht so lieb hat wie Andreas, was falsch an ihr ist. „Mir gingen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Vielleicht irrte ich mich ja, ich war die Große und er der Kleine, der schon deshalb mehr Aufmerksamkeit brauchte. Oder ob das vielleicht mit meiner Geburt zu tun hatte“, reflektiert sie, was sie sich als Kind so dachte. „Ich muss Mama zugute halten, dass sie mich nie abgewiesen hat, wenn ich etwas wissen wollte. Das waren die vertraulichen Moment zwischen uns, die es ja auch gab. Sonntags nach dem Mittagessen beim Abwaschen in der Küche zum Beispiel. Wir haben zusammen gesungen. Mama hatte eine schöne Stimme, sie war in Königsberg im Schulchor.“
An so einem Sonntag fragte Chris ihre Mutter, wie das war, als sie zur Welt kam. „Ich wollte wissen, ob sie es mit mir auch so schwer hatte wie mit den Jungs.“ Nein, das hatte sie nicht. In aller Arglosigkeit erzählte Hildegard Doerk ihrer Tochter, dass sie eigentlich einen Jungen wollte, kein Mädchen. „Als ihr die Hebamme dann nach meiner Geburt zu einem gesunden Mädchen gratulierte, brach für sie eine Welt zusammen. Sie wollte mich nicht haben. Die brauchen sie mir gar nicht zu bringen, raunzte sie die Hebamme an. Ich saß wie versteinert da, als Mama das erzählte. Das ging mir durch Mark und Bein. In meinem Kopf setzte sich fest, ich war für sie ein falsches Kind.“ Aus dieser Perspektive erklärt sich für die heute 80jährige, warum die Mutter nie eine liebevolle Bindung zu ihr hatte.

„Mein erster Bühnenauftritt war in einem geborgten Perlonkleid“

Die Kindheit geht fließend über in die Jugend. Chris ging nun auf die Mittelschule in Großenhain. Wenn sie am Bahnhof in den Zug stieg, fiel ihr manchmal ein, wie sie sich als Kind in dem Gebüsch davor versteckt und die Leute beobachtet hat, die ankamen oder wegfuhren. „Alle rannten an mir vorbei und keiner sah mich. Wie so ein kleiner Waldgeist saß ich da. Es war ein himmlisches Gefühl, unsichtbar zu sein. Manchmal“, sie macht einen Zeitsprung, „träume ich noch von dem Bahnhof. Wie ich mir eine Fahrkarte kaufe und in den Zug nach Großenhain steige.“ Es wundert mich nicht. Hier änderte sich ihr Leben. Hier entschied sich ihre Zukunft.
Die Stadt ist anders als das Dorf. Eine Binsenweisheit, die Chris erst erfahren musste. Großenhain ist eine Kleinstadt, in der es in den 50er Jahren noch recht gemütlich zuging. In der Schule schäkerten die Mädchen mit den Jungs. Chris hatte noch nichts übrig für Händchenhalten und Knutschen. „An mir war auch nichts dran, das einen Jungen reizen konnte.“ Sie hatte damit zu tun, keine schlechten Noten zu bekommen. „Mathe und Chemie waren ein Grauen für mich.“

Die 18jährige Chris mit ihrer kessen Kurzhaarfrisur, die übrigens eine Folge der Dauerwelle ist, mit der sie sich nicht im Spiegel sehen konnte. Das Kleid hat ihr die Oma genäht. Foto: privat

Deutsch machte ihr Spaß. Und Musik. Es muss Anfang der 10. Klasse gewesen sein, als Chris auf die Frage ihres Deutschlehrers, wer „Das Heidenröslein“ kenne, den Finger hob. „Ich habe das Lied oft mit meiner Mutter gesungen, nicht das Volkslied, sondern die klassische Version von Schubert“, erinnert sie sich. Der Lehrer bat sie, vorzusingen. Das Ende vom Lied: Die Klasse war begeistert. Und sie ließ sich von ihren Schulfreundinnen breitschlagen, beim „Treffen Junger Talente“ aufzutreten, zu dem die Großenhainer FDJ aufgerufen hatte. „Allerdings gab es ein Problem: Ich hatte kein passendes Bühnenoutfit, weil ich wie heute auch am liebsten Jeans trug. Und so schnell konnte mir Oma kein Kleid schicken.“ Chris besaß zwar selbst Geschick beim Nähen – als 13jährige hatte sie sich mit der Hand ihr erstes Kostüm geschneidert–, aber ein schickes Kleid? Das hatte sie noch nicht drauf, obwohl sie inzwischen eine eigene Nähmaschine besaß. „Meine Mutter hatte mir so eine alte mit Schwungrad zum Treten besorgt“, erklärt sie. Später hat sie sich vieles selbst genäht, auch ihr Bühnenoutfit. Nach Schnitten aus Modezeitschriften.

Chris in einem schicken Cordkostüm von Gera Wernitz. Zur kessen Frisur die passende Kappe, ein Accessoire, das ihr Markenzeichen wurde Foto: privat/©Deutsches Mode-Institut Berlin

Apropos Modezeitschrift. Wir blicken auf dem Rad der Zeit mal ein Stück voraus, machen einen kleinen Einschub in die Kindheitserinnerungen. Fast anderthalb Jahre führte Chris DDR-Jugendmode vor. 1967 stand sie als Mannequin für das Sonderheft „jung & chic Jugendmode“ der Modezeitschrift „saison“ vor der Kamera. Die Designerin Gera Wernitz vom Deutschen Modeinstitut in Berlin hatte sie auf der Straße angesprochen. „Wir begegneten uns zufällig Unter den Linden. Keine Ahnung warum, aber Gera Wernitz wollte mich unbedingt für eine Fotostrecke. Ich und Mannequin“, Chris lacht, „das fand ich peinlich. Gera Wernitz hat ganz schön daran gearbeitet, mich vor die Kamera zu kriegen. Sie tat mir dann schon fast leid, und ich dachte: Warum nicht. Die Fototermine waren sehr lustig. Wenn ich mir die Fotos ansehe, finde ich die Sachen immer noch total schick. Und die Stoffe waren richtig toll.“ Als Gebrauchswerberin muss sie das ja wissen.

Chris Doerk auf dem Titelblatt des Jugendmode-Sonderheftes der DDR-Modezeitschrift Saison von 1967 Quelle: Modezeitschrift Saison 1967/© Verlag für die Frau Leipzig-Berlin
Beim Pfingsttreffen der FDJ im Mai 1967 in Karl-Marx-Stadt kam Chris aus dem Autogrammschreiben gar nicht mehr raus. Sie wird von FDJlerinnen umlagert Foto: ©ddrbildarchiv/Manfred Uhlenhut

Für viele junge Mädchen wurde Chris, inzwischen nicht mehr unbekannt, so etwas wie eine modische Trendsetterin. Frisch, fröhlich und ein bisschen frech war ihr Stil. Mit ihrem kessen Kurzhaarschnitt fiel sie aus dem Rahmen. Lange Haare, Hochsteckfrisuren, Außenrolle, sogenannte Schüttelfrisuren á la Beatles waren in den 60ern angesagt.
Als sich Chris die musikalische Bühne eroberte mit Titeln wie „Häng den Mond in Bäume“ und „Männer, die noch keine sind“ aus dem Film „Heißer Sommer“, erschienen plötzlich lauter frech geschnittene „Bubiköpfe“ auf den Straßen. Chris: „Alle ließen sich plötzlich die Haare kurz und fransig schneiden. Bei mir war das ja aus einer Verzweiflung geboren. Ich hatte mir mit sechzehn eine Dauerwelle verpassen lassen und sah damit aus wie meine eigene Mutter. Nur Papa zu Liebe habe ich sie damals eine Weile getragen.“ Mit zwei Spiegeln und der Friseurschere vom Vater machte sie dem Elend schließlich ein Ende. „Ich hatte in einer Zeitschrift eine französische Schauspielerin mit raspelkurzen Haaren entdeckt. Das fand ich klasse. Mein Vater kriegte sich fast nicht mehr ein, als er mich so sah.“

