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Dorit Gäbler – „Ich habe mein Herz auf die Bühne geschmissen“

Wann sagte sie das? Es ist mehr als fünfzehn Jahre her. Ich interviewte sie damals für die SUPERillu. Sie hatte gerade ihr neues Programm „Starke Frauen“ kreiert. Wir kamen auf ihren wahnsinnigen Erfolg zu sprechen, den sie 1967 als Eliza in „My fair Ladyauf der Opernbühne in Karl-Marx-Stadt hatte. Es war nach dem Abschluss der Schauspielschule ihr erstes Engagement. „Die Leute haben getrampelt vor Begeisterung. Ich hatte mein Herz auf die Bühne geschmissen und erreicht, dass man mir abnimmt, was ich spiele; dass aus einem kleinen, dreckigen Etwas eine Lady werden kann. Ich bin beschmiert, ohne angeklebte Wimpern auf die Bühne gegangen. Ich war so ordinär wie die Rolle es verlangte, aber auch verzweifelt bemüht, diesem Zustand zu entkommen.“

Dorit Gäbler als Mrs. Higgins 2019 mit Gunther Emmerlich als Oberst Pickering in der Chemnitzer Neuauflage des Musicals „My Fair Lady ©Theater Chemnitz/Nasser Hashemi

Ein Stück weit sah sich die 24jährige selbst in dieser Eliza, und sie versprach sich und dem lieben Gott angesichts des sich wiederholenden tosenden Applaus stets alles zu geben, um einen solchen Erfolg auch bei weniger spektakulären Rollen zu erreichen. „Das habe ich mein Leben lang befolgt und hart daran gearbeitet. Aber so eine Resonanz habe ich nie wieder erlebt. Annähernd vielleicht bei meinem Unterhaltungsprogramm Schauspielereien“, holte Dorit Gäbler über ein halbes Jahrhundert später noch einmal die Erinnerungen hervor. Inzwischen ist ein Rollenwechsel eingetreten. Jetzt wirft sie in der Neuinszenierung, die das Opernhaus Chemnitz zum 50jährigen Jubiläum 2017 auf die Bühne gebracht hat, als Mrs. Higgins kritische Blicke auf das ordinäre, aber sympathische Blumenmädchen Eliza.

Eliza, Susi und ich

Am 12. Januar hatte die Schauspielerin und Chansonnette ihren 80. Geburtstag. Dorit Gäbler sitzt zu Hause in Friedewalde in ihrem Büro. Es ist ein Dienstag, ihr Marketing-Tag. Wir unterhalten uns per Live-Video. „Weißt du“, sagt sie, „ich habe mir die Botschaft, die das Stück enthält, zu eigen gemacht. Es ist egal, wo du herkommst, ob du Geld oder Beziehungen hast. Du brauchst eine Vision, wohin du im Leben willst.“

Premiere ihres Programms „Momentaufnahmen“ war im Mai 2023 ©Karl-Heinz Bellmann

Das hört sich leichter an, als es für sie mitunter war. Was hinter ihr liegt, ergäbe ein spannendes Buch. „Nee“, sagt sie, „alle schreiben Bücher, ich nicht. Dazu habe ich einfach keine Lust und auch keine Zeit.“ Sie macht das anders. Auf der Bühne. „Momentaufnahmen – Dorit Gäbler wie sie leibt und lebt… und lacht… und singt“ heißt ihr aktuelles Programm. Zum ersten Mal erzählt sie ihrem Publikum direkt etwas von sich, ihrem durchwachsenen Lebensweg, der sie dahin geführt hat, wo sie heute ist. Es ist amüsant, ergreifend, spannend. Gleichwohl konnte man sich schon ein Bild machen, wenn man ihren Liedern genau zuhört.

Lach nur, heul nicht, bleib immer am Ball
Ständig was Neues und möglichst mit Knall
Lach nur, heul nicht, vertrau’ deinem Mut
Bau auf deine Freude und alles wird gut

Ihre aktuelle Solo-Platte „Lach nur – Heul nicht!“

Das Leben ist eine Rutschpartie
Wohin’s dich führt, weißt du vorher nie
Du rutschst in was rein
Es rutscht dir was raus
Mal rutschst du nach oben
Und mal rutschst du au
s

Lach nur, heul nicht, sei immer bereit
Wart‘ nicht schimpfend auf die bessere Zeit
Lach nur, heul nicht, auch wenn die Maske stört
Lebe im Jetzt, solang es dir gehört
Leben gibt‘s eine Ewigkeit

Und „früher“ war immer die bessere Zeit
Mal lebst du auf Pump
Mal lebst du mit Spaß
Mal lebst du wie’n Fürst
Und mal lebst du auf Nas
s

Für Dorit Gäbler galt immer: Geht nicht, gibt‘s nicht. Sie hat immer einen Weg gesucht und immer einen gefunden. Egal, wie verzweifelt sie auch war. Dieser starke Wille hat sie auf die Welt gebracht. Ihre Mutter ist die Treppen heruntergesprungen, als sie merkte, dass sie schwanger war. Sie wollte den Embryo in sich loswerden. Doch das kleine Etwas ließ sich nicht abschütteln, kämpfte, um wachsen und ins Leben zu dürfen. „Ich habe sogar verstanden, dass meine Mutter das Kind nicht wollte, nachdem ich von ihr erfahren hatte, dass mein ständig fremdgehender Vater glaubte, mit drei Kindern würde sie es nicht wagen, sich scheiden lassen“, erzählt die Tochter, die sich ihrer Mutter immer verbunden fühlte. „Ich hatte nie das Gefühl, ein ungewolltes Kind zu sein. Sie hat mich nicht weniger geliebt als meine Brüder.“

Sie schauen beide sehr gücklich aus, die anderthalbjährige Dorit und ihre Mutter Ria Gäbler © Gäbler/privat

1946, Dorit war drei Jahre, verließ Ria Gäbler samt Kindern ihren Mann. Plauen lag ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fast vollständig in Trümmern. Die meisten waren Wohnhäuser zerstört. Dorit Gäbler erinnert sich an ihrer Kinderzeit. „Wir waren arm. Das Geld, das meine geschiedene Mutter nun als Verkäuferin verdiente, reichte selbst mit dem Unterhalt von meinem Vater hinten und vorne nicht. Aber sie hat es geschafft, dass sich das nicht auf unsere Kindheit auswirkte. Und die war wunderschön. Ich weiß noch, wie wir im eiskalten Schlafzimmer im Bett saßen, und sie las uns, mit Handschuhen an den Händen, vor. Wenn sie vor Übermüdung einschlief, haben meine Brüder die Geschichte weitergesponnen…“ Es gab kein Weihnachten ohne Überraschung. Ria Gäbler hat mit den Kindern gebacken und an den Adventssonntagen wurde im Wohnzimmer musiziert. Die Gäbler-Jungs spielten Geige, Klavier und Flöte, ich spielte Gitarre. Die Nachbarn kamen zum Mitsingen vorbei. „Unsere Bude war immer voll.“

Das Gäbler-Trio wurde gern von Plauener Honoratioren zur musikalischen Untermalung ihrer Festivitäten eingeladen. Dorits Bruder Mäckie (l.) spielte Geige, Gunter Flöte und die hier zehnjährige Dorit sang zur Gitarre © Gäbler/privat

Das musikalische Trio war auf Geburtstagen, Hochzeiten und anderen Festivitäten Plauener Honoratioren gefragt. „Wir kamen immer mit großen Futter-Paketen nach Hause. Das reichte oft für eine ganze Woche“, erzählt Dorit, die auf diese Weise früh zu schätzen lernte, dass es nicht selbstverständlich ist, genug zu essen zu haben. Es gab nämlich oft Tage, da gingen die Drei ohne Pausenbrote zur Schule. „Ich hatte das Glück, neben der Tochter eines Fleischers zu sitzen. Die ließ ich abschreiben und bekam dafür ihr Wurstbrot.“ Statt es zu essen, nahm sie das Brot mit nach Hause, um es mit den Brüdern zu teilen. „Da war soviel Butter und Wurst drauf, dass es für drei Stullen reichte“, erinnert sie sich. An andere zu denken, nicht egoistisch zu sein, hat sie als Charaktereigenschaft gepflegt.

Das Mädchen musste schon früh Hausarbeiten übernehmen. „Es ging auch nicht anders. Meine Mutter hätte das allein auch nicht geschafft“, sagt sie und schaut auf ihre Hände. „Mit fünf habe ich schon Kartoffeln geschält, mit sechs, sieben die Treppen gewischt… Vielleicht habe ich deshalb so hässliche Hände.“ Ich will das so nicht stehen lassen und sage: „Finde ich nicht. Sie sind kräftig, aber nicht hässlich.“ Manchmal, da ging sie in die fünfte Klasse, tauchte sie aus dem Aschenputtel-Dasein ab. Sie schwang sich die Überdecke vom Bett um, stellte sich vor den großen dreiteiligen Spiegel und deklamierte aus Stücken von Schiller, Shakespeare und Kleist, die sie in Reclam-Heften las. „Ich habe die Frauenfiguren auswendig gelernt und versuchte zu verstehen, worum es ging.“ Vor dem Spiegel war sie die Luise Millerin aus Kabale und Liebe, das Gretchen aus „Faust“ oder die Eve aus dem „Zerbrochenen Krug“. Viele Jahre später sollte sie tatsächlich in dieser Rolle auf der Bühne stehen, im Staatsteater Dresden an der Seite von Rolf Hoppe als Dorfrichter Adam.

Das war natürlich nicht absehbar. Vorerst probierte sich Dorit in Schulinszenierungen aus, nahm an Rezitatoren-Wettbewerben teil. „Theater war für mich eine ungeheure Abenteuerwelt. Ich habe als Zehnjährige den „Freischütz“ gesehen und wochenlang davon geträumt. Ich wusste, da oben will ich mal stehen.“ Von dem wenigen Geld, das Ria Gäbler zur Verfügung stand, legte sie immer etwas für besondere Ausgaben zurück. War genug in dem Umschlag, ging sie mit ihrer Tochter ins Theater. Einmal spielte Dorits Bruder Mäckie in einem Weihnachtsmärchen als Erzähler mit. Sie lacht, als sie erzählt, dass sie während der Aufführung dachte: Das kann ich besser. Gesagt hat sie ihm das nie.

In der 8. Klasse gewann die 13jährige einen Rezitatoren-Wettbewerb und wurde eine Weile von Klaus Gendries betreut. Der spätere DEFA-Regisseur war damals Schauspieler am Vogtland-Theater. „Er wollte mir beibringen, Hochdeutsch zu sprechen, und ist schier verzweifelt“, erinnert sich Dorit. „Ich sollte Barbara saß nah am Abhang sagen. Aber mein A klang immer wie ein O. Ich konnte mich abmühen wie ich wollte, es klappte nicht.“ Klaus Gendries sprach ihr die Worte immer wieder vor, über Bor kam sie nicht hinaus. „Mir ging es wie Eliza Doolittle. Nur der Satz meines Lehrers: Jetzt hat sie’s!, fiel nie.“
Ihren sächsischen Dialekt ist Dorit Gäbler nie ganz losgeworden. „Ich hatte eine exzellente Sprecherzieherin an der Schauspielschule und habe vor dem Schauspielstudium zwei Jahre intensiv private Sprecherziehung genommen. Die Vokale spreche ich heute noch nicht sauber, der sächsische Einschlag ist in jeder Rolle zu hören.“

Szene aus dem Fernsehfilm „Gib acht auf Susi!“ Micha (Fred Lenz) und sein Freund Micky (Ronny Mudlaff) setzen alles daran, Susi (Dorit Gäbler) mit dem Tierpfleger Dieter (Kaspar Eichel) zu verkuppeln © DRA/MDR/Maria Steinfeldt

Diese kleine Episode verhalf ihr zehn Jahre später zur Titelrolle in Klaus Gendries’ turbulenter Sommergeschichte „Gib acht auf Susi!“. Wir machen einen Sprung ins Jahr 1966, Dorits letztem Studienjahr an der Schauspielschule in Berlin-Schöneweide. Klaus Gendries, inzwischen Filmregisseur, sah sich unter den Studentinnen nach einer „Susi“ um. Ein junges Ding von 17 Jahren, hübsch, sexy, ein bisschen leichtfertig, das mehr Interesse für das andere Geschlecht hat als für Hausarbeit.

Gendries hatte schon 200 Mädchen angesehen und vorsprechen lassen. Keins passte auf die Figur, wie er sie sich vorstellte. Da kam Dorit auf ihn zu, in knallenger roter Hose und einem üppigen Oberteil. „Ich sah ihn zufällig mit unseren Lehrern vor der Probebühne und sprach ihn an. Er guckte etwas irritiert. Fragte, woher ich ihn kennen würde. Ich sagte, wir hätten schon miteinander zu tun gehabt. Als er mich ungläubig ansah, begann ich: Borbora soß noh am Obhang… Er lachte schallend: ,Na klar, du bist die kleene Gäbler!‘, und ließ mich das alte Volkslied Ein Mops kam in die Küche… rezitieren. Dann ging mit unseren Lehrern zurück in den Probenraum. Als er wieder herauskam, strahlte er übers ganze Gesicht: ,Ja, das isse!‘ Damit hatte ich meine erste richtige Rolle. Im Sommer 1967, da hatte ich schon mein Engagement am Theater in Karl-Marx-Stadt, haben wir gedreht.“ Der Film wurde der TV-Weihnachtsknüller 1968.

Zurück ins Jahr 1957. Für Träume und Wünsche war bei den Gäblers nicht die Zeit. Ria Gäbler hatte gesundheitliche Probleme. Als Dorit ihrer Mutter verkündete, sie möchte Schauspiel studieren, kam ein kategorisches Nein. Sie habe nicht die Kraft, noch ein Studium zu finanzieren. Schlimmer noch. Die Mutter verlangte von ihrer Tochter, dass sie nach der 8. Klasse die Schule verlässt und einen Beruf erlernt. Für das lernbegierige Mädchen brach die Welt zusammen. Wie sollte sie mit einem Grundschulabschluss zu ihrem Traumberuf bekommen? Was sollte sie werden? Wie herauskommen aus dem Leben, das ihr zu klein war? Welcher Beruf könnte sie vielleicht doch noch ans Theater, auf die Bühne bringen? Wo traf sie vielleicht Menschen, die ihr helfen könnten, einen Weg zu finden, wie sie doch noch Schauspielerin werden könnte. Vieles wirbelte ihr im Kopf herum. „Ich habe dann eine dreijährige Lehre zum Facharbeiter für Gebrauchswerbung gemacht und abends an der Volkshochschule versucht, die 10. Klasse nachzuholen.“ Aber das schaffte sie nicht. Ihr fehlte die Zeit zum Lernen. „Ich musste mein Lehrlingsgeld bei meiner Mutter abgeben, durfte nur 5 Mark Taschengeld für mich behalten. Also habe ich nach Möglichkeiten gesucht, nebenher Geld zu verdienen“, sagt sie.

Dorit als 18jährige ©privat

Sie kämpfte gegen ihre Armut an, stellte sich als Haar-Modell zur Verfügung, führte auf Laufstegen, die sie als Dekorateur-Lehrling mit aufgebaut hatte, Alltagsmode Mode vor.
„Plauen war in den 50er Jahren nicht der Ort, in dem ich meinem Traum nachgehen konnte. Ich wusste, da muss ich weg“, erzählt sie. Dafür musste sie finanziell unabhängig sein. Dorit wollte kein Mannequin werden, aber ein gewisses Maß an Professionalität erlangen, um auch auf großen Modenschauen zu laufen, und absolvierte einen Lehrgang in der Mannequinschule des bekannten Modehauses Bormann in Magdeburg. „Die Damen-Konfektion der Marke „Original-Bormann-Mode“ war in der DDR sehr begehrt. Sie hatte Chic und war erschwinglich. Für Kundinnen mit mehr Geld im Portemonnaie boten besondere Geschäfte – Vorläufer der Exquisit-Läden – exklusive Bormann-Mode an. Heinz Bormann entwarf, das sei nur nebenbei erwähnt, Annekathrin Bürgers Kostüme für den DEFA-Film „Mit mir nicht, Madame!“.

Gurken, Radieschen und eine Leiche

Bei einer Modenschau auf der Leipziger Herbstmesse 1960 lernte Dorit das bildschöne und erfahrene Mannequin Sabine Lehmann kennen. „Sie hat mich bestärkt, unbedingt an meinem Traum festzuhalten, und bot mir ihre Unterstützung an.“ Im Januar 1961 wurde Dorit achtzehn. Damit war man in der DDR volljährig. „Ich hatte endlich die Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, was ich mache“, sagt sie. „Im Februar habe ich meiner Mutter eröffnet, dass ich ab jetzt meinen eigenen Weg gehen würde.“ An dessen nächstem Ende für sie der Beruf Schauspielerin stand. „Dass ich an mich geglaubt habe, war die eine Seite“, sagt sie. „Aber es gab Menschen wie Sabine, die mir halfen. Sie nahm mich bei sich auf, als ich mich aus Plauen davonmachte. Weil man mir die Provinz-Nulpe anmerkte, steckte sie mich in neue Klamotten und bereitete mich auf das Leben vor, in das ich wollte. Dafür bin ich ihr sehr, sehr dankbar. Wir hielten noch über viele Jahre Kontakt.“

Die erste Zeit nach ihrer „Flucht“ aus dem Kleinstadtmilieu von Plauen arbeitete Dorit als Dekorateurin bei der HO Potsdam Land und hatte gleich ihre Fühler zur DEFA nach Babelsberg ausgestreckt. „Sabine gab mir den Tipp, mich als Kleindarstellerin zu bewerben“, erzählt sie. Auf ihren ersten Einsatz musste die 18jährige nicht lange warten. Die DEFA verfilmte für das Fernsehen Wolfgang Schreyers Roman „Tempel des Satans“. Der dreiteilige Polit-Thriller dreht sich um die Machenschaften eines US-amerikanischen Zeitungskonzerns und seine Verstrickungen mit der Rüstungsindustrie. Reporter Pit Nordfors, ein ehemaliger Pilot, deckt die Hintergründe des desaströsen Fehlstarts einer mit Napalm bestückten amerikanischen Interkontinentalrakete auf und sticht in ein gefährliches Nest aus Machtgier, Korruption und politischer Manipulation. Der Handlung liegen wahre Vorkomnisse zugrunde.

Dorit Gäbler (r.) als Stewardess Mabel mit Sylva Schüler (l.) als Stewardess Georgia McCallister 1961 in Teil 2 des dreiteiligen Fernsehfilms „Tempel des Satans“ Screenshot © DFF/Edwin Anders

„Ich war eigentlich nur für einen Tag engagiert gewesen. Lustiger Weise aber“, erzählt Dorit Gäbler, „ist der Regisseur damals auf mich aufmerksam geworden. Er hatte gesehen, dass ich mich in die Rolle als Stewardess hineingedacht habe und richtig spielte, nicht nur den Text heruntersagte.“ Sie kamen ins Gespräch, und Dorit erzählte ihm, dass sie unbedingt Schauspielerin werden wolle. Georg Leopold sah ihr an, dass sie jeden Pfennig brauchen konnte und hat ihre Mitwirkung auf zwölf Drehtage erweitert. „1440 Mark habe ich verdient, 120 Mark am Tag! Das war so viel Geld! Davon habe ich Monate gelebt.“

Bald war sie so gut beschäftigt, dass sie viele Freistunden brauchte und ihre Aufträge als Dekorateurin nicht mehr zuverlässig erfüllen konnte. „Ich besaß keine Fahrerlaubnis, nicht einmal ein Fahrrad, um nach den Einsätzen bei der DEFA zu den Geschäften zu fahren, die ich dekorieren sollte.“ Die HO löste den Arbeitsvertrag auf. Wenngleich sie damit ihre finanzielle Basis verlor, kam ihr das entgegen. Nun musste sie nur noch eine eigene Bleibe finde. Und das war wenige Wochen nach der Grenzschließung am 13. August 1961. In der Stahnsdorfer Elisabethstraße entdeckte sie eine verwaiste Datsche. Die hat sie sich von der Gemeinde für 99 Mark Jahresmiete erkämpft. Es war eins der vielen Grundstücke, die zuvor Westberlinern gehört hatten.

„Die zuständige Sachbearbeiterin hatte riesige Fragezeichen in den Augen, als ich ihr erklärte, dass ich einen Wohnsitz suche und das Holzhäuschen mit Garten genau das Richtige sei.“ Hier könne sie sich ungestört auf ihr Schauspielstudium in Berlin vorbereiten und dass es nicht weit zur DEFA sei, waren wohl akzeptable Argumente. „Ich durfte für eine Probezeit einziehen und setzte natürlich alles daran, bleiben zu dürfen.“ Mit Geschmack und Stilgefühl hat sie innen und außen alles frisch gestrichen, Blumen-Motive der vorhandenen Bettwäsche an die frisch gestrichenen Fensterläden gepinselt und Gardinen aus Stoff mit dem gleichen Muster genäht. So fiel der Kontrollbesuch der Verwalterin auch positiv aus. Sie war voll des Lobes, wie schön die 18jährige alles hergerichtet hatte und argwöhnte nicht mehr, dass hier Sodom und Gomorrha stattfinden würden. Der Garten wurde Dorits Speisekammer. „Ich habe Kräuter gesät, Tomaten, Erdbeeren, Gurken, Radieschen und Kartoffeln angebaut, Bäume und Sträucher verschnitten.“ Beim Bauern gegenüber hat sie den Pferdestall ausgemistet, um Dung für ihre Beete zu bekommen. Hin und wieder schenkte ihr die Frau ein Netz Kartoffeln oder gab ihr einen Topf Suppe.

Wie romantisch, mag man im ersten Moment denken. Ja, das war es. Aber es war vor allem eine verdammt harte Zeit für Dorit. Ihre Honorare bei der DEFA fielen nicht immer so üppig aus. Als Kleindarsteller – Rollen ohne Text, aber mit Kamerapräsenz – bekam man einen Tagessatz von 50 bis 70 Mark. „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen“, scherzt die Schauspielerin, obwohl das damals für sie nicht witzig war. Im Frühjahr und Herbst trampte sie zu den Modewochen nach Leipzig. „Da hatte ich für eine Woche einen gut bezahlten Job als Mannequin.“ Den sie aber nicht um jeden Preis annahm. Ihre Würde ließ sie sich nicht nehmen. Als ihr ein Veranstalter vorhielt, dass ihr Lederolmantel, in dem sie zur Arbeit erschien, unpassend sei, die anderen Mannequins kämen in Pelzmänteln, knallte sie ihm an den Kopf: „Das Geld dafür habe ich mir ehrlich verdient und nicht erschlafen!“, und war weg. Ansonsten nahm sie ihre Gitarre und vertonte Kindergedichte, wenn die DEFA gerade nichts für sie zu tun hatte. „Ich stellte mir kleine Programme zusammen und trat damit in Kindergärten auf. Das brachte mir immerhin 20 Mark ein.“ Davon bezahlte sie ihre Sprecherzieherin, die sie in Kleinmachnow gefunden hatte.

Zwei Sommer und zwei Winter wohnte Dorit in ihrem Häuschen in der Stahnsdorfer Elisabethstraße 11. „Die Winterzeit habe ich in meinem Häuschen nur überstehen können, weil mir eine Familie in der Nachbarschaft an besonders kalten Tagen Asyl bot“, erzählt sie. „Wenn das Wasser in meiner Wärmflasche gefror, ließen sie mich bei sich schlafen.“ Im Frühjahr 1962 besuchte Ria Gäblerihre Tochter das erste Mal in Stahnsdorf. „Es war eine wunderschöne Zeit“, erinnert sich Dorit. „Mutti hatte sich sogar bei der DEFA als Kleindarstellerin registrieren lassen und in zwei oder drei Filmen mitgespielt. So kam noch etwas Geld rein, aber es hat ihr auch gefallen. Danach verbrachte sie häufig längere Zeit bei mir.“ Ria Gäbler bekam so eine kleine Ahnung davon, was die Ambition ihrer Tochter war, Schauspielerin zu werden. Es entwickelte sich eine neue, eine enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

Dorit Gäbler wollte nicht einfach nur Schauspielerin werden, vor allem wollte sie mal eine gute Schauspielerin sein. Daher nutzte jede Gelegenheit, um zu überprüfen, ob sie für sich auch wirklich für den Beruf eigne. Sie erzählt mir eine Episode. Bei den Dreharbeiten für den zweiteiligen Kriminalfilm „Mord in Gateway“ hatte sie den bekannten DEFA-Schauspieler Martin Flörchinger kennengelernt. Sie spielte das junge hübsche Fotomodell. „Ich hatte nur einen kurzen Auftritt, denn diese Helen wird gleich zu Beginn des Films ermordet“, erzählt sie.

Die 19jährige Dorit Gäbler spielt das attraktive Fotomodell Helen McDuff, die nymphomanische Ehefrau des einflussreichen Politikers Kyle Theodore McDuff, die ermordet wird Quelle: Amazon © Werner Bergmann

Martin Flörchinger war der ermittelnde Detektiv, der dieses mit vielen Missverständnissen behaftete Verbrechen aufklärt. „Ich habe ihn in einer Drehpause gefragt, ob ich ihm mal etwas vorsprechen dürfte. Er war ein erfahrener Schauspieler, und ich hatte das Gefühl, dass er mich ernst nahm.“ Flörchinger willigte ein. Amüsiert erzählt Dorit, wie sie ihm eine Szene aus Schillers Jungfrau von Orléans vorspielte. „Ich saß auf einem Stuhl und geriet so in Euphorie, dass ich nach hinten überkippte und mein Schuh an die Decke flog. War mir das peinlich“, lacht sie. Der Schauspieler reagierte mit Humor. Er guckte nach oben, zeigte auf eine kleine Delle an der Decke, und meinte: „Wenn es nicht sehr viel Begabtere gibt, hast du eine Chance, Kleene.“

Im Juli 1963 erlebte die inzwischen 20jährige Dorit Gäbler ihren glücklichsten Tag. Sie hatte die Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin-Schöneweide bestanden. Den Moment, als sie den Brief in der Hand hielt, wird sie nicht vergessen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Zusage oder Absage, schoss es ihr durch ihren Kopf. Hatte sie die Prüfung geschafft oder war ihre Vision nicht mehr als ein Luftschloss? Nein! All die Mühen und Strapazen hatten sich gelohnt. Trotz ihres noch hörbaren Sächsisch konnte sie die Prüfungskommission überzeugen, dass in ihr das Zeug zur Schauspielerin steckt. „Ich habe die Heilige Johanna in drei Versionen vorgesprochen. Das eine war ein Monolog aus Schillers Jungfrau von Orléans, dann habe ich mir eine Szene aus Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe und aus Jean Anouilhs Jeanne oder Die Lerche ausgesucht.“

Die verbleibenden Wochen bis zum Studienbeginn im September arbeitete die angehende Schauspielstudentin als „Mädchen für alles“ bei der Produktion eines DEFA-Kinderfilm mit. „Ich wollte genauer wissen, wie das so läuft, wenn ein Film gedreht wird“, sagt sie. „Leider habe ich bei allen Dreharbeiten immer wieder festgestellt, wie herablassend sich manche Schauspieler den Leuten gegenüber verhielten, die viel weniger als sie verdienten, aber ohne die beim Film nichts laufen würde. Sie haben Respekt verdient.“ Ihr ist er nie abhandengekommen.

Im Sommer 2007 habe ich Dorit Gäbler zum ersten Mal interviewt. Ich besuchte sie in Friedewalde bei Moritzburg, wo sie seit 1978 mit ihrem Mann Karl-Heinz Bellmann wohnt. Sie hatte gerade ihre CD „Starke Frauen“ herausgebracht“ © Boris Trenkel/SUPERillu

Dass sie sich damals in den Kamera-Assistenten Ulrich Rohloff verliebt hatte, und beide 1965 für eine kurze Zeit verheiratet waren, erwähnt Dorit Gäbler nur nebenbei. „Wir hatten wenig Gelegenheit, zusammen zu sein, als ich studierte. Ich teilte mir mit Hermann Beyer, einem Kommilitonen aus meiner Klasse, eine Studentenwohnung in der Ernst-Schneller-Straße. In unserer gemeinsamen Küche lag immer ein Vier-Pfund-Brot, daneben stand eine Schüssel mit Griebenschmalz, das ich spendierte. Nach abendlichen Szenen-Studien trafen sich bei uns Studenten und Schauspieler, die uns unterrichteten.“ Das war nicht Ulrich Rohloffs Welt. Er fühlte sich als fünftes Rad am Wagen. Sie trennten sich. Die Scheidung ging ohne Probleme über die Bühne. Ulrich Rohloff drehte von 1966 bis 1981 als Kameramann Kurz- und Dokumentarfilme beim Filmstudio der NVA in Potsdam.

Taschen, Pullover und Hootenanny

An ihre Studienzeit denkt Dorit Gäbler mit gemischten Gefühlen zurück. Sie liebte das Fechttraining, schwärmt noch heute von den Szenenstudien mit Regisseur Friedo Solter. „Ich sog alles auf, wollte so viel wie möglich lernen.“ Sie litt unter ihrem Bildungsdefizit. „Alle hatten Abitur, wussten mehr über Geschichte und Literatur, konnten ihre Eltern fragen, die Schauspieler, Regisseure oder Dramaturgen waren, wenn es um Film und Theater oder Rollengestaltung ging.“
Diese Überlegenheit ließen ihre Kommilitonen Dorit auch spüren, die den Gedanken abwehrte, nicht dorthin zu gehören. „Ich habe gelesen und gelesen, bin ins Theater gegangen, wenn die anderen Party machten.“ Sie nennt Namen von prominenten DDR-Schauspielern, die sich damals menschlich nicht von ihrer besten Seite gezeigt haben. „Ihr Urteil über mich: Wissbegierig, aber dumm, die Gäbler.“

Bei einem Fototermin an der Schauspielschule lernte sie die Fotografin Barbara Meffert und ihren Mann, den Journalisten Dieter Heimlich, kennen. „Die beiden nahmen mich unter ihre Fittiche und halfen mir, meine Bildungslücken zu reduzieren. Sie schenkten mir Bücher, unter anderem Peter Hacks‘ Kindergedichte Der Flohmarkt“, von denen ich viele vertont habe.“

Alles nachzuholen war ihr nicht möglich. Der Tag hatte nur 24 Stunden und im Gegensatz zu ihren Mitstudenten musste sie zu den 180 Mark Stipendium noch Geld dazuverdienen. Während sie Texte lernte, strickte und häkelte Dorit modische Pullover, Kleider, Umhängetaschen – die waren damals der Renner. Und sie trat mit ihrer Gitarre auf. „Für eine Veranstaltung bekam ich jetzt immerhin 50 Mark“, erinnert sie sich. „Komponieren und eigene Lieder schreiben ist immer meine Leidenschaft geblieben und die Basis für meine musikalische Karriere geworden.“

Eine wichtige Person wurde für diesen Teil ihres Talents Chris Baumgarten, eine seinerzeit bekannte Berliner Komponistin und Gesangslehrerin. Einmal im Jahr konnten sich Studenten der Schauspielschule um einen Platz in ihrem Chanson-Studio bewerben. „Diesen Platz habe ich mir 1964 erkämpft“, erzählt Dorit.

Cover des Amiga Samplers „Songs, Chansons und neue Lieder“ von 1966. Der kanadische Sänger Perry Friedman brachte 1960 die Hootenanny-Bewegung in die DDR © discogs.com

Eins kam dann zum anderen. Der kanadische Folksänger Perry Friedman war 1959 in die DDR übergesiedelt und hat 1960 die Hootenanny-Bewegung initiiert – ungezwungene Konzerte auf offener Bühne, bei denen jeder mitmachen konnte. Berlins Jugend sang, komponierte und schrieb Lieder. Chris Baumgarten ermutigte Dorit, bei den Hootenannys mitzumachen. „Ihr gefielen besonders meine Kinderlieder mit Texten von Peter Hacks.“ Bei den Hootenanny-Veranstaltungen traf sie Künstler wie Rainer Schöne, Perry Friedmann und Lutz Kirchenwitz, den Mitbegründer des Oktoberklubs. „Rainer Schöne war ganz angetan. Es sei so schön, wie ich meine Kinderlieder singe“, erzählt sie. „Da steckte auch meine ganz ehrliche Naivität drin, die ich als junges Mädchen hatte. Ich habe alles mit großer Liebe und Inbrunst gemacht, da war nichts aufgesetzt.“ Keiner sah hier von oben auf sie herab. Im Gegenteil. Dorit genoss alsbald ein Standing als Liedermacherin.

Gleich 1964 bei den ersten Konzerten, die die Berliner FDJ und der Jugendsender DT 64 in der Volksbühne organisierten, war auch Dorit Gäbler als Sängerin dabei und begeisterte das Publikum. „Ich musste bei meinem ersten Auftritt mein Lied zweimal singen, die Leute hörten gar nicht auf zu klatschen.“ Sie singt ins Telefon: „Ick möcht ma mitn Finger in Himmel pieken, ob dit wohl jeht? Ick möcht inne Sonne liegen und seh’n wie ’ne Wolke zerjeht… Wie’s weitergeht, weiß ich nicht mehr.“
Lachend erzählt sie dann von einer Veranstaltung beim DDR-Wachregiment in Berlin-Adlershof, die sie zusammen mit Frank Schöbel bestritt. „Ich erinnere mich noch gut, wie sauer er war, dass die kleene Schauspielstudentin als Sängerin angekündigt wurde und auch noch mehr Applaus als er bekam.“ Sie lacht: „Kunststück, sein Anzug hatte ja auch keinen Ausschnitt!“

1966 erschien der Amiga-Sampler „Songs, Chansons und neue Lieder“, auf der Dorit Gäbler auf der A-Seite mit ihren Hacks-Liedern vertreten ist

1966 nahm Amiga drei ihrer Lieder mit auf den Sampler „Songs, Chansons uns neue Lieder“. Ihr Engagement in der Singebewegung setzte Dorit Gäbler in Karl-Marx-Stadt fort. „Es ging ja darum, diese Bewegung in die Provinz zu tragen, vor allem die Arbeiterjugend zum gemeinsamen Singen zu bewegen. Ich war mit Leib und Seele dabei.“ Im Fritz-Heckert-Werk, dem Großbetrieb der Stadt, fand sie junge Leute, die sich auch dafür begeisterten. Mit Unterstützung des SED-Parteisekretärs des Werkes riefen sie den Singeklub 67 ins Leben. Der FDJ-Zentralrat der DDR hatte das Konzept der Hootenanny-Bewegung aufgegriffen und 1966 einen „Beschluss zur Entwicklung einer breiten sozialistischen Singebewegung unter der Jugend“ gefasst. „Dem Theater hat meine zeitaufwendige Beschäftigung nicht geschmeckt. Misstrauisch wurden unsere zahlreichen Aktivitäten beäugt.“ Als das ZDF 1967 in seiner Sendung „Kennzeichen D“ über den Klub und die aufstrebende junge Künstlerin berichtete, kostete sie das beinahe ihr Engagement. „Sie schlachteten die Zeile „…so viele Kilometer Steine liegen zwischen dir und mir…“ aus dem Liebeslied, das ich sang, als Protestsong gegen die Mauer aus. Was natürlich völliger Quatsch war. Dass ich nicht entlassen wurde, verdanke ich dem Parteisekretär des Heckert-Werkes, ein großartiger Mensch. Er hat sich sehr für mich eingesetzt“, erinnert sie sich.

Eve, Eurydike und ein Beutesohn

Ihre Stärke, sich nicht unterkriegen zu lassen, brachte die Achtklässlerin zum erfolgreichen Abschluss ihres Schauspielstudiums. Nach dem Intendanten-Vorsprechen im letzten Studienjahr hatte sie Vorverträge von der Volksbühne Berlin, vom Bergarbeiter Theater in Senftenberg und vom Stadttheater Karl-Marx-Stadt. Sie entschied sich für Karl-Marx-Stadt. „Nach meinem Gespräch mit dem Intendanten Hans Dieter Mäde sah ich dort die beste Chance, wirklich Rollen zu bekommen und spielen zu dürfen.“ Zu ihrem Leidwesen wurde Mäde noch vor Antritt ihres Engagements im September 1966 ans Staatsschauspiel Dresden beordert. Das schien alles über den Haufen zu werfen. „Ich wusste ja nicht, ob der neue Intendant mich auch spielen ließ.“

Da es nicht ihre Art war, sich auf den Zufall zu verlassen, trampte sie umgehend von der Schauspielschule ans Theater nach Karl-Marx-Stadt und setzte sich in den Zuschauersaal. Es war gerade eine Probe, der Gerhard Meyer zusah. Kaum war sie beendet, „überfiel“ ihn Dorit und erklärte: „Herr Meyer, ich habe einen Zweijahresvertrag für Ihr Theater. Weil Sie mich nicht kennen, möchte ich Ihnen vorsprechen. Ich muss wissen, ob ich in ihr Konzept passe und Rollen bekomme. Denn ich will spielen und nicht herumsitzen.“

Wohl etwas verblüfft ob ihrer Kessheit, aber schmunzelnd, meinte er: „Na, dann ab auf die Bühne.“ Die Schauspieler, die eben gehen wollten, blieben. „Alle waren gespannt, es war ja schon ziemlich gewagt von mir, ohne Anmeldung da aufzutauchen und ein Vorsprechen zu fordern.“ Wissen sollte man, dass Gerhard Meyer während seiner Intendanz bis 1990 viele junge Regisseure und Schauspieler entdeckte und förderte. Eine davon wurde mit Beginn der Spielzeit 1966/67 Dorit Gäbler.

Dorit Gäbler 1974 im „Polizeiruf 110: Fehlrechnung“. Helga, Buchhalterin eines Tiefbaubetriebes, fällt auf, dass Kollegen aus dem Fahrdienst Tankkreditscheine für längst abgemeldete Fahrzeuge abgerechnen. Auch ihr Freund © DRA/MDR, Herbert Thomas

Als ihr Absolventenvertrag 1968 auslief, wechselte sie von Karl-Marx-Stadt nach Dresden ans Staatsschauspiel. Chefregisseur und Generalintendant Hans Dieter Mäde stand zu seiner Zusage von 1966, sie zu engagieren.

