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Karin Ugowski – Diese Goldmarie lieben nicht nur die Kinder

Man mag es kaum glauben, aber seit sechs Jahrzehnten zieht das DEFA-Märchen von Frau Holle, der fleißigen Goldmarie und der faulen Pechmarie in der Winterzeit Alt und Jung vor die Bildschirme. Man mag sagen, Tradition, Verbundenheit von Eltern und Großeltern zu den Märchenproduktionen aus DDR-Zeiten, die sie an ihre Kinder und Enkel weitergeben. Ich nehme mich da nicht aus. Vielleicht ist ja auch ein bisschen Nostalgie dabei. Und ehrlich gesagt, kann mich die rbb-Neuverfilmung des Märchens nach einem Drehbuch von Marlis Ewald nicht so sehr begeistern.

Die Außenkulisse für das Zuhause von Gold- und Pechmarie in dem 2008 gedrehten Märchen ist das Freilandmuseum Lehde Quelle: ARD/TV-Seiten

Mir fehlt das Märchenhafte, das verzaubern und in eine Welt entführen soll, die anders ist, als die uns umgebende. Regisseur Bodo Fürneisen hat seine Märchenversion in einer schönen Naturkulisse aufgenommen, im Freilandmuseum Lehde mit seinen historischen Katen. Zu wirklichkeitsnah, empfinde ich, nicht dazu angetan, mich dahin zu tragen, wo Märchen zu Hause sind. In die Welt der Phantasie. Und Frau Holle? Sie wirkt in ihrem dirndlartigen Kleid mit dem beblümten Strohhütchen oder der weißen Haube auf dem Kopf wie eine bayerische Landfrau im Sonntagsstaat. Mag daran liegen, dass die Starnbergerin Marianne Sägebrecht es so assoziiert.

Marianne Sägebrecht gibt eine wenig märchenhafte Frau Holle. Lea Eisleb spielt Marie, die fleißige der beiden Schwestern © Filmmuseum Potsdam

Wie bei fast allen neuen Märchenverfilmungen, sprechen die Darsteller in unserer Alltagssprache. In einem Märchen hat sie nichts zu suchen, ebensowenig wie Familiennamen. Zumindest sollten diese dann phantasievoll sein, etwas mit der Figur zu tun haben. In allen Frau Holle-Märchen haben die Schwestern oder Stiefschwestern nur Vornamen, heißen nicht Müller oder Weber wie Marie und ihre Schwester Louise. Das alles passt für mich nicht zu dem, wofür ich Märchen liebe – ihre Ort- und Zeitlosigkeit, ihre poetische Sprache. In den phantastischen Welten der Volksmärchen, wie „Frau Holle“ eines ist, bleiben die Fragen „Wo?“ und „Wann“ in den Texten fast immer unbeantwortet. Ich habe als Kind auch nie danach gefragt. Und mache es auch heute noch nicht, wenn sich das nicht nicht gerade aufdrängt wie eben bei der oben erwähnten rbb-Verfilmung.

Marie und ihre Freunde, die Holzfäller Mathias (Herbert Graedtke), Hannes (Rudi Pfaff) und Klaus (Jürgen Pöschmann), vor dem Haus der Stiefmutter. Die farbenfrohe Kulisse wurde im Atelier aufgebaut. Klar und stilisiert wie eine Kinderzeichnung Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung, Erich Gusko
Winterlandschaft im Atelier. Die Tannen sehen aus, als wären sie aus Papier gefaltet Foto: Screenshot © DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Das DEFA-Märchen gibt sich dem Phantastischen auf eine ganz besondere Weise vorbehaltslos hin. Regisseur Gottfried Kolditz und Autor Günter Kaltofen verbanden die Tugenden bester Märchenverfilmungen mit einem Experiment. Kolditz, der schon den DEFA-Kultfilm Schneewittchen“ auf die Leinwand gebracht hatte, hielt sich hier fast wörtlich an die Gebrüder Grimm. Er drehte das Märchen auch nicht in realer Natur, nicht in romantischen Dörfern oder auf wogenden Feldern, sondern ließ seine winterliche Märchenwelt ausschließlich im Atelier aufleben. Alles spielt sich in einer minimalistischen, stilisierten Dekoration ab, die das Szenenbildner-Duo Erich Krüllke und Werner Pieske entworfen hat.