Doch zurück ins Jahr 1958 und zu der Frage, was Chris für ihren Auftritt beim „Treffen Junger Talente“ anziehen soll. Die Rettung kam von ihrer Mitschülerin Gisela Pillgrimm. Sie borgte Chris ein knallblaues Perlonkleid mit riesigen Puffärmeln. „Ich sah sehr komisch aus, aber ich bin damit auf die Bühne.“ Tapfer, mit zitternden Knien interpretierte sie den Schlager „Alle kleinen entzückenden Mädchen träumen nur von Paris, von alten verschwiegenen Bäumen…“ und belegte den 1. Platz. „Wäre das nicht passiert, hätte mich keine zehn Pferde wieder auf eine Bühne gebracht.“

Bei Amazon habe ich das „Single Songbook“ des Schlagers von Helmut Nier und Hans Großer gefunden. Er erschien im DDR-Verlag Lied der Zeit

Bis dahin sollte es gar nicht mehr so lange dauern. Chris schloss die 10. Klasse ab und suchte sich einen Beruf, in dem sie nicht tagtäglich die gleiche Arbeit verrichten musste. „Das war mir ein Grauen, jeden Tag im Büro zu sitzen oder in der Produktion am Band zu stehen.“ Modezeichnerin wäre sie gern geworden. Als Kind entwarf sie auf ihrem Zeichenblock die schönsten Prinzessinnenkleider. Der Beruf der Gebrauchswerberin tat es dann auch. „Ich bin mehr fürs Praktische. Studieren war nicht so mein Ding“, lacht sie. Sie machte ihre Facharbeiterausbildung bei der HO in Großenhain. „Wir lernten Schaufenster zu gestalten, Dekorationen zu entwerfen, Plakate und Transparente zu beschriften, Holzarbeiten anzufertigen, hatten in der Brufsschule in Dresden Material- und Warenkunde. Das fand ich interessant, und es passte auch zu mir.“

„Das Schicksal hat mich da einfach so reingeschubst“

Chris hatte aufgehört, ein Kind zu sein. Sie war ein junges Mädchen mit Zukunftsträumen geworden, die aber erst einmal nichts mit Gesang zu tun hatten. Sie nahm ihre Ausbildung zur Gebrauchswerberin ernst. Gänzlich ohne Wirkung ist ihr Auftritt beim „Treffen jungen Talente“ dennoch nicht geblieben. Es war in den Sommerferien nach dem Schulabschluss, als die Eltern sie zum Tanz in den Gasthof mitnahmen. Eine damals bekannte Band aus Meißen spielte. „Frag mich nicht, was mich geritten hat“, sagt sie lachend. „Ich bin hinter die Bühne und habe gefragt, ob ich nicht mal singen darf. Du kannst dir ja vorstellen, wie die Musiker reagiert haben. Breites Grinsen. Die haben eine Lachnummer erwartet.“ Den Musikern blieb aber der Mund offen stehen. Kess stellte sich Chris ans Mikrophon und schmetterte: „Winni, winni, wanna, wanna, die Trommel ruft zum Tanz“, ein Hit der Tahiti Tamourés, der im Westradio rauf und runter lief. Chris: „Ich hörte alle möglichen Sender, auf denen Schlager liefen. Wir nahmen das zu Hause nicht so genau, ob das nun ein DDR- oder Westsender war. Übrigens“, flicht sie ein, „war das nicht mein erstes Singen in dem Saal. Als Kind stand ich da mal auf einem Tisch, mir zu Füßen ein Zitherspieler, der mir unter den Peticoat lugte, und ich sang den Schneeschuhfahrermarsch von Anton Günther auf erzgebirgisch.“

1967 nahm Chris Doerk bei Amiga ihre erste Schallplatte auf, eine EP Quelle RYM

Wenngleich Chris das noch nicht so sah, doch jener Auftritt beim Tanzabend im Böhlaer Gasthof 1958 deutete schon auf die Zukunft der Friseurstochter hin. Außer ihrer Mutter, der das peinlich war, hatte die 16jährige alle begeistert. Die Jungs von der ABC-Band boten ihr an, sie als Sängerin aufzunehmen. Die Zustimmung der Eltern vorausgesetzt. Es kostete Chris keinen Kampf, die Einwillung der Eltern zu bekommen. „Die Auftritte fanden ja alle in der Nähe statt.“ Die Mutter wies sie nur daraufhin, aufzupassen, sich nicht mit irgendwem einzulassen. Chris nahm sich das zu Herzen. Außerdem wüßte sie sich schon zu wehren. Es ging nämlich das Gerücht, dass an der alten Kiesgrube, an der sie von ihren Auftritten auf dem Weg nach Hause vorbei musste, gern mal jungen Mädchen aufgelauert würde. Für einen solchen Fall hatte sie „vorgesorgt“. Lachend erzählt sie, dass ihr eine Nachbarin geraten hatte, als „Waffe“ Pfeffer in einer Hand bereitzuhalten. „Ich trat auf dem Nachhauseweg im Dunkeln aber so schnell in die Pedalen, dass ich völlig durchgeschwitzt war, wenn ich an der Grube vorbeifuhr, und der Pfeffer in meiner Hand festklebte. Da wäre kein Krümel geflogen.“

Eines der seltenen
Fotos, die Chris aus ihren Anfängen als Sängerin gefunden hat. Hier hatte sie in Großenhain 1963 oder ’64 einen Auftritt mit einer Band der NVA Foto: privat

Mit der ABC-Band zog sie über die umliegenden Dörfer zwischen Meißen und Großenhain. Fünf Mark bekam die Amateursängerin pro Abend für ihre Auftritte in Tanzlokalen, Scheunen und auf Dorffesten. Sie hatte die gängigsten Schlager 50er Jahre in petto. Manchmal fuhr sie der Vater mit seinem Motorroller zu den Veranstaltungen und wartete. „Er saß dann ganz stolz hinten in einer Ecke“, erzählt Chris, „und wenn ich gesungen habe Papa, du bist so reizend, so schick und elegant, Papa, wenn ich nur wüßte, wo Mama dich einmal fand, strahlte er übers ganze Gesicht.“ Der Titel war ein Hit von Julia Axen.

„Ich hatte nie vor, Sängerin zu werden, aber das Schicksal hat mich da einfach so reingeschubst. Was ich dem Schicksal sehr danke“, zieht Chris ein kurzes Resümee. Sie wäre wohl die singende Gebrauchswerberin geblieben, hätte sie nicht einen Aufruf für die Talentshow „Herzklopfen kostenlos“ gesehen. Heinz Quermann hatte die Unterhaltungssendung 1958 ins Leben gerufen und suchte regelmäßig junge Nachwuchskünstler. Die Veranstaltung fand in Großenhain statt. „Ich wollte unbedingt da hin“, erzählt Chris. Allein traute sie sich aber nicht. Also fragte sie eine Freundin, ob sie mitkommen wolle. „Wir traten mit Winni, winni, wanna, wanna auf“, erinnert sich Chris. „Karin“, sage ich, „du warst mit Karin dort.“ Die Überraschung ist perfekt. „Woher weißt du das“, fragt Chris. Ich erzähle ihr, dass Karin ZSGL-Sekretärin der FDJ an meiner EOS in Kleinmachnow war.

Bei ihrem zweiten Auftritt in der Talentshow „Herzklopfen kostenlos“ 1963 sang Chris „Summertime“ aus dem Musical „Porgy & Bess“. Foto: Screenshot/mdrMeine Schlagerwelt“

Das Duo Chris & Karin klang nicht ganz harmonisch, aber Chris fiel auf. „Ich war gerade 19 geworden, als ein Telegramm von Perikles Fotopoulos kam.“ Sie hatte den bekannten griechischen Sänger schon im Radio gehört. Er suchte für sein Programm noch Sängerinnen und lud sie zum Vorsingen nach Berlin ein. „Ich hatte keine Ahnung, wie er auf mich gekommen ist, aber ich bin hingefahren.“ Sie wurde eine der drei „Ponys“, mit denen Perikles Fotopoulos ab 1963 durch das Land tourte. Bis dahin sang Chris noch weiter bei der ABC-Band, radelte einmal in der Woche 30 Kilometer zum Gesangsunterricht nach Dresden zu Herrn Poike. Er war Dozent an der Musikhochschule. Durch ihn kam sie zu Günter Hörig, dem Leiter der Dresdner Tanzsinfoniker. Er holte Chris 1962 als Sängerin in seine Swing- und Jazz-Bigband. „Ein phantastisches Orchester. Diese Zeit war für mich eine sehr gute Schule.“ Sie beginnt zu swingen: „Bei mir bist du scheen, please let me explain…“ Das geht ins Blut.