Ihre Jahre am Theater in Dresden rekapituliert Dorit Gäbler als eine Zeit, in der sie sich erfolgreich freispielte. „Ich war universell einsetzbar, spielte Junge und Alte, Ladies, Diven und Mädchen, Geliebte ohne Ende. Ich bekam sogar lesbische Angebote, weil ich ein paar Weiberrollen in Stücken von Peter Hacks hingelegt habe, dass ich interessant für diese Klientel wurde. Meine Mutter allerdings, die inzwischen bei mir wohnte, wollte zu derartigen Premieren eingeladen werden.“
Aber es gab auch die Kehrseite der Medaille. In dem Moment, wo eine Umbesetzung stattfand, und mehr von Dorit Gäbler in der Rolle die Rede war als von der Vorgängerin, waren die Damen nicht mehr fein. „Da ist die Freundlichkeit hin, du wirst verleumdet, bist plötzlich eine Hure, eine Schlampe, die sich die Rollen erschläft. Das hat mich fast dazu getrieben, aus dem Fenster zu springen.“
Diese schwachen Momente überwand sie. „In mir kam die Eliza hoch. Die hat gekämpft. Und ich hatte mir ja geschworen, eine gute Schauspielerin zu werden. Das Publikum gab mir Halt. Und an den üblen Nachreden in der Kantine, dass dieses ungebildete Volk ja überhaupt nicht schätzen kann, was wirklich gut oder schlecht ist, habe ich mich nicht beteiligt.“ Sie konzentrierte sich wieder ganz auf sich, auf das, was sie wollte, und ging, wenn die anderen kamen. Manchmal vermisste sie die Gemeinsamkeit des Ensembles, die das Theaterleben erst vollständig machen. „Aber Gott sei Dank“, sagt sie, „waren nicht alle Schauspieler mit dieser dümmlichen Arroganz behaftet.“

Dorit Gäbler und Rolf Hoppe bei den 13. Merseburger DEFA-Filmtagen im März 2018. Im November 2018 verstarb der großartige Mime. „Wir sind über all die Jahre in Kontakt geblieben, haben einiges zusammen gespielt“, sagt Dorit. © Karl-Heinz Bellmann

Einer, zu dem sie aufschaute, der sie ernst nahm, war der Schauspieler Rolf Hoppe. Mit ihm spielte sie 1969/70 in Heinrich von Kleists Komödie Der zerbrochene Krug“. Sie war die Eve, er der Dorfrichter Adam. „Es war herrlich, ihm zuzusehen, wie er seine Körperlichkeit einsetzte. Rolf hat sich die Rollen immer auf den Leib gezogen, da blieb für seine Mitspieler nicht viel Platz.“ Aber Dorit verschaffte ihn sich. Es war eine Schlüsselszene, in der er sie überspielte. Adam saß am Tisch und aß. Und das spielte Rolf brachial. Kein Mensch hätte die neben ihm stehende Eve wahrgenommen, die im Begriff ist, ihre Ehre zu verteidigen. „Ich habe Rolf gesagt, dass dies ein wichtiger Moment in meiner Rolle ist. Er hat sofort verstanden, dass er mir Raum geben musste. Wir haben später oft noch nach den Vorstellungen zusammen auf der Probe-Bühne des Theaters schauspielerische Haltungen ausprobiert. Wunderbar! Manchmal sah uns seine Frau Friederike zu.“

Dorit Gäbler 1972 als attraktive und intelligente Dr. Schwalbe mit dem tschechischen Musical- und Operettenstar Karel Fiala als Bürgermeister von Sonnethal in der Filmkomödie „Nicht schummeln, Liebling!“ © DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

Neben ihrer Theaterarbeit hat Dorit Gäbler immer wieder in Filmproduktionen der DEFA und des Fernsehens mitgewirkt. „Es waren gute Rollen und welche, die ich fast vergessen habe“, rekapituliert sie im Gespräch. Nicht vergessen hat sie – und auch das DDR-Kinopublikum nicht – die Fachschuldirektorin Dr. Barbara Schwalbe in dem heiteren DEFA-Sommermusical „Nicht schummeln, Liebling!“ mit Chris Doerk und Frank Schöbel in den Hauptrollen. Es geht um Fußball kontra Kultur, ein bisschen um die Machtkämpfe zwischen den Geschlechtern und natürlich Liebe. „Die Dreharbeiten in Quedlinburg und die Rolle an sich machten mir großen Spaß.“ Das Publikum liebte das Spektakel.

Die liebeshungrige Eurydike (Dorit Gäbler) wird von Pluto, dem Herrn der Finsternis, in den Hades verschleppt. © DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Ihre erotische Ausstrahlung und das sexy Erscheinungsbild empfand Dorit als junge Schauspielerin eher als Fluch denn als Segen. „Ich steckte in dieser Schublade der halbseidenen Rollen, und habe viel zu viele davon gespielt. Das bereue ich heute.“ Doch in einer dieser Rollen hat sie es 1973 auf das 8. Internationale Moskauer Filmfestival geschafft. „Nein, die bereue ich keineswegs. Die war einfach unglaublich schön.“

Jupiter (Rolf Hoppe) verspricht Eurydike, sie aus Plutos Gefängnis zu befreien und zu Orpheus zurückzuführen. Doch er findet einen Trick, sie als Bachantin für sich zu behalten ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Das war Dorit Gäbler als Eurydike in der DEFA-Adaption von Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“, in der sie das Objekt der Begierde des lüsternen Göttervaters Jupiter ist. „Regisseur Horst Bonnet hat das sinnliche Verlangen und die Lebenslust schon sehr hervorgehoben“, erzählt sie. „Prüde durfte man da nicht sein.“ Sie lacht. „Die Rolle habe ich wahrscheinlich bekommen, weil ich den schönsten Busen hatte. Die haben ein richtiges Weib gesucht. Ich hatte meinen Sohn noch nicht geboren und einen schönen Körper.“ Sie meint das nicht ironisch und auch nicht kokettierend. Nicht nur die Männer fanden die Gäbler erotisch, sinnlich und schön.

Helga Piur als Diana, Göttin der Jagd und Jupiters aufmüpfige Tochter ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Barbusig, in durchsichtige Gewänder aus Tüll gehüllt, tollen die Göttinnen durch den Olymp. „Als ich die Entwürfe sah, war ich zuerst erschrocken. Aber angezogen fühlten sich die Kleider auf dem Körper wie eine zweite Haut an. Sie lagen so eng an, dass man nicht einmal einen Slip tragen konnte. Der Maskenbildner hat uns am Körper alles abrasiert, was es abzurasieren gab“, erinnert sich Helga Piur – Jupiters Tochter Diana. „Alles war so grazil und diffizil. Wir liefen wie auf Wolken, wenn wir die wunderschöne Dekoration betraten. Horst Bonnet hat es verstanden, eine Atmosphäre zu zaubern, in der nichts Unanständiges aufkam. Keiner kam auf die Idee, etwas Unzüchtiges zu tun oder zu denken.“ Grienend erinnerte sich der kraftvolle Rolf Hoppe 2008, als ich die Drei auf Schloss Wackerbarth interviewte: „Ein Göttervater hat edel und moralisch zu sein. Was natürlich stinklangweilig ist.“

Dorit Gäbler1973 mit Regisseur Horst Seemann (r.) beim 8. Internationalen Filmfestival in Moskau. Seemanns (r.) wurde für seinen DEFA-Film „Reife Kirschen“ mit Filmpreis in Gold ausgezeichnet © Gäbler

Die Kritiker waren sich einig: „Ein Film der Komödianten“, schrieb die Berliner Zeitung. „Herrliche Farben, zeitbezogene kabarettistische Dialoge, sparsame Kostüme“, lobte „Kino-Eule“ Renate Holland-Moritz. „Wir haben für unseren Film 1973 in Moskau keinen Preis bekommen. Aber uns hat das Publikum stürmisch gefeiert“, erinnert sich Dorit. Die DEFA-Stiftung hat den 1972 gedrehten Film inzwischen digital aufgefrischt. Eine Augenweide und ein großer Spaß.

Hermann Wardin (Joachim Siebenschuh) ist zu schwach, um sich gegen seinen Vater durchzusetzen. Lilli trennt sich von ihm Screenshot © DFF/DRA, Peter Süring

Im Jahr 1973 entstand unter der Regie von Helmut Krätzig die dreiteilige Familienchronik „Die Frauen der Wardins“. Über vier Generationen wird die Geschichte einer märkischen Bauernfamilie erzählt, die sechs Jahrzehnte lang um ihren Hof, um ihre Existenz kämpfen musste, bis ihre Bemühungen schließlich in der sozialistischen Landwirtschaft zum Erfolg führten. Im Mittelpunkt stehen dabei das Leben, die Liebe und das Schicksal der Frauen in ihrer Zeit. Neben Angelika Waller als Anna Schlomka, Katharina Thalbach als Maria Wardin und Monika Woytowicz als Irmgard Wardin liefert Dorit Gäbler in der Rolle der reichen und selbstbestimmten Schießbudenbesitzerin Lilli Watzek eine reife Leistung.

Hochzeit, Scheidung, neuer Anfang

Dresden war neben Berlin ein Zentrum der Singebewegung. Dorit betreute junge Liedermacher an der TU Dresden und lernte dabei den Mathematikstudenten und alleinerziehenden Vater Jochen Kramer kennen. „Er schrieb gute Texte. Wir haben eng zusammengearbeitet. Zu unseren Treffen brachte er meist seinen vierjährigen Sohn Marcus mit. Ich wollte endlich meinen Plan, nicht kinderlos zu bleiben, angehen. Ich borgte mir oft Marcus aus, unternahm etwas mit ihm. Eines Tages fragte er mich, ob ich nicht seine Mama sein möchte. Ich sagte ihm, sofort, dein Papa muss mich aber heiraten.“ Die Frage des Vater kam prompt. Jochen Kramer war gutaussehend, sehr charmant und klug. Einer zum Verlieben. Eigentlich stand Dorit nach ihrer ersten Erfahrung nicht der Sinn danach, aber Marcus bettelte: „Heirate Papa“, und da hat sie es getan. Ein Glücksgriff war das auch nicht, obwohl sie sich liebten.

Zu ihren schönsten Liedern, die Jochen Kramer für Dorit Gäbler textete, gehören die Titel auf ihrer Langspielplatte „Das ist mein Café“, die Amiga 1988 herausbrachte ©Amiga

Als sie 1974 schwanger wurde, und es ihrem Mann strahlend mitteilte, erschütterte sie seine Reaktion. „Das lässt du wegmachen! Wir haben schon ein Kind.“ Den Schock musste die 31jährige erst einmal verdauen. Dann stand für sie fest: „Das Kind bekomme ich, auf den Vater kann ich verzichten.“ Sie ließ sich scheiden. Für ihren Stiefsohn Marcus blieb sie seine „Beute-Mama“. Er wohnt ganz in der Nähe und ist ein wunderbarer Mensch geworden, sagt sie. „Trotzdem schätze ich Jochen Kramer als einen der besten Texter im Land und habe einiger seiner Texte vertont. Es sind meine schönsten Lieder.“ Im Februar 1975 kam ihr Sohn Peter zur Welt. Sein Vater wollte ihn nicht einmal sehen. „Ich habe den Jungen allein großgezogen, ich wollte auch keinen Unterhalt von seinem Vater. Für meinen Sohn existiert er bis heute nicht.“

Das Jahr 1974 brachte Dorit Gäbler auch beruflich zu neuen Entscheidungen. Sie hatte die Aussicht, die Hauptrolle in Joachim Kunerts Verfilmung von Anna Seghers Roman „Das Schilfrohr“ zu bekommen. „Joachim Kunert hat mich im Theater spielen sehen und fand, ich hätte die Urwüchsigkeit dieser Bäuerin, die er sich vorstellte. Meine äußerliche Verwandlung hatte er schon genau im Kopf. Mit aufgelegten Implantaten sollte mein Gesicht verbreitert, mit Haarwuchsmitteln buschige Augenbrauen gezüchtet werden. Ich übte sogar schon den festen, bäuerischen Gang. Obwohl meine Bühnenrolle doppelt besetzt war, ließ mich das Theater nicht gehen. Kunert hat alles versucht.“ Statt endlich sich mal in einer wirklich anspruchsvollen Figur beweisen zu können, hüpfte sie auf der Bühne als Stripteasetänzerin herum. Das hat sie dem Theater nicht verzeihen können. „Ich bekam in dem Film als Trost eine kleine Nebenrolle.“ Sie ist sich sicher, dass ihre Karriere anders gelaufen wäre, wenn sie die Rolle der Marta hätte spielen dürfen. „Ich war innerlich fertig mit dem Theater und wollte nur noch weg.“

Dorit Gäbler und Leon Niemczyk 1975 als Ehepaar Inge und Paul Petzold in der Polizeiruf 110-Folge „Zwischen den Gleisen“. Beide sind in Diebstähle wertvoller Konsumgüter aus Frachtwaggons verwickelt © rbb/mdr/dra, Heinz-Jürgen Wagner
DVD ©Amazon

Ihr Entschluss stand fest. Sie hatte sich sich bei Film und Fernsehen eine gute Basis erarbeitet, und konnte es wagen, sich eine Solokarriere als freischaffende Künstlerin aufzubauen. Sie kündigte ihr Festengagement am Theater. „Meine Mutter unterstützte mich bei der Betreuung meines Sohnes sehr. So konnte ich mich voll auf mein Ziel konzentrieren.“ 1975 und 1977 drehte sie zwei „Polizeiruf 110“Filme, 1976 den Episodenfilm „DEFA Disko 77“ mit Sketchen und Geschichten aus der DDR-Musikszene mit Chris Doerk, Veronika Fischer, der Gruppe Karat, Rainhard Lakomy, Angelika Mann und Schauspielern wie Marianne Wünscher, Ursula Staack, Ingeborg Krabbe, Lutz Stückrath, Rolf Herricht und Fred Delmare. Musiker und Schauspieler von Rang und Namen. Insofern ist der Film auch noch bemerkenswert, weil er das Lebensgefühl der 70er und 80er Jahre in der DDR spiegelt. Dorit Gäbler tritt am Schluss des Films im Duett mit Wolfgang Wallroth und dem Titel Es wird bald Frühling sein“ auf.

Eine wunderbare Chance für eine anspruchsvolle, große Rolle bot sich ihr 1977. Günter Reisch wollte sie mit der Hauptrolle in seiner DEFA-Komödie Anton, der Zauberer“ besetzen. Sie sagte nein, in völliger Verkennung der Handlung. „Ich hatte Angst, es würde wieder so eine halbseidene Figur sein. Das wollte ich nicht mehr spielen und habe alles, was ich in dieser Richtung vermutete, abgelehnt. Und da hatte ich mich in dem Fall gründlich geirrt. Es ist eine richtig gute Filmkomödie geworden, mit dem großartigen Ulrich Thein und der wundervollen Barbara Dittus in den Hauptrollen.“ Dass sie sich da so geirrt hat, bedauert Dorit Gäbler im Nachhinein noch.

Nach ihrer Kündigung stellte Dorit Gäbler einige Weichen. Sie nahm Gesangsunterricht bei der renommierten Gesangslehrerin Eleonore Gendries. Anfangs trat sie mit ihrer Gitarre solistisch auf. „Ich bekam Aufträge über die Konzert- und Gastspieldirektion Dresden und die Künstler-Agentur in Berlin . Das waren drei, vier Lieder bei Großveranstaltungen und einstündige Programme in Clubs.“ 1977 konnte sie die bekannte Dresdner Band „Ebbe und Flut“ unter Leitung des Komponisten Michael Fuchs für eine Zusammenarbeit gewinnen.

1978 nahm Dorit Gäbler ihre erste LP bei Amiga auf @ privat

Mit der Zeit merkte man sich den Namen Sängerin Dorit Gäbler sowohl in der Musikszene als auch unter den Freunden des Chansons, Jazz und Blues. Der Komponist und Rundfunk-Musikredakteur Martin Hattwig entdeckte die singende Schauspielerin 1978 und ließ sie mit dem bekannten Tanzorchester Siegfried Mai Das Schwispslied“ aufnehmen. Das klappte gleich auf Anhieb, so dass er noch den TitelClown sein“ hinterher schob. „Im gleichen Jahr produzierte ich bei Amiga meine erste eigene Langspielplatte“, erzählt Dorit Gäbler.

Der Mann von der „Linie 6“

In Dresden hatte sich inzwischen Karl-Heinz Bellmann mit seinem Kult-Lokal Linie 6etabliert. Es ist eine lange Geschichte, mit vielen schwierigen Phasen, die sich zwischen ihm und Dorit Gäbler entwickelte. Der heute 76jährige hatte sehr jung in dem Geschäft begonnen. „Gastronomie in der DDR war langweilig. Ich wollte meinen Gästen etwas Besonderes bieten“, erzählte er mir 2008, als er einen Nachfolger für die „Linie 6“ suchte. Er hatte das Lokal im Ambiente einer Straßenbahn 1977 eröffnet. Neben gutem Essen servierte er auch niveauvolle Unterhaltung, Musik und launige Gespräche. Bellmann, ein Naturtalent als Conférencier, holte Künstler, Schauspieler, Sportler, Politiker in seine hauseigene Talkshow „Zwischen Tür und Angel“.

Dorit Gäbler 1978 als Unterhaltungsgast bei Karl-Heinz Bellmann in der „Linie 6“. Der Beginn ihrer nunmehr 45jährigen Beziehung, davon sind sie 40 Jahre verheiratet ©privat/Gäbler

Am 10. April 1978 sprang Dorit Gäbler, die er lange schon im Visier hatte, kurzfristig als Talkgast in seiner Show ein. Es war für ihn die Gelegenheit, an sie heranzukommen, denn sie hatte andere Prioritäten: ihren Sohn Peter und ihren Beruf, in dem sie vorwärtskommen wollte. Und die „Linie 6“ hatte bis dahin erst einmal nicht auf ihrem Weg gelegen. Sie arbeitete daran, als Schauspielerin und Sängerin festen Fuß beim Fernsehen und in der Unterhaltung zu fassen. Karl-Heinz Bellmanns Interesse an ihr ging aber weiter, als mit ihr nur in seiner Talkshow zu plaudern. Er hatte sich in sie verliebt. „Er war mir ja nicht unsympathisch, hatte Charme und Witz. Er bemühte sich wirklich sehr um mich.“ Vor besagtem Auftritt tippten sie in seinem Büro noch fix Konzeptzettelchen und kamen sich dabei sehr nah. Es lag ein Knistern in der Luft.

Dorit Gäbler und Karl-Heinz Bellmann mit ihrer Tochter Peggy Bellmann ©privat/Bellmann, Gäbler

Seine Liebe und seine Ausdauer, diese Frau nicht aufzugeben, führte die beiden am 22. November 1983 aufs Standesamt. Zwei Jahre später kam ihre Tochter Peggy zur Welt, die von ihren Eltern sehr geliebt wird. „Wir hatten eine glückliche Zeit damals“, erinnert sich Dorit Gäbler. Das blieb nicht so. Hat man das Paar zusammen im Interview, wird schnell gewiss, dass sie Feuer und Wasser sind. „Keine geniale Verbindung“, sagt Bellmann. Der Gedanke an Trennung beschäftigte die Schauspielerin immer wieder. Doch das Haus, das sie gebaut hatten, war groß genug. Jeder konnte da seiner Wege gehen.

Die Sendepause zwischen ihnen bedrückten Karl-Heinz Bellmann sehr. Er wusste, dass er sich ändern musste, wenn sie wieder zueinander finden wollten. 1997 erkrankte er schwer an Borreliose und litt danach an Depressionen. „Ich habe das nicht erkannt“, gesteht Dorit Gäbler. „Einer, der immer in vorderster Reihe zu finden war, sollte plötzlich Depressionen haben??“

Lange Reise nach Neuseeland und Indien halfen ihrem Mann, viel über sich zu erfahren, auch, wie man Depressionen und Krankheiten bewältigt. Und was für das Gleichgewicht seiner Gefühlwelt wichtig ist. „Ich habe Yoga und Meditation gelernt und erkannt, dass Dorit meine Familie ist. Dass sie ihren Beruf über alles liebt. Dass er es ist, der sie frisch und fit an Körper, Geist und Seele hält. Ich begriff, dass sie Erfüllung in ihrer Arbeit findet und nicht darin, mich zu hofieren. Ich habe mein Ego zurückgenommen, weil ich sie glücklich sehen will.“

Dorit Gäbler und ihr Mann Karl-Heinz Bellmann sind wieder glücklich miteinander. Die Urlaubsinsel Teneriffa ist ihr Erholungsdomizil geworden ©Kaheibell

Karl-Heinz Bellmann verbrachte immer wieder Zeit in Indien, lehrt inzwischen selbst Yoga, chinesische Astrologie und Meditation. Über ihre Beziehung sagt Dorit Gäbler: „Es gab richtig schwere Krisen, ich habe mit mir gekämpft, ob ich ihn verlasse. Er sagte mir, ich liebe dich. Was nun? Wir haben geredet und uns so arrangiert, dass er mir Luft zum Atmen lässt. Mittlerweile freue ich mich, wenn ich abends nach Hause komme und ganz lieb empfangen werde mit einem Nachtsnack oder einem Schluck Sekt. Wenn er mir eine Blume unterwegs geklaut hat oder mir eine gekaufte mit fröhlichem Grinden überreicht. Es ist doch so, dass niemand gern allein bleibt. Und wer ist schon vollkommen?!“

Als sie 60 wurde, rückte sie mit ihrem Mann nach Indien aus. Sie wollte nicht gefeiert, nicht daran erinnert werden, wie viele Jahre schon hinter ihr liegen, wie knapp die Zeit vor ihr noch sein könnte. „Ich hatte Angst vor der Gewissheit, nun alt zu werden.“ Diese Grenze zu überschreiten tat weh. Karl-Heinz Bellmann machte mit seiner Frau genau aus dieser Erkenntnis heraus eine Reise nach Bangalore zu den berühmten Palmblattbibliotheken. „Sie beherbergen die Niederschriften eines der 7 großen Weisen und Seher des alten Indien auf Palmblättern. Fast jeder, der hierherkommt, findet unter den unzähligen Palmblättern sein persönliches Blatt“, erklärt mir Doris. Sie hat ihres gefunden. „Das war ein unglaubliches Erlebnis, eine großartige mentale Erfahrung“, erinnert sie sich. Das Paar hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht.

Abends ins Rampenlicht

Mit Beginn der 80er Jahre etablierte sich Dorit Gäbler auf dem Bildschir, als Schauspielerin in Filmen und Serien, als Sängerin und Kabarettistin in Unterhaltungssendungen. Die Verschiedenartigkeit ihrer Rollen und Auftritte hob sie aus der Schublade des Frauentyps erotisch, sexy, leichtgewichtig heraus. Es kam zwar vor, dass sie das auch spielte, wie das mondäne Fräulein Barbara in Erwin Strankas Filmkomödie „Automärchen“.

Das mondäne Fräulein Barbara ist schon ein Blickfang. Dorit Gäbler hatte 1982, als die DEFA-Filmkomödie gedreht wurde, noch keine Fahrerlaubnis © DEFA-Stiftung, Helmut Bergmann

„Diese Rolle habe ich gern angenommen, weil ich Auto fahren durfte. Ohne Fahrerlaubnis!“, lacht sie, die inzwischen Tausende Kilometer auf den Straßen dieses Landes unter den Rädern hat. „Ich saß für die Szene mit einem riesigen Krempenhut in einem Sportflitzer, kam angerast und drängelte mich an der Tankstelle frech an den wartenden Autofahrern vorbei.“ Der Film wurde 1982 gedreht und kam im Juni 1983 in die Kinos. 1985 lief er erstmals im Fernsehen.

Zu den Straßenfegern im DDR-Fernsehen gehörten die Familienserien, die sich um das Alltagsleben und die Probleme der Menschen drehten. In dem Mehrteiler „Hochhausgeschichten“ spielt Dorit Gäbler die attraktive Anne Seiler. Die 30jährige wird von zwei Männern umworben. Der eine, ein 20jähriger Monteur, der andere, sein gut situierter Chef. „Sie hat eine gescheiterte Beziehung hinter sich, will Sicherheit für ihr Leben. Deshalb heiratet sie den zehn Jahre Älteren. Das entsprach zwar nicht dem Familienbild, wie man es für die sozialistische Gesellschaft proklamierte, aber es entsprach dem wahren Leben. Liebe, Glück und ein sorgenfreies Leben gingen nicht immer zusammen, da machten auch Frauen in der DDR Kompromisse.“

Dorit Gäbler (l.) war als Frau Dr. Ursula Müller 1982 in der Serie „Geschichten übern Gartenzaun“ wenig beliebt. Die versierte Krankenschwester Claudia Hoffmann (Monika Woytowicz), eine ehemalige Mitschülerin, fühlt sich unter ihrer Leitung minderwertig Screenshot @mdr/Siegfried Peters

In den heiter-besinnlichen „Geschichten übern Gartenzaun mit Herbert Köfer und Helga Göring in den Hauptrollen, hatte Dorit Gäbler als Frau Dr. Müller keinen guten Stand bei den Zuschauern. „Ich bekam nur negative Reaktionen. Diese Dr. Müller ist eine egoistische Person, wenn es um ihre Karriere geht, arrogant ihren Mitarbeitern gegenüber. Die Zuschauer haben mich mit meiner Rolle identifiziert und geglaubt, ich bin jemand, der nur nach seinem eigenen Vorteil strebt.“ Aber das ist lange her, sie hat sich ihr Publikum längst zurückerobert. „Die Leute wissen, dass ich kein egoistischer Mensch bin. Ich bekomme viel Dank dafür, dass ich ihnen mit meinen Liedern und Programmen Freude bringe.“ Wo sie kann, hilft sie auch jungen Kollegen auf die Sprünge. So hat sie die junge Dresdner Schauspielerin Kristin Baumgartl animiert und dabei unterstützt, ein mobiles Kindertheater zu gründen.

Eva (Dorit Gäbler, l.) und ihre Schwestern Ruth (Ursula Karusseit), Gerda (Karin Düwel) und Nanny (Petra Blossey) auf dem Weg zu ihrem kranken Vater. „Die Stunde der Töchter“ wurde 1980 von DEFA-Regisseur Erwin Stranka gedreht ©DEFA-Stiftung/Klaus Zähler
Die Lehrerin Eva Winkler (Dorit Gäbler) ordnet sich ihrem Mann, dem Hirnchirurgen Dr. Lutz Winkler (Michael Gwisdek) bis zur Selbstaufgabe unter. „Die Stunde der Töchter“, 1980 ©DEFA-Stiftung/Frank Bredow

Mit Erwin Stranka drehte Dorit Gäbler einen Film, auf den sie besonders stolz ist, „Die Stunde der Töchter“. Im Mittelpunkt der Handlung stehen vier Schwestern, die ganz unterschiedlich mit dem Leben zurechtkommen. Eine schöne Herausforderung für Dorit Gäbler, die den Verfall einer Lehrerin und Gattin eines Hirnchirurgen zur Alkoholikerin zeigt. „Diese Frau ist verzweifelt. Sie hat ihren Lehrerberuf gekündigt, weil sie keine Freistellung bekommt, um ihren todkranken Vater im Krankenhaus zu besuchen. Dann kommt obendrauf, dass ihr Mann vom Besuch eines Kongresses in der BRD nicht in die DDR zurückkehrt. Man muss schon stark sein, um das durchzustehen. Sie ist es nicht und ergibt sie sich dem Alkohol. Ich bin auf diesen Film und meine Rolle stolz, weil das Leben der Frauen in der DDR nicht durch die rosarote Brille gesehen wird. Es wurde viel getan für uns“, sagt die Schauspielerin, „aber es ging nicht ohne eigenes Zutun. Von den Rechten, die wir hatten, ist nach der Wende nichts mehr geblieben. Und wenn eine kleine Minderheit meint, das Gendern würde Gleichberechtigung bringen, kann ich nur sagen. Da werden falsche Signale gesendet.“

Sie (Dorit Gäbler) versucht ihn (Rolf Herricht) in einer Hotelbar anzumachen . Sketch aus der Revue „Abends im Rampenlicht“ 1981 Screenshot@DRA

Bereits 1973, bei den Dreharbeiten für das DEFA-Musical „Nicht schummeln, Liebling“, arbeitete Dorit Gäbler mit Rolf Herricht zusammen. Bei den Geschichten übern Gartenzaun“ waren sie sich wiederbegegnet. Herricht bereitete gerade seine Revue Abends im Rampenlicht“ vor. Ihm fehlte noch die geeignete Partnerin für die Sketche und amourösen Spielszenen. Er bot Dorit Gäbler die Rollen an. „Es war herrlich, mit ihm zu spielen und zu improvisieren. Das Drehbuch ließ uns viel Raum. Und weil ich jemand bin, der gern weiterentwickelt, wurde es von Mal zu Mal besser“, erzählt sie. Nach der Premiere im Mai 1981 schlug er ihr vor, dass weiterhin zusammenarbeiten, mit eigenen Sketchen. „Er hatte es satt, den Punchingball von Hans-Joachim Preil zu geben. Leider ist daraus nichts geworden. Rolf erlag drei Monate später einem Herzinfarkt.“

Unterhaltungsstar und ein abruptes Ende

Die Show wurde im Fernsehen ausgestrahlt und war Dorit Gäblers Einstieg in die Fernsehunterhaltung. Sie gehörte bald zu beliebten Gästen mancher Show. Ihre Auftritte in der beliebtesten Unterhaltungssendung des DDR-Fernsehens „Ein Kessel Buntes“ und die Moderation derselben, brachten sie auf den Höhepunkt ihrer Karriere. „Mit Liedern oder Sketchen mitzuwirken, war schon wunderbar. Aber diese Show zu präsentieren, und das gleich dreimal, 1983, 1986 und 1988, das hatte schon etwas von einem Ritterschlag“, gibt sie ihr Gefühl wieder. Die Zuschauer erlebten sie mit einer Boa Constrictor tanzend, hoch zu Ross moderierte sie eine Artistik-Nummer an. Einen für sie unvergesslichen Auftritt hatte Dorit Gäbler mit ihrem Sohn Peter. „Wir haben zusammen das Lied ,Und dann klettern wir zusammen auf die Bäume‘ gesungen, für das uns sein Vater Jochen Kramer den Text geschrieben hat.“

Die Künstlerin hatte nun zwei feste Standbeine. Ihre Bekanntheit brachte ihr als Sängerin mit eigenem Programm einen vollen Terminkalender, Amiga nahm mit ihr zwei Solo-Langspielplatten auf. „Meine Veranstaltungsverträge habe ich allerdings immer mit der Klausel versehen, dass ich raus kann, wenn Fernsehangebote kommen.“

Dorit Gäbler spielte 1981 in dem Episodenfilm „Engel im Taxi“ eine Artistin, Heinz Rennhack den hilfsbereiten Taxifahrer Engel Foto: Screenshot ©DFF/MDR

Die ließen nicht auf sich warten. Sie drehte hinter einander weg. Mit Heinz Rennhack in der Titelrolle drehte sie den Episodenfilm „Engel im Taxi“, nach „Automärchen“ den Kinderfilm Moritz in der Litfaßsäule“, den Agententhriller „Front ohne Gnade“. Und dann, 1986, ihre Tochter Peggy war gerade drei Monate alt, kam ein Anruf von Klaus Gendries. Mitten in den Dreharbeiten für seinen Film „Claire Berolina war die Darstellerin von Goebbels Geliebter Alice ausgefallen. „Er fragte mich, ob ich die Rolle übernehmen kann. Ich sagte, das ginge nicht, ich habe ein Baby. Naja, wie das so ist bei Schauspielern, habe ich doch zugesagt und bin mit der Kleinen nach Berlin. Der Film reizte mich, obwohl Goebbels Geliebte ja keine so sympathische Figur war.“ Die ganze Crew kümmerte sich rührend um die Kleine, wenn sie in ihrem Körbchen auf die Mama wartete. Das Pendeln zwischen Muttersein und Drehen war so anstrengend, dass sich Dorit Gäbler nicht einmal das Gesicht ihres Filmgeliebten Uwe Karpa gemerkt hat. Was sich viele Jahre später herausstellte, als sie zusammen in „Köfers Komödiantenbühne“ die Theaterversion von Rentner haben niemals Zeit“ spielten.

Dann kam 1990 der Riesenumbruch, und auf die Schauspielerin rollte etwas zu, das sie aus der Bahn zu werfen drohte. „Ich hätte das alles nicht überstanden, wäre ich innerlich nicht so stark gewesen“, resümiert sie rückblickend. Das Land DDR wurde als Staat getilgt. Nur die Menschen waren noch da, die nach dem 3. Oktober 1990 als BRD-Bürger aufwachten. Ob sie wollten oder nicht. Welche Konsequenzen diese „Übernahme“ nach sich zog, konnten viele damals nicht ermessen. Mit der Zeit ist es jedem klar geworden. „Plötzlich standen auch wir DDR-Künstler vor dem Nichts. Die vielen Möglichkeiten, Filme zu drehen, Hörspiele und Platten aufzunehmen, gab es für uns nicht mehr.“

Dorit Gäbler hielt sich an ihr Lebensmotto, dass sich immer ein Weg findet, auf dem es weitergeht, wenn man nur will. Und die damals 57jährige wollte sich ihren Beruf nicht nehmen lassen. Durch niemanden und nichts. „Meine Arbeit ist das, was mich am Leben hält“, betont sie immer wieder. Und so hat sie sich auch damals nicht fallen lassen. Sie scheute sich nicht davor, Klinken zu putzen, sammelte Absagen ein, und schaffte es schließlich wieder auf die Bühnen zurück. „Ich habe mich auf das konzentriert, worauf ich mich verlassen konnte.“ Das war sie selbst mit ihren Fähigkeiten als Schauspielerin und Sängerin, ihrem Talent, Lieder zu schreiben. Sie begann, sich neue Unterhaltungsprogramme aufzubauen, nahm dafür im Studio die Musik mit dem Trio „swinging-friends“ auf, um kostengünstig mit Halb-play-backs arbeiten zu können. Heute, wenn die Veranstalter das nötige Honorar aufbringen können, ist sie noch manchmal mit dem Trio live zu erleben.

Man hörte von Dorit Gäbler kein Gejammer. Sie hat die Widrigkeiten des Lebens immer in den Griff bekommen. Einiges riss ihr damals erst einmal den Boden unter den Füßen weg. Die Aussicht auf eine Rolle in der ARD-Daily-Soap „Verbotene Liebe“, in die man auch bekannte DDR-Schauspieler wie Gojko Mitic, Jürgen Zartmann und Peter Zintner holte, ging ihr 1995 verlustig. Das Casting lief perfekt. Das Engagement scheiterte daran, dass der Chefredakteur „eine aus dem Osten“ nicht mit der Hauptrolle besetzen wollte.

Schön, erotisch, eine Künstlerin, die ihr Publikum zu begeistern weiß. Dorit Gäbler bei einem Auftritt 2022 © Kaheibell

Manches in dieser Zeit machte sie, um das sprichwörtliche Brot zu verdienen. Sie testete Antifalten-Cremes, ließ sich für eine MDR-Dokumentation die Augenlider liften. „Das ist fast 25 Jahre her. Heute würde ich das nicht wieder machen“, sagt die 80jährige, „aber es half mir, den Blick in den Spiegel zu ertragen, nachdem ich 60 geworden war. Inzwischen weiß ich, es gibt auch jenseits der sechsten Null ein erfülltes Leben. Natürlich sollten dabei Sex und Erotik nicht außen vor bleiben. Auch sehr reife Frauen dürfen sich sexy und erotisch fühlen. Sie müssen es nur zulassen“, meint sie. Ihr Programm „Ein bisschen Sex muss sein“ ist ein Zuruf an die Frauen, dass Sex auch im reifen Alter noch Spaß machen kann. „Ich möchte ihnen die Ressentiments nehmen. Sex muss nicht immer zielführend sein. Wenn man zusammensitzt, sich ankuschelt, ein Schluck Wein mit dem Mund weitergibt, ist das eine sexuelle Handlung, verdammt noch mal!“

Marlene, Hildegard und starke Lieder

Seit 1992 präsentiert Dorit Gäbler Songs von Marlene Dietrich in einer stilechten Robe © Karl-Heinz Bellmann

1992 entwickelte Dorit Gäbler ihren ersten Marlene-Dietrich-Abend, der bis heute zu ihren erfolgreichsten Programmen gehört. „Ich habe die Dietrich immer als Künstlerin und Menschen bewundert. Sie war diszipliniert wie keine bei der Arbeit war, immer auf das Team bedacht, mit dem sie gerade arbeitete. Sie war auch eine Diva, aber souverän im Umgang mit Bewunderung und Macht. Sie hat sich 1936 nicht bestechen lassen, aus den USA in das faschistische Deutschland zurückzukehren und dort wieder Filme zu drehen. So ein Rückgrat wünsche ich heute Politikern und so manchem Prominenten.“ Vergnügt erzählt mir Dorit, wie sie sich bei einem Besuch in Paris mit der Gitarre vor das Haus in der Avenue Montaigne 12 gestellt hat, wo Marlene Dietrich bis zu ihrem Tod im Mai 1992 in einem Appartement lebte, und ein paar ihrer Lieder sang. „Die Leute schauten verwundert aus den Fenstern, dann applaudierten sie. Die Dietrich ist trotz Tablettensucht eine starke Frau geblieben.“

2001 entstand ihr Album „Dorit Gäbler präsentiert Marlene Dietrich“, aufgenommen im Studio ihres Kollegen Wilfried Peetz

Mittlerweile schlüpft Dorit Gäbler seit 31 Jahren immer wieder erfolgreich in die Rolle des Weltstars. Über drei Ecken bekam sie ihre erste Bühnenrobe dafür von Georg Preuße, der als Travestiekünstler „Mary“ berühmt wurde. „Er hat seine Bühnengarderobe anfangs selbst genäht und später verkauft“, erzählt Dorit. Inzwischen musste sie die edle Strass-Robe einmal nachschneidern lassen. Die 2001 produzierte Platte Dorit Gäbler präsentiert Marlene Dietrich“ machte sie deutschlandweit bekannt. 2004 war sie mit dem Album in der Schweizer Hitprade. 2009 trat sie anlässlich einer Marlene-Dietrich-Gala mit Liedern aus ihrer „Hommage an Marlene Dietrich“ in dem Nachbarland auf und hat das Publikum auch dort begeistert.

Wo immer auch Dorit Gäbler auf der Bühne steht, ist sie authentisch in dem was, sie tut. „Ich will die Menschen berühren, ihnen etwas geben, aus dem sie Kraft für sich ziehen können, das sie aufbaut und ihnen Freude bringt, wenn sie der Alltag erschöpft.“ Ihre Lieder drehen sich fast alle um das weibliche Wesen, seine Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen, um Liebe und Verlassensein, um das zu sich selbst finden.