Die Goldmarie legt Scheite auf das flackernde Feuer im Kamin, der vor einer schwarzen Wand steht Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Karin Ugowski, die als Goldmarie damals ihr Filmdebüt gab, erinnert sich noch gut. „Kolditz hat etwas gemacht, das mich zuerst irritierte. Es gab keine Wände in der Kulisse. Die Szenerie hatte etwas von einer Theaterbühne, die nirgendwo endet. Die Dekorationen hatten kein Hinterland, waren eindimensional. Dazwischen bewegten wir uns, hantierten mit Pferd und Wagen, befeuerte ich den Kamin mit Holzscheiten oder saß mit meinem Spinnrad am Brunnen.“ Die Faule wälzt sich in ihrem Bett, das im Nichts steht. Denn rundherum ist alles dunkel. Im Haus von Frau Holle führt die Treppe, von der man nur das Geländer sieht, für den Zuschauer in den Wolkenhimmel.

Frau Holle (Mathilde Danegger) kommt die Treppe hinab, die in der Luft zu hängen scheint Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Die Akteure spielten vor farbigen Hintergründen, sodass die Szenen wie Bilderbuchseiten erscheinen. Jede hatte ihren eigenen Farbton. Das Wandbord mit den Tellern, Tassen und Krügen im Haus der Stiefmutter schwebte vor einer schwarzen Wand im Raum. Die Wiese mit den weißen Margeriten leuchtete vor hellem Blau, Frau Holles Welt war in Weiß getaucht.

Die Pechmarie (Katharina Lind) holt sich Naschwerk vom Wandbord, das im Nichts schwebt. Tassen, Teller und Krüge sind durch die Einfarbigkeit ihrer Tiefenausdehnung beraubt. Auch die Holztruhe wirkt wie gemalt Foto:Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Corinna A. Rader schrieb über die Szenografie dieses Märchenfilms im DEFA-Journal „Leuchtkraft 2021“: Das Szenenbildner- Duo Erich Krüllke und Werner Pieske habe „eine Spielart der Stilisierung entwickelt, die in ihrer Konsequenz nicht mehr steigerbar war. Durch die Auflösung von Raumgrenzen erzeugten sie Schauplätze mit scheinbar unendlicher Ausdehnung, innerhalb derer alle Ausstattungsobjekte vom Bett bis zum Baum derselben abstrahierenden Reduktion unterworfen wurden.“

König Drosselbart (Manfred Krug) hat den Hochmut der Prinzessin (Karin Ugowski) gebrochen. Er führt sie über die Terrasse in sein Schloss ©DEFA-Stiftung/Ekkehard Hartkopf, Max Teschner

Krüllkes und Pieskes Kunstgriffe inspirierten danach andere Regisseure wie Walter Beck, der 1965 das Grimmsche Märchen „König Drosselbart“ verfilmte, oder Ursula Schmenger 1975 für ihren Film Die Regentrude“. Doch keine der nachfolgenden Märchenproduktionen, erreichte die visuelle Stringenz von Frau Holle, resümiert Corinna A. Rader.

Faszinierend für Kinder die Margeritenwiese, auf der ein wunderhübscher Schmetterling auf einer Blüte sitzt Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Es war ein ungewöhnliches Experiment, einen Märchenfilm wie ein lebendiges Bilderbuch zu gestalten. Er sollte vor allem die ganz kleinen Kinder erreichen, und ihre visuelle Wahrnehmung beginnt bekanntlich mit ganz einfachen farbigen Zeichnungen.

Eine liebevolle Bastelarbeit der Szenenbildner Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Das Experiment ist gelungen. Die DEFA begab sich auf einen neuen Weg in der Machart ihrer Märchenfilme. „Frau Holle“ ist ein alter Film, doch keineswegs altbacken und altmodisch in seiner Erzählweise.
Während ich hier schreibe, schaut sich meine 6jährige Enkelin den Film auf dem Tablet an. Sie ist ganz dabei, kommentiert manches, was sie sieht: Die Mutter ist aber böse zu der älteren Tochter. Die ist fleißig. Und als die Pechmarie mit schwarzer Farbe überschüttet wird: Das hat sie nun davon, weil sie so faul war. Nebenbei malt sie etwas. Ist dir langweilig, will ich wissen. Lina schüttelt den Kopf. Auf ihrem Blatt Papier erkenne ich den Backofen. Auch ich habe noch heute Freude an den klaren schönen Bildern, den liebevollen Details, wie dem flatternden Pfauenauge auf einer Margerite. Ich bin fasziniert von der lieblichen Stimme der Goldmarie und dem warmen Timbre der Frau Holle, gespielt von der wunderbaren Mathilde Danegger.