Die Andrew Sisters waren eine amerikanische Girlgroup. Die Schwestern tourten ab 1932 durch die USA. Mit dem jiddischen Song „Bei mir bist du Scheen“ wurden sie international berühmt Quelle: wiki.org ©Universal Pictures

Ich mache an dieser Stelle mal einen Abstecher in die Geschichte des Liedes, weil ich das sehr wissenswert finde. Dieser weltweit populäre Song, mit dem die Andrew Sisters 1937 eine Goldene Schallplatte gewannen, hat eine traurige Geschichte. Er entstand 1932 als Duett für ein jiddisches Musical. Komponiert hatte die Melodie Sholom Secunda, ein russischer Kantor, der in die USA eingewandert war. Das Musical lief nur eine Spielzeit in einem jüdischen Theater im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Nach seiner Absetzung verkaufte der Komponist das Lied einem Verlag für 30 Dollar, die er sich mit dem TexterJacob Jacobs teilte. Das Musical verschwand in der Versenkung, das Lied nahm über das Radio einen Lauf um die Welt. Als die Nationalsozialisten den Ursprung des Erfolgsschlagers entdeckten, tilgten sie ihn aus den deutschsprachigen Radioprogrammen, die Platte verschwand vom Markt.

Im April 1968 wurde Chris’ Sohn Alexander Schöbel geboren Foto: privat
Blick auf einen Teil von Alexanders Farm in Tiraumea auf Neuseeland. Er ist 2004 hierher ausgewandert. Nach den Prinzipien der Permakultur von Kaukau-a-Tara Organics hat er in Tiraumea einen Kiefernwald in eine Obst- und Gemüse-Plantage verwandelt. Er lebt hier mit seiner Frau und den beiden Söhnen Foto: privat

1963 zog Chris von Böhla nach Berlin. Perikles Fotopoulos hatte den Mädels seines „Pony“-Trios eine kleine Dachgeschosswohnung in Grünau besorgt. Chris war einundzwanzig und die Kindheit nun endgültig vorbei. Mit ihrem zweiten Auftritt bei „Herzklopfen kostenlos“ 1963, diesmal in der Fernsehsendung, wo Millionen Zuschauer die zierliche junge Frau mit der kessen Ausstrahlung sahen und hörten. Ihre Interpretation des Songs „Summertime“ aus dem Musical „Porgy & Bess“ hinterließ sie einen tiefen Eindruck. Unter anderem bei dem schon etwas bekannten Sänger Frank Schöbel. Ihr Kennenlernen wurde oft erzählt, ihre gemeinsamen Erfolge konnte die DDR-Nation miterleben. „Es kam etwas in Gang, was kein Manager so hätte planen können“, konstatiert Chris. Beruflich wie privat erlebte sie wundervolle Zeiten, doch, wie inzwischen hinlänglich bekannt, auch schmerzvolle. Ihr Leben war öffentlich geworden. Vieles wurde geschrieben und gesagt, vieles ist noch nicht erzählt. Ob das eine neue Geschichte wird, bleibt offen.

Babelsberg – Exkursion in die Geheimnisse des Films Teil V

Die Fusion – eine kurzzeitige Rettung

1919 schloss sich Erich Pommer mit dem Filmproduzenten Rudolf Meinert zusammen, und sie entwickelten Decla-Film zu einer der führenden deutschen Filmgesellschaften der frühen Weimarer Zeit. Ihre Produktionen sind ehrgeizig auf Qualitätsfilme ausgerichtet.

Abenteurer und Weltenbummler Kay Hoog (Carl de Vogt) jagt dem sagenhaften Goldschatz der Inkas hinterher. Er verliebt sich in die Inka-Sonnenpriesterin Naëla (Lil Dagover). Doch sie wird von der Anführerin der Verbrecherorganisation „Die Spinnen“ ermordet. Hoog schwört Rache… c/o filmportal/Murnau-Stiftung, DIF

Auch, um sich gegen die UfaKonkurrenz mit ihrem umfangreichen Produktionsprogramm aller Genres behaupten zu können. Es erscheinen Superlative wie Decla-Abenteuerklasse“ und „Decla-Weltklasse“. Im Sommer 1919 dreht Regisseur Fritz Lang in Hamburg und Berlin den zweiteiligen Abenteuerfilm „Die Spinnen“. Aufgrund des kommerziellen Erfolgs des ersten Teil musste er den zweiten Teil eher als vorgesehen beenden und die ihm zugedachte Regie für das mystisch-düstere Werk Das Cabinet des Dr. Caligari“ an Robert Wiene abgeben. Ich habe den Film irgendwann während meiner Studienzeit Anfang der 70er Jahre im Leipziger Filmkunsttheater Casino gesehen, das heut nicht mehr existiert.

Szene mit Conrad Veidt als der „Somnambule“ Cesare und Lil Dagover als das Mädchen Jane c/o filmportal/Murnau-Stiftung/DIF

Hier wurden Filme gezeigt, die im üblichen Programm der DDR-Kinos nicht aufgeführt wurden. Eben auch Filmklassiker wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“, den man als Journalistik-Student „unbedingt gesehen haben sollte“. Meine Kommilitonen von der „Kulturjournalisten“-Fraktion redeten sich heiß. Es ging weniger um die grauenerregende Geschichte des zwielichtigen Dr. Caligari, der einen Schlafwandler als Jahrmarktsattraktion herumzeigt und ihn nachts Morde begehen lässt. Vielmehr wurde über die 1919 neuartige Umsetzung, den künstlerischen Stil des Films, diskutiert.

Szene mit Hans Heinrich von Twardowski und Friedrich Fehér (v.l.n.r.) Der ungewöhnliche, damals neuartige Stil bei Gestaltung der Szenen machte „Das Cabinet des Dr. Caligari“ weltberühmt Screenshot/©Willy Hameister

Ich konnte mir – dank Internet – jetzt noch einmal eine Fassung ansehen. Mit seinen grotesk verzerrten Kulissen in kontrastreicher Beleuchtung, gemaltem Licht und Schatten, hatte er schon etwas Erschauerndes. Zartbesaiteten konnte er das Fürchten lehren. Und kann es heute noch. Wer ihn nicht kennt, sollte sich diesen außergewöhnliche Stummfilmklassiker bei Youtube zu Gemüte führen. „Das Cabinett des Dr. Caligari“ gilt aus filmgeschichtlicher Sicht als der künstlerische Höhepunkt der expressionistischen Filmkunst in den 1919er und 20er Jahren. Die Bauten mit den verwinkelten und verzerrten Räumen wurden von den drei Filmarchitekten und Szenenbildnern Hermann Warm, Walter Röhrig und Walter Reimann entworfen und gestaltet. Er war nicht nur ein Meilenstein für die kommende Generation der phantastischen Horrorfilme. Er führte auch zu einer wichtigen Entscheidung, was die Zukunft der Babelsberger Filmproduktion betraf.

Conradt Veidt als Schlafwandler und Werner Krauß als Dr. Caligari 1919/1920 c/o filmportal/Murnau-Stiftung, DIF, SDK

Die Dreharbeiten für „Das Cabinett des Dr. Caligari“ fanden laut filmportal.de von Dezember 1919 bis Januar 1920 noch im Lixie-Atelier der Filmstadt Weißensee statt. Wikipedia meint, die Kulissen hätten in Babelsberg gestanden. Was ich bezweifle.
Der internationale Erfolg des Films bestärkte Erich Pommer in seinem Ansinnen, dass nur künstlerische Großproduktionen die intellektuelle Oberschicht und zugleich den einfachen Zuschauer anziehen und die Kassen füllen. Wenngleich ein filmisches Meisterwerk, war Das Cabinet des Dr. Caligari“ wirtschaftlich kein großer Wurf war. Erich Pommer erkannte: Für seine ehrgeizigen Ziele brauchte er größere Produktionskapazitäten als sie die Weißenseer Ateliers boten. Im Frühjahr 1920 fusionierte die Decla-Film A.G. mit der Deutschen Bisocop zur Decla-Bioscop A.G., nunmehr zweitgrößte deutsche Filmgesellschaft nach der Ufa. Als Gründungstermin steht der 29. April 1920. Erich Pommer verfügte damit über eine großzügige, von Guido Seeber nach Kriegsende sanierte und mit neuer Technik ausgestatteten Atelieranlage auf einem ausdehnbaren Freigelände, die in ihrem Potenzial noch viel Luft nach oben hatte.