Dorit Gäbler ist seit fast zwei Jahrzehnten mit ihrem Bühnen-Porträt „Ein Abend mit Hildegard Knef“ von Mecklenburg-Vorpommern bis Sachsen erfolgreich ©Karl-Heinz Bellmann

In der Zeit, als sich Dorit Gäbler als Schauspielerin und Sängerin zurückkämpfte, fiel ihr Hildegard Knefs autobiografischer Roman „Der geschenkte Gaul in die Hand. „Das Schicksal hat sie sooft aus dem Sattel geworfen, und sie kam immer wieder in Trab. Sie konnte wunderbare, so prägnante Texte schreiben. Ihr komprimierter Schreibstil begeisterte mich. Allerdings war ihr Umgang mit der Zeit des Faschismus fragwürdig. Ich habe lange gezögert, ihre Lieder zu singen.“

Nach dem Tod der Knef Tod 2002 nahm die Dresdnerin eine CD mit fünf Knef-Liedern auf. Diese Platte „Aber schön war es doch“ gab sie Paul von Schell zur „Begutachtung“ mit der Anfrage, ob sie ein zweistündiges Programm daraus machen dürfe. „Ihm gefiel, wie ich die Lieder seiner Frau interpretierte, und er gab mir sein Okay.“
Mit Songs und Texten aus dem Geschenkten Gaul“ entwickelte Dorit Gäbler ein literarisch-musikalisches Bühnenporträt. Ein anspruchsvoller und zugleich unterhaltsamer Abend, der mittlerweile ihr zweiter Dauerbrenner ist. Es wäre der singenden Schauspielerin ein Leichtes, dank ihrer Erscheinung und ihrer Stimme als Hildegard Knef auf der Bühne zu stehen. Aber sie lässt Abstand für ihre Eigenständigkeit als interpretierende Schauspielerin. „Das Premieren-Kostüm hat mir Jürgen Hartmann geschneidert, der in den letzten Jahren auch Hildegard Knefs Bühnengarderobe entwarf und nähte.

Dorit Gäbler und ich 2007 vor ihrer Show „Starke Frauen“ im Dresdner Terassenrestauran Marcolini. Manchmal braucht Frau auch Hilfe @Boris Trenkel

Unterdessen, so fand sie, sei es Zeit für eine CD mit eigenen Texten und Kompositionen. 2005 spielte sie im Studio von Adagio Records Hamburg mit dem „Juri Lamorski Quintett“‚ ihre CD „Starke Frauen“ ein, die die Basis für ihre ebenso erfolgreiche Unterhaltungsshow wurden. Zum Vergnügen der weiblichen wie männlichen Zuhörer ventiliert Dorit Gäbler in lauten und leisen Liedern und Versen die Fragen des Lebens. Ist die Zeit der unverstandenen Frau, des Weibchens in Haus, Küche und Bett vorbei? Erotische Szenen wechseln sich ab mit Nachdenken über Fehler, die man erkannt hat und doch immer wieder macht. Die Quintessenz des Abends: Männer müssen vor starken Frauen keine Angst haben. Sie müssen sie nur lieben. Ich habe einen dieser Abende im Dresdner Terrassenrestaurant Marcolini genüsslich miterlebt.

Ein Solo auf dem Silbertablett

Mitte der 90erJahre adaptierte Dorit Gäbler für sich die Idee der DDR-Fernsehreihe „Schauspielereien“. Heitere und kuriose Kurzgeschichten für einen oder zwei Protagonisten. Wunderbar geeignet für die Schauspielerin, ihre Wandlungsfähigkeit, ihren Facettenreichtum auszuspielen.

Die Schauspielerin ist nicht nur Sängerin, sonden auch eine begnadete Kabarettistin, wie sie in ihrem Programm „Schauspielereien“ locker unter Beweis stellt © Karl-Heinz Bellmann

Mit Musik, Erotik und Witz gestaltet Dorit Gäbler in unterschiedlichsten Rollen vergnügliche anderthalbstündige Theaterabende. „Die Zwischenmusiken schrieb mir mein Bruder Mäckie Gäbler, und bei der Regie hat mich Jürgen Mai unterstützt. Der Szenenwechsel muss ja genau getaktet sein. Meine Garderobe steht auf der Bühne, das Publikum erlebt meine Verkleidungen mit.“ Die „Schauspielereien“ waren bei den DDR-Fernsehzuschauern sehr beliebt. Zwölf Jahre – von 1978 bis 1990 – gaben sich prominente Schauspieler wie Herbert Köfer, Helga Piur, Uta Schorn, Walter Plathe, Helga Göring oder Rolf Ludwig hier einmal im Monat ein einstündiges Stelldichein. Dorit Gäblers Bitte an den MDR, das Format wieder aufzunehmen, wurzelte die Redaktionsleiterin Jana Brandt, die Tochter des DEFA-Regisseurs Horst E. Brandt, ab. „Die Zeiten, dass wir so einen Mist senden, sind Gott sei Dank vorbei, Frau Gäbler.“
Ganz so ein Mist kann es ja nicht gewesen sein, denn mehrere Folgen liefen auch in einigen Dritten Programmen der ARD. Jana Brandt war übrigens von 1988 bis zum Ende des DDR-Fernsehens 1991 Redakteurin in der für die „Schauspielereien“ zuständigen Abteilung Spielfilm/Serie des DDR-Fernsehens.

Dorit Gäbler in ihren „Schauspielereien“ als verkappter Detektiv © Karl-Heinz Bellmann

„Das hat mich damals tief getroffen, weil wieder etwas getilgt wurde, das zu unserem Leben gehört hat“, erinnert sich Dorit Gäbler. Fast möchte man es Trotz nennen. Sie entwarf ihr Bühnenprogramm und ging viele Jahre mit eigenen „Schauspielereien“ auf Tour. Natürlich gab es immer wieder Neuauflagen. „Das war mein größtes und bestes Programm“, findet sie. Nicht zu Unrecht wie sich in Kulturspalten verschiedener Tageszeitungen nachlesen lässt. Beifallsstürme im Kunstschloss Hermsdorf, Fußgetrappel und Bravo-Rufe in Kröpelin. In Greifswald und Dresden forderten die Zuschauer Zugaben, Begeisterung in Wittenberg. Mittlerweile hat sie dieses erfolgreiche Programm aufgegeben. „Die Kostümwechsel fanden auf offener Bühne statt, auf ein fließendes Spagetti-Trägerkleid zog ich Blusen und Jacken. Aber meinen so sichtbaren Oberkörper will ich keinem Zuschauer mehr zeigen“, gesteht die immer noch attraktive 80jährige.

Winfried Glatzeder als Elwood P., der einen unsichtbaren Hasen namens Harvey hat, und Dorit Gäbler als Elwoods Schwester 2000 im Theater am Kurfüstendamm in der Komödie „Mein Freund Harvey“ © Programmheft/Theater am Ku’damm

Auf wundersame Weise, wie sie es nennt, bekam sie Ende der 90er Jahre Gast-Engagements an der Westberliner Komödie am Kurfürstendamm. „Ich spielte vier Inszenierungen in Berlin und Hamburg“, erinnert sie sich. Mit Winfried Glatzeder und Elisabeth stand sie in Mary Chase Komödie „Mein Freund Harvey“ auf der Bühne, an der Partnerbühne Comödie Dresden spielte sie mit Herbert Köfer, Hans-Jürgen Schatz und Jürgen Mai in dem Kästner-Stück „Drei Männer im Schnee“. Fast zehn Jahre ging sie ab 2008 mit Köfers Komödiantenbühne auf Tour, besonders erfolgreich in der Theaterversion von „Rentner haben niemals Zeit“, die auch in der Dresdner Comödie auf dem Spielplan stand. Von 2017 bis 2020 gehörte Dorit Gäbler als Mutter zur Besetzung in der Nikolaikirche Potsdam zur Besetzung des „Jedermann“-Inszenierungen.

Dorit Gäbler 2017 in ihrer Garderobe im Cottbuser TheaterNative“ Sie hat sich für die Premiere ihres Solo-Programms „Verliebt, verlobt, verschwunden“ fertig gemacht. ©Karl-Heinz Bellmann

Ihr großer Traum aber war ein Solo-Stück. Jahrelang hatte sie danach gesucht. Bei einer Vorstellung von Rentner haben niemals Zeit“ mit Herbert Köfers Komödiantenbühne 2015 im TheaterNative C in Cottbus wurde es ihr auf dem Silbertablett geliefert. „Verliebt, verlobt, verschwunden“, eine One-Woman-Revue des österreichischen Theaterautoren Stefan Vögel. Gerhard Printschitsch, der Intendant des Theaters, drückte ihr das Stück in die Hand. Er hatte es für eine 60jährige Schauspielerin seines Ensembles schreiben lassen. Sie traute es sich nicht zu. Für die Komödiantin Dorit Gäbler, die ihr Publikum problemlos zwei Stunden allein unterhält, eine Paraderolle. Und inhaltlich ein gefundenes Fressen für sie, die in Sachen Beziehungen auch nicht auf Rosen gebettet war.
Nach 18 Jahren Alleinseins mit zwei Kinder verspricht ein Mann einer Frau, er würde ihr den Himmel zu Füßen legen, wenn sie ihn heiratet. Doch am Hochzeitstag findet sie statt Rosen drei Worte auf einen Zettel gekritzelt: Ich kann nicht… Sie ist verletzt, wütend, verzweifelt, wie sie nur so blöd sein konnte, schon wieder auf einen Mann hereinzufallen. Im Laufe des Stücks findet sie zu sich selbst, analysiert das Wesen Mann. Sie flucht und singt sich in Rage, hadert mit Gott, der den Mann geschaffen hat. Sie warnt vor Typen, mit denen man sich nicht einlassen darf und parodiert ihren Exmann.

Herbert Köfer beglückwünscht Dorit Gäbler nach der bravourösen Premiere im Cottbusser TheaterNativeC 2016 ©Karl-Heinz Bellmann

„Printschitsch hat das Stück bearbeitet und für die emanzipierte Frau im Osten zugeschnitten“, sagt Dorit Gäbler, die mit ihrem witzig frechen Spiel nicht nur bei den Frauen Lacher erntete. Das Schöne daran war für sie, dass sie nicht nur als Schauspielerin ihr Können zeigen konnte. „Ich durfte mir meine eigene Begleitmusik schreiben, weil ich die dazu vorhandende zu belanglos fand. Nun stand sie also die Schauspielerin mit der Songtexterin und der Komponistin in persona auf der Bühne. Ein solches Finale hatte ich mir immer erträumt!!!“

Allerdings lief das nicht so reibungslos ab, wie sie es jetzt erzählt. Ein Jahr hatte sie neben ihren anderen Verpflichtungen daran gearbeitet. Vier Tage vor der Premiere im Juni 2016 bekam sie einen Schwächeanfall. Die Generalprobe für die Revue in Cottbus musste abgebrochen werden. Die Premiere am 11. Juli und die nachfolgenden Vorstellungen meisterte die 73jährige bravourös. Inzwischen steht sie mit diesem Stück auch anderswo auf der Bühne, wie im Boulevardtheater Dresden, der Kleinen Komödie Warnemünde und dem Theater Adlershof.

Mittlerweile hat Dorit Gäbler 13 Programme, mit denen sie unterwegs ist. Früher waren es so um die 160 Veranstaltungen im Jahr. Jetzt möchte sie etwas kürzertreten, aber ihr Terminkalender ist voll. Zehn, zwölf Veranstaltungen hat sie doch immer noch im Monat.

Pias Schwester Ursula kommt unverhofft nach Leipzig. Sie will ihren Vater besuchen. Später erfährt Pia, dass Ursula nicht mehr lange zu leben hat. Dorit Gäbler und Hendrikje Fitz 1999 in Folge 27 ©MDR

Gedreht hat sie seit der Wende nur wenig. Da waren 1998 die turbulenten Geschichten „Leinen los für MS Königstein“, in denen sie zwei Folgen mitspielte. 1999/2000 war sie in der Serie „In aller Freundschaft“ als Pia Heilmanns Schwester Ursula in drei Folgen zu sehen. „Die Überlegung, mich dauerhaft einzubauen, lief ins Nichts. Ich passe nicht ins Ensemble, wurde mir gesagt. Naja, so war das eben. Ich habe mir andere Ziele gesetzt.“

Dorit Gäbler als resolute Mutter des jungen Rechtsanwalts Markus Immel (Pierre Besson) 2003 in „Mein Weg zu Dir“, Screenshot© MovieMaxxTV/Michael Bertl

2003 sah man sie in der Romanze „Mein Weg zu dir“ mit Pierre Besson. Nichts Weltbewegendes, aber die Rolle ließ sie als resolute Grand Dame glänzen. Eine sehr hübsche Rolle hatte Dorit Gäbler als schrullige Gärtnerin in der phantastischen Kinderserie „Das Geheimnis der Sagala“. Ihre Mitwirkung als Frau Zwirn in der Kinderserie „Schloss Einstein“ 2007/2008 waren ihre letzten Filmrollen.

Junge gegen Alte

Ich frage sie, ob es nicht Zeit wäre, sich aus dem Show-Geschäft zurückzuziehen. Nach intensiven, schönen 57 Jahren, in denen sie ihre Träume gelebt hat. „So etwas habe ich gerade auf Facebook gelesen. Da schrieb ein junger Mann, die alten Künstler sollten endlich die Bühne für die jüngeren freimachen. Das war nicht direkt an mich adressiert. Er bezog sich auf eine TV-Sendung. Ich habe ihm geantwortet, er möge doch mal herumfragen, ob junge Künstler in Kliniken und Pflegeheimen auftreten. Das glaube ich kaum. Das sind keine Bühnen, um bekannt zu werden, oder wo man viel Geld verdient. Das ist doch heute für junge Leute das Wichtigste. Da guckst du auch nicht in schöne, fröhliche Gesichter.“

Dorit Gäbler bei einer Weihnachtsfeier in einem Seniorenheim © Karl-Heinz Bellmann

Sie erzählt mir von einem Auftritt in einem Heim für Demenzkranke. „Ich habe Volkslieder zur Gitarre gesungen und sah in Gesichter, deren ausdruckslose Augen ins Nirgendwo blickten. Mit einem Mal aber kehrten die Lebensgeister in diese Menschen zurück. Sie sangen mit, ganz textsicher. Dass ich diesen Moment in meiner langen Karriere noch entdeckt habe, hat mich glücklich gemacht.“ Ich kann auf dem Laptop sehen, wie sehr sie dieses Erlebnis im Nachhinein noch berührt. Die Frage, ob sie schon darüber nachgedacht hat, wann sie sich von ihrem Bühnenleben zurückziehen will, erübrigt sich eigentlich. Sie ist noch lange nicht soweit, die Bühne aufzugeben. „Ich habe immer noch wahnsinnig viel Freude an der Arbeit und bin mit meinem Personality-Programm „Momentaufnahmen“, Geschichten aus meinem Leben, gut gebucht“, sagt sie. „Ich bleibe, solange das Publikum meine Veranstaltungen mit einem entspannten, freundlichen Gesicht verlässt, und ich höre, dass es ihnen gefallen hat. Fallen die Worte: Naja, Frau Gäbler, das war ganz nett, höre ich auf. Dann bin ich weg.“ Sie lacht und schränkt ein: „Aber ich lasse mich auch nicht wie Johannes Heesters auf die Bühne führen, wenn die Beine nicht mehr wollen.“ Eine klare Ansage.

Sie tut viel dafür, dass niemand ihre Veranstaltungen mit dem Gefühl verlässt: War ja ganz nett. Dorit Gäbler schöpft ihre künstlerische Vielseitigkeit als Schauspielerin, Sängerin und Texterin aus. „Ich möchte mein Publikum exklusiv unterhalten. Dafür steht der Name Dorit Gäbler.“ Der Erfolg ihrer zahlreichen Unterhaltungs- und Kabarettprogramme spricht dafür. „Es geht immer noch weiter“, sagt sie zum Abschied unseres Videointerviews.

Es sei hier gesagt, Feierabend ist für Dorit Gäbler noch lange nicht. Ein paar Tourdaten gefällig? https://www.dorit-gaebler.de/tourdaten/ Foto: Karl-Heinz Bellmann

Schauspielerin Ursula Werner – Ein Leben voller glücklicher Fügungen

Endlich passte es. Ein halbes Jahr hat es gedauert, bis sich ein Termin für unser Treffen fand. Ursula Werner ist immer auf Achse, wie der Berliner sagt. Beruflich. „Ja“, sagt sie lachend, „ich habe in meinem gereiften Alter so viel zu tun, dass es schon an ein Wunder grenzt, dass wir jetzt hier zusammensitzen.“

Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) empfängt ihre Tante Lena (Ursula Werner) auf dem Bahnhof, nicht ahnend, dass diese nicht nur zu Besuch ist, sondern einem Kriegsverbrecher auf der Spur ©Benoît Linder

Allein im vergangenen Jahr hat sie fünf Filme gedreht. Im Januar war sie als „Lenas Tante“ im ersten Ludwigshafener Tatort 2023 mit Ulrike Folkerts auf dem Bildschirm. Schwärmerisch erzählt sie von der Schauspielerin, der sie vorher nie begegnet war. „Mich hat sofort gereizt, mit ihr zu spielen, da hatte ich das Drehbuch noch gar nicht gelesen. Ich bin ein Fan ihrer Krimis. Ich finde sie von einer großartigen Ausstrahlung, und das hat sich auch bei der Arbeit so erwiesen.“ Ursula Werner spielt die pensionierte Staatsanwältin Niki Odenthal, Lenas Tante, die ihr ganzes Berufsleben darauf ausgerichtet hatte, Naziverbrecher aufzuspüren und zu verurteilen. „Das Thema, die Untiefen der deutschen Vergangenheit aufzuzeigen, machte die Rolle für mich doppelt interessant.“

Eigentlich wollte sie nicht mehr so weit weg von Berlin drehen. Aber wenn ihr dann interessante Drehbücher und Rollen auf den Tisch kommen, sind das Fügungen, denen sie sich nicht entziehen kann – und auch nicht will. Sie hat noch mehr als genug Kraft und Leben in sich. Wüsste ich ihr Alter nicht, würde ich mich sehr verschätzen. Sie trägt die Energie der Jugend in sich und vereint sie mit der Erfahrung und Klugheit des Alters gleichsam ihrer Rolle der Lilo in Axel Ranischs Opern-Musical „Orphea in Love“, das der gebürtige Lichtenberger Regisseur im vergangenen Sommer in München inszenierte. Ursula Werner beschreibt diese Figur als „eine seltene Paarung zwischen alt und jung. In Lilo sind Lebenskampf und Lebenslust vereint, mit glücklichem und auch traurigem Ausgang. Axel Ranisch hat mit seiner Energie, seiner Freude und seinem Übermut soviel Lust an der Mitarbeit verbreitet! Es war eine Wonne, unter diesem optimistisch geladenen, heiteren Menschen zu spielen.“

Ursula Werner als Lilo mit Konstantin Krimmel als Wolfram von Eschenbach in Axel Ranischs Opern-Musical „Orphea in Love“ ©Bayerisches Staatstheater/Dennis Pauls

Der Film spielt in einer dystopisch anmutenden Welt, in der es durch die Liebe noch Hoffnung gibt. „Was anfängt wie ein klassischer Betrugsversuch, entpuppt sich als poetisches Kennenlernen zweier Filmfiguren, und das in einer traumhaften Zauberwelt zwischen Jacques Offenbach, Fred Astaire und LA LA LAND, ist auf der Webseite des 39. Münchener Filmfestes zu lesen. Am 23. März 2023 ist der Kinostart für Axel Ranischs bild- und klanggewaltigen Musikfilm.

Bevor ich zum Interview zu Ursula Werner fuhr, habe ich mir einen halbstündigem Science-Fiction-Horrorfilm angesehen, den sie 2018 mit der Regie-Studentin Sabine Ehrl gedreht hat: „F For Freak“. Dystopie pur. Ich stieß bei Facebook darauf und hatte zu tun, meine Beklemmungen loszuwerden. In einer dreckigen Zukunftswelt, die von überwuchernder Natur und menschlicher Leere geprägt ist, jagen große Menschen kleine. Kopfgeldjäger verkaufen sie als Organspender, Leihmütter, Hilfskräfte. Die 78jährige todkranke Gabriela, die Ursula Werner verkörpert, braucht eine neue Lunge, ein neues Herz. Sie muss sich ihre „Ersatzteilspender“ selbst erjagen. Damit nimmt ihre Verwandlung ins Unmenschliche ihren Lauf.

Gabriela (Ursula Werner) sieht ein Mädchen, das sie mit großen Augen anschaut. Die alte Frau erschrickt vor sich selbst, als ihr bewusst wird, was sie tut. Doch sie will leben, da kann sie keine Rücksicht nehmen „F For Freak“, 2018 Screenshot/©Stephan Buske

Ursula Werner bewegte diese Frau mit ihrer ganzen Körperlichkeit, ist psychologisch genau in Diktion und Mimik. Die plötzlich aufkeimenden Skrupel, an dem, was sie vorhat, die Angst zu sterben, die Selbstberuhigung, dass diese kleinen „Biester“ ja selbst schuld daran sind, dass man sie jagt, weil sie gesund und schön sind, und die Unbarmherzigkeit am Ende des Films, als Gabriela dem Mädchen einen Stein an den Kopf wirft, weil es seine Mutter und die anderen „Schlachtopfer“ aus dem Hospital befreit. Alles drückt Ursula Werner fast ohne Worte in einem ergreifenden und verstörenden Spiel aus.

Auf dem 24. Fantasia Shortfilmfestival 2020 in Kanada wurde sie für ihre Darstellung als „Beste Schauspielerin“ ausgezeichnet. „Der Film hat etwas Unheimliches, meine Figur ist gruselig, so etwas habe ich noch nie gespielt. Ich wollte das mal versuchen, zumal ich das von der Thematik her diskussionswürdig finde“, sagt sie. „Die Frau kommt in den Zwiespalt, wie weit reicht mein Egoismus, andere Leben zu vernichten? Wie weit reicht die Bereitschaft, andere Wesen nicht so lebenswürdig zu betrachten? Das ist ja eine Diskussion, die auf der Hand liegt in unserer Welt. Das knüpft an menschliche Untiefen an und geht über das Thema Organspende weit hinaus. Wozu werden Kriege geführt?“

Es ist eine rhetorische Frage, die Antwort kennen wir, sie wird uns jeden Tag in den Medien präsentiert. Nur muss man sie zu interpretieren wissen. Es ist zwar pure Illusion, aber Ursula Werner ist überzeugt, wenn Mütter schriftlich einwilligen müssten, dass ihre Söhne in den Krieg ziehen, gäbe es keine Kriege. Auf ihrem Auto hat sie einen Aufkleber: „Alle Macht den Müttern“.

Die Arbeit mit Nachwuchsfilmern ist für die Schauspielerin ein gegenseitiges Geben und Nehmen. „Sie wählen sich immer außergewöhnliche Themen, etwas, das aus dem Rahmen fällt“, sagt sie. Die Rollen, die sie bekommt, füllt sie mit Menschlichkeit aus, im Guten wie im Schlechten. Sie lässt in Abgründe blicken. Wie eben in diesem Thriller von Sabine Ehrl, dessen besonderer Reiz für Ursula Werner auch in der Aufnahmetechnik lag. „Es hat mich interessiert, wie da plötzlich diese kleinen Menschlein erscheinen.“ Im vergangenen Jahr stand sie in Osnabrück für den ZDF-Film „Im Tal der Könige“ vor der Kamera, das Spielfilmdebüt des jungen Regisseurs Tim Ellrich. Ein Familiendrama, in dem er seine eigene Geschichte verarbeitet.

Ursula Werner verkörpert in der Inszenierung „Das Himmelszelt“ die 83jährige Dorfälteste Sarah Smith, die selbst 21 Kinder hat und bis vor kurzem noch Handstand konnte ©Deutsches Theater/Arno Declair

Die Dreharbeiten kollidierten zeitlich mit dem Probenbeginn für das historische Gerichtsdrama Das Himmelszelt“ am Deutschen Theater. „Ich stand zwischen Baum und Borke“, sagt sie. „denn ich hatte mich schon Tim Ellrich für seinen Diplomfilm verpflichtet, als das Angebot für die Rolle am Deutschen Theater kam.“ Sie ist jemand, der zu einer Verpflichtung steht. „Man muss sich auf mich verlassen können. Wenn nötig, gehe ich mit dem Kopf unterm Arm auf die Bühne oder vor die Kamera.“ Sie arrangierte es so, dass sie später in die Theaterproben einstieg. „Ich war ganz glücklich, dass ich noch einmal am Deutschen Theater spielen konnte. 1972 hatte ich dort als Vertretung von Jutta Wachowiak und Gudrun Ritter als Charlie in Ulrich Plenzdorfs ,Die neuen Leiden des jungen W. gastiert. Das war kurios. Die eine war die Zweitbesetzung für die andere und beide fielen wegen Erkrankung aus.“

Das Tribunal der zwölf Gemeindefrauen und die Mörderin (r.). Ursula Werner als Sarah ist die zweite von links. ©Deutsches Theater/Arno Declair

Mit ihrer Rolle der 83jährigen Sarah Smith in dem Stück „Das Himmelszelt“ der britischen Autorin Lucy Kirkwood musste sie sich erst anfreunden, weil sie später zum Ensemble dazustieß. „Es ist eine spannende Geschichte“ erzählt sie, „die im Jahr 1759 in einem kleinen Dorf an der englischen Ostküste spielt. Eine junge Mörderin gibt vor schwanger zu sein, denn dann darf sie nicht gehängt werden. Schwangerschaftstests gab es noch nicht, also wurden zwölf Frauen aus der Gemeinde berufen, die feststellen sollen, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt. Diese Frauen mit ihren unterschiedlichen Haltungen und Ansichten sind tolle Figuren. Und ich habe mich gut reingefunden.“ Das macht die Schauspielerin Ursula Werner aus, ihre Schauspielkunst, die sie in 55 Jahren großartig beherrschen lernte.

In der ARD-Filmkomödie „Wer einmal stirbt, dem glaubt man nicht“, präsentierte Ursula Werner ihre komödiantischen Fähigkeiten als Psychologin a.D. Dr. Herta Lundin. Spitzzüngig, ironisch reagiert sie auf ihren selbstverliebten Sohn Ulf (Heino Ferch), einen Bestsellerautor Screenshot ©degeto/Mathias Neumann

Mit ihren fast 80 Jahren, hat Ursula Werner so viele Filmangebote, dass es ihr fast ein schlechtes Gewissen macht. „Andere, gute Kollegen, auch jüngere, warten auf Rollen. Sie müssen zusehen, wie sich durchschlagen.“ Das sind so Ungerechtigkeiten, die sie ungemein stören, ja, traurig machen, weil sie nichts daran ändern kann. „Das schlimmste ist, dass man sich manchmal so hilflos fühlt.“ Da bin ich ganz bei ihr. Selbst musste sich Ursula Werner nie Sorgen machen, ob sie ihren Kindern neue Schuhe kaufen und etwas zu Weihnachten oder zum Geburtstag schenken kann. Oder ob sie sich Ferien gönnen können. Sie hatte seit 1974 ein festes Engagement am Maxim Gorki Theater und war unkündbar, als man 1994 als Nachfolger von Albert Hetterle den Direktor der Münchener Falkenberg-Schauspielschule Bernd Willms einsetzte. Sie erzählt von den Umwälzungen, die nun stattfanden, den Entlassungen. „Ich habe mich bei Gastspielen in der BRD immer gewundert, warum sich die Gespräche der Kollegen dort immer ums Geld drehten. Im Nachhinein ist mir klar, was für eine Freiheit das ist, was für ein Gewinn, wenn man weiß, man kann sein Leben fristen, muss seine Wohnung nicht verlassen.“ Üppig waren Gagen am Theater in der DDR nicht. „Ich bekam 425 Mark Monatsgage bei meinem ersten Engagement 1968 in Halle, hatte aber auch eine Wohnung, die nur 35 Mark Miete kostete. Und ein Brötchen kriege ich heute nicht mehr für 5 Pfennig. Das waren unsere Relationen.“

Fenster ohne Gardinen

Es war kurz vor Heiligabend, als ich Ursula Werner besuchte. Ich hatte von unterwegs eine Tüte Kräppelchen und Spritzkuchen mitgebracht. „Was für eine gute Idee! Das hat ja noch keiner gemacht, zum Interview Futtereien mitzubringen. Wollen wir Kaffee oder Tee trinken?“ Sie mag Kaffee lieber, ich auch.

Ursula Werner wohnt seit ihrer Kindheit in der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg. Das Bild im Hintergrund ist ein Foto von ihrem Haus in Stepenitz ©Bärbel Beuchler

Das kleine Zimmer mit Blick auf die Stargarder Straße ist gemütlich. Sie hat sich in die Kissen auf dem Sofa gekuschelt, ich habe den Stuhl ihr gegenüber genommen. „Das war mal eine Küche“, erklärt sie. „Bei der Sanierung nach der Wende hat man zwei kleine Wohnungen zusammengelegt.“ Ich gucke durch das gardinenlose Fenster hinaus auf die Straße. Es sieht übel aus da draußen. Nieselregen, der auf dem kalten Pflaster sofort gefriert. „Du magst es auch lieber ohne Gardinen?“, frage ich. Sie nickt. „Schon immer. Wenn sich meine Nachbarn in Halle darüber aufregten, habe ich immer gesagt: Die Frau Werner hat viele schöne Gegenstände in der Wohnung, die braucht keine Gardinen.“

Fenster ohne Gardinen laden ein zum Hineinschauen in die Wohnzimmer. Ich mache das gern, wenn ich durch die Straßen gehe, erhasche da ein winziges Stück vom Leben der Bewohner. Ich sammele Eindrücke wie Mosaiksteinchen. Auch jetzt bei Ursula Werner. Auf der Sofalehne hockt ein weißer Teddybär auf seinem eigenen kleinen geblümten Sofa. Am Schrank neben ihr hängt eine überdimensionale Armbanduhr. „Davon habe ich zwei“, sagt sie. „eine hier und eine in meinem Haus draußen auf dem Land.“ Wie sie zu dem Haus mit Garten kam, ist eine der vielen glücklichen Fügungen in ihrem Leben, von denen sie mir erzählt. Es wird ein langer Besuch.

Ende der 70er Jahre suchte sie ein kleines, dauerhaftes Feriendomizil. „Ein Urlaubsplatz kam in der DDR einem Sechser im Lotto gleich. Wenn ich mit meiner Tochter Jenny verreisen wollte, war das ganz schwierig. Manchmal halfen Beziehungen. Mit zwei Kindern schien mir das unerreichbar“, erinnert sich Ursula Werner. „Ich dachte, ein Häuschen auf dem Land wäre die Lösung.“ Sie fragte ihre Freundin Heide Böwe, die Hörspieldramaturgin und Ehefrau ihres so sehr verehrten Kollegen Kurt Böwe, ob sie sich nicht mal umhören könnte. Vielleicht dort, wo sie ihr Ferienhaus haben. Und tatsächlich machte Heide Böwe in der Prignitz, der alten Heimat des Schauspielers, ein schon lange leerstehendes altes Jagdhaus aus, das die Gemeinde verkaufen wollte. „Es hatte ein großes Grundstück, war aber total heruntergekommen. Putz bröckelte von den Wänden, die Fensterscheiben waren kaputt, überall lag Schutt. Man brauchte schon Phantasie, um sich hier eine Ferienidylle vorzustellen.“

Ursula Werner hatte sie. Und es erfüllte sich ein Traum. Tief im Herzen hegte die Schauspielerin seit ihrer Kindheit den Wunsch, an einem solchen Ort zu leben. Mitten im Wald, mit einem Garten, einer großen Wiese, Sträuchern und Obstbäumen. „Ohne meine Freundin Marianne vom Maxim-Gorki-Theater, meine Mutter, meinen Vater und hilfreichen jungen Leuten aus dem Dorf hätte ich das nicht geschafft“, erinnert sie sich dankbar. Seit gut vierzig Jahren hat sie nun in Stepenitz ein zweites Zuhause, gewissermaßen auch ein zweites Leben. Unser Treffen scheiterte auch einige Male daran, dass sie ihre freien Tage zwischen Dreharbeiten und Proben am Deutschen Theater auf dem Land verbringen wollte. „Es tut gut, die Ruhe zu spüren. Die Leute hier im Dorf beschäftigen sich natürlich auch mit der Situation im Land, die für sie eine andere ist als für mich. Sie haben teilweise ganz andere Ansichten. Das ergibt sehr interessante Gespräche. Umweltschutz, Klima, Mobilität ist auf dem Land von anderer Wichtigkeit. Es ist schön, diese Seite zu erleben, nicht nur seine Stadt zu sehen.“

Ursula Werner Anfang der 2000er mit ihren Söhnen, dem heute 43-jährigen Johannes Werner (links), und dem heute 47jährigen Maximilian Richter (rechts) Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Über die Uhren verrät sie mir, dass es einmal Mitbringsel für ihre Söhne Johannes und Maximilian waren. „Ich fand sie originell, die Jungs damals auch“, lacht die 79jährige. Die Teenager wurden erwachsen und fanden die Uhren nicht mehr so toll. Die Mutter nahm’s gelassen und die Geschenke zurück. Zum Entsorgen waren sie ihr zu schade. „Da steckt Arbeit drin, Material und Energie, außerdem funktionieren sie noch. In unserer Wegwerfgesellschaft wird der Wert von Arbeit überhaupt nicht mehr geachtet.“ Das ärgert die Schauspielerin, die 1943 zur Welt kam und in der Zeit des Mangels nach dem Krieg ihre Kindheit erlebte, und gelernt hat, Dinge zu wertschätzen. Essen, Kleidung und was man noch so braucht im Alltag. „Komm, nimm doch auch was“, bittet sie mich und schiebt den Teller mit den Küchlein näher zu mir. „Wir haben als Kinder immer geteilt. Wenn wir auf der Straße oder im Hof Vater, Mutter, Kind gespielt haben, und jemand brachte ’ne Stulle mit oder ’nen Apfel, wurde das geteilt.“

Der Duft von frisch geschnittenem Holz

So sahen die Lebensmittelkarten 1958 in der DDR aus Foto: ©Museum-digital/Sachsen-Anhalt

Wir haben ähnliche Erfahrungen in unserer Kindheit gemacht. Lebensmittel waren damals rationiert. Brot, Fett – Butter, Margarine – und Fleisch bekam man nur auf Marken. In der DDR wurden die Lebensmittelkarten 1958 abgeschafft. Ich weiß noch, wie mich meine Oma, wenn ich in den Ferien bei ihr in Quedlinburg war, mit einer Lebensmittelkarte losschickte, um im Milchladen ein halbes Pfund Butter zu kaufen. Die Abschnitte dafür waren immer zuerst aufgebraucht. Manchmal bekam meine Oma ein Viertel Butter ohne Marke, weil ich zu Besuch war. Da half, dass sie die Milchfrau kannte.

Eine (Ost)Berliner Lebensmittelkarte für den Monat Februar 1950 Foto: ©DDR-Museum Berlin

In dem total zerstörten Berlin hieß das Gebot der Stunde in jenen Jahren: Organisieren. „Meine Mutter schaffte es immer, dass wir nicht gehungert haben“, erinnert sich Ursula Werner. „Wenn es kein Brot mehr gab, konnte man mit den Brotmarken Zucker kaufen, den es reichlich gab. Sie hat ihn dann in der Pfanne kandiert und für meinen Bruder und mich Bonbons gemacht.“ Ein besonderes Talent, Sachen zu beschaffen, hatte ihre Berliner Oma. „Die war richtig clever, wie man heute sagt. Sie besorgte zum Beispiel die Stoffe, aus denen meine Mutter für uns Kleidung nähte.“

Vieles, worüber wir sprechen, müssen wir uns nicht gegenseitig erklären. Zum Beispiel, dass die knappen Ressourcen in der DDR uns dazu anhielten, zu haushalten, nichts wegzuwerfen, was irgendwie noch gebraucht werden konnte. Weiterverwertung oder aus Alt mach Neu – heute heißt das Recycling – war in der Wirtschaft und im privaten Leben ein wichtiges Element. Als Kinder haben wir Flaschen, Gläser, Lumpen und Papier zum Altstoffhändler gebracht. Dafür gab es ein schönes Taschengeld. Dass heute fast nichts mehr repariert wird oder werden kann, findet Ursula Werner eine große Verschwendung. Da braucht ihr niemand mit Umweltschutz zu kommen. Vom freundlichen Plauderton schlägt ihre Stimme für einen Moment ins Energische um.

Elise Werner mit ihrer einjährigen Tochter Ursula auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Friedrichswalde Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Ursula Werner zusammen mit ihrem anderthalb Jahre älteren Bruder Willi auf dem Land auf. Hochschwanger hatte ihre Mutter im Sommer 1943, als die Royal Air Force schwere Luftangriffe auf Berlin flog, die Stadt verlassen und war zu ihren Eltern nach Friedrichwalde in die Uckermark zurückgekehrt. Es war ihr Glück. Das Haus, in dem die Werners gewohnt haben, wurde ausgebombt. So kam es, dass das Berliner Kind im Krankenhaus Eberswalde zur Welt kam. Auf dem Bauernhof der Großeltern suchten auch die Tanten mit ihren Kindern Zuflucht. Dann kehrte der Bruder ihrer Mutter aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück. Es wurde eng, aber alle fanden Platz, keiner musste in der Scheune schlafen. Onkel Gustav war Zimmermann. Wenn er seine Kreissäge in Gang setzte, quietschte es furchtbar. Andere hielten sich die Ohren zu, Ursula hüpfte das Herz vor Freude, wenn sie das Kreischen beim Aufwachen morgens hörte. „Manchmal durften wir Kinder mit dem Schälmesser die Borke von den Stämmen, die der Onkel zersägen wollte.“

Mit duftendem, frisch geschnittenem Holz zu werkeln, gefiel ihr sehr. „Ich hatte ein gutes, starkes Gefühl für Holz “, sagt sie. Als sie nach dem Abitur zunächst den Tischlerberuf erlernte, wusste sie sehr zu schätzen, dass der Onkel sie mit seinen Werkzeugen arbeiten ließ. „Ich wollte Innenarchitektur studieren, da war ein Facharbeiterbrief als Maurer, Zimmermann oder Tischler Voraussetzung.“ Sie absolvierte in Adlershof eine Lehre zur Möbeltischlerin. „Die Ausbildung war anstrengend. Wir fingen früh um sieben Uhr an. Der lange Weg war besonders im Winter bitter. Doch es machte mir alles Spaß, Hobeln, Sägen, Schleifen und aus den Teilen Tische, Schränke und Stühle bauen. Ich könnte das heute noch“, lacht sie, „müsste nur meine Kenntnisse etwas auffrischen.“

In solcher Idylle wie hier am Krummer See erlebte Ursula Werner ihre Kindheit auf dem Dorf bei den Großeltern Foto: ©Amt Joachimsthal

Die kleine Ursula erlebte eine wunderschöne Zeit. Friedrichwalde, mitten in der Schorfheide mit Wiesen, Wäldern und Wasser, war ein Paradies für die Kinder. Mit nackten Füßen durch feuchtes Gras laufen, Pilze und Blaubeeren sammeln, im See baden – was wollte man mehr als Kind. Später, als die Familie wieder in Berlin wohnte, fuhr sie immer wieder in den Ferien dorthin.