Die Stiefmutter wird gespielt von Elfriede Florin, Katharina Lind ist die faule tochter, die am liebsten im Bett liegt Foto: Screeshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Katharina Lind als faule Stiefschwester ist mit ihrer Ruppigkeit das Extrem zur Freundlichkeit und Sanftheit von Karin Ugowskis Goldmarie. Sie erzählte mir in einem Interview, dass ihr diese Rolle gefiel, weil sie lebensnäher, menschlicher war als die Goldmarie. Und auch sie hat ihre Fans. „In Autogrammbriefen, die ich immer noch bekomme, schreiben Erwachsene, dass die Pechmarie ihr Vorbild war. Sie mochten sie, weil sie sich gewehrt hat. Viele Kinder haben sich mit ihr identifiziert, die nicht perfekt waren, die nicht diesen Gehorsam hatten, dieses Positive wie die Goldmarie. Ich bleibe auch lieber im Bett, als zur Schule zu gehen, schreiben sie. Andere erzählen, dass sie keine Lust haben, zu Hause zu helfen. Die Pechmarie ist eigentlich so, wie die Mehrheit der Kinder schon immer war.“ Ihre Rolle würde Katharina Lind gern noch mal spielen, nur dann noch trotziger, aggressiver. Weil sich inzwischen die Kinder dahin bewegen.

Mitten im Winter sitzt Marie am Brunnen und spinnt. Unendlich scheint der Raum bis zum blauen Horizont. Karin Ugowski hat das Spinnen bei einer Schwester im Oberlinhaus Babelsberg extra für ihre Rolle erlernt Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Es ist unübersehbar, dass der Film die Moral der Geschichte herausgearbeitet hat ohne zu moralisieren. Auf eine kluge Weise, vermittelt er den Kindern unmerklich, was ist gut, was ist böse, was darf man und was soll man nicht tun. Meine Enkelin ist der Beweis. Man mag heute über die unverhohlene pädagogische Absicht denken, was man will. Verkehrt ist es jedenfalls nicht, Kindern eine Richtlinie anzubieten, die ihnen hilft, sich zu orientieren. „Ich bin ja kein Freund von nicht solchen pädagogischen Zeigefingern“, sagte mir Karin Ugowski, „aber den Kindern hat der Film gefallen und tut es noch immer. Wobei man den DEFA-Märchen der 60er Jahre lassen muss: Es gibt darin keine Gewalt, sie sind auf ein humanistisches Weltbild gerichtet.“

Mathilde Danegger ist eine Frau Holle, wie man sie sich nach Grimms Erzählung vorstellt Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Karin Ugowski ist eine Goldmarie, die von den Kinder geliebt wird. Wenn sie damals mit ihrem kleinen Sohn zum Spaziergang aus dem Haus kam, bildete sich gleich eine Traube von Kindern aus der Straße um sie. Ein Junge aus Großräschen schrieb ihr: „Karin Ugowski, was machst du heute Abend? Ich komme mal vorbei. Wenn du nicht da bist, schlafe ich vor deiner Tür.“ Eltern haben sie vereinnahmt. „Eine Mutter bat mich, ihrer Tochter zu schreiben, sie soll nicht mehr so faul sein. Und heute ist es schon manchmal ulkig, wenn die Oma der Enkelin sagt: Guck mal, das ist die Goldmarie aus Frau Holle! Das Kind ist dann irritiert, ich könnte ja jetzt auch eher Frau Holle sein“, erzählte mir die Schauspielerin, als wir 40 Jahre später über ihre Rolle und den Film sprachen.

Faksimile meines Artikels in der SUPERillu 49/2006 zur Veröffentlichung der DVD „König Drosselbart

Die Rolle der Goldmarie führte die damals 19jährige Schauspielstudentin Karin Ugowski direkt in die Schublade Märchen/Prinzessin. Es folgte ein Jahr später „Die goldene Gans“, danach war sie die stolze Prinzessin in Walter Becks Märchenadaption „König Drosselbart“. Ihrem Selbstbewusstsein tat das gar nicht gut. „Ich litt darunter, weil mich der Neid meiner Kommilitoninnen schwer traf. Nach dem Studium, als sie am Berliner „Maxim Gorki Theater“ engagiert war, selbst noch an der Volksbühne, hing ihr die DEFA-Prinzessin, die gelockte Schönheit, lange nach. „Trotzdem bin ich froh, diese Rollen gespielt zu haben. Der Spaß an der Arbeit, zum Beispiel auch mit Manfred Krug als König Drosselbart, hat mich entschädigt.“ Ihren eigenen Prinzen hat Karin Ugowski nach zwei Enttäuschungen in dem Maler Günter Horn gefunden, mit dem sie seit 1993 verheiratet ist. Beide haben im mecklenburgischen Grammentin einen Kunsthof.