Ganz verschwand die Produktionsfirma „Deutsche Bioscop“ jedoch nicht. Sie arbeitete – wie ich der Filmographie entnahm – bis zur Übernahme der Decla-Bioscop durch die Ufa als eigene Abteilung für Natur- und Kurz-Dokumentarfilme. Da wird Aus dem Mäusereich“ berichtet, von den Verborgenen Wundern unserer Gewässer“ erzählt oder die schöne Insel „Rügen“ vorgestellt. Aber auch einige jugendfreie Kurz-Spielfilme wie „Madame Flederwisch“ und Ritter Hans Brausewind“ kommen als Deutsche Bioscop-Produktion ins Kino.

Szene aus „Genuine“ mit Fern Andra als Vampyr und Hans Heinrich von Twardowski als ekstatischer Friseurlehrling Florian c/o filmportal/Murnau-Stiftung, DIF

Die noch unter den Folgen des Krieges leidende Bevölkerung sehnte sich nach Filmen, die sie für eine Weile dem Alltag entrissen, der für die meisten ein Kampf ums Überleben war. Das Geld verlor immer mehr Wert (seit 1914 nahm die Inflation zu), Arbeitslosigkeit und Hunger herrschten. Es klingt paradox, aber die Kultur boomte mit Beginn der 20er Jahre. Sensationsfilme und exotische Abenteuer erfüllten die Sehnsüchte der Menschen. Als eine der ersten Babelsberger Produktionen der Decla-Bioscop drehte Regisseur Robert Wiene das expressionistische Schauermärchen „Genuine. Die Tragödie eines seltsamen Hauses“, für das wiederum Carl Mayer das Drehbuch verfasste. Doch die Geschichte der grausamen Priesterin einer esotherischen Sekte, mit blutrünstigen Ritualen, erreichte nicht die

Genuine fordert von dem in ekstatischer Liebe entbrannten Florian das Blutopfer c/o filmportal, Murnau-Stiftung, DIF

erwartete Qualität. Die allzu bizarren Arabesken der Kulissen des Malers César Klein schufen zuviel Unruhe und übertönten die schauspielerische Leistung. Auch wurde nicht wie erhofft intellektuelles Publikum angesprochen. Dennoch bleiben für Erich Pommer Autorenfilme und literarische Verfilmungen das Wichtigste in seinem Spielfilmprogramm. Nach der Novelle von Heinrich Zschokke ließ er im Barockschloss Glatz und in den Babelsberger Studios den „Roman der Christine von Herre“ drehen. Die Dreharbeiten dauerten von Mai bis August 1921. Am 29. September fand die Uraufführung statt.

Nach dem Märchen „Gevatter Tod“ produzierte Decla-Bioscop 1921 in Babelsberg „Der müde Tod“ mit Lil Dagover als Braut, die ihren Geliebten retten will. Karl Platen mimt den Tod. c/o Stiftung Deutsche Kinemathek

Zu einer der erfolgreichsten Produktionen, die Erich Pommer in der Decla-Bioscop-Zeit verantwortet, wurde „Der müde Tod“. Die expressionistisch-romantische Adaption des Grimmschen Märchens „Gevatter Tod“ realisierte Regisseur Fritz Lang nach einem Drehbuch seiner Frau, der erfolgreichen Autorin Thea Harbour. Ein Volkslied in sechs Versen nannte Lang seinen Film. Zusammen mit den Architekten Walter Röhrig (deutscher Teil), Hermann Warm (orientalischer und venezianischer Teil) und Robert Herlth (chinesischer Teil) schuf er auf dem Babelsberger Ateliergelände eine Szenerie, die den poetisch-romantischen Charakter der Handlung voll zur Geltung bringt, egal, ob sie in einer verträumten deutschen Kleinstadt oder in der orientalischen Pracht eines Kalifenpalastes stattfindet.

Lil Dagover in der Kulisse einer deutschen Kleinstadt, wie sie von Architekt Walter Röhrig auf dem Freigelände des Neubabelsberger Studios aufgebaut wurde c/o filmportal/SDK

Zauberhafte Bilder erschienen auf der Leinwand. Wahre Begeisterung riefen die Filmtricks hervor. Lang verwendete in der „chinesischen Episode“ einen für die damalige Zeit sehr aufwendigen Trick mit einem Riesenmodell der Stiefel des Zauberers, durch die eine Armee winziger Menschen aufmarschiert. Langs Kinotricks nahm Hollywood-Regisseur Raoul Welsh 1924 als Vorbild für seinen Film „Der Dieb von Bagdad“.

Das Mädchen (Lil Dagover) sucht auch im Land des Kalifen (Eduard von Winterstein) nach einem Menschen, der sein Leben für das ihres Geliebten gibt. Doch jeder, auch wenn er alt und gebrechlich ist, hängt an seinem Leben c/o filmportal, SDK

Fritz Langs 1921 gedrehte volksliedhafte, thematisch einfache Parabel von der Liebe, die stärker ist als der Tod, in außergewöhnlich ausdrucksstarken Bildern von großer Schönheit sollten alle Filmfreunde gesehen haben“, schrieb der Evangelische Filmbeobachter in seiner Kritik 280/1969. Die Uraufführung wurde am 6. Oktober 1921 mit einem großem Aufwand im Berliner Mozartsaal gefeiert.

Ein neues Filmimperium wird geboren

Nur ein paar Tage später, am 11. Oktober 1921, beschloss die Decla-Bioscop A.G. ihre Fusion mit der Ufa, die damit nicht nur ihren größten Konkurrenten ausschaltete. Mit der Übernahme der Neubabelsberger Ateliers und Produktionsanlagen sowie des Decla-Gründers und ambitionierten Filmproduzenten Erich Pommer verschaffte sich die Ufa ein kreatives Potenzial, das in den kommenden Jahren ihr Gesicht entscheidend prägen würde. Das Studio entwickelte sich unter der Ägide von Erich Pommer zum lebendigsten und innovativsten in Deutschland.

Lyda Salmonova und Paul Wegener bei Dreharbeiten zu „Das Weib des Pharao“ 1921 c/o filmportal, DIF

Regisseure wie Ernst Lubitsch („Das Weib des Pharao“, 1922) Friedrich Wilhelm Murnau („Der letzte Mann“, 1924), vor allem aber Fritz Lang („Die Nibelungen“, 1922/24), schufen mit ihren Filmen in den kommenden Jahren die Grundsteine für den Mythos Babelsberg. Filmschaffende aus Hollywood und europäischen Ländern pilgerten hierher, um sich über Szenenbild, Filmtechnik und Filmarchitektur auf den neusten Stand bringen zu lassen. Fast täglich berichtete die Presse über Dreharbeiten und Starauftritte, spektakuläre Filmtricks und atemberaubende Kulissenbauten. In diese Zeit von 1921 führen die nächsten Teile meiner Exkursion in Babelsbergs Geheimnisse des Films.

Guido Seebers Abschied von Babelsberg

Was wäre Babelsberg ohne seinen Gründungsvater, den Chefkameramann und Technische Leiter der Bioscop. Gudio Seeber hatte bereits am 31. März 1920, im Vorfeld der Übereignung der Bioscop an Erich Pommer, schweren Herzens den Betrieb verlassen, in den er sich mit viel Liebe und Hingabe, seinem Wissen und Können eingebracht hatte, um den deutschen Film voranzubringen. Als freier Kameramann wirkte er für verschiedene Filmproduktionen, ehe er 1935 nach Babelsberg zurückkehrte.

Dreharbeiten 1920 für „Das wandernde Bild“, Regisseur Fritz Lang in der Mitte, Guido Seeber hinter der Kamera c/o filmportal/Murnau-Stiftung, DIF

Guido Seeber „kurbelte“ für bedeutende Regisseure und Filme wie Fritz Langs Das wandernde Bild“, (1920), Georg Wilhelm Pabsts Die freudlose Gasse“ (1925) und „Geheimnisse einer Seele“ (1926). Seine größte Aufgabe war der vierteilige Monumentalfilm Friedericus Rex unter der Regie des Ungarn Arzén von Cserépy. Die Dreharbeiten an historischen Stätten in Potsdam und Berlin-Charlottenburg sowie im Cserépy-Atelier und im Jofa-Filmstudio erstreckten sich von 1920 bis 1921 an historischen Orten in Potsdam. Sie zählten zu den erfolgreichsten, aber auch umstrittensten Filmen der 1920er Jahre.