Ein nackter Mann auf dem Sportplatz

Wilhelm Werner war 1947 aus englischer Gefangenschaft gekommen, und so kehrte auch seine Frau Elise mit ihren beiden Kindern aus der Uckermark in den Prenzlauer Berg zurück. „Ich war vier und habe Onkel zu meinem Vater gesagt. Das ihn sehr traurig gemacht. Ich erinnere mich an sein Gesicht in dem Moment“, erzählt sie. Der Kiez um die Stargarder Straße ist ihr Heimat geworden. Von hier aus nahmen all die Fügungen ihren Lauf, die Ursula Werner zu einer der besten Charakterdarstellerinnen des deutschen Theaters und Films werden ließen. Das muss gesagt werden, wenngleich sie auf Platzierungen keinen Wert legt. Schon in der Schule war es ihr egal, ob sie Klassenbeste, zweite oder dritte ist. Sie hat gelernt, weil sie neugierig war, weil es ihr Spaß machte. So geht sie auch an ihre Arbeit heran. „Ich gucke, was wird behandelt, ist das Stück wichtig, ist es wahrhaftig? Da kommt es mir erst einmal gar nicht darauf an, wie groß oder klein die Rolle ist. Wichtig ist mir, dass der Regisseur weiß, was am Ende dabei herauskommen soll.

Ursula war noch fünf, als sie am 1. September 1949 mit Schultasche und Zuckertüte posierte Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Am 1. September 1949 kam sie in die Schule – mit der heißbegehrten Zuckertüte ihres Bruders Willi. An der Schliemann–Oberschule, dem heutigen Gymnasium in der Dunckerstraße, machte sie 1961 ihr Abitur. In der Abiturzeit hatte sie kurz mit der Schauspielerei geliebäugelt. „Ich nahm zur Kenntnis, dass sich drei Mädchen aus der Nachbarklasse an der Schauspielschule beworben hatten, aber es brachte mich nicht dazu, es als Vierte zu wagen. Zumal ich nicht mal wusste, wie man das macht.“ Die Drei waren die später bekannten Filmschauspielerinnen Renate Krößner, Heidemarie Wenzel und Petra Hinze.

Ursula Werner weiß von keinem aus ihrer Familie, der in irgendeiner Weise auf künstlerischen Pfaden gewandelt ist. Der Vater war Klempner und Rohrleger, die Mutter gelernte Stenotypistin und Schneiderin. Aber vielleicht steckte die Begabung zur Schauspielerei doch in ihren Genen. Wilhelm Werner besaß einen außergewöhnlichen schönen Tenor und einen echten Urberliner Witz. „Mein Vater sang Opernarien und Operettenlieder, erzählte seine Schnurren aus dem Stegreif. Er war sehr beliebt als Alleinunterhalter“, erinnert sich Ursula Werner. Doris Borkmann, die als „große alte Dame des ostdeutschen Films“ bekannte Regie-Assistentin und Casterin der DEFA, hat ihn eines Tages für den Film entdeckt. „Sie begegnete meinem Vater bei uns zu Hause, als sie mir wieder einmal ein Drehbuch vorbeibrachte. Ihr gefiel sein Wesen, sein Aussehen, seine ganze Art, und sie verpflichtete ihn für einen Film.“

Statt eines Fußballers, wie es der Auftrag für die Skulptur war, präsentiert Bildhauer Kemmel (Kurt Böwe, Mitte mit Schiebermütze) der Dorfgemeinde einen Läufer, noch dazu einen nackten ©DEFA-Stiftung/Alexander Kühn, Wolfgang Bangemann

Und das war 1973 für Konrad Wolfs spröde anmutende Tragikomödie „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“. Sie schildert ein Stück aus dem Leben des eigensinnigen Bildhauers Kemmel, der in seinem Dorf mit seiner Auffassung von Kunst und seinen Werken keinen Blumentopf gewinnen kann. In leisen, satirischen Episoden geht es um die große Frage, welchen Platz nimmt die Kunst in der sozialistischen Gesellschaft ein. Der 30jährigen Ursula Werner hatte Konrad Wolf die Figur der selbständigen Fotografin Angela zugedacht, eine etwas abgeklärte, bodenständige Frau. „Obwohl ich nicht wusste, wie ich diese Rolle bewältigen sollte, ich hatte von einer Fotografin eine ganz andere körperliche Vorstellung, groß und schlank, was ich absolut nicht bin, habe ich sie angenommen.“

Die Rolle der Fotografin Angela eröffnete Ursula Werner eine neue Sicht auf die Art und Weise, wie ein Regisseur ihre Fähigkeiten fordern kann Foto: Repro B. Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner, ©DEFA-Stiftung/Wolfgang Bangemann, Alexander Kühn

Drei Gründe gab es für sie: „Ich fand das Thema, das gerade hochaktuell war, spannend. Kurt Böwe, den ich wahnsinnig mochte, und der ein so großartiger Bühnenschauspieler war, spielte den Bildhauer Kemmel, über den die Angela eine Fotoreportage machen sollte. Und ich war neugierig auf Konny Wolf. Ich konnte mir nicht erklären, warum er mich besetzt hat. Wir kannten uns nicht.“ Konrad Wolf lockte aus der jungen Schauspielerin eine Art der Darstellung heraus, wie sie sagt, die bis dahin noch nie von ihr gefordert war. „Er hatte eine ganz feine Art, mich auf den Weg zu führen, den er wollte. Alles, was ich ihm anbot, war falsch, zu viel. Hat er aber nicht gesagt. Er nahm es einfach mit kleinen Hinweisen weg. Es war eine ganz tolle Erfahrung, dass ich ausdrücken kann, was jemand erwartet, wenn er weiß, was er will.“ Es war das einzige Mal, dass Ursula Werner mit Konrad Wolf gearbeitet hat. Ihr Vater spielte übrigens ihren Zimmervermieter.

Sie stieß immer wieder auf Menschen, die ihre Begabung sahen, ihr mehr zutrauten als sie es selbst vermochte. „Ja,“ sagt sie, „ich hatte viele gute Regisseure und Schauspieler an meiner Seite, von denen ich lernen konnte.“ Regisseur Robert Trösch vom Berliner Kabarett „Die Distel“ war so jemand. Er holte sie 1963 in das Ensemble. Er hatte sie im Laienensemble von Hella Len entdeckt. Ursula Werner nahm die Ausbildung, die die Schauspieldozentin und Regisseurin ihren Schützlingen angedeihen ließ, sehr ernst. Vielleicht ergab sich ja doch noch mal etwas, was aus der Liebäugelei mit der Schauspielerei mehr werden ließ. Und die „Distel“ war ja immerhin ein Anfang. „Ich sollte die Lücke füllen, die Ellen Tiedtke mit ihrem Weggang hinterlassen hatte“, erzählt Ursula Werner. Überzeugt war sie nicht, dass sie das kann. Ellen Tiedtke beherrschte ihr Handwerk, war eine brillante Kabarettistin, und ich spielte in einem Laienensemble im Haus der DSF, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft.“ Das lag gleich nebenan zum Maxim Gorki Theater, was sich später als eine glückliche Fügung erweisen sollte.

Ursula Werner bei ihrem Bühnendebüt „Bette sich, wer kann“ 1963 in der Berliner Distel mit Gerd E. Schäfer Repro B. Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner/©Die Distel

Robert Trösch hatte das richtige Gespür dafür, was er von der Amateurin fordern konnte, wusste sie als Farbe einzusetzen. Ursula Werner brachte das Burschikose, das Urberlinische mit, das Ellen Tiedtkes Besonderheit war. „Es schien mir naheliegend, dass das für Robby Trösch eine wichtige Voraussetzung gewesen war, mich zu engagieren. Das Handwerkliche zu erlernen sah er als Sache, die sich bei der Arbeit ergeben würde – und auch ergab.“ Gerd E. Schäfer, Gustav Müller, Heinz Draehn, Hanna Donner und Ingrid Ohlenschläger, Größen des Kabaretts in der DDR, ermunterten die Kleene. „Doch, doch, das schaffst du schon!“ Und so bekam sie ihren ersten Bühnenvertrag.

Zwischen Tischlerlehre und Theaterspiel

Dass sich die damals 20jährige mit der Schauspielerei angefreundet hat, lag an dem jungen Regisseur Helmut Nitzschke, den sie zwei Jahre zuvor kennengelernt hatte. Er suchte Darstellerinnen für seinen Diplomfilm Sorgenkinder“. „Ich hatte durch einen Bekannten davon gehört und dachte, dass ich mal ausprobieren könnte, wie das so geht als Schauspielerin beim Film.“ Also stellte sie sich bei ihm vor und bekam eine kleine Rolle. „Es war ein großes Erlebnis für mich, als künftige Schauspielerin sah ich mich da jedoch noch nicht.“

Uschi (Ursula Werner) ist durch den Unfalltod ihres Vaters Waise. Ihr stehen Schorsch (Erwin Geschonneck, l.), Marianne (Marianne Wünscher h.l.) und Hans (Peter Rose, r.) zur Seite ©DEFA-Stiftung/Rudolf Meister

Helmut Nitzschke hatte in zweifacher Hinsicht an ihr Gefallen gefunden, wie sich bald herausstellte. Ein paar Monaten danach saß er eines Tages im Büro ihres Direktors in der Möbeltischlerei. „Da will dich jemand von der DEFA für seinen Film“, empfing er sie. Sie erkannte sofort ihren Regisseur wieder. Helmut Nitzschke hatte extra für sie eine Rolle in seinen Film „Wind von vorn“ geschrieben – in der Hoffnung, sie würde „Ja“ sagen. „Na klar, habe ich ja gesagt. Keine Frage. So eine Chance lässt man sich doch nicht entgehen!“
Der Film erzählt die Geschichte des LKW-Fahrers Schorsch, der im Auftrag des Erdölverarbeitungswerks Schwarze Pumpe Ersatzteile zu den Brigaden auf Außenmontage bringt. Bei einem tragischen Unfall kommt sein Freund Hannes ums Leben. Schorsch nimmt sich dessen Tochter Uschi an. Helmut Nitzksche, für den das sein erster großer DEFA-Spielfilm werden sollte, und Kameramann Roland Gräf zeichneten ein realistisches Porträt der Menschen und ihrer harten Arbeitswelt, sparten dabei auch Planfälschungen, Saufgelage und Prügeleien nicht aus.

Regisseur Helmut Nitzschke (Bildmitte, mit Sonnenbrille) gibt Erwin Geschonneck (LKW-Fahrer Schorsch) Regieanweisungen bei den Dreharbeiten 1961 zu „Wind von vorn“. Drehort hier ist ein Braunkohletagebau bei Spremberg ©DEFA-Stiftung/ Rudolf Meister

Nachdem ungefähr zwei Drittel des Films abgedreht waren, ließ die DEFA-Direktion die Arbeiten wegen „künstlerischer Mängel“ einstellen. Roland Gräfs Aufnahmen würden die „ästhetischen Normen“ verletzen, wie es intern hieß. Was immer damit auch gemeint sein sollte. Der Kameramann selbst mutmaßte, dass seine herben, ungeschönten Großaufnahmen von Arbeitergesichtern die Direktion verstörten. Der Kulturwissenschaftler Joachim Mückenberger war damals gerade zum Generaldirektor des Spielfilmstudios ernannt worden. Und wollte offenbar nichts verkehrt machen. Das Filmmaterial gilt als vernichtet. Nur einige Arbeitsfotos sind erhalten geblieben. Auch einige Fotos von Ursula Werners in ihrer ersten Rolle in einem DEFA-Film. „Ich fand es sehr mutig, mir als Laiin so eine große Rolle zuzutrauen“, erinnert sie sich.

1963. Die Braut, mit Myrthen im Haar, schaut verliebt auf ihren Mann Helmut Nitzschke. Es blieb Ursula Werners einzige Hochzeit Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Die Dreharbeiten hatten ein unerwartetes Nachspiel. Ursula Werner und ihr Regisseur verliebten sich an dem unromantischsten Ort, den man sich vorstellen kann. Zurück in Berlin stand bald die Frage, wie soll es weitergehen? Sie war Achtzehn, er Fünfundzwanzig. Auf ewig Händchen haltend Spazierengehen konnte es nicht sein. Kurz und knapp: Helmut Nitschke machte ihr eines Abends vor der Haustür ihrer Eltern in der Stargarder Straße 5 einen Heiratsantrag, und sie sagte ja. „Es war meine erste und einzige Ehe, um das vorwegzunehmen“, erzählt sie mir mit einem Lachen sechs Jahrzehnte danach. „Und von heute aus betrachtet, mutet diese Heirat doch recht ungewöhnlich an. Ich war ein Arbeiterkind aus dem Prenzlauer Berg und Tischlerlehrling, er ein aufstrebender junger Regisseur aus einem künstlerischen Elternhaus.“

Ihr Mann hat sie nie gedrängt, ihre Lehre aufzugeben, obwohl er wusste, welche schauspielerische Begabung in ihr steckte. Dann hatte sie 1964 ihren Facharbeiterbrief in der Hand, konnte ihr Vorhaben, Innenarchitektur zu studieren, jedoch nicht umsetzen. Es gab keine freien Studienplätze an der Fachschule für angewandte Kunst in Heiligendamm. Das hieß, ein Jahr warten, und es dann noch einmal versuchen. Was tun in der Zeit? „Ich war alles andere als eine Hausfrau.“ Der Gedanke ans Schauspielen flackerte wieder auf. So stieg Ursula Werner im Haus der DSF in die Laienspielgruppe von Hella Len ein, die ihr kleine Rollen in Stücken am Maxim Gorki Theater übertrug, und wo sie „Distel“-Regisseur Robert Trösch entdeckte. Das Studium in Heiligendamm zerschlug sich endgültig mit ihrem Erfolg, den sie am Kabarett hatte. Ja, sie hatte jetzt richtig Lust auf diesen Beruf.

Ursula Werner 1963 Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Nach zwei Anläufen begann sie 1965 schließlich an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin-Schöneweide mit dem Studium. Endlich war sie auf dem richtigen Weg, an dessen Anfang ein riesiger Stolperstein lag. Beim ersten Vorsprechen in der Eignungsprüfung hatte sich ihr ausgeprägter Berliner Dialekt als Tücke erwiesen. Ein Stück aus „Faust“ galt als obligatorisch. Sie hatte sich Lieschen am Brunnenausgesucht. Dieses Lieschen berlinerte derart, dass die Prüfer zurückzuckten. Als Eliza Doolittle aus Bernarnd Shaws „Pygmalion“ machte sie einiges wett. „Ausnahmsweise durfte ich noch mal wiederkommen.“ Das zweite Vorsprechen lief gut, dank der DEFA-Schauspielerin Friedel Nowack, die mit der Berliner Göre die Katharina aus Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung“ einstudierte. Ursula Werner demonstriert beim Erzählen, wie schwer ihr das Hochdeutsch auf der Zunge lag. „Ich dachte neulich nach“, sagt sie, „warum mir das Berlinische so selbstverständlich war. Wir kamen aus der Uckermark nach Berlin und haben platt gesprochen.

Die Zweitklässlerin Ursula Werner mit ihrer Banknachbarin Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Die Kinder auf der Straße machten sich lustig über meinen Bruder und mich. Da haben wir uns ganz schnell angepasst. Das Platt verwischte sich und Berlinern wurde meine Muttersprache.“ Davon ist fast nichts zu merken. „Das Schleifen eines Dialekts muss sein für diesen Beruf. Aber ich finde es wichtig, dass auch etwas erhalten bleibt. Das macht die Satzmelodie natürlich.“ Und was hältst du vom Gendern? Sie prustet. „Da würde ich abgehen. Das sieht als Schrift hässlich aus und ist beim Sprechen doppelt hässlich! Ein Graus!“ Sie will kein Unterstrich, kein Doppelpunkt oder ein „In“ sein, das auch nur ein Anhängsel vom Mann, also dem Maskulinum, ist. „Das ist doch das Gegenteil von dem, was die Genderfrauen erreichen wollen: Sie sind unten drunter, nicht auf gleicher Höhe!“ Keine Frage.

Die 13jährige Ursula in ihrem hübschen Konfirmationskleid Foto: Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Übers Erzählen ist es Zwölf geworden. Die Glocken der Gethsemane-Kirche schräg gegenüber läuten. Die Kirche hat Bedeutung für Ursula Werner. Nicht nur, weil sie dort zum Kindergottesdienst ging, als der Religionsunterricht nicht mehr in der Schule stattfand, da sich der Staat von der Kirche getrennt hatte. Die DDR wurde ein säkularer Staat. Die Kirchensteuer wurde nicht mehr automatisch vom Lohn oder Gehalt abgezogen, so wie heute wieder, wenn man nicht amtlich bescheinigt aus der Kirche austritt. „Wir waren eine christliche Familie, ich bin getauft und bin mit dreizehn eingesegnet worden. Meine Eltern haben mich nicht dahin gejagt, ich fand es interessant, etwas aus der Religionsgeschichte zu erfahren. Vieles in der Kunst, vor allem in der früheren Malerei, geht darauf zurück. Ich konnte meinen Kindern immer die biblischen Zusammenhänge auf Gemälden erklären.“ Für sie hat es nichts mit Glauben oder Nichtglauben zu tun, die Bibel zu kennen. „Es ist eine Bildungsfrage“, erklärt sie. Darin kann ich ihr zustimmen. Ich sehe mir gern Kirchen an. Aber die Darstellungen an den Kuppeln, Fenstern und Kanzeln erschließen sich mir ohne Erklärung nicht. Einiges haben wir im Kunstgeschichte-Unterricht besprochen. Leider ist davon bei mir wenig hängengeblieben. Die Schülerin Ursula Werner ging auch zu Pioniernachmittagen, ohne Pionier zu sein. „Meine Mutter fand die Organisation nicht gut, verbot mir aber auch nicht, zu den Arbeitsgemeinschaften und Treffen zu gehen. An der Erweiterten Oberschule bin ich dann in die FDJ eingetreten. Ich sah das als Abschluss meiner Kindheit an. Die blauen Blusen mit der gelben Sonne strahlten ja auch etwas Optimistisches aus.“ Nach vorn schauen hieß es für sie und ihre Familie.

Willi Werner mit seiner Schwester Ursula 1961 beim Studentenfasching. Beide sind seit ihrer Kindheit ein Herz und eine Seele. An dem Abend setzte ihr ein Student der Filmhochschule Babelsberg den „Floh“ ins Ohr, sich als Schauspielerin zu versuchen Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Dass ihr Bruder Willi, er studierte Physik an der Humboldt-Universität, 1961 mit falschem Pass in den Westen abgehauen ist, hat sie verstanden. „Er wollte schon als Junge die Welt bereisen, Forscher und Entdecker werden. Mit der Mauer vor der Nase ging das nicht. Also machte er einen Abflug, beendete in West-Berlin sein Studium und nahm ein Angebot der NASA an. Willi arbeitete viele Jahre in der Weltraumforschung in den USA. Genau so etwas hatte er sich gewünscht. Amerikanischer Staatsbürger ist er nicht geworden. Sich in den Vietnam-Krieg hineinziehen lassen, danach stand ihm nicht der Sinn. Er war dann drei Jahre in Australien und ging von dort nach Südafrika. Mir kam 1961 gar nicht in den Sinn, dass ich Willi viele Jahre nicht sehen würde.“ Seit 2000 sind sie wieder in Berlin vereint. Ihr Bruder kehrte mit seiner malaiischen Frau und ihren drei Kindern in die Heimatstadt zurück.

Seine Schwester hatte nie den Wunsch, auszureisen oder sich bei Gastspielen in den Westen abzusetzen. „Dass ich die Reisefreiheit nicht hatte, finde ich bedauerlich. Aber ich habe in der DDR keine Tafel kennengelernt, brauchte keine Arche, keine Suppenküche aufsuchen, weil ich ein zu armes Kind war. Keiner musste bei uns um ein paar Groschen betteln. Das war für mich Literatur des 18./19. Jahrhunderts, nicht Realität.“ In dieser Gesellschaft, in der wir leben, hat das nie aufgehört für Millionen Menschen, genauer 13, 87 Bundesbürger, Realität zu sein. Was das Reisen angeht, räumt sie ein, sei sie in der DDR privilegiert gewesen. „Ich konnte mich auf Gastspielen umschauen.“ Und was sie gesehen hat, habe sie sehr nachdenklich gestimmt. „Ich fand dieses überbordende Angebot in den Warenhäusern irrsinnig. Daran hat sich ja bis heute nichts geändert. Das kann doch kein Mensch verbrauchen! Und auf der anderen Seite gibt es in unserer sich so sozial gebenden Gesellschaft diese schreckliche Armut. Die Leute gehen arbeiten und können davon nicht leben. Das können Staat und Politik doch nicht wollen?.“ Fragezeichen, Punkt. Wohin geht die Reise?

Studienzeit und erster Film im Kino

Manfred Krug als Tannhäuser und Ursula Werner als Knappe Moritz 1966 in der DEFA-Filmkomödie „Frau Venus und ihr Teufel“ Screenshot ©DEFA-Stiftung/Hans Heinrich

Nein, Ursula Werner musste sich zu keinem Zeitpunkt um ihre Zukunft sorgen. An der Schauspielschule angekommen, ging alles seinen sozialisitischen Gang, wie wir immer sagten. Wenngleich das erste Studienjahr ein bisschen anders verlief, als es sich die 22jährige vorgestellt hatte. Ein halbes Jahr war sie da, als die DEFA schon anklopfte, und sie für einen Film mit Manfred Krug vor die Kamera holte. „Frau Venus und ihr Teufel“ wurde ihr erster Kinofilm, der es auch auf die Leinwand schaffte und noch immer beliebt ist. Über 59.000mal streamten Fans die heiter-musikalische Liebesgeschichte 2022 bei YouTube. Die Schauspielstudentin im ersten Semester stand dem erfahrenen Manfred Krug nicht nach. „Wir hatten Augenhöhe“, sagt sie. Es stimmt. Ich habe den wunderbaren humorigen Schlagabtausch der beiden genossen, als ich mir den Film jetzt noch einmal ansah. Das Berliner Paar Hans (Manfred Krug) und Maria alias Moritz (Ursula Werner) will die Wartburg besichtigen, die aber geschlossen hat. Eine alte Frau – Inge Keller – führt sie durch die Gemäuer. Hans will sich nicht zu seiner Liebe bekennen. Die Alte – Frau Venus– lässt ihn ins Mittelalter fallen, er findet sich als Tannhäuser wieder.

Moritz rettet Hans vor den Rittern, indem sie mit einer Pistole herumfuchtelt ©DEFA-Stiftung/Götz Jaeger

Moritz springt ihm nach. Sie geraten zwischen Ritter und in den Sängerkrieg. Hans brüskiert die Minnesänger mit einem Jazztitel über Frauen, und wird von Walther von der Vogelweide zum Duell gefordert. Moritz rettet ihm mehrfach das Leben, ohne dass Hans in dem scheinbaren Jungen Maria erkennt. „Das waren tolle Filmerfahrungen, die ich gemacht. Inge Keller Rolf Hoppe, Wolfgang Greese, Herbert Köfer, Horst Kube, Helga Labudda … ein großartiges Ensemble, in dem ich agieren durfte. Mit Manfred Krug kam ich wunderbar aus. Er gab mir in seiner unverblümten Art Tipps, ohne mich damit zum Weinen zu bringen. Ich konterte, er vertrug es. Er war mir ein großartiger Kollege. Nach diesem Film haben wir nicht wieder zusammengearbeitet. Wir trafen uns nur einmal im Friedrichstadtpalast wieder, kurz nachdem die Grenze offen war. Als er 2016 verstarb, habe ich bedauert, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, ihn zu besuchen, als er so krank war.“

Ursula Werner Mitte der 80er Jahre mit ihrer Tochter Jenny, 1967 geboren, heute Juristin, und ihrem Sohn Johannes Repro: B. Beuchler/ Privatarchiv Ursula Werner

Bei der Premiere des Films am 25. Juni 1967 in Erfurt konnte die Hauptdarstellerin nicht dabei sein. „Ich hatte gerade meine Tochter Jenny geboren. Ich war noch im ersten Studienjahr schwanger geworden.“ Noch bevor das Kind zur Welt kam, hatten sich die Eltern scheiden lassen. „Wir haben vier Jahre bei Helmuts Eltern im Haus gewohnt, und ich merkte, dass sich unsere Beziehung nicht mehr wie das große Glück anfühlt. Manne Krug bot uns seine Wohnung im Prenzlauer Berg an, zog da gerade aus. Ich bin tief in mich gegangen und fand, ich sollte nicht mit Helmut in eine Wohnung ziehen. Wir waren nicht auf Dauer füreinander geschaffen, das war mir klargeworden.“ Ursula Werner ging zurück in die Stargarderstraße zu ihren Eltern. Oma und Opa nahmen die kleine Jenny in ihre Obhut. Die Mutter verbrachte mit ihr in den Semesterferien glückliche Zeiten auf dem Land bei ihrer Tante Mariechen in Friedrichswalde. Ich frage nicht danach, Ursula Werner erzählt von selbst, warum sie ihre Tochter Jenny genannt hat. Sie mochte Brechts „Dreigroschenoper“, besonders die Seeräuber-Jenny. „Das ist eine starke Frau, die sich gegen Vorurteile und Anfeindungen wehrt.“ Diese Kraft wünschte sich für ihre Tochter und legte ihr das mit der Namensgebung gewissenmaßen in die Wiege. „Jenny ist Juristin geworden“, sagt sie.

Schwanger zu sein, war an der Schauspielschule nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil. „Man sagte uns, gut so, es ist die beste Zeit für eine Schauspielerin ein Kind zu bekommen. Wir werden damit fertig. Wenn ihr euer erstes Engagement habt, wird es schwierig. Ihr müsst ihr erst einmal Fuß fassen, dann gibt es Spielpläne, die eingehalten werden müssen. Da kann sich das mit dem Kinderkriegen hinziehen.“ Ursula Werner weiß, wovon sie spricht. Sie hatte sich immer mehrere Kinder gewünscht. Sohn Johannes kam 1979 auf die Welt, als ihre Tochter bereits dreizehn und sie 36 Jahre alt war. Sein Vater war der Beleuchtungsmeister Bernd Kühne vom Maxim-Gorki-Theater. Mit ihm lebte sie vier Jahre zusammen. „Wir wollten beide noch ein Kind, da war es höchste Zeit. Als meine Bettnachbarin im Krankenhaus sagte, ach, Sie sind auch eine Spätgebärende, habe ich geschluckt. Wieso Spätgebärende? Meine Mutter war auch über 30, als sie meinen Bruder und dann mich bekam. Heute kriegt man ja mit über 40 noch Kinder und das gilt als normal.“ Bernd Kühne wechselte 1997 ans Theater nach Bochum. „Mein drittes Kind“, flicht sie ein, „bekam ich sozusagen fertig ins Haus. Mein Lebenspartner Gottfried Richter brachte Max mit in unsere Beziehung. Ich traf den Jungen zum ersten Mal, da war er zehn. Meine Kinder freuten sich über den neuen Bruder, und wir haben es geschafft, eine Familie zu werden.“

Ursula Werner und Gottfried Richter 1992 in Gorkis „Wassa Schelesnowa“ unter der Regie von Rolf Winkelgrund Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Der Leipziger Schauspieler war aus Liebe zu ihr ans Maxim Gorki Theater gewechselt. „Wir kannten uns durch ein Gastspiel, verliebt haben wir uns aber in Berlin bei Synchronarbeiten für den französischen Film ,Edith & Marcel‘. Ich sprach die Piaf, er den Boxer Marcel Cerdan.“ Es war eine große Liebe, sowohl auf der Leinwand als auch davor. Sie lebten zwölf Jahre als Familie zusammen, bevor sich Gottfried Richter nach der Wende gezwungenermaßen als „freier“ Schauspieler verdingen musste. Er war der Entlassungswelle am Theater zum Opfer gefallen und fand in Berlin kein neues Engagement. Schauspieldirektor Peter Dehler holte ihn 1999 ans Mecklenburgische Landestheater nach Schwerin. Die Notwendigkeiten der Trennungen ließen zwischen der Schauspielerin und ihren Partnern kein böses Blut aufkommen. „Wir sind noch immer freundschaftlich verbunden, die Kinder halten den Kontakt zu ihren Vätern“, sagt sie. Die Drei haben Ursula Werner inzwischen siebenmal zur Großmutter gemacht. „Leider habe ich zu wenig Zeit für meine Enkel, es bleiben oft nur die großen Feiertage, die wir zusammen in der Prignitz verbringen.

Etüdenspiel an der Schauspielschule Schöneweide. Ursula Werner als Donna Elvira in Molières „Don Juan“ Foto: Repro Bärbel Beuchler/ Privatarchiv Ursula Werner

Noch einmal zurück ins Jahr 1965, in dem sich Ursula Werners Weg ans Landestheater Halle schon anbahnte. Damals hieß es noch Theater des Friedens. Regisseur Horst Schönemann, zugleich Oberspielleiter am Hallenser Theater, sah sich ein Szenenstück von Walfriede Schmitt an. „Wally hatte mich gebeten, ihr einige Handreichungen zu machen, ohne die sie nicht gut spielen konnte. Ich war unheimlich stolz, von einer aus dem 3. Studienjahr als Mitspieler ausgesucht worden zu sein. Horst Schönemann gab mir einige Hinweise, auf die ich sofort ansprang. Das muss ihm wohl gefallen haben. Nach meinem Abschluss 1968 bot er mir ein Engagement in Halle an.“ Wieder so eine Fügung, die sie auf ihrer Laufbahn weiterbrachte. Beim Kabarett in Berlin bedauerte man sehr, dass sie nicht weitermachen wollte. „Es liefen noch zwei Programme mit mir, trotzdem entließ mich Georg Honigmann, der Direktor, aus meinem Vertrag. Wenn ich mich berufen fühlte, dramatisches Theater zu machen, dann solle ich das tun. Bei Schönemann sei ich gut aufgehoben.“

Aufbruch ins Leben am Theater

Mit Jürgen Reuter als Hofmeister Läuffer stand sie zwischen 1968 und 1974 als Gustchen in der historischen Tragikomödie von Jakob Michael Reinhold Lenz „Der Hofmeister“ auf der Bühne Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Halle – das war ein ganz besondere Haus unter den Theatern der DDR. Ein Vierspartenaus mit Schauspiel, Oper, Operette, Ballett. „Wir in der Abteilung dramatisches Gegenwartstheater hatten einen Sonderstatus. Wir holten den Alltag, die Probleme der Leute auf die Bühne, gingen in die Betriebe nach Buna, Leuna, Wolfen, Bitterfeld, sprachen Wahrheiten aus, die nicht so gern gehört wurden. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit.“ Es ging gegen Engstirnigkeit, Widersinnigkeiten in der Planwirtschaft, Dogmatismus in Volksbildung. „In unseren Polit-Revuen „Anregung 1“: Was ist heute revolutionär?“ und Anregung 2: Anregung für Lehrende und Lernende“ waren Szenen zu sehen, die in der DDR ihres gleichen suchten. Da durften ungenutzte Kabel von einem Betrieb nicht an andere Betriebe abgegeben werden, die sie dringend brauchten. Das wäre ein rechtlicher Verstoß gewesen. Unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit half man sich trotzdem. „So etwas konnten wir auf die Bühne bringen“, nimmt Ursula Werner an, „weil der SED-Bezirksparteichef Horst Sindermann seine schützende Hand über uns legte. Wir waren wirklich ein Theater im Aufbruch.“ Ja, das aufregendste Gegenwartstheater in der DDR.

Mit seinem Stiefsohn Peter Sindermann stand sie 1970 in Rudi Strahls Heirats-Komödie „In Sachen Adam und Evaauf der Bühne. „Die Eva hatte er mir auf den Leib geschrieben. Wir hatten uns 1969 bei den Dreharbeiten für seine Komödie ,Seine Hoheit – Genosse Prinz‘ kennengelernt. Eine wunderbare Besetzung mit Rolf Ludwig, Jutta Wachowiak und Regina Beyer. Rudi Strahl fragte mich, wie es mir am Theater ginge. Na ja, sagte ich ehrlich, ist schön, aber die richtige Rolle habe ich da noch nicht gehabt.“ Er versprach, ihr eine solche zu schreiben. Die Aufführung wurde ein Riesenerfolg. „Die Leute liebten uns und die herrlich-witzige Verwicklung. Eva und Adam wollen zum Standesamt und geraten in einen Gerichtssaal, in dem über Heiratsfähigkeit entschieden werden soll“, erinnert sich Ursula Werner. Während meiner Studienzeit in Leipzig haben wir eine Exkursion nach Halle gemacht und uns am Abend „In Sachen Adam und Eva“ angesehen.

Sie spielte gern mit Peter Sindermann. Als Hermia tanzte sie mit ihm als Lysander in der Inszenierung von Christoph Schroth durch Shakespeares „Sommernachtstraum“. Barfuß, weil es natürlicher aussah. „Peter ist 1971 leider tödlich verunglückt.“ Er war Fluglehrer. Bei einem Trainingsflug stürzte er am 17. Oktober 1971 mit seinem Flugschüler auf einem Feld bei Halle ab.

1970 stand Ursula Werner im Landestheater Halle in Goethes „Faust“ als Gretchen auf der Bühne. Kurt Böwe, von ihr hochverehrt, spielte den Faust Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Viele ihrer wichtigen Rollen spielte sie an der Seite von Kurt Böwe, sowohl auf der Bühne in Halle als auch am Maxim-Gorki-Theaters sowie in DEFA- und Fernsehfilmen. In Halle besetzte Horst Schönemann sie 1970 in seiner „Faust“-Inszenierung als Gretchen. Ich habe sie nie in dieser Inszenierung gesehen, kann deshalb nur übernehmen, was Hans-Dieter Schütt schrieb: Sie sei für ihn die Emanzipatorischste, die er je sah, mitten in großer Zartheit. Die Aufwühlendste, so seelenzerreißend um ihre Liebe kämpfend, so ohnmächtig und kraftvoll zugleich. Und sie selbst resümiert: „Die Rolle ist ein Traum für jede junge Schauspielerin. Du lieber Himmel, war das schön!“ Ihre wachen Augen strahlen bei der Erinnerung daran. „Eigentlich war ich nur die Zweitbesetzung“, sagt sie, „aber Walfriede Schmitt wechselte aus Liebe zu ihrem Mann das Theater und ich rückte nach. So ist das mit den Fügungen! Wenn sie sich ergeben, muss man bereit sein, die Chance wahrzunehmen.“ Was ihr beim ersten Vorsprechen an der Schauspielschule nicht gelang, kam ihr nun leicht von den Lippen. Hochdeutsch sprechen und dabei die Rolle gut zu spielen.

Am Premieren-Abend lauerte schon die nächste Fügung. Horst Sindermann war gekommen. Sein Sohn Peter trat in der Szene in Auerbachs Keller auf. Als nach der Aufführung alle ins Gespräch kamen, hörte Horst Sindermann von ihrer katastrophalen Wohnsituation und gab ihr aus seinem Kontingent eine kleine Neubauwohnung am Bahnhof. Ihre ersten eigenen vier Wände, schön eingerichtet, dass keine Gardinen vonnöten waren. Und endlich konnte ihre Mutter sie mit der kleinen Jenny besuchen.

Für ihre Rolle als Marusja, hier wieder mit Kurt Böwe, in „Himmelfahrt zur Erde“ wurde Ursula Werner mit dem Kunstpreis der Stadt Halle ausgezeichnet Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Für die künstlerische Entwicklung der jungen Schauspielerin gab ihr vor allem die Arbeit mit Horst Schönemann das beste Fundament. In ihren gemeinsamen vier Jahren gab es nur einmal Streit. Das war 1971. Armin Stolper hatte Sergej Antonows Roman Der zerrissene Rubel“ fürs Theater bearbeitet. Das Stück hieß Himmelfahrt zur Erde“, und für Ursula Werner sprang die wunderbare Rolle der Marusja heraus. Ein Mädchen auf dem Dorf, scheu mit Kopftuch und Brille, das sich nach einem komisch-traurigen Liebeserlebnis zur Frau voller Gerechtigkeitsenergie entwickelt. Diese Gerechtigkeitsenergie ist auch der Persönlichkeit von Ursula Werner immanent, was sich Jahrzehnte später für die Mitarbeiter des Maxim Gorki Theaters als Glück erweisen sollte. Ursula Werner übernahm die Funktion der Personalrätin. Der Streit mit Regisseur Horst Schönemann kam aus dem Grund zustande: „Marusja hält am Schluss eine flammende Rede auf Vitali, und ich merke, dass da ein Widerspruch zur Bühnenumsetzung besteht. So konnte ich das nicht spielen. Horst Schönemann sah das nicht ein. Ich verließ die Probe. Am Ende hat Armin Stolpe die betreffende Stelle umformuliert, und es ging. Mit dem Stück haben wir dann sogar in Berlin gastiert.“ Für ihre Marusja erhielt Ursula Werner den Kunstpreis der Stadt Halle. „Mit dem Preisgeld habe ich mit meiner Mutter und meiner Tochter eine schöne Reise gemacht.“

Ein Jahr später brachte das Theater als erste Bühne Ulrich Plenzdorfs „Die Leiden des jungen W.“ heraus mit Ursula Werner in der weiblichen Hauptrolle, der Charlie. Fünf Jahre hatte Plenzdorfs Filmskript schon bei der DEFA gelegen. Doch die Geschichte um den Aussteiger Edgar Wibeau war den Verantwortlichen zu heiß. „Es lag wohl wieder an Horst Sindermann, dass wir das spielen durften.“ Die Sensation hatte sich in der Republik herumgesprochen.

Uraufführung des Stückes von Ulrich Plenzdorf „Die Leiden des jungen W.“ 1972 in Halle, mit Ursula Werner als Charlotte und Reinhard Straube als Edgar Wibeau Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Als sie das Stück beim Theater Festival 1972 im Deutschen Theater zeigen, muss die Polizei die Massen bändigen, die ins Theater wollten. Man wollte sogar mich nicht durchlassen“, erinnert sich Ursula Werner. Horst Schönemann wechselte danach ans Deutsche Theater. „Ich wäre gern mitgegangen nach Berlin, aber es gab keine Vakanzen, weder am Maxim Gorki Theater noch am Deutschen Theater oder der Volksbühne.“ Nach Schönemanns Weggang fühlte sie sich nicht mehr gut aufgehoben in Halle. „Ich habe in meinen ersten vier Jahren am Theater sehr viel Gutes spielen dürfen.“ Schönemanns Nachfolger sah sie nicht mehr in Rollen, in denen sie sich sah. Es war Zeit zu gehen. „Ich machte in meinen zwei letzten Hallenser Jahren eine wichtige Lebenserfahrung: Es läuft nicht immer so, wie es einem am genehmsten ist.“ Die Saison 1973/74 war ihre letzte dort.