Für Karin Ugowski war die Goldmarie ihre erste Filmrolle Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Erich Gusko

Allein in Deutschland kam das Märchen mehr als ein Dutzend Mal auf die Leinwand. Der vermutlich erste Film von 1908 ist verschollen, wie vieles aus der Frühzeit des Kinos. Nur der Name des Produzenten ist noch bekannt. Er hieß Heinrich Ernemann und besaß in Dresden einen der größten Betriebe für Kinotechnik im damaligen Deutschen Reich. Er baute und erfand Kameras und Projektoren.

Die DEFA nutzte das Märchen 1952 als Vorlage für einen der ersten Puppentrickfilme, die in der DDR entstanden sind. Der Bühnenmaler und Filmarchitekt Johannes Hempel war damals fast auf sich allein gestellt, denn es gab das DEFA-Studio für Animations- und Trickfilme in Dresden noch nicht. In mühseliger Tag- und Nachtarbeit in einem eigens für diese Produktion in Babelsberg eingerichteten Atelier schuf er die Entwürfe für die Puppen und malte die Dekorationen. Im Oktober 1953 kam der Film ins Kino.

Die Goldmarie in Schonger Film wird von der 13jährigen Kinderdarstellerin Madeleine Binsfeld gespielt, Frau Holle von der bekannten österreichischen Schauspielerin Lucie Englisch Foto: Screenshot ©schongerfilm/Klaus Beckhausen

Zweimal nahm sich der westdeutsche Produzent Hubert Schonger, der vom Naturfilm kam, des Märchens an – einmal 1947, dann 1961. Ihm lag daran, dass alle Mitwirkenden eine größtmögliche Nähe zu kindlichen Erfahrungswelten herstellten. Die Inszenierung des „Märchens von der Goldmarie und der Pechmarie“ legte er in die Hände von Regisseur Peter Podehl, der 1953 bei der DEFA den wundervollen Märchenfilm „Der kleine Muck“ gedreht hat. Diesen Zauber erreichte er mit der Holle-Verfilmung 1961 nicht. Zumal die Handlung hier nicht der klassische Version des Märchens folgt. Frau Holle schüttelt nicht nur ihre Kissen, damit Schnee auf die Erde fällt.

Marie (Madeleine Binsfeld) muss in der Regenkammer dafür sorgen, dass die Fische Wasser speien. Dann regent es auf der Erde Foto: Screenshot ©schongerfilm/Klaus Beckhausen

In ihrem Haus gibt es eine Wetteruhr, die bestimmt, wann aus den Wetterkammern Sonne, Regen, Wolken und Wind auf die Erde gelassen werden. Die Geschichte ist betulich, fast langweilig inszeniert, wirkt moralisierend. Lucie Englisch hebt als Frau Holle sehr oft und dogmatisch den pädagogischen Zeigefinger. Die sehr einfache Dekoration hat wenig märchenhaften Charme. Es kommt beim Zuschauen keine Stimmung auf. Der Film ist auf Youtube verfügbar.

Der Stadtbrunnen, an dessen Rand das Gänseliesl, der Schwarze Peter, Hans im Glück und Frau Holle stehen, birgt ein Geheimnis Foto: Screenshot ©Fritz Genschow Filmproduktion/Gerhard Huttula

Ich habe mir noch eine weitere Frau-Holle-Verfilmung angesehen. Sie stammt aus dem Jahre 1954. Regisseur Fritz Genschow hat Geschichte sehr viel anders erzählt, als wir sie bei den Gebrüder Grimm finden.

Sie spielt in einer kleinen Stadt, in der es keine Kinder gibt. Nach einer großen Überschwemmung sind viele Kinder Waisen geworden. Frau Holle hat sie in ihr Reich geholt. Nur eine Witwe hat noch zwei Töchter. Die eine ist schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Beide Töchter geraten wie in Grimms Märchen durch den Brunnen in Frau Holles. Der Brunnen birgt jedoch ein Geheimnis. Zwei der Figuren auf seinem Rand können lebendig werden, sind aber unsichtbar. FrauHolle und der Schwarze Peter, der nur Unfug und Schabernack treibt.