Wissend um die Begabung Seebers im Umgang mit der Kamera – er entwickelte mehrere Tricktechniken, wusste die Perspektive des Raums zu nutzen und arbeitete mit Hell-dunkel-Kontrasten – setzte ihn der österreichische Regisseur Lupu Pick für die Außenaufnahmen seines Kammerspielfilms „Sylvester“ ein. Zur Erklärung: Der Kammerspielfilm ist ein Subgenre des Stummfilms und hatte seine Blütezeit zwischen 1921 und 1925. Er steht durch psychologische Ausformung von Figuren und Situationen in realistischer und naturalistischer Weise im Gegensatz zum Expressionistischen Film.

Szene aus dem Stummfilmdrama „Sylvester“ mit Edith Proscva, Eugen Klöpfer und Frida Richard c/o filmportal/DIF

Für diesen Film drehte Guido Seeber November 1923 auf Helgoland vielbeachtete Mondaufnahmen mit einem Teleobjektiv. Das Drehbuch hatte der Schriftsteller und Drehbuchautor Carl Mayer geschrieben. Das ist insofern erwähnenswert, weil Mayer eine Form des Drehbuchschreibens entwickelte, wie sie heute noch gebräuchlich ist. Er gab am linken Rand neben dem Text Hinweise für Kamerabewegungen wie Fahrten, Schwenks bzw. die Größe der jeweiligen Einstellung. Filmische Stilmittel, wie sie Guido Seeber schon angedeutet 1913 in „Der Student von Prag“ einsetzte.

Neben seiner Filmarbeit widmete sich der inzwischen über 40Jährige technischen Experimenten und der Herstellung ungewöhnlicher Trickfilme. 1923 beteiligte er sich an den Tonfilm-Experimenten der Tri-Ergon-Film. 1925 stellte er einen Trick-Werbefilm für die Kino- und Photo-Ausstellung (Kipho) her und schrieb ein Kompendium der optischen Tricktechniken. Große Aufgaben als Kameramnn hatte er in der Tonfilmzeit nicht mehr. Er filmte leichte Unterhaltungsfilme wie Rudolf Walther-Feins Wochenendzauber“, der „prachtvolle Aufnahmen des Thalersees enthält“, oder „Das Heiratsnest“. Beide entstanden 1927.

Kameramann und Trickspezialist Guido Seeber um 1935 c/o filmportal/DIF

Nach einem Schlaganfall 1932 beendete Guido Seeber seine aktive Kameraarbeit, ohne jedoch dem Film ganz den Rücken zu kehren. Er veröffentlichte mehrere Bücher für Amateurfilmer sowie zwei Bände über Kamera- und Tricktechnik, die bis heute auf ihrem Gebiet als Standardwerke gelten. 1935 übernahm Guido Seeber die Leitung der Abteilung Filmtrick der Ufa , wo er u. a. eine Rückpro-Anlage aufbauen ließ. Trotz meiner Hochachtung vor den Leistungen dieses Filmpioniers, will ich nicht verschweigen, dass sich Guido Seeber darauf einließ, nach der Machübernahme der Nazis für einige „Blut- und Boden“-Filme wie „Zwei gute Kameraden“ (1932/33), „Die Saat geht auf“ (1934/35), und „Ein Mädchen mit Porkura“ (1934) sowie den antisemistische Streifen „Nicht weich werden, Susanne!“ (1935) Kamera zu bedienen. Guido Seeber starb 1940 mit 61 Jahren in Berlin.

Lucie Höflich (1.v.l.), Helga Thomas (2.v.l.), Hans Brausewetter (3.v.l.), Mady Christians (rechts) in dem Stummfilm „Ein Glas Wasser“ c/o Filmportal/Murnau-Stiftung. DIF

Über das Filmimperium Ufa und Babelsbergs Wachsen zum größten deutschen Filmstudio in der Zeit von 1922-1933 werde ich im neuen Jahr hier etwas veröffentlichen.

Babelsberg – Exkursion in die Geheimnisse des Film Teil IV

Zwischen Propaganda und Kunst

Nach kurzem Stillstand nahm die Bioscop mit unzureichenden Kräften und unzureichenden Mitteln im August 1914 die Filmproduktion wieder auf. Ohne ihre Visonäre Rye, Wegener, Seeber und ihren Starautoren Hans Heinz Ewers blieb sie filmkünstlerisch unbedeutend. Ewers befand sich bei Ausbruch des Krieges in New York, wo er bis 1920 blieb. Kurz zuvor hatte er noch mit Regisseur Max Obal das Liebesdrama „Die Launen einer Weltdame“ mit Tilla Durieux in der Hauptrolle verfilmt. Es kam im Juni 1914 ins Kino. Die „Kinematographische Rundschau“ urteilte seinerzeit: Ewers „schildert alles so unmenschlich schön, seinen modernsten Menschenschöpfungen haften stets die mythischesten Bocksfüße an, daß es den Zuschauer im Behagen gruselig überläuft. (…) Der Film ist von der Bioskop mit der ganzen Liebe gemacht, die sie für die Werke Hans Heinz Ewers aufbringt. Durchwegs schöne stimmungsvolle Bilder in einwandfreier Darstellung.“

Tilla Durieux 1914 in Hans Heinz Ewers Drehbuchverfilmung „Die Launen einer Weltdame“ c/o filmportal/DIF

Die künstlerische Blütezeit der Babelsberger Filmproduktion war damit vorerst beendet. Was in den vier Kriegsjahren aus dem Studio kam, war wenig rühmlich. Wenngleich der Importstop für ausländische Filme bewirkte, dass die Filmfirmen in und um Berlin ihre Produktion verzehnfachten. Pro Jahr kamen statt 25 nun 250 Filme auf die Leinwände. Die Erwartungen des Publikums an das Kino waren nach Kriegsausbruch hoch. Eine allgemeine Unruhe hatte sich seiner bemächtigt. Die Bevölkerung hatte ein großes Bedürfnis nach Informationen des Geschehens. Die Leinwand war gewissermaßen das Fenster zur Front. Man glaubte dem, was man sehen konnte mehr als der Presse. Dass hier manipuliert, geschönt und gelogen wurde, holte die Menschen damals nicht durch. Das ist auch heute noch zum großen Teil so, obwohl fast jeder weiß, dass Filmnachrichten nicht zwangsläufig wahr sind. Damals jedenfalls stieg die Zahl der Kinobesuche, das Filmgeschäft florierte.

„Der Weg des Todes“ mit Maria Carmi und Carl de Vogt ist ein Stummfilmelodram von Robert Reinert c/o filmportal/Murnau-Stiftung/DIF


Das deutsche Kriegsministerium begann bereits 1916 damit, das Filmwesen für die psychologische Kriegsführung zu nutzen. Aus diesem und keinem anderen Grunde erfolgte am 18. Dezember 1917 mit 25 Millionen Reichsmark Startkapital unter geheimer Beteiligung der deutschen Regierung, des Kriegsministeriums und der Deutschen Bank die Gründung der „Universum-Film-Aktiengesellschaft“ als Zusammenschluss der deutschen Tochtergesellschaften der dänischen Nordisk, der Projektions-AG-Union (PAGU), der May-Film GmbH und der Messter-Unternehmen. Vorrangige Aufgabe der UFA sollte es sein, Spielfilme, Dokumentarfilme, Kulturfilme und Wochenschaubeiträge zu produzieren, die im Ausland Propaganda für Deutschland machen sollten. So brachte der Erste Weltkrieg ein neues Genre hervor – den Propagandafilm. Die Deutsche Bank, die eher geschäftliche Interessen hatte, setzte aber durch, dass statt dessen bald aufwendige Unterhaltungsfilme hergestellt wurden.