Glückliche Zeit am Maxim Gorki Theater

Es waren nicht nur neue Anforderungen, die Ursula Werner suchte. Sie wollte unbedingt nach Berlin zu ihrem Kind, das noch immer bei ihren Eltern lebte. Ihr Herz hatte die Schauspielerin an das Theater verloren und würde es noch immer vorziehen, wenn sie vor der Wahl stünde. Doch sie hatte damals sogar beim Fernsehen vorgesprochen. Intendant Heinz Adameck hätte sie für das Fernsehensemble eingestellt. Es fügte sich zu ihrem Glück anders. Albert Hetterle, der Intendant vom Maxim Gorki Theater, meldete sich. Er hatte sie als Charlie in den neuen Leiden des jungen W.“ gut in Erinnerung behalten. Jetzt hätte er einen Platz für sie im Ensemble, ob sie noch nach Berlin wolle. Und ob! Sie löste ihren Vertrag in Halle und begann ihr Engagement am Maxim Gorki Theater.

Für ihre Rolle als Generalswitwe Anna Petrowna Wojnizewa – hier mit Jochen Thomas – in Thomas Langhoffs Inszenierung „Platonow“ erhielt Ursula Werner 1984 den Kritikerpreis der „Berliner Zeitung“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Der Anlass ist gegeben, daran zu erinnern, warum das Maxim Gorki Theater 1952 gegründet wurde, sieben Jahre nach Ende des verheerenden deutschen Angriffskrieges auf die Sowjetunion, der 28 Millionen Sowjetbürger das Leben kostete. Es ging darum, den Deutschen die russische und sowjetische Literatur und Dramatik nahezubringen. „Das Theater hat sich immer als Ort der Völkerverständigung verstanden. Der Westen hat ja nie aufgehört, den Völkerhass gegen die Sowjetunion zu schüren.“ Das ist uns so gegenwärtig!

Ursula Werner 1977 als Frau Lehmann mit Monika Lennartz (l.) in Gerhart Hauptmanns Drama „Einsame Menschen“. Die beiden Schauspielerinnen verbindet eine lange Freundschaft Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

In ihrer drei Jahrzehnte währenden Zeit im Maxim Gorki Theater kamen auf Ursula Werner wunderbare Rollen zu. „Wir spielten zeitgenössische und klassische Werke, hauptsächlich russischer und sowjetischer Autoren.“ Sie nennt es ein Glück, dass sie unter der Regie von Thomas Langhoff arbeiten konnte. Sie erinnert sich an ihre erste Zusammenarbeit 1977, als er sie in Gerhart Hauptmanns Drama „Einsame Menschen“ als Frau Lehmann besetze. „Die Kulturfunktionäre versuchten, das Stück zu verbieten. Es sei eine dekadente Inszenierung. Albert Hetterle hielt große Stück auf seinen Regisseur, und wir brachten das Stück heraus.“

Ursula Werner als Mascha, Swetlana Schönfeld als Irina und Monika Lennartz als Olga (v.l.n.r.) in Thomas Langhoffs Inszenierung „Drei Schwestern“, die von 1979 bis 1989 am Maxim Gorki Theater gespielt wurden Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Die wunderbarste Aufgabe hätte sie, wie sie sagt, als Mascha in Anton Tschechows Tragikomödie „Drei Schwestern“ bekommen, die Thomas Langhoff 1979 mit ihr, Swetlana Schönfeld als Irina und Monika Lennartz als Olga inszenierte. „Es war ein fantastisches Arbeiten. Wir drei haben uns vor den Vorstellungen immer angefeuert. Die Mascha ist die wundervollste Rolle, die man sich denken.“ Wenn sie in ihrem schwarzen Kleid die Bühne betrat, war sie eine andere Ursula. Erotisch, aufmüpfig und bedingungslos in ihrem Lebens- und Liebesanspruch. Das Trio heimste zehn Jahre lang bei jeder Vorstellung Riesenapplaus ein. Der Ruf der drei Schwestern, „Wir wollen leben!“, als Sinnbild für die Sehnsucht nach Freiheit und einem Leben jenseits der Bevormundung durch Staat und Partei, wurde im Saal wohl verstanden. Das Publikum spürte nie Routine bei den Schauspielerinnen. „Die Rollen wurden mit uns älter, veränderten sich mit uns. Das machte es für alle immer wieder spannend“.

Ursula Werner als Mascha in „Drei Schwestern“, für sie die schönste Rolle in der gesamten Dramatik Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Mit dem Stück ging es auf viele erfolgreiche Gastspielreisen, so nach Wien und Düsseldorf. „Ich habe eine dreitägige Tourneepause genutzt und bin nach Paris gefahren. Das Bürgeramt in Düsseldorf tauschte meinen Ost-Pass problemlos gegen einen West-Pass aus. Paris war umwerfend. Zur Vorstellung war ich natürlich pünktlich zurück.“ Sie wollte ja nicht wegbleiben. Aber es gab bei jedem Gastspiel im Westen auch Schwund, weiß sie. Als Thomas Langhoff im Februar 2012 starb, standen Ursula Werner, Swetlana Schönfeld und Monika Lennartz auf der Trauerfeier, die Claus Peymann im Berliner Ensemble für ihn inszeniert hatte, noch einmal als die „Drei Schwestern“ auf der Bühne. „Wir hatten unsere Kostüme angezogen und spielten die Schluss-Szene. Es war ein sehr bewegender, unvergesslicher Abschied.“

Albert Hetterle hat sie 1974 ans Maxim Gorki Theater geholt und war ganze zwanzig Jahre ihr Intendant. „Als er mit 76 Jahren ging, bedeutete das für uns alle, das ganze Ensemble, einen ungeheuren Einschnitt. Mit Bernd Willms zogen Regisseure und Kollegen ein, die anders sozialisiert waren, eine andere Auffassung vom Theaterspielen hatten. Da blieben Kollisionen nicht aus.“ Da musste sich die gestandenen DDR-Schauspieler von einem zugereisten Regisseur sagen lassen: „Vergessen Sie mal Brecht und lernen, wie man richtig Theater spielt.“ Er hatte keine Ahnung. Nichts gehört von dem großen sowjetischen Schauspiellehrer, Regisseur und Theaterreformer Konstantin Stanislawski, nach dessen Methode die Schauspieler in der DDR auch ausgebildet wurden. Im übrigen lehren die berühmten amerikanischen Schauspielschulen von Lee Strasberg und Stella Adler nach der Stanislawski-Methode. „Mit ziemlicher Arroganz meinten die neu hinzugekommenen Westkollegen zu wissen, dass wir im Osten das Handwerk zwar perfekt beherrschen, aber ohne Empathie und nur DDR-Stücke spielen, keine Ahnung hätten, was im Westen so läuft.“ Welch ein Irrtum! „Inzwischen hat sich das schon verändert“, sagt Ursula Werner, die in den letzten Jahren viel in München gespielt hat und aktuell am Deutschen Theater mit Kolleginnen, die ihre Wurzeln nicht im Osten haben.

Mit Kurt Böwe und Sigrid Skoetz (r,) agiert sie als Natascha in Gorkis „Nachtasyl“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Viele schöne Rollen hatte Ursula Werner unter Albert Hetterle spielen dürfen. Sie wird die mitfühlende Natascha in Gorkis bekanntestem und erfolgreichstem Schauspiel „Nachtasyl“, das in einem russischen Obdachlosenheim um 1901 spielt. Geliebt hat sie ihre Rolle als Jelena Nikolajewa, die mit 24 schon Witwe ist und windig genug, sich ein reiches Bürgersöhnchen zu angeln. Das Stück, „Die Kleinbürger“, wurde 1982 von Albert Hetterle inszeniert.

Albert Hetterle inszenierte 1982 mit Ursula Werner als Jelena Gorkis „Kleinbürger“. Es wurde eins der meistbesuchten Stücke des Maxim Gorki Theaters Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

„Die russischen Dramatiker, ob Gorki, Tschechow oder Ostrowski, sind von großer Wahrhaftigkeit, so genau in den Dialogen. Ich habe sie sehr gern gespielt, auch, weil sie mutig in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität sind.“ In den 80er Jahren nahm Albert Hetterle zunehmend systemkritische sowjetischen Stück in den Spielplan auf. Da konnten nicht so schnell Einwände erhoben werden, schließlich kamen sie ja „von den Freunden“, wie es bei uns immer hieß. Ich erinnere mich an „Protokoll einer Sitzung“ und „Die Prämie“. Ursula Werner erzählt, wie sie ihren Vater und seine Brigade aus dem VEB Wärmeversorgung eingeladen hat, und mit ihnen nach der Vorstellung diskutierte. „Lebhafte Debatten führten die Zuschauer mit uns nach Aufführungen von Viktor Rossows Stück ,Das Nest des Auerhahns‘. Dass Versagen innerhalb des sozialistischen Systems durchaus nicht nur am Versagen eines persönlichen Charakters lag, kam ziemlich deutlich zum Ausdruck. Das Stück ist eine Kritik an Fehlern der Gesellschaftsordnung. Und es hieß ja bei uns, von der Sowjetunion lernen… “

Ursula Werner und Alfred Müller in Viktor Rossows „Das Nest des Auerhahns“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Sie lässt den Satz offen, ich weiß, was sie meint. Die Geschichte von einem DDR-Autoren geschrieben, hätte keine Chance gehabt. Da hätte auch nicht das Argument geholfen, dass man ja „von Freunden lernen“ will. Kritik am sozialistischen Realismus brauchte bei uns eine feingeschliffene Feder, die unsichtbaren Zwischenzeilen. Das Publikum des Maxim Gorki Theaters wusste aber die Parallelen in den Stücken zu finden. „Rainer Kerndls Drama „Der Georgsberg“ brachten wir nur bis zur Premiere. Nach drei Vorstellungen wurde es abgesetzt. Es ging um eine Provinzstadt, die ihren Berg an einen westdeutschen Konzern verhökert, der dort ein Luxushotel für Valuta-Gäste bauen will. Es wurde verboten. DDR verkauft sich nicht. Dabei passierte es schon an allen Ecken, nur gesagt werden durfte das nicht“, erzählt sie. Das wussten alle in der DDR. Hermann Kant hatte vergeblich gegen die Borniertheit der Funktionäre interveniert.

Rudi Strahls „Flüsterparty“ schaffte es nur bis zur Generalprobe und wurde dann untersagt. „Dabei war es eine ernstzunehmende Abhandlung über Jugendliche im sozialistischen Land DDR“, sagt Ursula Werner. Da wird geschildert, wie Abiturienten ihre Mitschülerinnen aufstacheln, sich durch Prostitution Westgeld zu besorgen, dass dann gemeinsam im Intershop für Schnaps und Zigaretten ausgegeben wird. In unbewohnten Lauben feierten sie dann stille Partys. Es durfte ja niemand bemerken. So etwas gäbe es nicht, wurde von Oben beschieden. Doch Rudi Strahl hatte die Geschichte von seinem Sohn. „Das waren die Wechselbäder, in denen wir uns bewegten. Immer die Angst der Kulturfunktionäre: Was bringt mir mehr Minuspunkte ein, wenn ich es verbiete oder wenn ich es gestatte? Das war die Unberechenbarkeit.“

Hoffnung, Wandel – immer geht’s weiter

Trotz der Argusaugen der Kulturfunktionäre gelangte systemkritische DDR-Stücke auf die Bühne des Maxim Gorki Theaters und in den Spielplan. Eine Sensation wurde am 30. März 1988 die Aufführung von Volker Brauns niederschmetternder Zukunftsvision „Die Übergangsgesellschaft“, in der das Ende der DDR stark durchschimmert. Braun hatte zu einem Trick gegriffen. Er verlegte Tschechows Drama „Drei Schwestern in die Gegenwart und übernahm teilweise die originalen Dialoge. Thomas Langhoff inszenierte das Stück mit dem „Schwestern“-Trio Ursula Werner, Swetlana Schönfeld und Monika Lennartz. Ursprünglich hatte Volker Braun das Stück für das Berliner Ensemble geschrieben. Er war der Hausautor des BE.

„Die Übergangsgesellschaft“ mit der Besetzung der „Drei Schwestern“ Swetlana Schönfeld, Klaus Manchen, Ursula Werner, Monika Lennartz und Hilmar Baumann (v.l.n.r) feierte eine sensationelle Premiere Repro: Bärbel Beuchler ©Maxim Gorki Theater

Da lag es fünf Jahre. Manfred Wekwerth, damals Intendant des BE, hatte nicht gewagt, die resignierenden Klagen über ein verfehltes, sinnloses Leben, die in drängende Fragen an die gesellschaftlichen Realitäten münden, herauszubringen. Auch wenn es 1988 noch niemand wirklich wusste, jeder spürte, dass sich die DDR ihrem Ende zuneigte. Als die Inszenierung 1990 aufgezeichnet wurde, war die Mauer schon gefallen. Gegen das Versprechen des Schriftstellers, dem BE etwas Neues zu schreiben, überließ Wekwerth das Stück dem Maxim Gorki Theater. Die Premiere endete mit tosendem Applaus. „Wir haben die Gemüter so bewegt, dass sich die Leute in den Gesprächen nach der Vorstellung offenbart haben. Sie sprachen sich von der Seele, was an ihnen schon lange genagt hat. Ihre Unzufriedenheit darüber, wie der Staat geführt wird. Wir haben unser Theater für freie Diskussionen geöffnet und damit eine Bewegung losgetreten.“

Es war die Zeit, in der sich die Schauspielerin in der Bürgerbewegung „Neues Forum“ engagierte, deren Zentrum die Gethsemane Kirche wurde. Ursula Werner war der Verbindungsmann zum Theater. „Wir hatten uns überlegt, was wir gegen die Dickfälligkeit und Ignoranz unserer Regierung tun können, die nicht merken will, dass alles den Bach runter geht. Wir wollten Reformen in der staatlichen Führung, in der Reise- und Pressefreiheit, offene Diskussionen, Meinungsfreiheit. Wir haben eine Resolution verfasst und die ganze Unzufriedenheit dere Bevölkerung öffentlich ausgesprochen.“ Das Ensemble des Maxim Gorki Theaters hat auf Vorschlag von Gregor Gysi schließlich die Demonstration am 4. November 1989 organisiert. „Es waren aufregende Tage“, erinnert sich Ursula Werner. Für den Abend hatte das Maxim Gorki Theater Volker Brauns „Übergangsgesellschaft auf den Spielplan gesetzt.

Noch in scheinbarer Ruhe wurde die Schauspielerin am 28. August mit dem Goethepreis für ihr Film- und Theaterschaffen geehrt. Er wurde 1949 vom Magistrat von Groß-Berlin gestiftet und alljährlich zur Feier von Goethes Geburtstag an Künstler und Wissenschaftler verliehen. Letztmalig 1989. „Ich kannte diesen Preis nicht und fragte Albert Hetterle, ob ich den annehmen könnte. Nimm ihn an, sagte er. Das ist Kunstpreis und Geld hängt auch dran. Mit meiner Mutter und meiner Tochter habe ich davon eine Reise nach Ungarn gemacht und eine große Summe der Gethsemane-Kirchgemeinde für die Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste gespendet. Ich wollte nicht alles für mich behalten“ Ursula Werner stand da in einer Reihe mit bekannten Berlinern wie ihren Kollegen Albert Hetterle, Alexander Lang, Peter Reusse, Alfred Müller, Lotte Loebinger, Monika Lennartz, Schriftstellern wie Hermann Kant, Günter Görlich, Rudi Strahl, Wolfgang Kohlhaase.

Ursula Werner im „DEFA-Zeitzeugengespräch“ 2020 ©DEFA-Stiftung/Teubner

Der Spielplan am Maxim Gorki Theater wandelte sich ab Mitte der 90er Jahre sehr, weg von sowjetischen Dramen, kritischen Gegenwartsstücken. Eine gewisse Effekthascherei und Selbstverwirklichung der Regisseure eroberte die Bühne. „Wenn ich einen Monolog spreche und hinter mir frisst jemand eine Zwiebel, und der Regisseur findet das gut, weil er keinen Plan hat, wohin er mit dem Stück will, weiß ich, wohin das Publikum guckt. Da kann ich aufhören.“ Ursula Werner spricht das auch aus, so wie sie früher auch nicht alles hinnahm, wenn ihr etwas nicht schlüssig erschien. Sie hat jedoch nie etwas eskaliert. „Ich bin ein sehr ausgleichender Typ und immer bemüht, die verschiedenen Standpunkte zu verstehen und zu transportieren“. Sie wollte nach der Wende die neue Demokratie auch am Theater mitgestalten, fungierte sechs Jahr lang als Personalratsvorsitzende. „Immerhin“, sagt sie, „klappte die Verständigung von unten nach oben, und ich konnte für die Kollegen einiges erreichen.“

Es gab kurz nach der Wende vielerlei Missverständnisse und Misstrauen, begleitet von Vorurteilen und verbalen Verletzungen. „Auf beiden Seiten“, erinnert sich Ursula Werner. „Da prallten Welten aufeinander. Aber wir Schauspieler saßen in einem Boot und mussten uns miteinander arrangieren.“ Spurlos vorüber gingen diese Umwälzungen nicht an ihr. Zum ersten Mal passierte es ihr, dass sie bei der Premiere eines Stückes plötzlich stockte, nicht mehr wusste, wo im Text sie war. „Mir wurde in der Szene ein Kleid angepasst. Ich stand auf einem Stuhl und verstummte. Ein Hänger passiert schon mal, aber ich war komplett draußen. Und die Souffleuse, sie hieß Steffi, schwieg auch, weil sie dachte, ich fange mich. Aber die Stille wurde lang, ich habe dann einfach gesagt: Lange nichts von Steffi gehört. Die Premierenfeier habe ich dann sausen gelassen, weil mich das so irritiert hat. Das musste mit der Wende zusammengehangen haben, wo man innerlich so zerrissen wurde.“

Wir denken in dem Moment beide an Peter Reusse, dem die tiefgreifenden Veränderungen 1990, das Aus von Film, Fernsehen, Rundfunk und Platte, seelisch so zusetzten, dass sie ihn fast zerstört haben. Er schloss 1993 hat mit seinem Leben als Schauspieler ab, schrieb Bücher. Im Juni des vergangenen Jahres ist er an einer schweren Krankheit gestorben. Ursula Werner blieb noch zehn Jahre am Maxim Gorki. 2008 spielte sie unter der Regie von Armin Petras ihr letztes Stück, Tom Lanoyes „Mefisto forever“. Sie war inzwischen 65 Jahre, quasi im Rentenalter. Was für sie aber keineswegs ein Ende im Ruhestand bedeutete. Schluss am Maxim Gorki Theater, ja. Aber sie hatte keinerlei Bedürfnis, sich zurückzuziehen.

Ursula Werner als Olga Benario in der Inszenierung „Erklär mir, Leben“ in den Münchner Kammerspielen Sreenshot ©Münchner Kammerspiele/Thomas Schmauser

Sie fand in den Münchener Kammerspielen eine neue Theaterfamilie. Ihre erste Rolle dort führte sie in eine neue Sphäre. „Du mein Tod“ erzählt die Geschichte des Transsexuellen Robert Eads (1945-1999). Eads wurde als Frau geboren, durchlitt eine Ehe, zwei Schwangerschaften und vollzog schließlich die Wandlung zum Mann mit über vierzig Jahren. Ursula Werner verkörperte Eads in einer sehr beeindruckenden Weise. Wie beiläufig, berichtet sie von Alltäglichkeiten, aber auch vom schweren Selbstfindungsprozess und den damit verbundenen äußeren Schwierigkeiten. Es war das Regiedebüt von Thomas Schmauser, mit dem sie gleich darauf „Erklär mir, Leben“ inszenierte.

Es ist die Geschichte der jüdischen Kommunistin Olga Benario-Prestes, die 1942 nach einem langen Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager in Bernburg vergast wurde. Erzählt wird aus einer Zelle im brasilianischen Gefängnis heraus, in der Olga Benario mit zwei jüngeren Frauen eingesperrt war. Die Gefolterten drohen den Verstand zu verlieren. Ursula Werner transportiert die psychische und physische Gewalt, den Versuch, ihr zu entrinnen, mit einer starken und intensiven Darstellung. Dabei agiert sie mit minimalistischen Mitteln, was einem den Atem nimmt.

Auf einer Nebenstrecke zur DEFA

Ursula Werner signiert für mich ihre Autobiografie „Und immer geht’s weiter“, die 2014 im Verlag Neues Leben erschienen ist. Das Bild auf dem bunten Untersetzer zeigt ihre Eltern Foto: ©Bärbel Beuchler

Mein Blick fällt auf die große Armbanduhr an der Schrankwand neben dem Sofa. Sie geht auf halb drei zu. Die Zeit rennt, und es gibt noch so vieles, was wir nicht besprochen haben. „Alles geht auch nicht, du willst ja kein Buch über mich schreiben“, lacht sie. Nein, will ich nicht, das gibt es schon. Ihre Autobiographie „Immer geht’s weiter…“, die 2014 im Verlag Neues Leben erschienen war. In der DDR war es normal, dass Schauspieler eine große Arbeitspallette zur Verfügung hatten. Film Hörspiel, Platte, Synchron, und einige, wie Ursula Werner, gaben zudem ihre Erfahrungen als Dozenten an der Schauspielschule weiter. Seit ihrer ersten Filmrolle 1967 in „Frau Venus und ihr Teufel hat sie praktisch nie aufgehört, neben ihrer Theaterarbeit zu drehen. DEFA und Fernsehen haben die kleine quirlige Frau, die zugleich soviel Ruhe und Besonnenheit hatte, immer gern besetzt.

In dem DEFA-Film „Netzwerk“ spielt Ursula Werner – hier mit Fred Düren – 1969 eine Krankenschwester. Es ist ihre dritte Filmrolle ©DEFA-Stiftung/Richard Günther, Wolfgang Reinke, Johann Wieland

Ursula Werner machte sich über jede Rolle, selbst so kleine wie die der Krankenschwester in „Netzwerk“ Gedanken. „Wir haben gelernt, unsere Figuren zu analysieren, ihr Umfeld, wer sind sie, was sollen sie.“ Sie drehte unter der Regie von Ulrich Thein mit Renate Geißler, Annekathrin Bürger und ihrem Hallenser Bühnenpartner den dreiteiligen Fernsehfilm Jule – Julia – Juliane“. Eine Ehegeschichte im Rückblick aus der Sicht der jungen Krankenschwester Juliane, in der es um Gleichberechtigung zwischen den Partnern geht. Sie wurde 1972 mit großem Erfolg ausgestrahlt.

Ursula Werner und Renate Geißler1972 in dem dreiteiligen Fernsehfilm „Jule – Julia -Juliane“ Quelle: Amazon, ©DDR-TV-Archiv

Ursula Werner war in Halle voll beschäftigt, als sie noch im selben Jahr eine Hauptrolle in dem zweiteiligen DDR-Fernsehfilm Zement“ bekam. Die Außenaufnahmen fanden im Zementwerk Halle und an der Schwarzmeerküste in Bulgarien statt. Halle ließ sich noch gut einrichten. Aber sie musste für einen Drehtag auch nach Baltschik. Sie erzählt mir ihre Odyssee. „Ich bekam drei Tage frei, einschließlich An- und Abreise. An dem Tag, als ich fliegen sollte, schneite und stürmte es in Berlin. Wir flogen dann von Dresden ab. Ich kam nachts in Sofia an, wurde in ein eiskaltes Auto verfrachtet und ans Meer gefahren. Alle waren am nächsten Morgen ausgeschlafen, nur ich hundemüde. Wir haben gedreht, abends bei Zigeunermusik gefeiert.“

Am nächsten Morgen ging esganz früh zurück nach Halle. Im Handgepäck hatte sie Film-Muster, die nach Babelsberg sollten. „Leider waren sie unbrauchbar, weil Hilmar Thate seine Mütze nicht aufhatte, die er im Gegenschnitt, gedreht in Halle, trug. Also Nachdreh im DEFA-Studio. So kann’s gehen.“

Ursula Werner als Polja mit Hilmar Thate als Gleb in dem zweiteiligen DDR-Fernsehfilm „Zement“ Quelle: Amazon ©DDR-TV-Archiv

Der Film nach dem Roman von Fjodor Wassiljewitsch Gladkow schildert die Konflikte in der jungen Sowjetunion nach der Revolution von 1917 zu Anfang der 20er Jahre. Regisseur Manfred Wekwerth hatte Ursula Werner die Rolle der jungen Kommunistin Polja gegeben. Neben Hilmar Thate und Renate Richter eine Schlüsselfigur. „Polja war voller Zerrissenheit, für eine Schauspielerin eine hoch interessante Aufgabe“ erinnert sie sich. Haften geblieben ist ihr besonders die Szene, in der Polja völlig fassungslos sagt: „Wozu die ganzen Opfer in der Revolution, alles vergeblich. Jetzt geht es ja mit diesen verdammten Ungleichheiten weiter.“ Der zweiteilige Schwarzweißfilm hatte am 4. August 1973 in einer Sondervorstellung im Rahmen der 10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im Berliner Kino Kosmos Premiere. Es blieb die einzige Vorführung auf der Leinwand. Die Fernsehausstrahlung erfolgte im November 1973. Erst im Dezember 1989 kam der Film wieder ins TV-Programm.

Namhafte DDR-Regisseure wie Hermann Zschoche („Bürgschaft für ein Jahr“, „Insel der Schwäne“, „Glück im Hinterhaus“, „Grüne Hochzeit“), Wolfgang Hübner („Einzug ins Paradies“), Siegfried Kühn („Unterwegs nach Atlantis“) und nicht zuletzt Roland Oehme wussten ihre schauspielerischen Fähigkeiten zu schätzen. Mit ihm drehte Ursula Werner zehn Jahre nach „Frau Venus und ihr Teufel“ ihren sechsten DEFA-Film, die Komödie „Ein irrer Duft von frischem Heu.

Dr. Angelika Unglaube (Ursula Werner) von der SED-Bezirksleitung soll den Gerüchten um das „Zweite Gesicht“ des Parteisekretärs von Trutzlaff nachgehen. Roalnd Oehme drehte die DEFA-Komödie „Ein irrer Duft von frischem Heu“ 1977 nach dem Lustspiel von Rudi Strahl ©DEFA-Stiftung/Klaus Zähler

Es ist die Verfilmung des gleichnamigen Bühnenstücks, das Rudi Strahl mit Blick auf Ursula Werner in der weiblichen Hauptrolle 1975 fürs Theater geschrieben hat. Die Uraufführung am Maxim Gorki Theater spielte allerdings Monika Lennartz, weil die eigentliche Zielperson anders besetzt werden sollte. „Es war ein ziemliches Verwirrspiel, wie das im Theaterleben manchmal so ist. Später habe ich im Stück die Rolle der LPG-Vorsitzenden übernommen, weil die Erstbesetzung ein Kind bekam.“

Dass sie mit der Komödie um den Parteisekretär des Kaffs Trutzlaff, der das zweite Gesicht haben soll, einen Kultfilm produzieren, hätte bei der DEFA keiner gedacht. Weil’s so schön war, sie zwinkert, hat sie mit Roland Oehme noch einige Filme gedreht. „Über die Jahre waren wir zu Freunden geworden. Sein Tod im vergangenen November hat mich erschüttert. Es war wieder einmal zu spät für einen Besuch. Immer hatte ich es mir vorgenommen, dann kam die Arbeit dazwischen.“ Mit berührenden Worten hat sie sich in der rbb-Sendung „Abschied ist ein leises Wort“ erinnert.

Kinderfilme waren für viele DDR-Schauspieler ein großer Reiz. Hier war Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit gefragt. Kinder merken, wenn einer nicht mit dem Herzen dabei ist. Mit großer Freude wirkte Ursula Werner in Produktionen der bekannten Kinderfilmregisseurin Karola Hattop mit. Mir fallen da ein „Ich liebe Victor“, ein Film über die Freundschaft und das Verliebtsein zwischen zwei Mädchen und einem Jungen, das Märchen von „König Phantasios und – wie könnte ich das vergessenen — der Jugendfilm „Jan Oppen“ nach dem gleichnamigen Buch von Klaus Beuchler.

Vom Prenzlauer Berg nach Cannes

Ursula Werner hatte das große Glück – oder nennen wir es wieder Fügung – in den 90er Jahren nicht von der Bildfläche zu verschwinden, wie so viele gute DDR-Schauspieler. In der Phase der Abwicklung des DDR-Fernsehens hatte Bodo Fürneisen noch das Psychodrama „Das Scheusal produziert. Es war sein Beitrag zum „Grand Prix Italia“ 1991 und wurde 1990 mit dem Münchener Fernsehpreis „Goldener Gong“ ausgezeichnet. Die ARD strahlte den Film im Mai 1992 aus. Der Plot: Vier unglaublich nette Schwestern zwischen 50 und 60 erzählen in einer Fernsehsendung von ihrer tollen Karriere. Ein Telegramm zerreißt die scheinbare Idylle. Die seit ihrer Kindheit aufeinander eifersüchtigen Schwestern schenken sich nichts. Die wunderbaren Charakterdarstellerinnen Ursula Werner, Christine Schorn, Jutta Wachowiak und Walfriede Schmitt spielten sich in Hochform. Ihnen zuzuhören und zuzuschauen war eine Wonne.

Mit Andreas Dresen und „Wolke 9“ auf Premierenfahrt in Paris Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner

Sie ist kein Workaholic. Sie arbeitet einfach nur gern. Es ist eine relativ stille Karriere, die sie nach der Wende vor der Kamera macht. Da ist die durchgehende Nebenrolle in der Kinderfernsehserie Schloss Einstein, in der sie als Frau Mell von 2001 bis 2005 mitspielte, da ist die Briefträgerin Frau Kortleben in dem ZDF-Vierteiler „Liebesau – die andere Heimat“, der in dem fiktiven ostdeutschen Ort in der Nähe von Halle zwischen 1953 und 1989 angesiedelt ist. Eine Dorf- und Familiengeschichte, in der sich die politischen Umwälzungen jener Jahre spiegeln. Eine Zeit, in der sich auch Ursula Werners Leben prägte.

Wichtig wurde für die Schauspielerin das Zusammentreffen mit Regisseur Andreas Dresen im Jahr 2000. Er besetzte sie in seinem mehrfach ausgezeichneten Sozialdrama „Die Polizistin“ mit der kleinen Rolle der Mutter Schmiedel und behielt die genaue, authentische spielende Darstellerin im Auge. Vier Jahre später steht sie in seiner Verfilmung von Christoph Heins Roman „Willenbrock“ als Kommissarin vor der Kamera. Die Schicksalsgeschichte eines ostdeutschen Gebrauchtwagenhändlers überzeugt durch ihre lebensnahen Figuren und ihren sozialen Realismus. Andreas Dresen wird mit dem Internationalen Literaturfilmpreis 2005 ausgezeichnet.

Ursula Werner und Horst Westphal spielen das verliebte Paar Inge und Karl in Andreas Dresens Film „Wolke 9“ Foto: Senator/DIF ©Andreas Dresen

Dann kam das Jahr 2008. Andreas Dresen rief an und fragte, ob sie bereit wäre, mit ihm einen Film zu machen, in dem es um Liebe und Sex im Alter geht. „Ich hatte seine großartigen Filme ,Stilles Land‘ und ,Halbe Treppe‘ gesehen. Und wir kannten uns von den Dreharbeiten für die ,Die Polizistin‘. Für mich ist er ein Regisseur, bei dem man einfach nur Ja sagen kann.“ Und das tat sie sofort. Der umsichtige Regisseur gab ihr noch Bedenkzeit, denn es ging auch um Nackt- und Sexszenen. Sie blieb bei ihrem Wort.

Mir brachte der Film die persönliche Bekanntschaft mit der Schauspielerin, bei der es mich jedes Mal freute, wenn ich ihren Namen las, hin und wieder auch einen ihrer Filme sah. Wir saßen uns nach der Pressevorführung am 27. April 2009 im Garten des „Quasimodo“ gegenüber, und es hat sozusagen „klick “gemacht. In dem Sinne, dass wir wussten, wir müssen nicht umständlich miteinander umgehen.

Zwischen Inge und ihrem Mann Werner ( Horst Rehberg ) ist die Liebe eingeschlafen, die Ehe nur noch ein Nebeneinanderher Foto: Senator/DIF ©Andreas Dresen

Andreas Dresens außergewöhnlicher Liebesfilm „Wolke 9“ hatte es 2008 zu Filmfestspielen nach Cannes geschafft. Im Jahr darauf ist Ursula Werner darauf für ihr ergreifendes, einfühlsames und leidenschaftliches Spiel der 70jährigen Inge, die nach 30 Jahren aus ihrer routinierten Ehe heraus eine Affäre mit einem noch älteren Mann beginnt, mit dem Deutschen Filmpreis „Lola“ als beste Darstellerin und dem Bambi geehrt worden. Ohne Scheu und Hemmungen, mit großer Natürlichkeit haben sich die Schauspieler Ursula Werner, Horst Rehberg und Horst Westphal auf das immer noch tabuisierte Thema Sex im Alter mit allem, was dazu gehört, eingelassen. In unserem Interview damals sagte sie mir: „Als wir den Film das erste Mal gesehen haben, saßen wir bei Andreas Dresen und waren ganz erstaunt, dass uns die Geschichte so mitgenommen hat. Obwohl wir sie mitentwickelt hatten und den Ausgang wussten. Es war wie ein Sog, der uns festhielt.“

Sie ist stolz auf ihre Leistung in diesem Film, der in vielen Ländern gezeigt wurde. Das gibt sie ohne falsche Zurückhaltung zu. Er hat ihr Aufmerksamkeit gebracht, im eigenen Land als auch international. Was ich – und sicher nicht nur ich – an der Schauspielerin schätze, ist ihre Bodenständigkeit im Privaten, ihre Authentizität in den Rollen. Was sie auf dem Theater von sich erwartet, dass das Publikum ihr abnimmt, was sie spielt, ist auch ihr Maßstab beim Film.

Ausbildungsleiter Borchardt (Fritz Schediwy ) konterkariert die Probenarbeit von Corinna Trampe (Ursula Werner) Szene in „Unten, Mitte, Kinn“ Foto: ©Filmgalerie451

Auf ein ihr gut bekanntes Terrain führt sie Nicolas Wackerbarths Kinofilm „Unten, Mitte, Kinn“. Schauspielschüler stehen vor dem Ende ihrer Ausbildung. Plötzlich ist der Ausbildungsleiter verschwunden. Eine Studentin kann den Altstar Corinna Trampe, eine dominante Diva, als Regisseurin für das Abschluss-Stück, Maxim Gorkis „Nachtasyl“, gewinnen. Sich selbst als Star oder Diva zu empfinden, liegt ihr fern. Sie weiß, dass sie eine gute Schauspielerin ist, sie gibt immer ihr Bestes in jeder Rolle. Dabei kommt es ihr nicht darauf an, vorn zu stehen, auch wenn es sie glücklich, besser zufrieden, macht, wenn es denn so ist. So ist das auch mit den Preisen, die ihr in ziemlicher Zahl zuteil werden.

Es sind die unterschiedlichsten Charaktere, in denen Ursula Werner ihre außergewöhnliche Darstellungskunst präsentieren darf. Bewegend ist ihre Figur der Schwiegermutter eines krebskranken Familienvaters (Milan Peschel) in Andreas Dresens mehrfach preisgekröntem Drama Halt auf freier Strecke“. 2012 erhielten Andreas Dresen und das Ensemble dafür den Deutschen Filmpreis Lola in Gold.

Ursula Werner als Lene Grundmann 2011 in dem Kinderfilm „Wintertochter“ Foto: ©epdfilm/zorro

Berührend und zugleich sehr nachdenklich stimmend ist der Kinderfilm „Wintertochter“, in dem sie mit einem zwölfjährigen Mädchen nach dessen biologischem Vater sucht. Er soll in Polen sein. Es wird auch eine Reise in die Vergangenheit von Lene Grundmann, die nie wieder in die alte Heimat zurückkehren wollte, die sie nach dem Krieg als Kind verlassen musste. Die inneren Wunden werden aufgerissen, schmerzhafte Erinnerungen wach. Man sieht es der Figur an, wie sie mit sich kämpft, etwas zuzulassen, das sie über Jahrzehnte verdrängt hat. Solche Rollen sind Ursula Werners Stärken. „Für diesen Film habe ich Barkas fahren gelernt“, erzählt sie. „Ich bin tatsächlich auch gefahren.“ Der Film mit ihr in der Hauptrolle wurde 2012 als bester Kinderfilm ausgezeichnet.

An einem Sommerwochenende kommt die zerstreute Familie Kerkoff zwischen Kühen und Bienenstöcken am Rande eines Klosters zusammen Uschs Tochter Kati will Nonne werden. Bei dieser Landpartie bleibt keine Wahrheit ungesagt. Szene aus „Schwestern“ mit Ursula Werner (Usch) und Jesper Christensen (ihr Bruder Rolle) Foto: Farbfilm Verleih, DIF, ©Dreamtool Entertainment/Wolfgang Ennenbach

Nach „Wolke 9 “ haben sich viele Türen für die nun schon 65jährige Schauspielerin geöffnet. Man sieht sie 2012 in der dramatischen Familiengeschichte Schwestern“, 2013 in „Bornholmer Straße“. 2015 steht sie in dem ZDF-Fernsehspiel Die Hände meiner Mutter“ vor der Kamera. Es geht um das noch nie offen angesprochene Thema des Kindesmissbrauchs durch Mütter. Das ging an die Nieren, auch der Darstellerin, die hier in ihrer Rolle als Therapeutin damit konfrontiert wird.

Zu ihren schönsten Dreharbeiten gehört für sie „Der Junge muss an die frische Luft“ nach der Autobiografie von Hape Kerkeling. Der Film erhielt die Lola“ in Bronze. Ursula Werner gab darin Oma Berta. Witzigerweise ist dies einer ihrer Vornamen. „Ich heiße Ursula, Anna, Berta“, sagt sie lachend. „Julius Weckauf, der den 12jährigen Hape spielt, ist ein unglaubliches Naturtalent. Seine Eltern haben ein Schreibwarengeschäft. Es hat einen riesigen Spaß gemacht, mit ihm zu spielen“, erinnert sie sich.

Ursula Werner als Hapes Oma Berta hatte ihn dieser Rolle einen Riesenspaß mit dem Darsteller Julius Weckauf Foto: DIF ©WarnerBrosEntertainment

Ihre Vermutung, dass der Film vielen Menschen Freude gemacht hat, fand große Bestätigung. Er erlebte mit 3,87 Millionen Kinobesuchern das beste Startwochenende 2018 und liegt damit auf Platz des Jahrescharts. Die Film- und Medienbewertung versah ihn mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“. Ursula Werner wurde in der Kategorie Schauspielerin in einer komödiantischen Rolle mit dem Schauspielerpreis 2019 ausgezeichnet.