Frau Holle, gespielt von Renée Stobrawa, hat sich aus ihrer steineren Hülle auf dem Brunnen gelöst und bewegt sich unsichtbar zwischen den Menschen auf dem Markt. Sie ist wie eine gute Fee Foto: Screenhot ©Fritz Genschow Filmproduktion/Gerhard Huttula

Einst war so: Wer aus Brunnen trank und sich ein liebes Mädel oder eine netten Jungen wünscht, dem schickte Frau Holle ein solches Kind. Doch der Schwarze Peter hat den Brunnen mit Unrat verunreinigt. Das stinkende Wasser wollte niemand mehr trinken, sodass bald keine Kinder auf die Welt kamen und die Menschen vergaßen, dass es überhaupt welche gibt. Es kommt dann dazu, dass der Schwarze Peter die Kinder aus dem Reich von Frau auf die Erde entführt und sie dann allein lässt.

Die gutherzige Rosemarie (Rita-Maria Nowottnick-Genschow) wurde für ihren Fleiß mit Gold belohnt. Die Schauspielerin spielte in den 50erJahren noch in anderen Märchenadaptionen Foto: Screenshot © Genschow Filmproduktion/Gerhard Huttlua

Rosemarie, die als Goldmarie in die Stadt zurückgekehrt war, bittet gutmütige Menschen, sie aufzunehmen. Auch für ihre Schwester Elsemarie, die für ihre Liederlichkeit und Faulheit mit Pech überschüttet wurde, legt Rosemarie ein gutes Wort bei Frau Holle ein gutes Wort ein… Diese ungewöhnliche Version des Märchens hat ihren Reiz. Es wird in Versen gesprochen, Kinderlieder untermalen die Szenen. Alles wirkt sehr kindlich verniedlicht. Das ist wohl dem westdeutschen Zeitgeist geschuldet, in den Kinder- und Familienfilmen eine heile Welt zu zeigen, in der es harmonisch zugeht, in der Konflikte ausgespart werden oder nur in geglätteter Form angedeutet. Sie werden durch einen „guten Geist“, in diesem Fall Frau Holle oder auch Rosemarie, aufgelöst. Alle Filme, die ich hier beschrieben habe, sind als Video auf DVD oder im Netz zu sehen.

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Die goldene Gans. Sie konnte einfach nicht den Schnabel halten

Wohl kein ein Kind wächst ohne die Hausmärchen der Gebrüder Grimm (Jacob 1785-1863 und Wilhelm 1786-1859) auf: „Hänsel und Gretel“, „Der Froschkönig“,Dornröschen“ oder „Die goldene Gans“. Viele der Märchen hat die DEFA verfilmt. Sie sind immer noch präsent, als DVD oder werden – wie jetzt zur Weihnachtszeit – im Fernsehen ausgestrahlt. Für mich war es jedesmal ein großes Vergnügen, mit den Schauspielern über ihre Erlebnisse und Erinnerungen an die Dreharbeiten zu sprechen. Meine Märchenretropspektive beginne ich hier mit einem Interview, das ich im Sommer 2007 mit den Hauptdarsteller des Märchenfilms „Die goldene Gans“ geführt habe.

Diese Geschichte vom Schusterjungen Klaus und seiner wundersamen Gans hat die DEFA 1963 mit dem damals 21-jährigen Kaspar Eichel in der Hauptrolle verfilmt. Die schöne Prinzessin, der vor Langeweile in ihrem Schloss das Lachen verging, spielte Karin Ugowski. Ich traf mich mit den Beiden auf dem malerischen Gehöft von Karin Ugowski und ihrem Mann Günter Horn am Kummerower See. Da ich die Schauspieler gut kenne, sprechen wir uns mit Du an.

Kaspar Eichel und Karin Ugowski schauen durch ein imaginäres Fenster. Das Ölgemälde von Andreas Freitag ist eins von vielen Bildern an der Landstraße zum Gehöft von Karin Ugowski © Michael Handelmann

Schier endlos zieht sich die Straße, ehe man das rotbraune, hinter Feldern und Seen versteckte Gehöft von Karin Ugowski und ihrem Mann erreicht. An der Seite des Malers Günter Horn hat die Schauspielerin inmitten der mecklenburgischen Schweiz den Raum zum Leben gefunden, der sie glücklich macht. Einige von Horns origi­nellen Bildern stehen auf Staf­feleien montiert am Wegesrand. Landschaftsbilder in der Land­ schaft.

Vielen Dank für die Einladung. Hier bekommt man glatt Urlaubsgefühle

Karin Ugowski: Ja, wenn ich im Dorf an der Kirche vorbei bin und in den Weg zum Gehöft einbiege, vergesse ich Babelsberg und den Stress der Dreharbeiten. Ich atme die wunderbare Luft ein und freue mich auf meinen Garten, meinen Mann. (Karin Ugowski spielte von 2005 bis 2009 in der Daily-Soap eine durchgehende Rolle)

Kaspar Eichel: Ihr habt es ist wirklich schön hier. Du musst mit mir einen Rundgang machen.