Szene aus dem 1915/16 gedrehten Fantasiemelodram „Das Wunder der Madonna“ mit Theodor Loos und Maria Carmi von Walter Schmidt-Hässler und Robert Reinert c/o filmportal/Murnau-Stiftung/DIF

Die wirtschaftlich angeschlagene Bioscop versuchte, mit einem hohen „Ausstoß“ an Liebesfilmen, Komödien, vor allem auch „patriotischen“ Kurz- und Dokumentarfilmen mitzuhalten. Mehr als 200 Filme kamen in den vier Kriegsjahren aus den Neubabelsberger Ateliers. Fast ein Viertel davon hat der Schauspieler und Regisseur Emil Albes gedreht. Er engagierte sich seit Aufkommen des Films sehr für das neue Medium und arbeitete mehr oder weniger regelmäßig seit 1911 für die „Deutsche Bioscop“. Wie Rye, Ewers und Wegener sah auch er im Gegensatz zu vielen anderen Theaterschauspielern und -regisseuren im Film neue Möglichkeiten, sich auszudrücken. Mit 52 Jahren war er für den Kriegsdienst möglicherweise zu alt, um eingezogen zu werden. Aber es brauchte ja auch Regisseure, Schauspieler, Drehbuchautoren, um das Filmwesen für kriegsdienliche Manipulationen nutzen zu können. Albes drehte 1914 die ersten schrecklichen Babelsberger-Kriegsfilme „Die Grenzwacht im Osten. Nun wollen wir sie dreschen“ und „Flecken auf der Ehre“. In Babelsberg begann damit eine langanhaltende Traditionlinie dieses, durch den Krieg neuaufgekommene Genre des Propagandafilms.
Mit Paul Wegener in einer Doppelrolle brachte Emil Albes im September 1915 den Kurzfilm „Die Rache des Blutes“ ins Kino. Zur Besetzung gehörten Lyda Salmonva, der Schauspieler und Dramaturg Rudolf Blümner sowie die damals bekannte Theaterschauspielerin Martha Angerstein. Es war mir nicht möglich, Näheres über den Inhalt in Erfahrung zu bringen. Dennoch wollte ich ihn anführen, da er eine doch hochkarätige Besetzung hat. In der Filmographie der Bioscop finden sich eine Unmenge Filme, von denen man offenbar nicht mehr weiß als den Titel, wann er in Babelsberg produziert wurde, und eventuell steht noch der Regisseur dabei.

Olaf Fønss als Humunculus in „Liebeskomödie“ c/o filmportal/Murnau-Stiftung, DIF

Es kam 1915/16 eine Reihe neuer Regisseure und Drehbuchschreiber wie Regisseur Walter Schmidthässler, die Österreicher Robert Reinert und Emil Justitz nach Babelsberg oder der Schwede Nils Chrisander. Zu den wenigen wichtigen und erfolgreichen Bioscop-Produktionen dieser Zeit gehört der Spielfilm „Homunculus“ von Otto Rippert aus dem Jahr 1916. Der bis heute utopische Traum, einen künstlichen Menschen erschaffen zu können, wird hier zum ersten Mal filmische Realität. Das Drehbuch verfasste Robert Reinert nach einer eigenen Romanvorlage. Im Mai 1916 begannen in Babelsberg die Dreharbeiten für den ersten Film der sechs Teile. Die sensationelle, schauerromantische Fortsetzungsserie wird innerhalb von fünf Monaten fertiggestellt. Die Titelrolle spielt der dänische Filmstar Olaf Fønss, dem die Bioscop die höchste Gage gezahlt haben soll, die jemals ein Schauspieler im deutschen Film bekam. Bemerkenswert sind die von Kameramann Carl Hoffmann bewerkstelligten stilisierten Bildlösungen und Hell-Dunkel-Wirkungen, die heutigen Filmhistorikern zufolge „einen der fraglos künstlerischen Triumphe des Films“ darstellen.

Als der Homunculus (Olaf Foenss) das Geheimnis seiner Entstehung entdeckt, wird er gepackt von Hass gegen seinen Erzeuger Dr. Hansen und dessen Tochter (Lore Rückert), die ihn liebt. Obgleich er sich instinktiv nach diesem Gefühl sehnt, wird er niemals lieben können. Er treibt er die junge Frau in den Tod und schwört,Schrecken über die Menschheit zu bringen c/o filmportal/DIF

Es war nach langem wieder ein Autorenfilm, künstlerisch hochwertig und aufwendig produziert. Die Auswirkungen des Krieges blieben auch hier nicht spurlos. In einem Zwischentitel des 4. Teils „Die Rache des Homunculus“ heißt es: Der Erdball soll unter dem Wüten der Völker erzittern…“. Der Originalfilm wurde 1920 gekürzt und als Dreiteiler wiederaufgeführt. Die drei Teile, die die Filmzensur Anfang September 1920 passiert hatten, trugen die Titel „Der künstliche Mensch“, „Die Vernichtung der Menschheit“ und „Ein Titanenkampf“.

Carl de Vogt als Ahashver der „ewige Jude“ c/o filmportag/DIF

Dem Autor Robert Reinert hatten die „Homunculus“- Drehbücher nach seinen Debüts 1915 als Drehbuchautor der PAGU-Produktion „Der geheimnisvolle Wanderer“ und als Regisseur des Bioscop-Films Küsse,die töten“ den Durchbruch im Filmgeschäft gebracht. Das in den USA bekannte Format des Serienfilms hatte auch in Deutschland Erfolg. Im Jahr 1917 inszenierte er ein zweites gewaltiges Filmwerk, den dreiteiligen phantastisch-mystischen Stummfilm „Ahashver“. Ein Meisterwerk, für feines Publikum, für die große Masse aber schwer verständlich, ist in der österreichischen Wochenzeitschrift für Lichtbild Kritik „Paimann’s Filmlisten“ zu lesen. 1920 wurde von „Ahashver“ eine einteilige Fassung hergestellt und 1912 erneut in die Kinos gebracht.
In Babelsberg begann damit die Produktion von Monumental- und Ausstattungsfilmen, die in den 20er Jahren aufblühte.

„Karlchen, der glücklich Erbe“ mit Karl Victor Plagge (M), von ‚Robert Leffler, Bioscop,1919,c/o filmportal/ DIF

Der Zustand der Neubabelsberger Filmfirma war am Ende des zweiten Weltkrieges erbärmlich. Weil sich die wirtschaftliche Lage nicht verbesserte, versuchte die Geschäftsführung 1917 die Atelieranlage an die gerade neugegründete Ufa zu verkaufen. Ohne Erfolg. Als Guido Seeber 1918 an seine Babelsberger Arbeitsstätte zurückkehrte, fand er den Betrieb „in einem durchaus unerfreulichen Zustand“ wieder. Erneut kam ihm die Aufgabe zu, aufzubauen, zu sanieren, die neue Technik berücksichtigend, für die keine Mittel vorhanden waren. In der Nachkriegszeit sanken die Eigenproduktionen bis 1919 auf wenige Filme und eine Serie – die „Karlchen“-Reihe von Emil Albes mit dem Komiker Karl Victor Plagge in der Titelrolle. Vermietungen an andere Filmfirmen wurden zur Regel.

Szene aus Nils Chrisanders phantastischem Stummfilmdrama „Cagliostros Totenhand“ mit Martha Novelly, das 1919 in der zensurlosen Zeit von der Bioscop produziert worden ist und im September in Österreich-Ungarn anlief c/o filmportal/DIF

Die Konkurrenz auf dem deutschen Filmmarkt, der weitgehend von der in dieser Zeit staatlich finanzierten Ufa beherrscht wird, ist enorm. Nicht nur die Bioscop hat da trotz guter Filme das Nachsehen. Auch der Filmproduzent Erich Pommer sieht sich gezwungen, etwas zu unternehmen, um sein kleines Unternehmen, die Decla-Film-Gesellschaft Holz & Co, vor dem Untergang zu bewahren. Ich mache hier einen kleinen Abstecher zur Vorgeschichte der Fusionierung der Deutschen Bioscop mit der Decla zur Decla-Bioscop A.G, die am 29. April 1920 erfolgte.

Ursprünglich war Decla-Film eine Tochtergesellschaft der französischen Eclair. Gegründet 1911, ging sie als politische Folge des Krieges 1915 in deutsches Eigentum über. Als ehemaliger Generalvertreter der Eclair für Europa und Skandinavien kam er in den Genuss des gewonnenen französischen Kapitals und gründete mit dem Berliner Filmverleiher Fritz Holz am 2. Februar 1915 die Decla-Film-Gesellschaft Holz & Co. und die Decla-Kinokette. Pommer produzierte Genrefilme aller Art, setzte dabei auf künstlerische Qualität. Seine Abenteuer- und Detektivfilme, Melodramen, Liebeskolportagen, Gesellschaftsstücke und Kurzfilm-Serien füllten die Kinos.