Einen Film möchte sie selbst noch genannt wissen – Caroline Links Kinderfilm „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Es ist die Verfilmung von Judiths Kerrs gleichnamigen Roman, in dem sie ihre eigene Familiengeschichte adaptiert. Die unbeschwerte Kindheit des neunjährigen jüdischen Mädchens Anna Kemper endet mit Hitlers Machtergreifung 1933. Die Familie flieht, sie können nur wenig Gepäck mitnehmen. Ausgerechnet Annas Lieblingsspielzeug, ein rosa Kaninchen, bleibt zurück. Ursula Werner ist darin das Kindermädchen Heimpi. Der Film wurde bereits 1978 schon einmal vom WDR verfilmt. 2019 kam die Neuverfilmung der Sommerhaus Filmproduktion GmbH in die Kinos.

Was mir vor diesem Porträt gar nicht bekannt war, sind ihre vielen Kurz – und Debütfilme von Studenten, fast alle mit einem Preis ausgezeichnet. Ursula Werners Darstellungskuns, jedweder Rolle einen plausiblen Charakter, Stimme und Gesicht zu geben, überzeugend zu sein, hat sich offenbar bei Regie-Debütanten an den Filmhochschulen herumgesprochen. Über „F For Freaks habe ich anfangs etwas gesagt. Wahre Entdeckungen sind für mich die Kurzfilme „Am anderen Ende“ und „Nagel zum Sarg“ von Philipp Döring. In beiden fesselt Ursula Werner durch ein intensives Spiel. In ersterem verkörpert sie die Telefonseelsorgerinn Marianne, die für jeden Anrufer die richtigen Worte findet. Eines Nachts jedoch muss sie sich mit einem eigenen Problem auseinandersetzen.

Marianne ist die beste Telefonseelsorgerin. Nur vor ihrem eigenen Problem flüchtet sie Screenshot ©Leonard Lehmann

Ihre drogenabhängige Tochter sucht sie auf, um Geld zu fordern. Marianne leidet und versucht verzweifelt, Mittzwanzigerin von den Drogen abzubringen. In der Filmbewertung heißt es: Ursula Werner gibt dieser Frau mit einer grandiosen schauspielerischen Leistung ein markantes Gesicht und eine charaktervolle Stimme. (…) Eine atmosphärische Erzählung, auf Kürze zu einem großen und anrührenden Drama verdichtet. Besser geht es kaum!“ Bei den „Babelsberger Medienpreisen“ 2010 wird sie mit dem Schauspielerpreis ausgezeichnet, beim Grand OFF – World Independent Short Film Awards in Warschau als Beste Schauspielerin geehrt.

Ursula Werner lässt beim Zuschauer Verständnis und Empathie für die Täterin aufkommen ©Blue Elephant/Philipp Döring

Nach einer literarischen Vorlage von Wolfgang Kohlhaase – er schrieb auch an dem Drehbuch mit – drehte Philipp Döring das Kurzfilmdrama „Nagel zum Sarg. Ein Polizist steht vor der Tür einer alten Frau. Seit 30 Jahren trägt sie die Last mit sich herum, am Tod ihres Mann schuld zu sein. Sie pflegt sein Grab. Durch einen Zufall wird nun ein Schädel gefunden, in dem ein verrosteter Nagel steckt. In einem langen Monolog beichtet sie dem Polizisten, wie sie aus purer Verzweiflung eine Menge Schuld auf sich geladen hat. Ursula Werner vermag in einem intensiven Spiel, den Gewissenskonflikt dieser vom Schicksal grausam geprüften Frau subtil, ergreifend, aufwühlend deutlich zu machen. Auf dem Filmfest 2012 in Dresden gewann Philipp Döring den Förderpreis Goldener Reiter – nicht zuletzt dank der Hauptdarstellerin.

Die des Lebens müde Christine (Monika Lennartz) wird von ihrer Freundin Eva (Ursula Werner) auf einen Trip in das Nachtleben von St. Pauli entführt und muss sich mit einer Lebenseinstellung auseinandersetzen, für die sie sich viel zu alt fühlt ©Jäger & Becker Film

Die wunderbare Kurzfilmkomödie „Mädchenabend“ vereint 2011 nach vielen Jahren wieder die Tschechow-Schwestern Ursula Werner und Monika Lennartz. Die 74jährige Eva und die 75jährige Christine teilen sich als beste Freundinnen im Seniorenheim ein Zimmer. Letztere hat den Tod ihres vor Jahren verstorbenen Mannes nicht verwunden. Eines Abends entführt Eva die Freundin in einen Männerstripclub. Die beiden blühen, auch dank ihres erheblichen Alkoholkonsums, im wahrsten Sinne des Wortes auf. Eva, die stark auf Antidepressiva angewiesen ist, wird diese Nacht nicht überleben, Christine sich daraufhin wieder mehr dem Leben zuwenden. Die beiden Theaterkämpen lassen das Spiel zum Genuss werden. Und wieder gibt es das Prädikat „Besonders wertvoll“ und 2012 den Max-Ophüls-Preis als bester Kurzfilm. Ursula Werners wurde auf dem Festival in Saarbrücken als Ehrengast mit all ihren preisgekrönten Kurzfilmen und den Debütfilmen gefeiert.

Es ist schwer einen Schluss zu finden, wo lange noch nicht Schluss ist. Die Schauspielerin Ursula Werner hat in den Kammerspielen München eine neue Theaterheimat gefunden, spielt in Dresden und Berlin, und vor allem hat sie aktuelle Filmaufgaben. Während ich hier schreibe, dreht sie neben den Vorstellungen im Deutschen Theater einen neuen Fernsehfilm im Schwarzwald. „Rosengarten– die authentische Lebensgeschichte eines jungen Regisseurs. „Er ist der Sohn eines Syrers und einer Deutschen und bewegt sich zwischen zwei Welten. Er stellt sich die Frage: Wo ist man zu Hause?“, verrät sie mir. Ein Konflikt, den viele junge Ausländer, die in unser Land gekommen sind, für sich lösen müssen.

Jutta Wachowiak: „Was ich zu sagen habe, gehört auf die Bühne“

Ich hatte nach langem wieder mal einen Theaterabend erlebt, der mich nicht mit einem unbefriedigenden Gefühl entließ. Ich konnte etwas anfangen mit dem, was mir erzählt wurde. Bei vielen Inszenierungen verstehe ich deren Interpretation nicht mehr. In der Box, der kleinen Bühne des Deutschen Theaters, habe ich mir „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ angesehen. Seit der Premiere im Oktober 2018 sind diese Vorstellungen stets ausverkauft. Ich muss gestehen, dass mich journalistische Neugier getrieben hat, denn es ist über 20 Jahre her, dass ich mit der Schauspielerin gesprochen habe.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
„Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ ist ein Theaterabend von Jutta Wachowiak, Eberhard Petschinka und Rafael Sanchez ©DT/Arno Declair

In ihrem Solo-Abend „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ spielt sie die Wärterin in einem Dinosaurier-Park, den man weder verlassen noch unkontrolliert betreten darf. Zunächst fragt man sich: Was hat der Blockbuster hier zu suchen? Doch schnell erschließt sich eine Parabel auf die DDR. Die Geschichte des Parks vermischt sich mit der Biografie der Schauspielerin. Sie reflektiert die äußeren und inneren Umstände ihres Lebens. Von den Kindertagen angefangen über ihren künstlerischen Werdegang in der DDR, die Zweifel an sich, die Hürden, die Erfolge auf diesem Weg. Sie erzählt von der Hoffnung, als sich der Park öffnet und dem Erlebten danach, wie sie zurückgeworfen wird, nichts mehr so ist wie es war. „Das war eine Zeit, in der ich lebte, als wäre keine Haut auf meiner Seele, so ausgeliefert war ich dem brutalisierten Alltag.“

…und alle heben sich gleichzeitig empor / von ihren Stangen / und flattern hinauf in die Kuppel / als hätten sie das Loch dort oben im Eisengitter / erst jetzt gesehen…“

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
„Ich kann jetzt überall hin, nur nach Hause kann ich nicht“,  sinniert Jutta Wachowiak in ihrem Monolog übetr die Folgen des Mauerfalls ©DT/Arno Declair

Wie die Dinosaurier in dem imaginären Park flogen die Menschen aus den geöffneten „Fenstern“ hinaus in die unbekannte Freiheit. Doch die neue Freiheit ließ sich nicht genießen. Als sie zurückkamen, war der Ort noch da, aber das Zuhause weg. Das Zuhause der Schauspielerin war das Deutsche Theater. Es wurde wie alle ehemaligen DDR-Bühnen einer Metamorphose unterzogen, die künstlerische Merkwürdigkeiten hervorbrachten. Intendant Thomas Langhoff konnte die vormalige künstlerische Höhe des Theaters nicht halten. Seine Inszenierungen seien konventionell, brav, gegenwartsfremd wurde ihm vorgeworfen. Jutta Wachowiak sah sein Dilemma, helfen konnte sie ihm nicht. „Die Arbeit mit Langhoff ist immer elektrisierend gewesen, bis seine Regie an Spannung verlor und ihr Magnetfeld plötzlich zusammenbrach.“ Beide kannten sie sich seit 1963 aus ihrer gemeinsamen Schauspielzeit am Hans-Otto-Theater. Unter seiner Regie stand sie in großen Rolle wie „Maria Stuart“ auf der Bühne oder als Rosi in dem dreiteiligen Fernsehfilm „Guten  Morgen, du Schöne“ nach Maxi Wanders Frauenporträts. Nun verstand sie ihn nicht mehr.

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Jutta Wachowiak 1993 als Mutter Wolffen in Thomas Langhoffs Inszenierung „Der Biberpelz“ am Deutschen Theater (Screenshot aus der ZDF-Fernsehaufzeichnung )

Es kamen Frank Castorf, Einar Schleef und Christoph Schlingensief mit ihren experimentellen Inszenierungen (postdramatisches Theater). Jutta Wachowiak tat sich schwer damit. „Maria Stuart“ flog nach zehn erfolgreichen Jahren 1993 vom Spielplan. Danach feierte sie zwar Erfolge als Mutter Wolffen in Gerhart Hauptmanns „Der Biberpelz“ (1993-97), als Frau Fielitz in seiner Fortsetzung „Der rote Hahn“ (1997). Dennoch wuchs ihr Unbehagen. „Ich hatte damals schon begriffen, dass Castorf und Schlingensief große Künstler sind. Mein Leiden hing eher damit zusammen, dass ich es nicht verstand. Und dass das an mir lag.“ Sie bemerkte, wie sie sich verlor, wie sie eine ungewollte Aggressivität entwickelte, mit der sie andere verletzen konnte. Sie stand morgens hinter der Tür und sagte: „So, die Stacheln raus und rein in die feindliche Welt.“ Das war nicht mehr sie.  Sie zog ihre Konsequenz. Als Schutz und um sich Sensibilität und Verletzbarkeit für ihren Beruf zu bewahren, trainierte sie sich „ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Alleinsein an. So bleibt meine Einmischung in das gesellschaftliche Leben nahe an meiner Arbeit.“  Viel später erst kam ihr ins Bewusstsein, wie sie mir sagt, woran das lag, dass sie sich in einer Verfassung befand, in der sie nicht mehr im Einklang mit sich selbst war. „Ich war damals wirklich aus meiner Mitte herausgerückt“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand.

Um die Leerlaufzeiten sinnvoll zu überbrücken, unterrichtete sie bis zu ihrem Weggang 2005 aus Berlin Szenenstudium an der Ernst-Busch-Hochschule für SchauspielkunstDas war eine Sache, die Spaß machte. Ich hatte das Gefühl, ich kann den jungen Leuten etwas verklickern. Dabei war ich selber immer am Ball, denn ich musste mich mit meiner ganzen Sensibilität und Beobachtungsschärfe einbringen.

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Herausragend war Jutta Wachowiaks Verkörperung der alternden Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz in Ralf Kirstens Filmbiografie „Käthe  Kollwitz – Bilder eines Lebens“ ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Als dem Berliner Senat 1996 aus Sparsamkeitsgründen die Idee kam, die „Ernst-Busch“ der Westberliner Hochschule der Künste unterzuordnen, schrieb Jutta Wachowiak einen Protestbrief an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. „Da hätte man einen gut funktionierenden Körper an einen Tropf gehängt. Das wäre das Ende der besten deutschen Ausbildungsstätte für Schauspieler gewesen“, kann sich noch so viele Jahre später darüber empören. Diese Unvernunft wollte sie nicht mittragen und war bereit, ihr Bundesverdienstkreuz, das ihr 1992 für ihr politisches Wirken im Herbst 1989 verliehen worden war, zurückzugeben, falls der Senat bei seinem Vorhaben der bliebe. „Man hat mich mit dem Orden für meine Integrität und Gründlichkeit belohnt. Und ich wollte nicht in Verdacht kommen, mich für Arschlöchigkeit loben zu lassen.

Da Eberhard Diepgen auf das Schreiben der Schauspielerin nicht reagierte, kam es zu einer spektakulären Protestkundgebung. Am 14. März 1996 verlas Jutta Wachowiak vor Hunderten Schauspielern, Studenten und Theaterfreunden im bat, dem Studiotheater der Hochschule, ihren Brief. Am 12. März hatten Schauspielstudenten und prominente Künstler begonnen, sich mit Aufführungen und Lesungen gegen die Schließung ihrer Schule zu wehren. Von überall her kamen Solidaritätsbekundungen. Intendant Jürgen Flimm vom Thalia Theater Hamburg schrieb, Thomas Langhoff vom Deutschen Theater, Birgitta Vallgarda von der Lunds Universität in Malmö. Das Schauspielhaus Zürich unterstrich, dass die „Ernst Busch“ mit ihren Besonderheiten und der anerkannten Qualität ihrer Ausbildung erhalten bleiben muss.

Regisseur Roland Gräf mit Jutta Wachowiak 1981 bei den Dreharbeiten zu  Märkische Forschungen“  nach dem Roman von Günter de Buyn ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Die Rolle der Mahnerin gehört nicht zu denen, die sich Jutta Wachowiak gewünscht hat, noch viel weniger, dass das mit „Henry-Maske-Tamtam“ passierte. „Aber es ging hier nicht anders“, betont sie in unserem zweiten Interview, dass wir 1998 führten. Die Fusion fand nicht statt. Die Ernst-Busch-Hochschule hat ihre Eigenständigkeit behalten, auch dank des Einsatzes der prominenten Schauspielerin. Der Orden, den sie nur an jenem Abend am Revers trug, liegt wieder im Schrank.

„Ich bin keine Intellektuelle“, sagt Jutta Wachowiak. „Ich fühlte mich denjenigen nahe, die ihren Brigadeausflug ins Theater machten. Darüber stellte sich zwischen uns eine Art konspiratives Einverständnis her.“ Im Herbst 1989 schloss sie sich ihrem Publikum an, engagierte sich dafür, dass sich in der DDR etwas ändert. „Ich konnte den „Zynismus und die Scheinheiligkeit im Umgang mit den Menschen nicht mehr ertragen. Da lag der Scheißhaufen mitten im Wohnzimmer, und die haben ein Spitzendeckchen drübergelegt. Und wehe dem, der sagte, es stinkt.“ Das hat sie geärgert an der DDR, dass die „feinen Herren aus Wandlitz in ihren Limousinen mit zugezogenen Gardinen zur Arbeit fuhren.“ – und auch wieder zurück. „Die wollten nicht sehen, was wirklich los ist. Trotzdem bin ich wahnsinnig froh, dass ich 40 Jahre auf unserer Seite zugebracht habe. Und den Rest sehe ich zu, dass ich meine Aufrichtigkeit und Integrität verteidige gegen andersgeartete Gefährdungen.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
Jutta Wachowiak nimmt das Theater als moralische Anstalt ernst. Es geht um eine gerechte Ordnung, um eine Gesellschaft der Freien, die moralisch handeln. Darum ging sie 1989 auf die Straße ©DT/Arno Declair

Den Aufbruch 1989 fand sie wunderbar: „Da flog noch mal der Kalk aus den Arterien, es kam Wind in die Bude.“ Jutta Wachowiak stand am 4. November 1989 mit in der ersten Reihe, als Theaterleute, Schriftsteller, Kunst- und Kulturschaffende am Berliner Alexanderplatz für Veränderungen im Staat protestierten. „Wir hatten keinen Umsturz im Sinn. Die Gesellschaft, den Staat umbauen, weiterbauen, darum ging es. Wir wollten die Möglichkeiten der öffentlichen Kritik und freien Meinungsäußerung einklagen, forderten eine andere Medienpolitik“, benennt sie das Anliegen von damals noch einmal.

Sie wurde Mitglied im Zeitweiligen Untersuchungsausschuss mit, der Licht in die gewalttätigen übergriffe der Polizei am 7., 8. und 9. Oktober an Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg bringen wollte. Die Erinnerung daran lässt sie in Rage geraten. Es war grässlich. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass so viele Leute sagten: Ich war’s nichts. Da habe sie viel dazu gelernt, konstatierte sie später.

Jutta Wachowiak als Käthe Kollwitz ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Wie sie den monatelangen Spagat durchgehalten hat, vermag sie nicht zu sagen. Tagsüber las sie Gedächtnisprotokolle, die ihr schlaflose Nächte bereiteten, führte Podiumsdiskussionen, abends stand sie als „Maria Stuart“ auf der Bühne des Deutschen Theaters. „Es ging schon an die Substanz. Vielleicht war es naiv, anzunehmen, wir könnten uns einmischen“, sann sie in unserem Gespräch nach. „Aber es ging um unsere Zukunft. Da konnte ich nicht einfach aufhören. Ich habe dafür eine moralische Verantwortung empfunden.“ Mulmig bis ins tiefste Innere wurde ihr, als am 9. November die Mauer fiel. „Da wusste ich, jetzt ist es vorbei mit Umbauen und Weiterbauen. Die Erfahrung aber war nicht umsonst“, denkt sie heute.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
Ich bin hier das Relikt“ , sagt sie ins Publikum ©DT/Arno Declair

Jutta Wachowiak leistet sich keine Larmoyance, keine Nostalgie im Blick auf ihr Leben, derer man ja schnell verdächtig wird heute. „Die Gesellschaft ist eine andere geworden, ich bin anders geworden. Ideologisch geprägte Verhaltensweisen wie Disziplin, Anpassung und Notwendigkeit sind jetzt ganz individuell bezogen. Haben einzig mit dem zu tun, was mich und meine Kinder angeht. Das habe ich zu akzeptieren gelernt.
Die Mutter hatte die Tochter gewarnt, als die aufmachte, Schauspielerin zu werden: „Kind, das ist ein sehr harter Beruf.“ Das bezweifelte die damals 17-Jährige nicht. Aber leicht wollte sie es auch nicht haben „Ich war immer jemand, der es ganz gerne schwer hat. Es muss natürlich auszuhalten bleiben“, erklärt Jutta Wachowiak sechs Jahrzehnte später. Die Zeiten dazwischen haben ihr viel abverlangt.

An die Grenzen des Aushaltbaren kam sie, nachdem Thomas Langhoff seinen Platz als Intendant des Deutschen Theaters räumen und der Solinger Bernd Wilms die Macht übernahm. Er verkörpert den Typ „Wessi“, der von der Warte des Siegers auf die Menschen im Osten guckt. Das hat Jutta Wachowiak sehr schnell zu spüren bekommen. Nach 30 Jahren am Deutschen Theater musste sich die Schauspielerin, die aus den Spielplänen nicht wegzudenken war, fragen lassen: „Wer sind Sie denn?“ So tief verletzt hatte sie noch niemand. Die Ausgrenzung begann. Wilm hat fast das gesamte Ost-Ensemble ausgetauscht. Nur die Unkündbaren wie Jutta Wachowiak gab es noch. Die Kollegen aus dem Westen blieben ihr fremd.

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1979 drehte Roland Gräf mit ihr die Liebesgeschichte „P.S“. Die Bewährungshelferin Margot (Jutta Wachowiak)  verliebt sich in den 18-jährigen Peter (Andrej Pieczinski) ©DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

„Sie stellen sich mal schön hinten an“, hieß es. „Ich war ja staatserhaltend! Habe Auszeichnungen bekommen. Das wurde mir angekreidet.“ Man ließ keine Gelegenheit aus, ihr klar zu machen, dass man sie für eine zwangsweise übernommen Altlast hielt. Die Bitternis von damals klingt an, als sie davon erzählt. Doch dann macht sich Empörung Luft. „Es gibt kein Gefühl dafür, dass wir da auch gerne gelebt haben. Dass wir uns gerieben haben oder dass wir Reglementierungen unerträglich fanden. Man stellt keine Fragen, aber weiß, wie es geht. Ein ganzes Land mit seinen sämtlichen Erinnerungen wird bis heute denunziert. Fähigkeiten, Leistungen, Ideen und Wissen werden ignoriert. Das ist entwürdigend, schmerzhaft und unnötig“, möchte ich die Schauspielerin hier aus dem Programmheft für ihren Abend Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ zitieren.

Man überging sie bei der Besetzung neuer Stücke. Manchen Tag setzte sie sich nachmittags ins Kino und sah sich Blockbuster wie „Blade Runner“ an. Sie wollte, dass die hämmernden Gedanken in ihrem Kopf aufhören: Bin ich wirklich nur auf Scheiße reingefallen? Haben wir wirklich nur Sklavensprache gesprochen? Habe ich mit meiner Kunst den Staat gestützt? Ihr Selbstbewusstsein war am Boden. Mit ihrem Soloabend „Iphigenie auf Tauris“ versuchte sie, sich zu lokalisieren. „Ich musste mich fragen, welche Spielregeln ich akzeptieren kann und welche nicht.“ Sie konnte und wollte die Demütigungen an dem Theater, das nicht mehr ihres war, nicht mehr ertragen.Am Ende der Spielzeit 2004/2005 zog einen schmerzlichen Schlussstrich unter 35 Jahre ihres künstlerischen Lebens am Deutschen Theater. Es war das einzig Richtige, das sie tun konnte. Sie musste da weg, weil sie nicht mehr spielen konnte.

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In dem Fernsehfilm „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (Josef Karlík) 1968 lernte die 27-jährige  Schauspielerin, dass sie rustikale Kraft und Lebenserfahrung der Partisanin Babka über eine ganz karge Grundhaltung ausdrücken kann Foto: Screenshot/ DDR-F, Günter Eisinger

Sie veließ die Gefilde, in denen man sie kannte,  ihre Leistung als der Schauspielerin schätzte, und folgte Anselm Weber, der als Gast am DT inszeniert hatte, auf dessen Angebot hin nach Essen. Weber übernahm als Intendant das dortige Schauspielhaus und baute mit jungen Leuten ein neues Ensemble auf. Rafael Sanchez, den sie auch schon vom DT kannte, Roger Vontobel, David Bösch. Die erfahrene Schauspielerin wollte ihre Erfahrungen weitergeben und mutierte selbst zur Lernenden. „Ich wollte ihre Art, Theater zu machen, verstehen.“ Sie bemerkte, dass die Jungen die emotionalen Verquickungen genau wie sie sehen. „Sie finden dafür aber ganz andere Bilder und meinen es nicht so angriffig, wie ich dachte.“ Sie ließ sich auf sie ein. „Plötzlich war mein Zugang zu ihren Inszenierungen viel größer“, konstatierte sie schon bald.

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Der 40jährige Karl (Dieter Mann) steckt in der Midlife- Crisis. Er verliebt sich in eine Jüngere und eröffnet seiner Frau Elisabeth (Jutta Wachowiak) nach vielen Ehejahren, sie nie geliebt zu haben.  Das gesellschaftskritische Filmdrama „Glück im Hinterhaus“ (1980 von Hermann Zschoche gedreht) ist eine Adaption von Günter de Bruyns Roman „Buridans Esel“ ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

In Essen, wo sie niemand kannte, keiner je DEFA-Filme geguckt hat, gelang es Jutta Wachowiak aus ihrem seelischen Tief, ihrer emotionalen Talsohle herauszukommen. „Ich fühlte mich in der Stadt keinen Moment fremd.“ Die Stadt, die Menschen und das Leben hatten etwas Vertrautes, es kam ein bisschen DDR-Gefühl hoch – ein gutes.  Sie blieb bis Anselm Weber ans Schauspielhaus Bochum wechselte und kehrte 2009 nach Berlin zurück. Sie traf Thomas Langhoff wieder, der sich national wie international als Regisseur etabliert hatte, und spielte am Berliner Ensemble in seiner Inszenierung „Donã Rosita oder die Sprache der Blumen.“ Ihr Neubeginn auf einer Berliner Theaterbühne. Das Deutsche Theater betrat sie erst 2012 wieder, als Rafael Sanchez sie in William Shakespeares Tragödie „Coriolanus“ besetzte. „Früher hätte ich auch keinen Schritt in das Haus setzen können, partout nicht“, sagt Jutta Wachowiak. Dass sie nun wieder öfter auf ihrer einstigen Hausbühne steht, bedeutet der Schauspielerin sehr viel.

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Jutta Wachowiak 1995 bei meinem Besuch in ihrem Sommerparadies ©Boris Trenkel

Für mein Interview 1995 besuchte ich sie in ihrem Sommerparadies auf der Potsdamer Halbinsel Hermannswerder. Ein winziges Stück Idylle, direkt am Templiner See. Wir saßen am Steg, an dem ein Paddelboot vertäut war. Wochenlang kann sie allein sein im Garten. Hier kann sie stricken, lesen, schwimmen, sich sonnen… Wenn die Aprikosen reif sind, lädt sie Freunde zum Knödelessen ein. „Ick muss mir Abwechslung verschaffen können, wann ick will. Sonst kriege ick die Motten.“ Die Parzelle, auf der sie sich ein Haus gebaut hat, ist auch ihr Schlupfloch, wo Trubel und Chaos des Alltags draußen bleiben.

Der Drang nach Abwechslung führte Jutta Wachowiak in den Schauspielerberuf. „Ich mochte Theater und bin in jede neue Aufführung gegangen.“ Als es daran ging, dass sie in der Schule einen Berufswunsch äußern sollte, hatte sie keine Vorstellung. „Ich war vierzehn, extrem winzig, gerademal 1,42 Meter und zart. Das ist jetzt vielleicht zum Lachen, wenn man mich anguckt.“ Sie lässt den Blick an sich heruntergleiten und hat dabei ein schönes Strahlen im Gesicht.

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Jutta Wachowiak 1980 ©DEFA-Stiftung/Nobert Kuhröber

Jutta Wachowiak hatte eine gescheite Mutter, eine echte Berlinerin, die fest im Leben stand. Im Kriegsjahr 1944 war sie mit ihren beiden Töchtern wie Tausende Berliner Mütter aus der Stadt in die deutschen Ostgebiete im heutigen Polen evakuiert worden. Nach Kriegsende kehrte sie in den Prenzlauer Berg zurück. Aus Angst vor den Russen ging die Mutter mit den kleinen Mädchen sie zu Fuß, lehnte freundliche Aufforderungen, sie mitzunehmen ab. Doch als die Kinder nicht mehr konnten, stieg sie doch auf die Ladefläche eines Wagens. Und die kleine Jutta schrie und schrie, bis es nicht mehr auszuhalten war. Da stieg der Offizier aus dem Wagen, ging  zu einem Garten und riss einen Stachelbeerstrauch heraus. Und Jutta pickte bis Berlin die Beeren ab und stopfte sie in den Mund. Ruhe war nun. Sie kamen in ihre Wohnung in der Wichertstraße, die noch war, wie sie verlassen hatten.

Die Mutter sagte ihrer feinnervigen und durch eine Lymphdrüsen-Tuberkulose im Wachstum zurückgebliebenen Tochter nun als es an die Berufswahl ging: „Pass auf, da lernste erst mal Steno und Maschine. Da kann man immer was mit anfangen. Dann sehen wir weiter.“ Also lernte das Mädchen Stenotypistin und war mit sechzehn Sekretärin beim Stadtbezirk Prenzlauer Berg. „Meine kleine Mama raste ins Büro, um mich und meine Schwester durchzukriegen. Sie war eine ganz ungewöhnliche Frau, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommend, mit einer ungewöhnlichen Toleranz versehen, so lebhaftem Interesse an ernsthaften Vorgängen zwischen den Menschen. Das hat sie mir alles mitgegeben.“ Die Mutter war im Jahr vor unserem Interview gestorben.

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Günter Linke fotografierte die Schauspielerin 1969  für ein Autogrammfoto ©FMP/Günter Linke

Es dauerte nicht lange, da fing die frischgebackene Sekretärin an,  ihr Büro andauernd umzuräumen, legte die Briefe mal hier hin, mal dort hin, damit die Handgriffe nicht immer die gleichen waren. „Ich merkte, ich bin nicht ausgelastet oder verkehrt an dem Platz.“ Nach einem Jahr suchte sich sie eine Anstellung bei der Notenbank. „Ganz bewusst da, weil ich wusste, die haben eine Laienspielgruppe.“ Nach der Arbeit im Büro stand sie auf der Bühne und empfand sich da am richtigen Platz. Wohlwollend beobachtet von ihrem Chef, Herrn Todtmann, der später Karriere im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe in Moskau machte. Jutta Wachowiak erinnert sich gern an ihn: „Er war ein feiner Herr mit romantisch gebildetem Hintergrund. Wir hatten lange Kontakt. Es war gut, sich mit so jemandem zu unterhalten, man kam über den eigenen Horizont hinaus.“ Herr Todtmann war es, der sie zur Schauspielschule schickte. „Fräulein Jutta“, sagte er, „hier können Sie nicht bleiben. Sie müssen zum Theater.“ Sie bekam von ihm zum Einstudieren Komödien von Curt Götz, die sie überhaupt nicht kannte, weil das kein Theater in Ostberlin gespielt hat.

Ihr Vorspiel an der Schauspielschule in Schöneweide endete im Fiasko. Sie sei unbegabt. „Wenn man fünf Stunden warten muss und dann nicht mehr kann, weil sich da eine Sensibilität verrät, die irgendwann von Nutzen ist, wenn man sie durch Professionalität mit Kraft versieht, ist das kein Zeichen für Unbegabtheit, sondern für das Gegenteil.“ So sieht es die erfahrene Schauspielerin heute. Und so sah das damals auch die wohl bekannteste Berliner Dozentin für Schauspiel Doris Thalmer, der Schauspieler wie Christian Grashof, Franziska Troegner, Dieter Mann und Katharina Thalbach ihr handwerkliches Können verdanken. Doris Thalmer schickte die 17jährige Jutta zur Filmhochschule Babelsberg und sagte ihr, sie müsse sich gleich vorstellen, weil man da nur bis achtzehn immatrikuliert. An der Schauspielschule suche man ohnehin handfeste, proletarische Frauentypen. Ein solcher war die zarte, fummelige Jutta ja nun nicht.

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Jutta Wachowiak und Christian Grashof 2019 nach ihrer Fontane-Lesung ©Andrea Doberenz

Das Studium in Babelsberg gefiel ihr. An der Filmhochschule konnte man ihrer Fummeligkeit umgehen. 1963 dann das erste Engagement am Hans-Otto-Theater Potsdam. Fünf Jahre blieb sie und hatte ordentlich Lehrgeld zu zahlen. „Ich war noch so hingebungsvoll, hatte eine übertriebene Anerkennung für alles, was die anderen sagten, dass ich anfing zu zweifeln, ob ich richtig bin in dem Beruf.“ Diese Selbstzweifel behinderten sie in ihrem Spiel, wenngleich sie auch Erfolg hatte als Eliza in „Pygmalion“, ihre erste größere Rolle. „Ich konnte mich nicht öffnen. Es war mir klimatisch nicht möglich, zu der Form aufzulaufen, die ich zu dem Zeitpunkt sogar schon hätte haben können“, schätzte die Schauspielerin im Rückblick ein.

Sie wechselte 1968 an die Karl-Marx-Städter Bühne. „Ich wollte erfahren, ob ich den Beruf durchhalte.“ Plötzlich hatte sie den Raum und die Atmosphäre, die sie brauchte. Sie spielte ohne Hemmungen, setzte ihre emotionale Kraft, ihre Phantasie und ihr erlerntes Können ein. An der Seite von Christian Grashof spielte sie die Luise in „Kabale und Liebe“. Es war eine unerwartet starke Darstellung, auch für Jutta Wachowiak selbst. „Ich besann mich wieder, warum ich den Beruf ergriffen habe und dass ich mir selbst der wichtigste Zensor bin.“ Sie legte sich ihre Messlatte selbst, und wenn es in ihren Augen „nüscht war“, hat es sie doch weitergebracht. 1970 holte der grandiose Schauspieler und Regisseur Prof. Wolfgang Heinz das kongeniale Paar Wachowiak/Grashof ans Deutsche Theater nach Berlin.

Es war ein Start mit Hindernissen. Jutta Wachowiak kam mit der brüskierenden Arroganz des Intendanten Hanns Anselm Perten nicht klar. Die Gelegenheit war günstig, sich erst einmal auszuklinken. Sie hatte gerade den Nachrichtensprecher Klaus Ackermann geheiratet und zu ihm gesagt: „Komm wir machen ein Kind“. Tochter Anja kam im November 1971 zur Welt, ein halbes Jahr später kehrte die junge Mutter ans Theater zurück. Schon sehr erwartet von Prof. Wolfgang Heinz. Er wollte mit ihr Tschechows „Onkel Wanja“ inszenieren. Perten war wieder weg.

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2012 inszenierte Rafael Sanchez Shakespeares „Coriolanus“ und besetzte Jutta Wachowiak als Cominius und Konsul ©DT/Arno Declair

Die Arbeit mit Wolfgang Heinz bescherte Jutta Wachowiak eine wichtige Erfahrung. Ehrfurcht und Demut vor diesem klugen Mann, diesem einfühlsamen Schauspieler und Regisseur, hatten sie anfangs in den Proben gelähmt. Sie wusste, in Prof. Heinz hat sie jemanden, der steht wie ein Fels. Ein gediegener, gewachsener. Wenn der sagte: Nein, Kindele, dann wollte er sie nicht schikanieren. Er wollte, dass die Sache gut wird. „Ich ging auf der Bühne in die Knie, wenn er von seinem Sitz im Saal etwas sagte. Ich ertrug es nicht, dass ich oben stand und er saß unten. Aber irgendwann im Leben gibt es einen Punkt, wo es anfängt, dass man die qualvollen Strecken auch genießen muss, damit sie Folgen haben.

Und dann kam dieser Punkt. Sie blieb stehen und führte den Dialog in aufrechter Haltung. Genau das hatte Wolfgang Heinz provozieren wollen. Sie redeten auf Augenhöhe. „Er wollte nicht, dass man in die Knie geht. Er wollte sich auch reiben.“ Auf diese Weise haben sie dann viele Jahre gearbeitet. Die Schauspielerin litt, als er nicht mehr so gegenhalten konnte mit wachsendem Alter. Sie zog für sich die Konsequenz. „Ich versuchte, zu ihm zu halten, dachte: jetzt ist dir eben eine Verantwortung zugewachsen, jetzt haste das mit aufzufangen. Das ist mir nicht immer gelungen.“

Hermann Beyer und Jutta Wachowiak als Ehepaar Pötsch 1981 in Roland Gräfs Literaturverfil- mung Märkische Forschungennach dem Roman von Günter de Bruyn ©DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer

Neben der Bühne hat Jutta Wachowiak seit ihrem Studium eine Parallelwelt vor der Kamera. Die DDR war klein, DEFA und Fernsehen hatten zwar eigene Ensemble, aber man griff gern auf Theaterschauspieler zurück. Sie brachten ihre Bühnenerfahrungen mit ein und hatten auf der anderen Seite selbst mehr Abwechslung in den Rollen. So funktionierte das 40 Jahre lang wunderbar.

Thomas Langhoff, der ab 1971 auch als Regisseur Fernsehfilme drehte, besetzte Jutta Wachowiak 1976 mit der Hauptrolle in seinem Frauendrama „Die Forelle“. Ihre erste große Filmrolle und ein Durchbruch vor der Kamera. Sie spielt eine junge Frau, die durch einen Unfall ihren Mann verliert. Allein mit zwei Kindern sehnt sich bald nach einem neuen Partner. Die Schauspielerin erspürt Leiden, Verlustschmerz, Sehnsucht, Hoffnung und Zweifel ihrer Figur mit einer seltenen Gefühlstiefe und Empfindsamkeit.

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Jutta Wachowiak und Erwin Berner 1977 in Thomas Langhoffs Fernsehspiel „Befragung  – Anna O.“ ©Waltraut Denger, Quelle: FFdabei 16/1977

Im Jahr darauf drehte Thomas Langhoff mit ihr das Fernsehspiel „Befragung – Anna O“, in dem es um eine Vierzigjährige geht, die lange von ihrem Mann getrennt war. Auf sich gestellt, hat sie sich zu einer starken, selbstbewussten Persönlichkeit emanzipiert. Jutta Wachowiak verlieh dieser Frau große Souveränität. Es entwickelten sich spannende und dramatische Spielszenen.

Der Regisseur holte seine Protagonistin immer wieder in Rollen vor die Kamera, in denen sie ihre spielerischen Facetten ausloten konnte. Er entlockte ihr in seinen eigenwilligen Adaptionen klassischer Sujets wie „Stine“ (1979) und „Stella“ (1982 die ihr gegebenen Fähigkeiten. 1980 entstand der sensible, warmherzige und auch heitere Fernsehfilm „Muhme Mehle“, nach einer Erzählung von Ruth Werner. Er spielt Anfang der 40er Jahre und ist eine Geschichte von der Freundschaft der unpolitischen Muhme (Käte Reichel) und der kommunistischen Funkerin Mirjam (Jutta Wachowiak), die abgelegen in den Schweizer Bergen leben.

„Die Verlobte” DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer
So akzeptierte es Jutta Wachowiak, das Standfoto machen zu lassen ©DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer

Ihre ergreifende Verkörperung der Widerstandskämpferin Hella Lindau im DEFA-Film „Die Verlobte“ dürften allen, die sie gesehen haben, unvergessen bleiben. Sie wurde dafür 1980 mit dem Nationalpreis I. Klasse der DDR ausgezeichnet. Auf dem XXII. Internationalen Filmfestival in Karlový Váry folgte im selben Jahr der Grand Prix. Die Filmfotografin Waltraud Pathenheimer erinnerte sich in einem Gespräch mit mir, wie schwer es war, eine bestimmte Szene nachzustellen. „Jutta Wachowiak weigerte sich, für das Standfoto nach dem Abdrehen noch einmal tief in die Szene einzutauchen. Es waren die ersten Einstellungen in der Wäscherei. Wir drehten auf einem Dachboden. Hella Lindau öffnet ein vernageltes Fenster und wird von dem Licht geblendet. Das wollte Jutta Wachowiak nicht wiederholen, weil es sie emotional sehr angespannt hatte.“ Die Fotografin suchte nach Lösungen, um die Schauspielerin zur Mitarbeit zu bewegen. Am Ende entstand eine bewegende Aufnahme.