Kaspar Eichel und die goldene Gans. Als wir 2007 diese Aufnahmen im Wald von Grammenthin machten, war es eine Attrappe, 1964 eine echte Gans. Damals war der Schauspieler noch Student und gerade mal 21 Jahre alt © Michael Handelmann; DEFA-Stiftung/Horst Blümel (kl. Foto)

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Erzählt mir doch bitte etwas über eure nachthaltigste Erinnerung an den DEFA-Märchenfilm „Die goldene Gans

Kaspar Eichel: Bei mir ist es so eine Hassliebe. Man wird als Schauspieler oft mit einer Rolle identifiziert, die einem selbst gar nicht so wichtig war. Wie diese, auf die ich immer wieder angesprochen werde. Wenn die Leute dann aber sagen: „Nun ham’se sich mal nicht so, Herr Eichel, wir sind mit ihnen groß geworden, sie waren unser Vorbild für die Schule“, dann ist das schon ein schönes Gefühl.

Sie kleben an der goldenen Gans: der Musikant (Karl Heinz Oppel), der Wirt (Fritz Schlegel), die Schwestern Gret (Renate Usko) und Lies (Katharina Lind) und Klaus (Kaspar Eichel) © DEFA-Stiftung/Roland Dressel)

Karin Ugowski: Für mich war die Rolle ja noch mal was anderes als für Kaspar, der schon vorher in Werner Holtgespielt hatte. Ich war das Jahr zuvor die Goldmarie in „Frau Holle“. Als ich dann für die Prinzessin ausgesucht wurde, haben mich meine Kommilitoninnen richtig doof angemacht: Na, du mit deinem Aussehen kannst ja bloß Märchen spielen. Deshalb wollte ich die Prinzessin gar nicht so gern spielen. Außerdem hatte ich zu der Zeit das Angebot, im Hans Otto Theater Potsdam die Ophelia zu spielen. Der Rektor entschied dann: Wir sind eine Filmhochschule, du drehst.

Ihr habt das also als eine Enttäuschung empfunden?

Kaspar: Nein. Wir waren frisch von der Schule runter. Dass man da so eine Rolle bekommen hat, war ein tolles Gefühl. Aber wir erwarteten größere Herausforderungen. Ich fand, Klaus braucht mehr Action, wie es heute heißt. Das hat man dann geändert. Ich durfte mit Prinz Störenfried ordentlich fechten. Das war vielleicht eine gewisse Unzufriedenheit der jungen Aufstrebenden.

Die Langeweile hat der Prinzessin (Karin Ugowski) das Lachen genommen. Ihr Vater (Heinz Scholz), der König, versucht zu aufzuheitern DEFA-Stiftung/Roland Dressel

Karin: Wenn ich jetzt darüber nachdenke, muss ich sagen: Am Anfang war ich traurig, verletzt, dass ich eben Märchen gespielt habe und die durften sich Herausforderungen stellen. Im Nachhinein sehe ich das ähnlich wie Kaspar und muss lachen, wenn ich an die Bemerkungen meiner Kommilitoninnen denke. Die mich belächelt haben, drängelten sich später danach, Märchenfilmen zu drehen. Auch solche, bei denen sich die Kinder gegruselt haben. Wenn ich mal nicht mehr bin – die Märchenfilme bleiben, werden immer wieder gern gesehen, wie es sich zeigt. Da kann ich doch nur froh sein und mir sagen: Gut, die Theaterrolle, die du wolltest, hast du nicht gekriegt. Aber das weiß außer dir keiner. Damit habe ich mich getröstet.

Kaspar: Ich verstehe Karins Komplexe damals. Sie war der Typ „bürgerliche Schönheit“, gefragt war aber der proletarische Typ. Bei meiner Rolle war es genauso. Ich habe bloß erst hinterher erfahren, dass die Kollegen, die sie vor im Brustton der Überzeugung abgelehtn haben, heimlich nachts zu Probeaufnahmen waren.

Kaspar Eichel und Karin Ugowski hatten viel Spaß beim Drehen ©DEFA-Stiftung/Roland Drassel

Karin: Die Sticheleien haben mich ganz schön fertig gemacht. Das war ganz schlimme, wenn ich hörte, du hast eine bürgerliche, sogar spätbürgerliche Ausstrahlung. Fast noch Marika Rökk oder Ufa. Das ging soweit, dass ich die Rolle der Ehefrau von Göring in István Szábos Film „Mephisto“ abgeölehtn habe. Die wurde dann von Christine Harborth gespielt. Ich hatte leider kein Hinterland wie Kaspar, das mir jemand den Rücken stärkte. Du wusstest durch deinen Vater, wie man in der Branche tickt.