Der Weg, der zur Verdammnnis führt“ mit Charlotte Böcklin (vorn) erzählt die Geschichte eines Mädchens vom Lande, das in der Großstadt das angeblich wahre Leben zu suchen, verschleppt wird und in den Sumpf der Prostution gerät c/o filmportal/DIF

In den letzten Wochen des Ersten Weltkrieges inszeniert Regisseur Otto Rippert für die Decla das Stummfilmdrama Der Weg, der zur Verdammnis führt: Das Schicksal der Änne Wolter“. Es schildert das Schicksal eines jungen Mädchens vom Lande, das in der Großstadt „unter die Räder“ gerät. Der Film, der im November 1918 in den Kinos anlief, wurde von der Kritik hoch gelobt. „Der Mädchenhandel mit all seinen Schrecknissen ist in einer Weise geschildert, wie es interessanter, spannender, ungeschminkter noch nie in Wort, Schrift oder Bild geschildert wurde“, war in der „Salzburger Wacht“ zu lesen. Das trifft ebenso auf die Fortsetzung „Hyänen der Lust“ zu. Der Film gilt als einer der wichtigsten und bekanntesten Produktionen der Aufklärungs- und Sittenfilme, die vor allem in der zensurlosen politischen Umbruchszeit vom Kaiserreich zur Weimarer Republik 1918/1919 entstanden sind. Otto Rippert war neben Richard Oswald der bekannteste und wichtigste Vertreter dieses Genres.

„Das Cabinet des Dr. Caligari“ mit Friedrich Fehér, Rudolf Lettinger, Lil Dagover (v.l.n.r.) (1919/1920)

Teil V folgt am 27. Dezember. Es ist die Zeit von 1920 bis zu Übernahme der Decla-Bioscop mit der Ufa. Im Oktober 1921 beschloss Produzent Erich Pommer sein Unternehmen mit dem größten deutschen Filmkonzern zu vereinen. Bis dahin produzierte er Filmklassiker wie „Das Cabinet des Dr. Calgari“ und seinen bis dahin größten Erfolg „Der müde Tod“.

Babelsberg –Exkursion in die Geheimnisse des Films Teil III

„Der Golem“ – Mystik, Magie und Horror

Ewers und Rye verfilmten 1913 /14 mehr als zehn gemeinsame oder eigene Stoffe, oft mit Guido Seeber an der Kamera, aber auch mit Karl Hasselmann („Die Eisbraut“, „Gendarm Möbius“, Flug in die Sonne“) der eine eigene künstlerische Ausdrucksfähigkeit entwickelte. Paul Wegener, der als Charakterdarsteller große Schauspielkunst zeigte, frönte mit seinem Erstlingswerk „Der Golem“ als Autor und Regisseur seinem Faible für das Wundersame in Märchen und Sagen. Eine jüdische Legende erzählt von der sagenhaften Gestalt des Golems, von dem man sagt, er gehe alle dreiunddreißig Jahre in Prag um. Rabbi Löw soll ihn 1580 am Ufer der Moldau nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala aus Lehm geschaffen haben, weil er sich einen Gehilfen wünschte, der die Juden beschützen sollte. Gemeinsam mit dem österreichischen Drehbuchtor und Regisseur Henrik Galeen inszenierte Wegener Ende Dezember 1913 die Geschichte. Beide übernahmen die Hauptrollen. Galeen spielte den Trödler, Wegener agierte als Golem.

Henrik Galeen (l.) als Trödler, Paul Wegener in der Figur des Golem. Die Kamera führte Guido Seeber c/o filmportal/DIF/Nachlass Paul Wegener-Sammlung

Die Filmhandlung: Beim Ausheben eines Brunnens entdecken Arbeiter eine aus Lehm geformte Statue. Ein jüdischer Trödler erkennt in ihr den Golem, und mittels eines magischen Amuletts gelingt es ihm, der Statue Leben einzuhauchen. Der Golem verliebt sich in die Tochter des Trödlers, doch diese fühlt sich zu einem Grafen hingezogen. Der hühnenhafte Golem jagt ihr Angst ein. Bei einem Sommerfest, zu dem der Golem seiner Angebeteten folgt, kommt es zum Kampf auf Leben und Tod.

Die Dreharbeiten fanden an Originalschauplätzen in Prag statt. Das Studierzimmer stand auf dem Freigelände der Bioscop in Babelsberg. Einige Außenaufnahmen wurden in Hildesheim gedreht. Die bemerkenswerten Filmbauten und das Gros der Kostüme stammen von Bühnenbildner Rochus Gliese. Die Magie des Films aber geht von der Golem-Figur aus, deren Erschaffung dem expressionistischen Bildhauer Rudolf Belling oblag. Er verlieh Paul Wegener mit der starren, helmartigen Prinz-Eisenherz-Perücke, der breitschultrigen wie aus Lehm gemachten Tunika etwas Monsterhaftes, Schrecken Verbreitendes. Mich erinnert die Figur an die steinernen Rolandstatuen, wie sie im Mittelalter als Zeichen bürgerlicher Freiheit in vielen Städten, so auch in meiner Heimatstadt Quedlinburg, aufgestellt wurden.

Die Golem-Figuren von Bildhauer Rudolf Belling erscheinen identisch. Doch es gibt einen kaum bemerkbaren Unterschied. Links ist die „Puppe“ ohne, rechts Paul Wegener mit Amulett c/o filmportal/DIF

Bei der Suche nach Fotos für meinen Beitrag stieß ich auf dieses Zwillingsbild rechts. Ich konnte es zuerst nicht deuten. Dann las ich, dass Rudolf Belling noch ein Double hergestellt hat, das den Schauspieler in gefährlichen Szenen ersetzte. Beide scheinen bei flüchtigem Hinblicken identisch. Doch während Paul Wegener als lebender Golem das magische Amulett, einen Davidstern, um den Hals trägt, fehlt es bei der „Puppe“. Was dahinter steckt, vermag ich nicht zu sagen. Ein Scherz, ein Suchspiel für die Zuschauer?

Der Golem stellt der Tochter des Trödlers nach. Wie in fast allen Stummfilmen mit Paul Wegener hatte Lyda Salmonva auch hier die weibliche Hauptrolle inne. Sie wurde 1917 Wegeners dritte Ehefrau. 1923 zog sich Salmonova vom Kino zurück, 1925 ging die Ehe auseinander. c/o filmportal/DIF

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 28. Juli 1914 fertiggestellt, kam „Der Golem“ am 14. Januar 1915 ins Kino. Reclams Filmführer schreibt: „Der Film lebt vor allem von der Schauspielkunst Wegeners und von der düsteren Atmosphäre enger Gassen und verwinkelter Häuser, eines alptraumhaften Milieus, in dem das Unheimliche einleuchtend Gestalt gewann.“ Filmhistorisch wird „Der Golem“ als Geburtsstunde des Horrorfilms gesehen.

Filme im Sog des Ersten Weltkrieges

Die Bioscop erlebte mit den Autorenfilmen eine Blütezeit. Doch ihre aufwendigen Produktionen waren auch mit hohen Kosten verbunden. Im Sommer 1914 stand die Bioscop und damit die Produktionsstätte Nowawes kurz vor der Pleite. Die wirtschaftliche Situation des Unternehmens wurde durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges noch problematischer. Fast jeder dort beschäftigte Mann wurde zum Kriegsdienst verpflichet oder meldete sich freiwillig. So gut es ging hielten die Frauen bis 1918 den Betrieb aufrecht. Als Filmproduzent war die Bioscop praktisch stillgelegt, wie sich Guido Seeber später in seinen Veröffentlichungen erinnert. Er wurde im August 1914 eingezogen und diente zunächst an der Westfront. 1915 wurde er nach Warnemünde versetzt. Dort baute er die Bildabteilung des Segelflugzeug-Versuchskommandos auf und untersuchte mit Film- und Röntgen-Aufnahmen die Absturzursache von Flugzeugen. Der in Dänemark militärisch ausgebildete Stellan Rye kämpfte freiwillig auf deutscher Seite. In der ersten Flandernschlacht bei Ypern schwer verwundet, starb er am 14. November 1914 in einem französischen Lazarett. Ryes letzter Film, das Pychodrama „Haus ohne Tür“ nach einem Manuskript von Henrik Galeen, blieb unvollendet. Bis heute wurde keine Kopie gefunden.