Meine Filmbegegnungen mit Jutta Wachowiak begannen mit der DEFA-Komödie „Auf der Sonnenseite“. Sie studierte damals gerade im ersten Jahr an der Filmhochschule, als Regisseur Ralf Kirsten sie für einen Miniauftritt als Sängerin vor die Kamera holte. Wirklich erinnern kann ich mich an die Szene nicht. Dafür aber an den DEFA-Krimi „Die Glatzkopfbande“.

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Ende August 1961. Der ehemalige Fremdenlegionär King (Thomas Weisgerber, r.) treibt mit einer Band Rowdys (Rolf Römer als Jolle, l.) sein Unwesen in der DDR ©DEFA-Stiftung/Alexander Schittko

Er spielt wenige Tage nach dem Mauerbau am 13. August 1961 und erzählt von einer randalierenden Gang im Ostseebad Bansin. Aus Frust und Langeweile scheren sich die Jungs die Schädel kahl, knattern auf Motorrädern umher, pfuschen bei ihrer Arbeit und belästigen die Urlauber auf Usedom. Klar ist das ein Fall für den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei…
Für Jutta Wachowiak seien die Dreharbeiten 1962 ihre „erste grauenhafte Bekanntschaft mit dem Medium“ gewesen, erzählte mir die heute 79-Jährige. Als Kind hatte sie Lymphdrüsen-Tuberkulose und von dieser Krankheit eine schwarze Stelle im Schneidezahn zurückbehalten. Regisseur Richard Groschopp schickte sie zum Zahnarzt. „Der stülpte mir eine Plastekrone drüber, damit ich immer schön lächeln konnte. Mehr machte ich auch nicht, sonst wäre mir das Ding aus dem Mund gefallen.“

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Jutta Wachowiak spielte nur eine kleine Rolle als Marianne Pohl in dem ersten Actionfilm der DEFA, aber sie war nachhaltig ©DEFA-Stiftung/Alexander Schittko

Mit eingefrorenem Lächeln stakste sie so ungelenk durchs Bild, dass es sogar die bekannte und scharfzüngige Filmkritikerin Renate Holland-Moritz vom Satiremagazin „Eulenspiegel“ einer Erwähnung wert befand: Auffallend, die umwerfend miserable agierende Elevin Jutta Wachowiak… Heulend wollte sie sich von der Filmhochschule exmatrikulieren lassen, so blamabel fand sie sich. Aber was hatte sie ihrer Mutter gesagt: „Ich will ja auch nicht leicht haben.“ Nein, da musste sie durch! Viel zu nah war sie ihrem Traumberuf schon gekommen. Und die ihre Lehrer fanden eher den Film schlecht als sie.

Als ich Jutta Wachowiak 1995 kennenlernte, hatte sie gerade an der Seite von Harald Juhnke in der deutsch-österreichischen Adaption des Fallada-Romans „Der Trinker“ vor der Kamera gestanden. Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf hatte Hans Falladas tragische Geschichte des Unternehmer Erwin Sommer in die Zeit nach der Wende verlegt. Unaufdringlich-präzise ist Jutta Wachowiaks Darstellung der Ehefrau Magda Sommer. Über die Rolle hatte sie sich wahnsinnig gefreut. Es war das erste Mal, dass die damals 53-Jährige nach Jahren wieder vor der Kamera stand. Ihren letzten Film, „Scheusal“ (1990) hatte sie noch für das DDR-Fernsehen gedreht.

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Jutta Wachowiak und Harald Juhnke in „Der Trinker“ Quelle: DW-Kultur-Berlin

6,8 Millionen Zuschauer verzeichnete die ARD bei der Ausstrahlung des „Trinkers“ am 6. Dezember 1995. Was für die Schauspielerin wie ein Comeback in große Fernsehrollen aussah, erfüllte sich nicht. „Ich bekam sehr schöne Briefe von Leuten – die mir was wert sind – aber keine neuen Angebote“, erinnerte sie in unserem Interview drei Jahre später. Natürlich hatte sie darauf gehofft, doch festzuklammern hatte sie sich abgewöhnt. „Dieser Industriezweig, der heute Schauspieler verwertet, hat mich danach so wenig beachtet wie vorher.“

Der Markt war durch den Zulauf an DDR-Schauspielern nach Wende übervoll. Die Filmproduzenten und Casting Agenturen wussten auch kaum etwas anzufangen mit dem Namen Wachowiak, kannten ihn nicht mal. Dem Warten im Abseits begegnete die vormals sehr gefragte Schauspielerin mit Nüchternheit. „Es macht nicht glücklich, aber ich leide darunter nicht. Das Leben von Frauen zwischen 50 und 65 interessiert keinen, deshalb gibt es auch kaum gute Rollen für uns. Die Zeiten großer Filme, wie wir sie bei der DEFA und im DDR Fernsehen gedreht haben, sind ohnehin vorbei.“

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Jutta Wachowiak (M.) 1986  in dem DEFA-Film „Das Haus am Fluss“ von Roland Gräf. Die Fischersfrau Voß lebt mit ihren beiden Töchtern, der und Schwiegertochter und dem Schwiegersohn Jupp an einem großen Strom. Es ist das Jahr 1942 und der Krieg zieht auch hier ein ©DEFA-Stiftung/Dietram Kleist

Diese Vielseitigkeit anspruchsvoller Rollen vermisst sie. Eine ihrer intensiven Figuren war zum Beispiel die Hebamme Christine in Heiner Carows Mutter-Tochter-Film So viele Träume“ aus dem Jahr 1985. Im gleichen Jahr stand sie bei Roland Gräf in der tragischen Kriegsgeschichte „Das Haus am Fluss“ vor der Kamera. Jutta Wachowiak hält nicht viele Rollen, in denen sie in den Jahren nach der Wende vor der Kamera gestanden hat, für erwähnenswert. Da waren 1995 kleine, feine in der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ und „Nikolaikirche“. 1996 spielte sie in dem 12-minütigen Kurzfilm „Fremde Heimat“ von Damir Lukacevic eine der drei Frauen, deren Schicksal er erzählt. Der Film gewann den Bundesfilmpreis in Gold.

Die Zeit in Essen gehörte der Bühne und ihrer seelischen Genesung. Hier kam sie iirgendwann wieder bei sich an. „Es ist mir tatsächlich gelungen, wieder gesund zu werden. Das war ein mühsamer und sehr schwerer Weg“, schrieb sie mir in einer Mail. Sechs Jahre hatte sie keine Filmrollen angenommen. Zuletzt agierte sie 2004 in der TV-Biografie über die Schriftstellerin Brigitte Reimann als deren Mutter. Erst nach ihrer Rückkehr 2009 nach Berlin und auf die Bühne, kehrte die Schauspielerin  in einer kleinen Gastrolle in dem sozialkritischen ARD-Gesellschaftsdrama „Wohin mit Vater“ auch auf den Bildschirm zurück. Sie wollte wieder dabei sein. Es folgten Parts in der ZDF-Krimi-Reihe „Bella Block“ und der Beziehungskomödie Nach all den Jahren“.

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Sie knacken den 30-Millionen-Jackpot (v.l.):  das schwule Paar Otto (Ulrich Pleitgen) und Jacob (Joachim Bliese), die gutmütige Rosi (Ursula Karusseit), das liebesmüde Ehepaar Günter (Dieter Mann) und Karin (Jutta Wachowiak) und der alternde Lebemann Conrad (Michael Gwisdek) Altepflegerin Ursula (Marie Gruber, M.) sorgt sich um die sechs ©ARD Degeto/Arvid Uhlig

Zu ihren schönsten Rollen der letzten Jahre  gehört die lebensfrohe, rüstige Karin in der ARD-Tragikomödie „Die letzten Millionen“, die mit ihrem griesgrämigen Mann Günter in einem Seniorenheim wohnt. Der wird gespielt von ihrem großartigen Kollegen Dieter Mann vom Deutschen Theater, 1984-1991 Intendant des Hauses. Mit ihm spielte sie auch in Thomas Langhoffs Inszenierung Der Biberpelz“ auf der Bühne. „Die letzten Millionen“  sind eine wundervolle Ensemblearbeit herausragender Schauspieler, zu denen noch Ursula Karusseit, Marie Gruber, Swetlana Schönfeld, Michael Gwisdek, Ulrich Pleitgen, und Joachim Bliese gehören.

Jutta Wachowiak hat es geschafft, wieder dabei zu sein. Ihre kleine Rolle als lebenserfahrene Oma in dem Drama „Hanne“ war ein Highlight für mich. Zwei Hauptrollen im „Prag Krimi: Der kalte Tod“ und im „Polizeiruf 110: Mörderische Dorfgemeinschaft“ lassen auf mehr hoffen. Jutta Wachowiak steht im 80. Lebensjahr. Ich habe sie damals, vor 25 Jahren, gefragt, was sie sich für die kommende Zeit noch wünscht. Die Antwort: „Eine Rolle in einem richtig schönen Menschenfilm, wo zugegeben wird, dass das Leben wunderbar und erbarmungslos ist. Und eine schöne alte Frau möchte ich sein, äußerlich und innerlich.“ Letzteres hat sich aus meiner Sicht schon erfüllt. An der Sache mit dem Film könnten die Drehbuchschreiber noch arbeiten. Da ist noch Luft nach oben.

Wintersonnenwende
Zu Hochform lief Jutta Wachowiak 2015/16 als Corinna in Roland Schimmelpfennigs „Wintersonnenwende“ auf. Das Stück zeichnet ein genaues Bild der gegenwärtigen Mitte der Gesellschaft und kratzt dabei an der Wunde des schlimmsten Kapitels deutscher Geschichte. ©DT/Arno Declair

Ein Gedanke sei noch gesagt: Der Solo-Abend „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ ist mehr als eine Selbstreflexion der Schauspielerin über ihr Leben. Dabei sein heißt für sie, die zurückgewonnene Kraft nutzen, um sich unser Leben nicht immer von den erzählen zu lassen, die nicht dabei waren. „Für mich ist die Inszenierung auch ein Versuch, die offizielle Geschichtsschreibung ein wenig gerade zur rücken“, heißt es im Programmheft. Deshalb erzählt sie ihr Leben auch auf westdeutschen Bühnen wie Köln und Braunschweg.  Mag sein, dass es nicht allen Zuschauern gelingt, die Zusammenhänge bis ins Letzte zu erfassen – dafür muss man sich auskennen mit der DDR. Aber jeder Abend endet für die Schauspielerin mit dem wundervollen Gefühl, dass das Publikum ihr zugehört hat, sie zu verstanden hat. Dass sie es mit ihrer Botschaft erreicht hat.

Claudia Wenzel über ihr geteiltes Leben, Freiheit, Karriere gestern und heute

Freundschaft heißt nicht, tagtäglich miteinander zu reden. Aber wenn es wichtig ist. Und da ist es egal, wer wen anruft. Zwischen einer Journalistin und einer Schauspielerin sind das Momente, wo letztere etwas zu erzählen hat oder auch, wenn ein runder Geburtstag ins Haus steht. Also bekam ich, die Journalistin, von Claudia Wenzel, der befreundeten Schauspielerin, ein paar Tage von ihrem 60. Geburtstag eine SMS: „Liebe Bärbel, ich werde 60… Hurra! Wollen wir was machen?“

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Claudia Wenzel bei den Dreharbeiten im August 2019 für den Bergdoktor. Selfi  mit Hans Sigl

Ich kenne Claudia seit über 20 Jahren als jemanden, der auch anklopft, wenn es ihm wichtig ist. Und das finde ich in Ordnung. Ihr Zeitplan wird derzeit von den Dreharbeiten für die ZDF-Serie „Der Bergdoktor“, Proben für die Weihnachtskomödie „Alle unter eine Tanne“ am Kölner Theater am Dom – Premiere ist am 7. November – bestimmt. Nachdem sie im vorigen Jahr mit dem Stück „Wunschkinder“ ohne ihren Mann, den Schauspieler Rüdiger Joswig, durch 63 Städte getourt war, spielen beide hier nun wieder zusammen. Mit einer speziell für sie geschriebenen Geschichte wird Claudia Wenzel als Vera Bader ab 26. November wieder intensiv in der Serie „In aller Freundschaft“  dabeisein. Um den Zuschauern die Spannung nicht zu nehmen, verrät die Schauspielerin nur, dass die bisher intrigant und skrupellos angelegte Figur Veränderungen durchmacht. Und dann natürlich ist ihr Geburtstagsjubiläum, das am 21. September war, ein Grund, um in der Schatulle ihres Lebens zu kramen. Was war, was ist, und wohin sie noch möchte.

Claudia Wenzel und Ruediger Joswig
Gespräch mit Rüdiger Joswig und Claudia Wenzel (r.) in der Ausstellung „Mauerbilder” ihres Vaters Manfred Wenzel  am 3. Novmeber 2014 in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt in Berlin Foto: Michael Handelmann

Es mag Zufall sein, dass unser letztes Interview genau (schon) fünf Jahre zurückliegt. Zusammen mit ihrem Mann, Schauspieler Rüdiger Joswig, saßen wir am 3. November 2014 in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt in einer Ausstellung mit Bildern ihres Vaters Manfred Wenzel. Der Wittenberger Maler war 1990/93 mit dem Fahrrad entlang des Mauerstreifens in und um Berlin gefahren und hat in seinem Gemäldezyklus „Mauerbilder“ festgehalten, was er erlebte und entdeckte. Claudia hatte die Ausstellung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls initiiert und kuratiert. Wir haben damals über ihre Hoffnungen und Erwartungen gesprochen, die sie mit dem Ende der Teilung Deutschlands verbanden, wie ihr Rückblick auf das verlorene Land ist, die Zeit des Umbruchs.

Daran kommen wir auch in unserem jetzigen Gespräch nicht vorbei. Die Wendezeit war für sie auch eine Lebenswende. Sie spielte damals am Schauspiel Leipzig. „Wir wollten eigentlich seit Tagen Goldonis Stück Das Lügenmaul probieren. Aber wir haben nur gesessen und diskutiert. Es gab ja bei aller Freude auch Verunsicherung. Wie würde es weitergehen mit dem Land, mit dem Theater. Ich war auf einmal politisch aktiv, wie ich es bis dahin nie war“, erinnert sie sich. „Niemand hat damit gerechnet, dass mit dem Vereinigungsprozess nicht nur der Staat DDR verschwand, sondern auch alles, was unser Leben, unsere Biografien ausgemacht hat. Ich weiß, dass ich zu den Glücklichen gehöre, denen es gut geht, weil sie Arbeit haben.“ Dennoch entgeht ihr nicht, was sich in der Gesellschaft heute abspielt.

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Einladung zur Lesung „Zeitenwende – Lebenswende“ von Claudia Wenzel und Rüdiger Joswig zeigt das Bild „Mauerspechte“ von Manfred Wenzel

Haltung zeigen, sich positionieren lässt die Schauspielerin nicht nehmen. Seit 30 Jahren sind die Grenzen offen, doch immer noch trifft die Schauspielerin in den westlichen Bundesländern auf Menschen, die nichts über den Osten wissen. „Ich bin erschrocken, wie viele negative, falsche und verquaste Ansichten es gibt. Dass der Osten immer in die rechte Ecke geschoben wird, ist nicht zu akzeptieren. Die AfD entstand nicht aus dem Nichts, und dass sie von so vielen – Ost wie West – gewählt wurde, dass sie im Bundestag sitzt, muss als Warnzeichen ernst genommen werden. Man sollte jemanden, der sich in Diskursen auf Themen bezieht, die die AfD für ihre Zwecke okkupiert hat, nicht einfach platt als rechts oder Nazi diffamieren.”

Mit ihrem Mann hat sie das Projekt „Zeitenwende – Lebenswende“ entwickelt. Sich einzubringen, aufzuklären aus den eigenen Lebenserfahrungen mit der deutsch-deutschen Geschichte heraus ist beiden Schauspielern wichtig. „Rüdiger und ich haben die DDR ja sehr verschieden erlebt. Er hat das Land verlassen, weil er die politische Diktatur nicht mehr aushielt. Ich bin geblieben, weil ich dachte, es können doch nicht alle gehen, denen es nicht mehr passt oder die vom Staat in die Enge getrieben wurden. Es müssen doch welche bleiben, die etwas verändern.“

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Claudia Wenzel als Hexe Hella in „Meister und Margerita“ 1985 am Schauspielhaus Leipzig Foto: Heinrich Pawlick/Privatarchiv C. Wenzel

Von jedem ihrer Gastspiele im Westen kehrte sie wieder zurück, wenngleich es ihr zunehmend schwerer fiel. „Ich habe dort ein großes Gefühl von Freiheit erlebt, das mir in der DDR fehlte. Mit dem Abstand von der anderen Seite hat man gemerkt, dass da ein ganzes Volk wirklich eingesperrt wird, wie sehr wir doch in einer Diktatur leben.“ Aber sie hat auch gesehen, dass der Teil des Landes, in dem sie geboren wurde, mehr für das büßen muss, was Deutschland mit dem zweiten Weltkrieg an Verbrechen von 1939 bis 1945 begangen hatte. Das war für mich damals so ein krasser Widerspruch. Von da an habe ich die DDR mit anderen Augen gesehen.“

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Die Schauspielstudentin Claudia Wenzel 1981/82 als Gretchen in „Faust I“ am Schauspielhaus Leipzig Foto: Helga Wallmüller/Privatarchiv C. Wenzel

Claudia Wenzel hätte schon bei ihrem ersten Gastspiel mit dem Leipziger Schauspielhaus 1982 in Mannheim bleiben können. Sie gab das Gretchen im „Faust I“ so mitreißend, dass man ihr ein Engagement mit verlockender Gage anbot. Sie zog jedoch nicht einmal in Erwägung, es anzunehmen. Zuviel stand für ihre Familie in Wittenberg auf dem Spiel. „Ich konnte mir ausrechnen, welche Schikanen auf meine Eltern und Geschwister zugekommen wären. Ihre Biografien zu zerstören, nur weil ich ein anderes Leben führen wollte, hätte ich mir nie verzeihen können. Das saß mir schon im Nacken“, reflektiert sie die Zeit.

Prägungen.

Claudia Wenzel wuchs mit vier Geschwistern in einem Akademikerhaushalt auf. Beide Eltern waren Lehrer. Ihr Vater Manfred Wenzel lehrte Kunsterziehung und malte. „Wir Kinder waren ziemlich zeitig auf uns selbst gestellt, weil keiner von uns unbedingt in den Hort gehen wollte“, erzählt Claudia. Sie verbrachte viel Zeit im Atelier ihres Vaters. Bildbände über Picasso und Beckmann waren ihre Bilderbücher. Das Familienleben der Wenzels war gut organisiert. „Jedes von uns Kindern wurde in seinen Neigungen gefördert. Meine Schwestern gingen zum Schwimmen, lernten Klavierspielen, mein Bruder nahm Gitarrenunterricht, und ich bin mit 12 Jahren auf die Kinder- und Jugendsportschule gekommen.“ Am Ende des Tages saß man zusammen am Abendbrottisch, die Kinder erzählten, was sie gemacht haben. Auch wenn das Lehrergehalt gut war, kam es vor, dass das Geld in der Familie Wenzel zum Monatsende sehr knapp wurde bei den fünf Kindern. „Dann gab es die letzten drei Tage nur Brot mit Butter. Das fanden wir nicht schlimm.“

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Claudia Wenzel mit ihrem Vater und ihren Schwestern Sylvia (r.) und den Zwillingen Monika und Cornelia (l.) vor einer Porträtwand in der Ausstellung zum 85. Geburtstag des Malers Foto: Privatarchiv C. Wenzel

Höhepunkte waren die Pakete ihrer Oma aus Bayern. Die Familie ihres Vaters stammte aus Schönlinde, bis Kriegsende Sudentengebiet, von wo sie 1946 vertrieben wurde und nach Wittenberg übersiedelte. 1949 zog Oma in den Westen, ihre beiden Söhne blieben in der DDR. „Es war für sie sehr schwer, ihre Familie so weit entfernt zu haben“, erzählt Claudia. „Sie besuchte uns jeden Sommer und agitierte meine Eltern, doch in den Westen zu kommen. Meine Eltern wollten das nicht. Obwohl sie nicht in der Partei waren, standen sie zu dem Land. Wir Kinder verstanden nicht, warum wir aus Wittenberg weggehen sollten. Uns ging es gut- Hier waren wir zu Hause, das war unsere Heimat.”

Bei den Wenzels wurde sehr offen gesprochen, politisch diskutiert. Ihr Zuhause hat Claudia und ihre Geschwister geprägt, kritisch zu sein, aber gleichzeitig wertzuschätzen, was ihnen der sozialistische Staat gab. „Das war angefangen vom kostenfreien Bildungssystem über kulturelle Teilhabe für alle und die Unterstützung für kinderreiche Familien nicht wenig“, erzählt die heute 60jährige Schauspielerin. Was alle bedrückte, war die fehlende Freiheit, so offen auch außerhalb der vier Wände Probleme zu benennen. „Ab einem bestimmten Alter wussten wir, was nicht nach außen getragen werden durfte, weil es schaden könnte. Immer aufpassen zu müssen, was man wo und wie sagt. Diese Doppelmoral oder Zweizüngigkeit leben zu müssen, war belastend.”
Ein Anliegen ihres Projektes „Zeitenwende – Lebenswende“ ist es deshalb auch, in Diskussionen mit jungen Leuten zu kommen und ihnen die Augen dafür zu öffnen, dass Freiheit kein Selbstläufer ist, nicht selbstverständlich. In der DDR eckte sie als rebellische Künstlerin am Theater oft an. „Heute“, sagt sie, „haben wir eine Demokratie, die Meinungsfreiheit ist Verfassungsrecht.”

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1982 spielte sie – hier mit Ulrike Krumbiegel – ihre erste Filmrolle in der DEFA-Gegenwartsgeschichte „Schwierig, sich zu verloben“ Foto: Goldmann & Bangemann/DEFA-Stiftung

Die Schauspielerin.

Olympiasiegerin wollte sie werden, gehörte an der KJS in Leipzig zu den Besten. Ein Achillessehnenriss beendete diese Karriere ehe sie begonnen hatte. Trotz schrecklicher Schmerzen war sie dankbar, wie sie heute sagt. Ihr Kindertraum rückte in den Fokus. „Ich habe noch einen Aufsatz aus der 2. Klasse, in dem steht, dass ich Schauspielerin werden möchte.“ Ihre Großmutter Ida, die aus Bayern, hat Saatkorn in ihre Kinderseele gelegt. Sie erzählte ihrer Enkelin, von dem Tanzsaal im Gasthof ihrer Eltern in Krásná Lípa, wie Schönlinde heute heißt, in dem sie mit selbstgeschriebenen kleinen Stück aufgetreten ist.

In einer Hauruck-Aktion verließ Claudia die KJS, kehrte zurück nach Wittenberg, machte ihr Abitur und suchte nach Möglichkeiten, Schauspielerin zu werden. Rolf Colditz, ein bekannter Bühnenschauspieler aus Halle, beriet sie. Mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Eckhardt, bekannt als Musiker Wenzel, studierte sie zum Vorsprechen Bertolt Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ ein. Im September 1978 Jahren begann sie als eine der Jüngsten ihr Studium an der Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig, bekam nach dem Diplom 1982 ein Engagement am Schauspiel Leipzig. Sie reüssierte in Rollen wie der Mascha in „Drei Schwestern“ oder der Hexe Hella in „Meister und Margerita“. Da machte sie Furore, weil sie nackt auf der Bühne stand. „Für die Zuschauer war das erst einmal ein Schock“, erinnert sie sich amüsiert. „In einer Talkshow hat mir Sebastian Krumbiegel von den Prinzen erzählt, dass er wegen mir dreimal in der Vorstellung gewesen ist.“ Neben ihrer Theaterarbeit machte sie in DEFA- und Fernsehproduktionen auf sich aufmerksam. Mit Wucht und wehenden Locken wirbelte sie als umtriebige Tochter des Zahnarztes Dr. Wittkugel durch die beliebte DDR-Serie „ Zahn um Zahn“.

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Claudia und ihr Mann Rüdiger in Sorrento an der Amalifi Küste. Sie feierten hier seinen 70. Geburtstag. Sie leben seit 27 Jahren zusammen, seit 2003 als Ehepaar. Kennengelernt haben sie sie 1984 am Theater in Leipzig Foto: Privatarchiv C. Wenzel

Mit genau solchem Schwung gelang ihr als Fanny Moll in der Serie „Unser Lehrer Doktor Specht“ 1990 der Einstieg ins gesamtdeutsche Fernsehen. „Dass es so kam, verdanke ich dem glücklichen Umstand, dass die französische Besetzung für die Rolle eine Woche vor Drehbeginn absagte und Regisseur Werner Masten in Berlin vor dem Fernseher saß und DDR-Serie „Klein, aber Charlotte” anschaute, in der ich mitspielte. Er ließ mich kommen, beguckte mich von allen Seiten und sagte mir, dass ich in zwei Tage in Celle drehen müsste.” Sie nutzte die Gunst der Stunde, packte in Leipzig ihre Koffer. „Es war einer meiner mutigsten und besten Entscheidungen, aus einem festen Engagement zu gehen und etwas Neues anzufangen”, erzählt Claudia Wenzel. Kein Jahr seitdem, in dem sie nicht auf dem Bildschirm in Serien, Krimis oder Schmonzetten zu sehen war.

Vielleicht liegt es an ihrer Haarpracht, die einem unweigerlich ein „Wow“ entlockt. Vielleicht an ihrem Auftreten, mondän, mit einer Körpersprache, die sie unterkühlt, stolz und zielbewusst wirken lässt, dass Regisseure und Produzenten in ihr Figuren sehen, die eiskalt berechnend, intrigant bis skrupellos ihre Interessen durchsetzen. Ein Rollenbild, das sie bis zur Perfektion trieb. Ihr besonderes Talent dazu deutete sich in der Serie „Dr. Stefan Frank  – der Arzt, dem die Frauen vertrauen“ an, in der sie sieben Jahre die scheinheilige, heuchlerische Klinikchefin Irene Kadenbach spielte.  Am Ende standen für ihre Figuren immer zerbrochene Beziehungen, nicht selten das Gefängnis. So ihr Schicksal als PR-Agentin der bösartigen und verlogenen Cora Franke in der Serie „Sturm der Liebe“, die den Fürstenhof 2006 mit Lug, Trug und Mord aufmischte. Schauspielerisch brachte die intensive fünfmonatige Drehzeit Claudia Wenzel weiter. „Ich bin durch das hohe Pensum, das in einer Telenovela abgeleistet werden muss, schneller und flexibler geworden.“ Auch Vera Bader kehrte bei ihrem ersten Comeback 2017 aus dem Gefängnis in die Sachsenklinik zurück.

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Am 26. November mischt die Schauspielerin als Vera Bader wieder das Leben der Ärzte und Schwestern in der Sachsenklinik auf. Foto: Privatarchiv C. Wenzel

„Als Schauspielerin möchte ich natürlich viele Facetten zeigen, unterschiedliche Charaktere spielen“, sagt sie. Dass sie das kann, bewies sie überzeugend in dem Rosamunde-Pilcher-Film „Das Gespenst von Cassley“ als feinfühlige, abergläubische Lady Susan. Die Fans der Serie „Verbotene Liebe“ erlebten drei Jahre Claudia Wenzel als Hippie-Mutter Vashanti Schulz in ihrem wohl extremsten Rollenkontrast. „Wenn die Produzenten mich nicht anders als Geschäftsfrau oder Biest sehen wollen, dann nicht. Pech gehabt.“ Nach 40 Jahren einer erfolgreichen Schauspielkarriere leistet sie sich diese Umkehrung. „Ich habe da einen Abstand gewonnen, der mir guttut.“ Am Ton ihrer Stimme höre ich, dass es sie tief innen dennoch verletzt, nur in dem Klischee der Bösen gesehen zu werden.

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Bei den Luisenburg-Festspielen 2015 in Wunsiedel reüssierte das Ehepaar Wenzel/Joswig als Titania und Oberon in Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ © Privatarchiv C. Wenzel

Ihr Gleichgewicht als Schauspielerin findet sie schon seit langem wieder auf der Bühne. Oft und gern zusammen mit ihrem Mann Rüdiger Joswig. „Bei uns gibt es keine Hemmschwellen, wir können uns fallen lassen, uns erotisch nähern, ohne die Professionalität zu verlieren.” So wurde ihre Theater-Tournee mit dem Stück „The Blue Room“ für das Publikum ein absoluter Genuss. Auf diesen Mann, ihren Traumprinzen, hat Claudia Wenzel lange gewartet. Und ohne die Wende hätten sie sich nie gefunden. Sie lernten sich 1984 am Theater in Leipzig kennen. Er hatte die Rolle eines erkrankten Kollegen im „Raub der Sabinerinnen“ übernommen. „Wir waren beide noch verheiratet und Rüdiger hatte seit 1982 einen Ausantrag laufen. Das waren die denkbar schlechtesten Bedingungen für eine Beziehung. Also beließen wir es beim Flirten.” 1987 siedelte der Rüdiger Joswig nach Westberlin über. Ende der Geschichte. Mitnichten. 1990, die Grenzen waren offen, sie hatte die Rolle als Fanny Moll in „Doktor Specht“, zog Claudia Wenzel nach Berlin-Charlottenburg. Sie wollte den Westen spüren. Zwei Jahre später begegnete sie Rüdiger wieder. „Ich war inzwischen geschieden, er noch nicht.“ Heimliches Zusammenleben bis auch er 1994 auch frei war. „Wir haben uns als Paar gefunden und genießen unser gemeinsames Leben jeden Tag. Ich habe früher nie gedacht, dass man bis ins Alter auf allen Strecken so gut miteinander kann.”

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In der Broadway-Komödie „Wanja und Sonja und Mascha und Spike“ tourten sie durch Niedersachsen Foto: B.Bischoff

Bleibt noch die Frage offen, was sie in der Zukunft noch erwartet. „Ich habe immer große Erwartungen an meinen Beruf, in dem man nie aufhört zu lernen”, sagt sie. Eine Rolle in einem Kostümfilm hat sie noch nicht gespielt, das wäre schön. Aber mehr noch das: „Es ist mir in den 30 Jahren seit dem Mauerfall nicht gelungen, in einer der vielen Geschichten mitzuspielen, die sich mit der DDR oder unserer jüngeren Vergangenheit beschäftigen. Das bedauere ich sehr. Ich würde mich gern in einem politischen Film beweisen.

 

Schauspielerin Swetlana Schönfeld: Ihre Wiege stand in einer Holzbaracke im GULag Kolyma

Es war kein guter Ort, an dem Swetlana Schönfeld am 9. September 1951 das Licht der Welt erblickte und die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbrachte. Nicht gut für sie, nicht für ihre Schwester Ludmilla. Vor allem nicht für ihre Mutter Betty Schönfeld, eine deutsche Kommunistin, die als 21-Jährige voller Enthusiasmus in das erste kommunistische Land gereist war.

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Die Schauspielerinnen Barbara Schnitzler, Karoline Eichhorn und Alexandra Maria Lara bei den Dreharbeiten als GULag-Insassinnen. „Wir haben in nassen, schweren Klamotten bei minus 13 Grad im Januar 2018 Bäume gefällt. Da musste man die Erschöpfung nicht spielen.“ ©mafilm/Arnim Thomaß

Der Ort heißt Kolyma, benannt nach dem Fluss, der die Landschaft mit ihren grenzenlosen Wäldern und Gebirgen im fernöstlichen Sibirien mehr als 2.100 Kilometer durchzieht. An den Ufern ließ Stalin unter dem Zeichen des Sowjetsterns, der den Kommunisten der Welt als Symbol des Fortschritts, der Menschenwürde galt, GULags – Arbeitslager – errichten. Hunderttausende wurden hier verschleppt, um die unwirtlichen Regionen urbar zu machen. Sie bauten in arktischer Kälte die 2000 Kilometer lange Kolyma-Trasse, eine der gefährlichsten Straßen Russlands, schürften Gold, förderten Uran und Zinn aus der metertief gefrorenen Erde oder den Bergen. In den 30er Jahren wurde Kolyma die Hochburg stalinistischer Repressionen, die Heimat der Angst und des Schreckens. Als die politischen Säuberungsaktionen gegen Oppositionelle und Gegner Stalins in der Zeit des Großen Terrors 1936-38 ihren Höhepunkt erreichten, wurden auch viele deutsche Kommunisten und Emigranten unter Scheinvorwürfen verhaftet, erschossen oder zur Zwangsarbeit in GULags verurteilt. 18 Millionen Menschen waren von 1930 bis 1953 in den Lagern inhaftiert. Mehr als 2,7 Millionen starben in dieser Zeit im Lager oder in der Verbannung. 1937 wurde auch die 27-jährige Betty Schönfeld nach in einem politischen Schauprozess zu Zwangsarbeit in Kolyma inhaftiert. Sie überlebte den GULag und kam mit ihren beiden Töchtern 1957 in die DDR.

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Eigentlich wollte ich ein Doppelinterview mit Swetlana Schönfeld & Barbara Schnitzler machen. Letztere machte mich auf die Geschichte ihrer ehemaligen Kommilitonin von der Schauspielschule aufmerksam. Deshalb traf ich mit  beiden. Doch am Ende wurde es die Geschichte von Swetlana Schönfelds Mutter, der Kommunistin Betty Schönfeld  ©Vivian Wild/SUPERillu

Mich erwartete kein leichtes Gespräch, als ich mich mit Schauspielerin Swetlana Schönfeld traf, um mit ihr über ihre Mutter zu sprechen, über eine Zeit, die sie tief in sich versenkt hat und nicht hervorholen wollte. Wenn sie früher nach ihrem Geburtsort gefragt wurde, sagte sie nur: „Ich komme aus der Sowjetunion.“ Warum Kolyma erwähnen, sie wusste als Kind ja selbst nichts über den Ort. Für Lebensläufe gab es Vordrucke. Da reichte es auch, wenn sie hinter die Frage nach dem Vater „tot“ schrieb.

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Szene aus dem Kinofilm „Und der Zukunft zugewandt“. V. l.: Antonia Berger (Alexandra Maria Lara), Susanne Schumann (Barbara Schnitzler) und Irma Seibert (Karoline Eichborn) erhalten überrraschend ihre Entlassungspapiere. Nach 20 Jahren im GULag sind sie frei und dürfen nach Hause ©mafilm/Arnim Thomaß

Mein Anlass für das Gespräch war Bernd Böhlichs Film Und der Zukunft zugewandt, der zurzeit in den Kinos läuft, und eng an die Biografie von Betty Schönfeld angelehnt ist. Er bringt ein bis heute weithin unbekanntes Kapitel unserer jüngeren Vergangenheit ans Licht. Böhlich, in der DDR verwurzelt, will Fragen beantworten, die bislang nicht gestellt wurden. Die er sich selbst erst stellte, nachdem er durch Zufall auf das Thema stieß. Wie erging es denen, die aus den sowjetischen GULags in die Heimat zurückkehrten? In die DDR, ein Land, das sich nach dem Sieg über den Faschismus beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft an der Sowjetunion orientierte. Wie ist man umgegangen mit denen, die sich der Idee des Kommunismus verschrieben haben und dann das Unfassbare erlebten, von den eigenen Genossen denunziert, zu Verrätern gestempelt, erniedrigt und gequält zu werden? Seine Geschichte ist ein sorgfältig inszeniertes Drama über Idealismus und politischen Machtmissbrauch, aber auch eine Geschichte über eine Liebe, die an einer Lüge aus „Einsicht in die Notwendigkeit“ zerbricht. Mit diesem Argument wurden bis zur Wende Gängelung in Reise- und Meinungsfreiheit, kritikwürdige Entscheidungen der Partei- und Staatsführung der DDR von jenen toleriert, die fest überzeugt waren, auf der richtigen, der besseren Seite der Welt zu stehen.

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Antonia Berger (A. M. Lara) besucht mit ihrer Tochter Lydia (Carlotta von Flakenhay) ihre Mutter (Swetlana Schönfeld), der sie nicht erzählen darf, warum sie sich über 20 Jahre nicht gemeldet hat. Kameramann des Films war Thomas Plenert ©mafilm/Arnim Thomaß

Bernd Böhlich stellt in seinem Film, den er 1952/53 in der Zeit des Stalinismus in der DDR ansiedelt, die Kommunistin Antonia Berger in den Mittelpunkt.
Nach 20 Jahren GULag und Verbannung in Sibirien kommt sie mit ihrer schwerkranken Tochter nach Fürstenberg. Hier entsteht gerade die erste sozialistische Stadt. Ihre Vision von einer besseren Welt scheint sich zu erfüllen. Die Genossen öffnen ihr die Tür zu einem neuen Leben, das Sicherheit, Arbeit, Wohnung bringt. Doch es wird ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie Stillschweigen über ihre Zeit im GULag bewahren muss. Um den jungen Staat zu schützen, der im Innern noch viele Zweifler und Feinde hat. Es werde die Zeit der Wahrheit kommen, verspricht man ihr. Nach dem Tod Stalins versucht Antonia dieser Lebenslüge zu entkommen und stößt mit ihrer Wahrheit auf Widerstand. Niemand will hören, welche Verbrechen das große Vorbild Stalin im Namen des Kommunismus begangen hat. Ihr Geliebter Konrad Zeidler, der sein bürgerliches Leben als Arzt in Hamburg verlassen hat, weil er an die Idee des Kommunismus glaubt, verlässt sie und die DDR enttäuscht. Antonia resigniert, aber sie bleibt.

Frau Schönfeld, Regisseur Bernd Böhlich macht in seinem Film am Schicksal Ihrer Mutter ein Thema publik, das in der DDR totgeschwiegen wurde. Wie kam es dazu?
Lange vor der Wende brachte ihn ein Zufall auf das Thema. Wir drehten 1988 einen „Polizeiruf 110“ an der Ostsee. Beim Einchecken an der Hotelrezeption sah er auf meinem Ausweis, dass ich in Kolyma geboren bin und fragte nach. Viel konnte ich ihm damals nicht erzählen, denn ich kannte nur Bruchstücke der Biografie meiner Mutter. Sie ist Fragen über Sibirien immer ausgewichen. Dass sie nicht reden durfte, wusste ich all die Jahre nicht. Im Film wird zum ersten Mal ausgesprochen, dass alle, die aus den sowjetischen GULags kamen, zum Schweigen darüber verpflichtet wurden.