Dein Vater war Wito Eichel. Hat er dich animiert, Schauspieler zu werden?

Kaspar: Mein Vater war künstlerischer Leiter im Synchronstudio und später Rektor an der Filmhochschule Babelsberg. Vielleicht hat mich das unbewusst beeinflusst. Ich wollte von Anfang an Schauspieler werden. In der Schule war ich der Kasper und nur gut, wenn wir Stücke gelesen haben. Ich las oder besser, spielte den DorfrichterAdam in Shakespeares „Der zerbrochene Krug“. Das war für mich das Größte. Schule hat mir erst Spaß gemacht, als ich auf die Schauspielschule ging. Da fand ich alles fantastisch und habe im Unterricht immer zugehört.

Wie bekamt ihr beiden eure Rollen?

Uwe-Detlev Jessen und Peter Dommisch als die faulen Brüder Kunz und Franz Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung; Karl Plintzner

Kaspar: Regisseur Siegfried Hartmann kam nach Senftenberg, wo ich am Bergarbeiter-Theater schon das Märchenstück „Die goldene Gansgespielt habe. Autor war Günter Kaltofen, der dann auch das Drehbuch für den Film geschrieben hat. Ich wurde zu Probeaufnahmen eingeladen und bekam die Rolle. Mein Oberspielleiter am Theater, Uwe-Detlev Jessen, wurde gleich mit eingekauft. Er spielt im Film den faulen Kunz.

Gab es einen Karrieresprung?

Kaspar: Eigentlich nicht. Es ging kontinuierlich weiter. Ich habe vorwiegend Theater gespielt. Aber auch gedreht, das stimmt. 1965 „Tiefe Furchen“ und „Berlin um die Ecke“. Das war der vierte Film der Berlin-Reihe, der wurde aber erst nach der Wende gezeigt. Regisseur Gerhard Klein und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaaseerzählten realistisch vom Alltag kleiner Leute in dieser Zeit. Da ging es um Probleme, die man damals lieber verschwieg.

War dieses Doppelleben problematisch für dich?

Kaspar: Es war schon stressig. Tagsüber spielte ich in Senftenberg zwei Vorstellungen. Abends holte mich ein Fahrer der DEFA mit dem Auto ab und fuhr mich nach Babelsberg. Wir haben dort dann nachts gedreht. Das Gemeine aber war, dass Günter Kaltofen für das Drehbuch die Bühnendialoge einfach nur umgestellt hat. Da nicht durcheinander zu kommen, das war schon mühsam. Aber es hat sich für ihn sicher gelohnt. Der Film wurde in alle Welt verkauft, lief sogar in New York am Broadway.

Kaspar Eichel mit Jochen Thomas (M), der den Raufbold spielteund, Gerhard Rachold als Prinz Störenfried ©DEFA-Stiftung/Roland Drassel

Karin: Da fällt mir ein: Bei der Premiere in Berlin saß der kleine Sohn von dem Raufbold, der immer so gebechert hat, mit im Kino. Als der nun seine Suffnase ins Bild steckte, rief der Kleine. „Das ist mein Papa“, und das ganze Kino lachte.

Karin hatte früher lange blonde Haare, wie die Prinzessin. Hattest du auch Locken wie Klaus?

Kaspar: Nein. Der Maskenbildner hat sie mir jedenTag mit der Lockenschere gebrannt.

Karin: Ich trug aber auch eine Perücke, weil ich dieses Zopfkrönchen auf dem Kopf hatte. Das immer neu zu flechten hätte zu lange gedauert.

Schuster Klaus hat die Prinzessin zum Lachen gebracht und ihr Herz gewonnen © DEFA-Stiftung/Roland Drassel

Ich staune jedemal, wenn ich den Film sehe, wie ruhig die Gans mitgespielt hat.

Kaspar: Das täuscht. So ruhig war die gar nicht. Sie schnatterte manchmal ganz schön laut. Wir mussten dann warten, bis sie sich beruhigt hat. Damit ich sie überhaupt halten konnte, waren ihre Beine zusammen gebunden.

Karin: Man glaubt gar nicht, welche Kraft diese Vögel in den Flügeln haben.

Wo habt ihr gedreht? Es ist ja wirklich eine märchenhafte Kulisse.