Paul Wegener in einem Schützengraben in Flandern im Januar 1915 c/o filmportal/DIF Nachlass Wegener
Paul Wegener in einer erneuten Doppelrolle als Erfinder Rasmus und Forscher Yogi, ein fanatischer Anhänger des Gottes Shiva. Unter Yoghis Bann steht die junge Inderin Mira, mit deren unfreiwilliger Hilfe er einen unsichtbar machenden Zaubertrank herstellt. Rasmus will ihm das Handwerk legen und trinkt den Sud c/o filmportal/DIF

Auch Paul Wegener hatte sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet, wurde jedoch aus gesundheitlichen Gründen 1915 nach Berlin zurückgeschickt. Er inszenierte von da an nicht mehr in Babelsberg für die Bioscop, sondern für deren Berliner Konkurrenz, die „Projektions-AG Union“, kurz PAGU, des Filmproduzenten Paul Davidson. Wegener folgt seiner Ambition für künstlerisch hochwertige Filme sowie seiner Leidenschaft für Märchen und den Fernen Osten. Inspiriert vom Erfolg seiner Doppelrolle als Der Student von Prag“ wandte er sich 1916 erneut in einer Doppelrolle mit der mystischen Geschichte „Der Yogi“ dem Publikum des phastastischen Kinos zu. 1917 griff er sein Golem-Motiv mit dem Film Der Golem und die Tänzerin“ auf. Er persifliert darin seinen ersten Film. In den Kritiken heißt es: „Es gibt viel zu lachen in der reizenden, vieraktigen Capriccio“ (Breslauer Zeitung) . Die „Hamburger Nachrichten“ konstatieren: „Auch in diesem Film feiert das bedeutende Wegenersche Geschick, das die Möglichkeiten der Filmtechnik bis aufs äußerste erschöpft, einen wahren Triumph. Ob in Ernst und Grauen, ob in Scherz und Ulk – Paul Wegener bleibt sich immer treu.

Ernst Deutsch (r.) und Paul Wegener 1920 in Der Golem, wie er in die Welt kam“ c/o filmportal, Murnau-Stiftung, DIF

1920 folgt „Der Golem, wie er in die Welt kam“. Wegener schuf damit einen der „künstlerisch wie geschäftlich größten Erfolge der deutschen Stummfilmproduktion, dessen außergewöhnliche, von Jugendstil und Expressionismus bestimmte Bild- und Dekorgestaltung bis heute nichts von ihrer suggestiven Wirkung eingebüßt hat“, schreibt das Lexikon des internationalen Films. Die Kamera führte Karl Freund, der stilbildend für die Kinokunst der 20er Jahren werden sollte. Er ist der Erfinder der „entfesselten Kamera“ und prägte den Stummfilm-Expressionismus. Ich gehe darauf ein, wenn ich über die Zeit ab 1922 schreibe. Die Golem- Filme von 1917 und 1920 jetzt hier auszusparen, weil sie nicht in Babelsberg entstanden sind, würde heißen, Stummfilmklassiker von hohem künstlerischen Rang zu unterschlagen. Zumal sie ihren Anfang in Babelsberg nahmen. Ich habe auf Youtube Filmfassungen gefunden und zum Anschauen verlinkt.

„Lebende Buddhas“ – ein missglücktes Experiment

Es bietet sich an dieser Stelle an, der Zeit etwas vorzugreifen und einen Abstecher in den weiteren Lebensweg von Paul Wegener zu machen. Der Erfolg der Golem-Filme, insbesondere des ersten und dritten, versetzte Wegener in die wirtschaftliche Lage, 1923 eine eigene Filmfirma zu gründen, die „Paul Wegener Film AG“. Mit ihr produzierte er allerdings nur einen einzigen Film – das mystische Orient-Abenteuer „Lebende Buddhas“. Für das kostspielige Mammutprojekt engagierte er Guido Seeber als verantwortlichen Kameramann und Trickspezialisten, Asta Nielsen als weibliche Hauptdarstellerin, die damit nach zehn Jahren erstmals wieder vor Guido Seebers Kamera stand. Wegener selbst übernahm die Titelrolle, einen tibetanischen Groß Lama, der sich als Inkarnation Buddhas sieht. Unter riesigem Aufwand fanden die mehrmonatigen Dreharbeiten 1923/1924 in der Zeppelinhalle Staaken statt. Die phantasievollen Filmbauten entwarf der berühmte Berliner Architekt Hans Poelzig, der Szenenbildner Botho Höfer führte sie aus. Trickkameramann Walter Ruttmann animierte die Spezialsequenzen.

Um eine perfekte optische Täuschung zu erzielen, ließ Guido Seeber das Bild mit Hilfe eines Gazerahmens in einer mehr als 40 Meter langen Dekoration aufbauen Skizze aus „Wie haben sie’s gemacht“ von Uwe Fleischer und Helge Trimpert

Für diese technisch überaus aufwendige Produktion wandte der Gudio Seeber einmal mehr verblüffende Tricks an wie diesen: In einer Tempelszene treten mehrere Personen in ein Bild hinein, das zuvor von der Wand fällt, und verschwinden darin. Die optische Umsetzung war ein mühevolles Verfahren, das ich hier nicht in Einzelheiten schildern kann. Vielleicht vermittelt die obige Skizze über die Arbeitsschritte zur filmischen Umsetzung dieser Szenen einen Eindruck.

Faszinierend und erschreckend für die Kinobesucher, als ein riesiger Buddhakopf hinter dem Expeditionsschiff des Forschers Prof. Campbel und seinem Landsmann Dr. Smith auftaucht, und das Schiff auf geheimnisvolle Weise mit den Augen dirigiert Screenshot,c/o Youtube, ©Guido Seeber

Nicht weniger beeindruckend sind die Bilder, in denen sich der riesenhafte Kopf eines Buddhas hinter dem Horizont über dem Meer erhebt und den Hochseedampfer der Forschungsreisenden mit den Augen dirigiert. Seeber benutzte hierfür ein Verfahren, das bereits 1912 in der französischen Literatur beschrieben wurde. Ich habe die Erklärung in dem schon oben erwähnten Buch „Wie habens sie’s gemacht“ von dem ehemaligen DEFA-Trickchef Uwe Fleischer und Filmregisseur Helge Trimpert gefunden, verzichte aber hier auf die umfangreiche technische Beschreibung. Der Film galt als verschollen, erst jetzt wurden Fragmente gefunden, die auf Youtube eingestellt worden sind. Ich habe einen Link gesetzt, denn das Anschauen gibt einen Eindruck des mystischen Geschehens.

Paul Wegener hatte sein ganzes Vermögen in die Herstellung des Films gesteckt. Sein innersten Anliegen, wieder ein phantastisches Kunstwerk zu schaffen, vermochte er nicht umzusetzen. „Den Künstler Wegener reizte es, die Geheimnisse der Religionen Indiens in einem Märchen zu gestalten, und es wäre ihm vielleicht restlos gelungen, wenn nicht der Ethnologe Wegener ihm das Konzept verdorben hätte“, resümierte der Film-Kurier nach der Premiere 1925.

Paul Wegener als Großer Lama, der sich als Inkarnation Buddhas sieht. Er ist bereit, den Fremdlingen aus dem fernen Europa Zugang zum Heiligtum zu gewähren, wenn die beiden Wissenschaftler versprechen, ihr Quartier nicht zu verlassen und den Ablauf des grausamen Rituals nicht zu stören. Screenshot/Youtube,© Guido Seeber

Der Kritik in der „Lichtbild-Bühne“ nach hinterließ der Film „Lebende Buddhas“ einen zwiespältigen Eindruck, wurde aber als „literarisch und filmisch hochinteressantes Experiment“ anerkannt. Es war seine letzte Arbeit als Regisseur, denn die enormen Kosten und die schwache Resonanz des Publikums führten für die Paul-Wegener-Film AG in ein finanzielles Desaster. Er beschränkte sich nunmehr auf die Schauspielerei. Erst in den 30er Jahren begann er wieder zu inszenieren. Paul Wegener, Asta Nielsen und insbesondere Guido Seeber als Gründungsvater der Filmstadt ihre Spuren in der Babelsberger Studiogeschichte hinterlassen haben.

Olaf Fønss (rechts) in „Die Liebeskomödie des Homunculus“,c/o filmportal/Murnau-Stiftung, DIF

Teil IV wird am 25. Dezember 2021 veröffentlicht. Der Erste Weltkrieg hat die Babelsberger Filmproduktion nahezu zum Erliegen gebracht. Die angschlagene Bioscop versuchte, mit einem hohen „Ausstoß“ an Liebesfilmen, Komödien, vor allem auch Propagandfilmen mit der eben gegründeten Ufa mitzuhalten.

Geschichten über Stars, die man im Osten kennt