Kaspar: Alles wurde im Studio aufgebaut. Die DEFA-Handwerker hatten es drauf, dass selbst der künstleiche Wald echt aussah.

Mit welchem Trick zog eigentlich die Gans Menschen und Gegenstände an? Hat man Magneten versteckt? Damals gab ja es noch keine Computer.

Katharina Lind und Kaspar Eichel mit der goldenen Gans. Das Tier wurde mit Goldlack besprüht. Damals hatte man keine andere Möglichkeit © DEFA-Stiftung/Horst Blümel

Kaspar: Man befestigte ganz dünne Kupferlongen an den Sachen, an dem ein Techniker dann ganz vorsichitg zog. So schwebten die Geige und der Geigenbogen auf die Gans zu, die Röcke der Mädchen oder das Florett von Prinz Störenfried, als ich mit kämpfe. Manchmal riss der Draht,  und das Ganze musste noch mal gedreht werden. Es war ziemlich aufwendig. Hätte es damals schon Computer-Tricks gegeben, hätte man die Gans auch leicht einfärben können. Unsere wurde mit Goldbronze besprüht, was ihr nicht so gut bekam.

Ralph. J. Böttner spielt den Hauptmann des Königs Foto: screenshot ©DEFA-Stiftung/Karl Plintzner

Karin: Erinnerst du dich, wie der Kameramann den Hauptmann der königlichen Wache ewig am Schwanz vom Esel hängen ließ?

Kaspar:  Klar, den konnte keiner so recht leiden. Und Karl ließ ihn die Einstellung zigmal wiederholen und tat, als ob er das filmte. Dabei hatte er gar keinen Film in der Kamera.

Karin: Wir haben die Einstellung aber auch tatsächlich x-mal gedreht, weil die ORWO-Filme unterschiedliche Farbstiche hatten. Mal waren sie bläulich, mal grün- oder rotstichig. Im Schnitt mussten die Farben dann aber übereinstimmen.

Katharina Lind musste sehr aufpassen, als sie auf die Wippe kletterte. Kaspar Eichel hielt sie aber gut fest Foto: Screenshot ©DEFA-Stiftung/Karl Plintzner

Ein paar Szenen sahen ja gefährlich aus. Zum Beispiel, als alle auf die Wippe stiegen.

Karin: Das war schon nicht ohne, als Katharina mit der Gans auf die Wippe klettern musste. Dem Regisseur mangelte es da etwas an Phantasie, dass dabei auch etwas passieren könnte. Katharina, also die Lies, wurde leicht hysterisch. Sie hätte sich bei der Aktion sämtliche Gräten dabei brechen können.

Eine halsbrecherische Aktion. Jochen Thomas hängt als Hauptmann der Wache an einem Flaschenzug. Franz (Peter Dommisch) muss ihn hochziehen Foto: screenshot © DEFA-Stiftung/Karl Plintzner

Kaspar: Gefährlich war es auch, als wir die Kiste mit dem Flaschenzug nach oben zogen. Die hatte ein ziemliches Gewicht, und wir mussten uns ganz schön an das Seil hängen. Einmal krachte sie runter. Uwe-Detlev Jessen und Peter Dommisch, meine faulen Brüder, konnten gerade noch so zur Seite springen.

Kaspar, du hast vorhin das Synchronstudio angesprochen. Das ist ja inzwischen dein zweites Zuhause. Die Liste deiner Rollen ist lang. Man hört dich unter anderem als Robert Redford. Was ist das für ein Gefühl?

Kaspar Eichel 2020 im „DEFA-Zeitzeugengespräch“ © DEFA-Stiftung/Teubner

Kaspar: Ehrfurcht ist schon da, aber wenn die Arbeit losgeht, ist es ein ganz normaler Job. Dass ich den Redford spreche, ist ein Riesenglücksfall. Aber ich gebe auch anderen bekannten Hollywoodschauspielern die Stimme: Richard Dreyfuss und Dennis Hopper. Es macht einfach einen Riesenspaß.

Gibt es Gedanken ans Aufhören? Ihr steht ja beide kurz vor der Rente.

Ich traf Karin Ugowski 2007 auf ihrem Gehöft, dem Kunsthof, in Grammentin © Michael Handelmann

Karin: Nein, obwohl ich mir jedes  Jahr vorgenommen habe: Nun nicht mehr. Der Beruf ist eine Droge. Und wenn man gute Kollegen hat, macht er doppelt Spaß. Allerdings habe ich Zeit für mein Privatleben, für Streicheleinheiten.

Kaspar: Ich werde in Rente gehen, doch nicht aufhören zu spielen. Aber nur noch das, was Spaß macht.