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Schauspielerin Swetlana Schönfeld während meines Interviews mit ihr im Juli 2019 zu Bernd Böhlichs „Und der Zukunft zugewandt“ ©Vivian Wild/SUPERillu

Wann haben Sie mehr erfahren?
Nach dem Tod meiner Mutter 1999 hatte ich die Möglichkeit, die Vernehmungsprotokolle, Dokumente und Briefe zu bekommen. Sie hätte zu ihren Lebzeiten nie zugelassen, dass meine Schwester und ich das lesen. Das Material habe ich dann Bernd Böhlich gegeben. Er bekam so ein Gespür, wie diese Frau gelebt, geatmet hat. Wie sie darauf reagiert hat, schweigen zu müssen. Damit begann seine Arbeit am Drehbuch. Bernd Böhlich hat es fertiggebracht, dieses große Thema in klare Geschichten einzuordnen, sodass es im Kontext stimmig blieb.

Ein Argument des Parteifunktionärs im Film war: „Die Wahrheit ist das, was uns nützt.“ Wie stand Ihre Mutter dazu?
Sie hat sich immer ihre Anständigkeit bewahrt, hatte zu nichts eine korrupte Haltung. Aber sie ist mit dem Schweigen irgendwie nicht umgegangen. Es herrschte zwischen Ost und West Kalter Krieg, da gab es für meine Mutter Wichtigeres. Es ging um den Aufbau einer Gesellschaft als Alternative zum Kapitalismus. Im Nachhinein denke ich, was für eine erstaunlich tolle Frau sie war. Mit dieser Geradlinigkeit, diese ganze Sache zu leben und das Maß zu finden.

Wie sind Sie mit dem Schweigen umgegangen?
Anders als das Leben meiner Mutter ist mein Leben ist stabil verlaufen. Ich habe durch den Beruf die Chance, Dinge zu kompensieren.

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Familienkonstellation: Swetlana Schönfeld spielt Waltraud Kessler, die Mutter der Filmheldin Antonia Berger (Alexandra Maria Lara). Carlotto von Falkenhayn ist ihre Enkelin Lydia

Die Figur Ihrer Mutter wird eindrucksstark von der Schauspielerin Alexandra Maria Lara verkörpert. Sie haben die Rolle ihrer Mutter, also Ihrer Großmutter, übernommen.
Ich wollte überhaupt nicht mitspielen. Aber Bernd Böhlich war das wichtig. Meine Großmutter habe ich selbst nie kennengelernt. Alexandra Maria Lara hat mit ihrer authentischen Darstellung sehr viel vom Wesen meiner Mutter erfasst. Wie in der Szene im Kulturhaus, als sie den Kreissekretär für Landwirtschaft, der sie anschreit, ruhig und gefasst verbessert, obwohl sie das innerlich sehr aufgewühlt hat.

Stalins Verbrechen sind neben dem Faschismus die zweite große gesellschaftliche Tragödie des 20. Jahrhunderts. Die junge Generation heute hat davon keine Ahnung. Warum ist Ihre Mutter in die Sowjetunion gereist? Was hat sie dort gemacht, dass man sie wegen konterrevolutionärer Umtriebe verhaftet hat?
Meine Mutter war 1929, mit 19 Jahren, in die KPD eingetreten. Sie spielte im Berliner Arbeitersportverein „Fichte“ Tennis und engagierte sich in der Agitprop-Truppe  „Kolonne Links“. 1932 lernte sie den sowjetischen Kommunisten Dmitri Jegarew kennen, der in Berlin für die Kommunistische Internationale tätig war. Sie wurde Mitglied der Komintern, um mit ihm nach Moskau zu gehen. Dort arbeitete meine Mutter im Hotel Lux, wo das Gästehaus der Komintern untergebracht war, als Sekretärin im Büro von Wilhelm Pieck, dem späteren DDR-Präsidenten. 1935 wurde Jegarew vom NKWD, dem gefürchteten „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“, als Anhänger des Trotzkismus verhaftet und erschossen. Meine Mutter schloss man wegen dieser Beziehung 1936 aus der KPD aus. Im Juni 1937 ist sie in einer Nacht und Nebelaktion vom NKWD aus ihrem Zimmer geholt und in die berüchtigte Lubjanka gebracht worden. In einem Schnellprozess wurde sie zu Zwangsarbeit und Verbannung in Kolyma verurteilt. 20 Jahre verbrachte sie in der Hölle.

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Swetlana Schönfeld erzählt, dass sie sich die Akten ihrer Mutter, die sie 1999 bekam, nicht allein sehen konnte. Beim Filmfestival im indischen Goa, bei dem der Film ausgezeichnet wurde, erfuhr Babara Schnitzler erstmals, warum Swetlana während des Studiums nie über ihrer Kindheit gesprochen hat ©Vivian Wild

Wer aus dem GULag entlassen wurde, musste sich in Kolyma ansiedeln. Auch Ihre Mutter war ein sogenannter Arbeitssiedler. Nach Ende ihrer Lagerhaft 1947 wurden über sie noch zehn Jahre Verbannung verhängt. Sie und Ihre Schwester kamen dort zur Welt. Woran können Sie sich erinnern?
Es gibt kleine traumatische Erlebnisse, die ich nicht erzählen will, weil ich sie nicht in mein Leben reinlassen möchte. Wir wohnten in einer Holzbaracke, die kaum vor der eisigen Kälte schützte. Es gab ein Stück Land, um Kartoffeln und Gemüse anzubauen. Ich kann mich nicht erinnern, Freude gehabt zu haben. Es war ein gesetzloses Leben. Uns Kindern ist nie etwas passiert. Meine Mutter passte gut auf uns auf. Für eine Frau war es überlebenswichtig, einen Mann zu haben. Und meine Mutter war eine schöne Erscheinung, blauäugig, klein und zierlich, mit weißblonden Haaren. Sie hatte meinen Vater, einen russischen Kommunisten, im GULag kennengelernt und lebte seit 1948 mit ihm zusammen. Ich war ein Jahr alt, als man ihn ermordete und meiner Mutter sterbend in die Küche warf. Heute verstehe ich ihr Schweigen uns gegenüber. Sie wollte nicht, dass wir diese Schrecken mit in unser Leben nehmen.

Wie gelang es Ihrer Mutter mit Ihnen da rauszukommen? Wie war das ohne Geld und Hilfe von außen möglich? Kolyma lag 6000 km von Moskau entfernt
Nach Stalins Tod wurde ihre Verbannung aufgehoben. Sie konnte mit uns die Siedlung verlassen und bekam in der Gebietshauptstadt Magadan Arbeit. Eine Freundin meiner Mutter war im Krieg die Mitarbeiterin von Richard Sorge. Sie hat uns ausfindig gemacht und mit Arthur Pieck, der damals Chef der Lufthansa war und sich bei seinem Vater stark für die Rückholung gemacht hat, unseren Rücktransport organisiert. Für uns Kinder war das ein Abenteuer. Als meine Mutter uns im Hotel in Moskau allein lassen musste, weil sie sich bei den Behörden abmelden musste, haben wir uns auf die Fensterbank gesetzt und die Bein rausbaumeln lassen. Im 11. Stock! Meiner Mutter ist fast das Herz stehengeblieben, als sie uns von unten sah. Wir dachten uns nichts dabei. In Kolyma sind wir oft durchs Fenster ins Haus.

1956 hatte Nikita Chruschtschow die Auswüchse des stalinistischen Terrors erstmals benannt. Davon wussten auch die SED-Funktionäre in der DDR.  Trotzdem wurde Ihrer Mutter bei ihrer Rückkehr 1957 eine Schweigeverpflichtung abgefordert. Hat das ihren Glauben an die Idee des Kommunismus erschüttert?
Das wird ihr Geheimnis bleiben. Sie war ja nicht die Einzige, die nicht reden durfte. Sie hatte Freundinnen aus ihrer früheren kommunistischen Arbeit, die voneinander wussten. Ich hatte Kollegen am Maxim-Gorki-Theater die ihr Schicksal kannten. Aber es hat nie jemand etwas gesagt. Diese Frauen haben zusammengehalten. Was ich weiß, ist, dass meine Mutter keine dogmatische Kommunistin war, keine Parteigängerin. Ihr Leben hat der Gedanke der Komintern geprägt, dass die Welt doch einmal anders formiert werden kann als kapitalistisch. Sie hat uns im Glauben des Kommunismus erzogen, doch sie agierte nie dogmatisch.

Warum ist sie der Idee treugeblieben, obwohl sie einen Teil ihrer Biografie verleugnen musste?
Als die Probleme der DDR immer gravierender wurden, habe ich sie gefragt, wie sie die Bigotterie aushält. Eine Antwort bekam ich nicht. Ich denke, hätte meine Mutter nicht an ihrem kommunistischen Urglauben, festgehalten, wäre sie zerbrochen. Ihr Kampf, ihr Leben wären umsonst gewesen.

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Es war das erste Mal, dass die Schauspielerin in einem Interview etwas über ihre Kindheit und das Schicksal ihrer Mutter erzählt ©Vivian Wild/SUPERillu

Wie haben Sie und Ihre Schwester mit den Löchern in Ihrer Biografie gelebt?
Wir wussten schon, wo wir herkamen und dass meine Mutter Furchtbares erlebt hat, worüber sie nicht reden wollte. Wenn ich sie provoziert habe, erzählte sie mir eine Schreckensgeschichte, und dann habe ich es irgendwann gelassen. Als wir 1957 nach Berlin kamen, sprachen wir kein Wort deutsch, aber wir wollten nicht russisch sprechen. Wir haben uns da verweigert. Und ich habe immer gesagt, ich heiße Monika. Ich wollte nicht anders sein. Ich erinnere mich noch, wie ich versuchte, meinen Pelzmantel loszuwerden. Aber den wollte keiner haben. Mein Leben in der DDR war mit Theater- und Filmrollen so gut ausgefüllt, dass ich keinerlei Lebensdefizite oder Beschädigungen durch meine Biografie verspürte. Trotzdem blieben Fragen: Was war da? Warum sind wir VdN, Verfolgte des Naziregimes? Diesen Punkt konnte ich klären: Mit diesem Status genoss meine Mutter Schutz vor Nachfragen zu ihrer Biografie und hatte einige soziale Vorteile.

Wurde sie wie die Filmfigur in der DDR eingesperrt?
Nein, sie hat sich immer an das Schweigen gehalten. Ein Professor aus Mannheim, der sie in seinem Buch über Deutsche im GULag als vermisst geführt hat, wollte das in einem Film aufklären. Ich höre sie noch sagen: „Meine Herren, was wollen Sie wissen?“, als das Drehteam anrückte. Dann erzählte sie Abenteuerstorys. Wie sie zum Beispiel beim Holztransport mit den Pferden in der Taiga hängengeblieben ist. So war meine Mutter.

Mit dem Fall der Mauer muss für sie doch die Welt zusammengebrochen sein?
Ich glaube, sie hat keiner Gesellschaftsordnung mehr getraut. Ihr Leben war in Ordnung, wenn es uns gut ging. Sie hat bis zur Rente als Sachbearbeiterin bei der Interflug gearbeitet. Meine Mutter war eine sehr starke freie Frau. So, wie sie ihr Schicksal durchgestanden hat, wie sie mit dem Leben umgegangen ist. Ich bin froh, dass sie durch den Film eine Art Wiedergutmachung erfährt, die ich allein nie hinbekommen hätte.

 

Ute Lubosch – Mit 65 läuft noch alles rund

Was mit 65 bei Ute Lubosch rund lief, läuft auch mit 66 noch. Liebe, Glück und Arbeit – ist alles noch beisammen. Ein kleiner Rückblick auf ihr Leben.

Es gibt schon seltsame Zufälle. Sie feiert ihren 65. Geburtstag und unsere Freundschaft wird zwanzig. Habe ich eben in meinem Archiv entdeckt. „Wir sind in Lübben, genießen die Sonne und ich will mit meinen drei Weibern nachher essen gehen“, sagt Ute Lubosch am Telefon. Sie spricht  von ihrer Tochter Maria und ihren beiden Enkelinnen. Sohn Marc ist als Kameramann unterwegs. Den ganzen Tag schon wollte ich die Schauspielerin anrufen. Es wäre mir fatal gewesen, ihr ausgerechnet zum 65. nicht zu gratulieren. Sie lacht. „Du rufst doch jedes Jahr an, seit wir uns kennen.“

FIL7188Eine Liebe fürs Leben. Ute Lubosch lernte ihren Mann, den Journalisten Rolf Grevelmann, 1994 kennen. Am 10. März wurde die Schauspielerin 65 Jahre. © Reinhold Hack

Lübben ist schön, aber dass sie hier ist, hat den Grund, dass sich ihr Mann sich in der Reha-Klinik befindet. „Er hält das nur aus, weil ich mit hier bin“, sagt…

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Ursula Karusseit: Sie hätte gern noch eine Figur wie Miss Marple gespielt

„Fang mal an“, ermuntert sie mich, als ich am Telefon zögerte und nicht wusste, wie ich das heikle Thema angehen sollte. Das war im Oktober 2015. Seit 1998 hatte Ursula Karusseit alias Charlotte Gauss in keiner Folge der ARD-Serie „In aller Freundschaft“ gefehlt. Zum ersten Mal musste sie in dem Jahr lange mit den Dreharbeiten aussetzen. Ich hatte erfahren, dass die Drehbuchautoren die robuste und lebensfrohe Chefin der Cafeteria zur Kur geschickt haben, weil ihre Darstellerin schwer erkrankt war. „Herzschrittmacher, chronisches Nierenversagen, es kam alles auf einmal“, erzählte sie mir dann.

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Im Oktober 2015 stand Ursula Karusseit nach ihrer Erkrankung erstmals wieder in der „Sachsenklinik“ vor der Kamera. Das Foto machte ihr Mann Johannes Wegner bei den Dreharbeiten

Nicht im vollen Besitz ihrer Kräfte zu sein, hilflos, habe sie verrückt gemacht. Ohne Dialyse und Tabletten ging nichts mehr. Mit der ihr eigenen Energie und der Hilfe ihres Mannes Johannes Wegner kämpfte sich die da gerade 76-Jährige in ihr eigenständiges Leben zurück, stand wieder in ihrer Serienrolle und 2016 für den ZDF-Film „Exodus – Flucht der Kinder“ vor der Kamera, amüsierte ihr Theaterpublikum mit heiter-besinnlichen Geschichten von Stefan Heym in der musikalischen Lesung „Und immer sind die Weiber weg“. Sie konnte nicht loslassen. „Einfach aufhören, meinen Ruhestand genießen, das wäre nichts für mich. Jede Rolle ist eine neue Herausforderung, eine eigene kleine Welt, die man sich erschließt. Das hält den Kopf frisch“. Am Ende unseres Telefonats damals verabredeten wir, uns bei nächster Gelegenheit wieder zu treffen. Das wäre jetzt, wenige Monate vor ihrem 80. Geburtstag, ein Gespräch über ihr neues Buch „Zugabe“ gewesen, das zur diesjährigen Frühjahrsbuchmesse erscheinen soll. Ein unvermitteltes Herzversagen setzte einen Schlusspunkt unter unser Vorhaben, ehe es beginnen konnte, sowie unter alles andere, was für Ursula Karusseit noch kommen sollte. Sie erlag am Vormittag des 1. Februar im Krankenhaus Berlin-Buch den Folgen ihrer so lange tapfer bekämpften Krankheit. 

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„Theater soll Horizonte erweitern“, sagte sie.  „Mitten in Amerika“ war so eine Geschichte, die Ursula Karusseit 2010 mit Tobias Morgenstern, Thomas Rühmann und Uwe Bogadtke (v. l.) im „Theater am Rand“ spielte. Quelle: sett-festival.eu

Da wir nicht mehr zusammenkommen konnten, bleibt mir nur ein Abschied mit der Erinnerung an unser Gespräch über die Wege ihres Lebens, kurz vor ihrem 75. Geburtstag, für das ich sie in Zollbrücke besuchte. Weit draußen, an der Oder, fand sie im „Theater am Rand“, das ihr  „In aller Freundschaft“ – Kollege Thomas Rühmann (Chefarzt Dr. Heilmann) 1998 mit Musiker Tobias Morgenstern aufgezogen hatte, eine Bühne, die ihr gab, was ihr nach der Wende an ihren einstigen Spielstätten verloren gegangen war: ihr grundsätzlicher Spaß am Theater. „Wenn ich sehe“, sagte sie, „was jetzt passiert, dass Kunst dem Verfall preisgegeben wird, dem Amüsierbetrieb weichen soll, kann ich da nicht mehr mitmachen. Es wird nicht mehr nach Inhalten gefragt, sondern nur noch: Wie verkauft sich das?“, erzürnte sich die Mimin, die ihr Handwerk 1960 bis ’62 mit Brecht und Stanislawski an der Staatlichen Schauspielschule (seit 1981 HfS „Ernst Busch“) in Berlin erlernte hatte und deren Theaterideal von dem geprägt worden ist, was in den 70er Jahren an der Berliner Volksbühne gelaufen ist. Einer der größten Erfolge des Theaters war die Inszenierung des Brechtstückes „Der gute Mensch von Sezuan“ mit ihr in der Doppelrolle der Shen Te und des Vetters Shui Ta. Im Rückblick ihr Lebenswerk. „Das war mit Witz arrangiert und betraf uns in unserem abgeschotteten Leben in der DDR weniger. Die gesellschaftliche Betroffenheit spürte ich bei unserem Gastspiel damals in Italien, als ich sah, wie ein Junge mit einer Ziege, Essen aus der Mülltonne holte. Und heute haben wir die Probleme vor unseren Augen. Bettler, Obdachlose, Kriminelle.“ Usch Karusseit war Realistin, ging mit offenem Blick durchs Leben, ließ sich nicht täuschen. So prägte sie auch ihre Figuren.

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1973 spielte sie in Konrad Wolfs episodischer Filmsatire „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ die Frau des missverstandenen Bildhauers Kemmel Foto: DEFA-Stiftung/W. Bangemann, A. Kühn

Während sie erzählte, schminkte sie sich vor einem kleinen Handspiegel. An dem Tag waren im „Theater am Rand“ Proben für die grimmige Geschichte über die Zerstörung der Natur und lukrative Schweinemastanlagen. Eine wunderbare Möglichkeit für die Schauspielerin, die Possen und Witz, das Schräge und Kantige mochte, ihr besonderes Talent auszuspielen – kraftvoll ernsthaft, böse, zynisch und komisch gleichsam zu sein. Wolfgang Heinz, 1961-1963 Intendant der Berliner Volksbühne, hat ihre große Begabung seinerzeit erkannt, holte sie bereits während des Studiums immer wieder an sein Theater und engagierte die Absolventin 1962. „Ich hatte viel Glück gehabt, und ein Teil dessen verdanke ich meinem Naturell“, sagte sie im Rückblick. Thomas Rühmann beschrieb das so: „Sie reißt die Dinge gern an sich, aus einem schauspielerischen Impuls heraus, ist um jede Pointe traurig, die nicht funktioniert.“ Jeden Sommer seit 2000 spielte sie im Theater am Rand. Urlaub machen, als Tourist die Welt erkunden, war nicht ihrs. Zum Leidwesen ihres Mannes Johannes, der 40 Jahre an ihrer Seite war und sich im Alter nun auf mehr Zeit mit ihr freute. „Für mich“, sagte sie, „ist diese Sache hier die Verbindung zur Welt, zum Leben, dieses kleine, lebendige Theater. Was da entstanden ist, wurde von den Leuten aus der Region gebaut. Es wird gehämmert, gesägt, geschraubt und bis zuletzt ausprobiert. Wir erzählen Geschichten, bei denen alles mitspielt, was uns umgibt. Das Publikum fühlt sich eingebunden.“

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Schauspieler Thomas Rühmann (l.) und Musiker Tobias Morgenstern gründeten 1998 das „Theater am Rand“ in Zollbrücke Foto: Theater am Rand

Unterhalten und dabei im Dialog mit den Zuschauern sein, war der Reiz, den für sie das „Theater am Rand“ ausmachte. Und sie war eine leidenschaftliche Spielerin. Usch Karusseit – kaum einer nannte sie Ursula – hatte ein freundliches Wesen. Witz, Charme, Natürlichkeit waren ihr eigen. So empathisch wie sie sein konnte, fehlte es ihr auch nicht an Resolutheit und Pragmatismus. Als ich sie fragte, ob ihr das Älterwerden, um nicht zu sagen Altwerden, etwas ausmache, guckte sie sichtlich erstaunt. Alter sei doch sehr relativ. Und darüber nachzudenken hatte sie bislang wenig Lust. Ihren 60. habe sie mit ihren Geschwistern bei sich zu Hause auf ihrem Grundstück Senzig gefeiert. Ein Sommerfest in ihrem Garten, wo gesungen wurde und alle sich freuten. „Und jetzt“, sagt sie, „wo ich 75 werde, denkt man darüber nach, dass nicht mehr viel Zeit ist. Du kannst dir nichts ausrechnen, der Tod verrät dir nichts, er wird auch nicht mit sich handeln lassen. Wenn du von 100 Zentimetern 75 wegnimmst, kommst du schon ins Grübeln, wenn du den Rest siehst.“ Das klingt nicht bedauernd, eher nüchtern, rational. Das Altersproblem, sagt sie, sei zum Teil ein objektives, in der Weltdramatik wimmele es nicht gerade von älteren Frauen.

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Als Witwe Luise Hornbostel – hier mit Arno Wyzniewski zeigte sie in der DEFA-Literaturverfilmung „Die Gänse von Bützow“ ihre wunderbare komische Seite Foto: DEFA-Stiftung/Dieter Lück

In ihrem Beruf fühlte sie sich lange als Lernende. Die kleinste Rolle war ihr groß genug, um eine nächste hilfreiche Erfahrung zu machen. Und wie sah es mit Träumen aus, die doch in jedem schlummern? Wie fühlte sie sich, wenn sie enttäuscht wurde? Wir spazierten durch das kleine Dorf zu den Wiesen am Ufer, setzten uns auf einen tiefen Ast einer Weide. Nein, sie habe nie nach zu hohen Trauben gegriffen oder an hochgesteckten Träumen gehangen. Insofern konnte sie nicht verbittern, wenn etwas, dass sie gern gemacht hätte, nicht eintraf. „Ich habe den richtigen Beruf für mich ergriffen und übe ihn gern aus. Natürlich“, gestand sie ein, „wir haben auch Weichteile im Gemüt, und je älter man wird, umso poröser wird mitunter das Selbstbewusstsein. Solche Gedanken fliegen dir zu, aber zum Glück auch wieder weg.“

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1966 spielte sie die Elsa in Bessons Inszenierung „Der Drache“ am Deutschen Theater Foto: Privatarchiv Karusseit

Ursula Karusseit und ich lernten uns 2002 bei der Gala zur „Goldenen Henne“ kennen. Schauspielerin Uta Schorn machte uns miteinander bekannt. Als Schaupielerin war sie für mich kein unbeschriebenes Blatt. Ich hatte sie in vielen DDR-Fernsehfilmen wie „Wege übers Land“, „Daniel Druskat“, „Märkische Chronik“ und Levins Mühle“ gesehen. 1967 besuchte meine Klasse im Deutschen Theater eine Vorstellung von Jewgeni Schwarz‘ Stück „Der Drache“ mit ihr in der Rolle der Elsa. „Die Premiere spielten wir 1966 in Paris. Von meinem Hotelfenster konnte ich das riesige Werbeplakate sehen. Die Begeisterung der Pariser war unfassbar.“ Und das fühlte sich für sie fünf Jahrzehnte immer noch wohlig an. Es war die zweite Inszenierung, die sie unter der Regie des Schweizers Benno Besson spielte. Ihre Zusammenarbeit hatte 1965 begonnen. Besson besetzte die damals 26-jährige Karusseit in seiner Inszenierung „Moritz Tassow“ als „Rote Rosa“. Ursula Karusseit schilderte, wie verklemmt sie zunächst war, mit dem großen Besson zu arbeiten. Als sich ihre Verkrampfung endlich gelöst hatte, war es mit dem Stück vorbei. Nach neun Aufführungen wurde es verboten. Ein Jahr später wechselte Ursula Karusseit ans Deutsche Theater. Besson wollte sie als Elsa. Die berufliche Zusammenarbeit glitt ins Private über. Als sie 1969 seine Frau wurde, war ihr gemeinsamer Sohn Pierre zwei Jahre alt. „Benno war ein besonderer Mensch, der wenig Rücksicht nahm. Er konzentrierte sein Leben ganz auf die Bühne. Ich fand keinen Zugang zu dieser Einseitigkeit, weil es für mich noch andere schöne Dinge gibt. Ich habe gern Besuch, koche gern und bin gern in meinem Garten zugange“, begründet sie ihre Trennung nach zwölf Jahren. Verheiratet blieben sie noch bis 1995. „Wir feierten unseren 25. Hochzeitstag, dann ließen wir uns in Lausanne scheiden. In Deutschland hätte das viel Geld gekostet.“ Ursula Karusseit wollte klare Verhältnisse. Sie war inzwischen seit 1978 mit dem technischen Leiter der Berliner Musikhochschule Johannes Wegner glücklich. Vier Jahre nach ihrer Scheidung heirateten sie.

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Nach 20 Jahren gemeinsamen Lebens heirateten Ursula Karusseit und Johannes Wegner 1998 Foto: Privatarchiv Karusseit

Handfeste, starke Frauen, gestandene Weibsbilder, Menschen mit gebrochenen Lebensläufen wie ihre Mutter – das waren ihre Rollen. Kein flehendes Gretchen, keine schmachtende Julia haben sie je gereizt. Auch wenn die Luise Miller in „Kabale und Liebe“ einmal alle Gefühle des Teenagers Ursula Karusseit freilegen sollte. Es war ihr nicht in die Wiege gelegt, dass sie einmal zu den bekanntesten Schauspielerpersönlichkeiten des DDR-Theaters gehören würde. Ursula Karusseit kam am 2. August 1939 im westpreußischen Elbing (Elbląg heute Polen) zur Welt. Am 1. September überfiel Hitler Polen, der zweite Weltkrieg war angezettelt. Sie war fünf, als Oma, Tante und Mutter mit ihr und den drei Geschwistern im Januar 1945 vor den nahenden Russen floh. Eigentlich sollte sie mit der „Wilhelm Gustloff“ wie Tausend andere aus den deutschen Ostgebieten über die Ostsee evakuiert werden. Als sie in Gotenhafen ankamen, war das Schiff überfüllt. „Das war unser Glück, es rettete uns das Leben“, erzählt Ursula Karusseit. Denn am 30. Januar 1945 wurde die „Gustloff“ von russischen Torpedos vor der Küste Pommerns versenkt, 9000 Menschen ertranken in der Ostsee.

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„Stunde der Töchter“ 1980 war ein wenig gelobter Gegenwartsfilm, weil zu klischeehaft. Ursula Karusseit spielte eine Ingeneurin auf der Ostseewerft FotoDEFA-Stiftung/F. Bredow, K. Zähler

Die Erlebnisse der Flucht haben sich dem fünfjährigen Mädchen tief eingeprägt. „Es war ein eiskalter Winter, minus 15 Grad, als man uns holterdipolter rausjagte. Wir konnten nichts mitnehmen, nicht mal die Kuchen, die Mutter als Wegzehrung gebacken hatte. Ich höre noch meine Oma rufen: Da, guck unterm Schnee, ein Schlitten! Aber das war der erste Tote, den ich sah“, erinnerte sie sich. Vom Hafen waren sie zum Bahnhof gezogen, wo Güterzüge für die Flüchtlinge aus Ostpreußen bereitstanden. „Die Menschen hingen auf den Waggondächern an den Schornsteinen, um sich zu wärmen. Die Räder waren an den Gleisen angefroren. Als die  Züge mit einem Ruck anrollten, fielen die Leute herunter“, schilderte sie mir ihre Erinnerungen. Während sich Oma, Tante und Mutter angstvoll sorgten, ob sie überleben werden, sahen die Kinder das als Abenteuer.  „Wir haben die Tragik des ganzen ja gar nicht erfasst.“

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In dem Märchenkomödie „Die vertauschte Königin“ war sie 1984 in der Doppelrolle Königin/Schmiedin zu sehen Foto: DEFA-Stiftung Siegfried Skoluda

Sie landeten in Parchim, wo sie der Vater nach seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft 1946 fand. Der Stellmacher ernährte seine Familie mit dem Schnitzen von Holzpantinen, bis er dem Aufruf Neulehrer in Gera zu werden folgte. „Wir waren arm wie die Kirchenmäuse, aber immer fröhlich.“ Die Eltern, streng gläubige Baptisten, erzogen ihre Kinder zu Bodenständigkeit, Wahrhaftigkeit und Widerstand gegen den schönen Schein. Das hat sich im Leben von Ursula Karusseit nie verloren. Aber die Eltern hatten kein Verständnis für den Wunsch ihrer jungen Tochter, ins Theater zu gehen, geschweige denn, Schauspielerin zu werden. Theater war für sie ein Ort der Leichtfertigkeit und Sittenlosigkeit. Ein einziges Mal besuchte Ursula Karusseit in Gera eine Theatervorstellung. Man zeigte „Kabale und Liebe“. Ein Erlebnis, das sie seelisch und emotional mitnahm und vielleicht ihren künftigen Lebensweg vorzeichnete. Wo die Keime dafür lagen, wusste die Schauspielerin nicht zu sagen. Lachend zitiert sie Goethe: „Vom Vater hab ich die Statur, des Lebens ernstes Führen. Vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu fabulieren.“

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Die Karusseit als Schmiedin in der DEFA-Märchenkomödie „Die vertauschte Königin“ Foto: DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Sie bewarb sich heimlich für ein Schauspielstudium, während sie brav nach dem Gebot des Vaters Stenotypistin lernte und einige Jahre in einer Maschinenfabrik WMW in Gera als Sachbearbeiterin arbeitete. Nebenher spielte sie heimlich im Laienkabarett. Sie musste den Vater für alles um Genehmigung bitten. Als die Zulassung zum Studium kam, erhob sie die inzwischen 21-Jährige das erste Mal gegen ihre Eltern. Als die sie dann aber im März 1962 in der Fernsehaufzeichnung des Max-Frisch-Dramas „Biedermann und die Brandstifter“ sahen und die Ernsthaftigkeit des Berufs begutachten konnten, drehte sich ihre Meinung um 180 Grad. Während ihrer Filmarbeiten für „Wege übers Land“ 1968 ließ die Mutter den Vater wochenlang allein zu Haus, fuhr mit an die Drehorte in Mecklenburg, um sich ihren neun Monate alten Enkel Pierre zu kümmern.

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Unvergessen bleibt sie als Gertud Habersaat in Helmut Sakowskis fünfteiligem Fernsehroman „Wege übers Land“ Foto: Privatarchiv Karusseit

In  55 Jahren hat Ursula Karusseit ungezählte Theater- und Filmrollen gespielt, die Figuren mit ihrer Schauspielkunst geprägt. Hat uns Gesichter ins Gedächtnis gebrannt wie die Gertrud Habersaat in „Wege übers Land“. Auch nach der Wende hatte sie immer zu tun . Sie „besaß nicht den Hochmut, Rollen, seien sie auch klein, abzusagen“.  Eine Rolle hätte sie jetzt gern noch gespielt: eine Figur wie Marple, eine schrullige alte Dame mit Köpfchen und Ambitionen… Das wäre ihre Altersrolle gewesen.

 

Ute Lubosch – Mit 65 läuft noch alles rund

Es gibt schon seltsame Zufälle. Sie feiert ihren 65. Geburtstag und unsere Freundschaft wird zwanzig. Habe ich eben in meinem Archiv entdeckt. „Wir sind in Lübben, genießen die Sonne und ich will mit meinen drei Weibern nachher essen gehen“, sagt Ute Lubosch am Telefon. Sie spricht  von ihrer Tochter Maria und ihren beiden Enkelinnen. Sohn Marc ist als Kameramann unterwegs. Den ganzen Tag schon wollte ich die Schauspielerin anrufen. Es wäre mir fatal gewesen, ihr ausgerechnet zum 65. nicht zu gratulieren. Sie lacht. „Du rufst doch jedes Jahr an, seit wir uns kennen.“

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Eine Liebe fürs Leben. Ute Lubosch lernte ihren Mann, den Journalisten Rolf Grevelmann, 1994 kennen. Am 10. März wurde die Schauspielerin 65 Jahre. © Reinhold Hack

Lübben ist schön, aber dass sie hier ist, hat den Grund, dass sich ihr Mann sich in der Reha-Klinik befindet. „Er hält das nur aus, weil ich mit hier bin“, sagt sie. Ich erinnere mich noch, wie sie mir in unserem ersten Interview 1998 erzählte, dass er nach „Missgriffen“ wieder Licht in ihr Leben gebracht hat.  „Rolf ist ein Westberliner mit Ossi-Herz.“ Wir saßen in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung oben unterm Dach in der Schwedter Straße im Prenzlauer Berg. Nachdem sich ihr Sohn eine eigene Bleibe gesucht hatte, war damals auch ihre 21-jährige Tochter ausgezogen. „Ohne meine Kinder fühle ich mich ein bisschen wie ein Hund ohne Schwanz“, sagte sie. Sie hat ihre Kinder allein großgezogen. „Ich bin froh, dass mir das in der DDR passiert ist“, sagt sie mit Blick auf die wenig sozialen gesellschaftlichen Umstände für Mütter heute. Die enge Bindung ist geblieben, auch zu den Enkelinnen, die ihre Oma über alles lieben.

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Mit Dieter Mann 1980 in Herrmann Zschoches Film „Glück im Hinterhaus“ © DEFA-Stiftung/Christa Köfer

Ute Lubosch war erst 16 Jahre, als sie wegen ihrer besonderen Begabung an der Theaterhochschule Leipzig aufgenommen wurde. „Ich bin als letztes von fünf Kindern auf die Welt gekommen. Mein Vertrauen in meine Persönlichkeit war so gering, dass ich die größte Erfüllung empfand, wenn ich fremden Charakteren Profil verleihen konnte“, erklärt sie ihren Berufswunsch.  Mit Siebzehn stand die Schauspielschülerin in Egon Günthers (†31. 8. 2017) seinerzeit viel diskutiertem DEFA-Film „Der Dritte“  das erste Mal vor der Kamera. Es ist ein kurze Episode aus der Jugendzeit der Hauptfigur Margit –  gespielt von Jutta Hoffmann – die nach dem Tod ihrer Mutter Diakonissenschwester wird. „Ich spiele eine Klosterschülerin, die von Margit verführt wird. Mir war überhaupt nicht klar, was ich da tue, so verklemmt wie ich war. Das hat Egon Günther benutzt und mir jeden Handgriff gesagt.“  Der Film erhielt 1971 das Prädikat „Besonders wertvoll“ und kam im März 1972 in die Kinos. Ute Lubosch spielte nur eine kleine Rolle, aber sie war der Anfang für ihre Wandlung zu einer Persönlichkeit mit starkem Selbstvertrauen. „Ich war damals der festen Überzeugung, dass ich beim Film nichts zu suchen habe, weil ich so groß bin. Heute sind 1,72 Meter kein Problem. Aber damals…“ Sie hat seitdem mehr als 90 Figuren geprägt und eindruckvolle Spuren in der  Film- und Fernsehlandschaft der DDR hinterlassen.  „Für mich hat mein Beruf mit Verwandlung, inhaltlichem Engagement für die Figur zu tun“, sagt sie.

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Ute Lubosch (r.) mit Karin Düwel in der DDR-Fersehserie „Johanna“  Quelle: mdr

Hartnäckig kämpfte sie für ihre Serienfigur „Johanna“ – dreifache Mutter, Ehefrau, engagiert in der Gewerkschaft. „Solche Frauen gab es“, sagt Ute Lubosch, „aber sie waren nicht so, wie das DDR-Fernsehen sie darstellen wollte. Immer lächelnd, einen flotten Spruch auf den Lippen, auch nach 14 Stunden Stress.“ Jeden Tag der zweijährigen Dreharbeiten 1987-1989 rang sie um Realitätsnähe. Am Ende brach sie nervlich zusammen. Aber sie hat erreicht, dass sich die werktätigen Frauen in Johanna wiederfanden. „Ich bedauere, dass die Bürgerbewegung nach dem 9. November 1989 die Chance versäumte, aus diesem Land etwas anderes zu machen, als es jetzt ist,“ resümiert sie.

Die Schauspielerin hatte sich in der DDR selbst sehr früh politisch kritisch engagiert. Nie fehlte ihr der Mut zum Widerspruch. „Ich versuchte, ein Sandkörnchen im Getriebe der Maschinerie zu sein, die alles beschönigte, Probleme glättete, Wahrheiten verzerrte. Niemand muss mir heute sagen, dass er keine Möglichkeiten hatte, sich einzumischen.“ In ihrem Wohnbezirk im Prenzlauer Berg gehörte Ute Lubosch seit 1982 zur Initiative für „Frieden und Menschenrechte“. Ihre Kinder gab sie in einen kirchlichen Kindergarten, um ihnen auch diese Seite der Bildung zu ermöglichen. Sie erinnert sich an eine besondere Aktion: „Als die Stasi 1987 die Umweltbibliothek ausräumte und die Leute verhaftete, holten wir sie durch Mahnwachen aus dem Knast. Nach dem Beitritt zur BRD hat sie die Bürgerwegung verlassen. „Ich konnte mich mit den Aktionen des Neuen Forums unter Bärbel Bohley nicht mehr identifizieren.“

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Ute Lubosch (2.v.l.) 1990 in Peter Kahanes kritischem DDR-Film „Die Architekten“ © DEFA-Stiftung/Christa Köfer

1983 hatte sie für heftige Aufregung bei der Leitung des DDR-Fernsehens gesorgt, weil sie es ablehnte, ihre Rolle in den Gegenwartskapiteln des 7-teiligen Fernsehromans „Märkische Chronik“ fortzusetzen. „Die Darstellung politischer Ereignisse wie des 17. Juni 1953 war mit so vielen Lügen und Verdrehungen behaftet, dass ich mein Gesicht dafür nicht hergeben wollte“, erinnert sie sich. Man bot ihr an, ihre Rolle umzuschreiben, aber darum ging es ihr nicht. „Das wollten oder konnten die Verantwortlichen damals nicht begreifen.“ Sie blieb konsequent, eine andere Schauspielerin musste ihren Part übernehmen. „Erstaunlicherweise hatte es keine Konsequenzen für meine Karriere in der DDR“, wundert sich Ute Lubosch noch heute. Sie drehte danach Fernsehfilme wie „Paulines zweites Leben“, „Das wirkliche Blau“, „Grüne Hochzeit“, spielte in mehreren „Polizeiruf 110“-Filmen.  Und 1987 bekam sie die Rolle der Straßenbahnfahrerin Johanna in der gleichnamigen Alltagsserie des DDR-Fernsehens, in der sie bis 1989 die Herzen der Zuschauer eroberte.

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Ute Lubosch mit Karl Thiele 1975 in Roland Gräfs DEFA-Film „Bankett für Achilles“ © DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

Der Rückblick auf die ersten Jahre nach Wende ist ein Blick in Tiefen: ABM-Projekte, Synchronarbeit, mager bezahlte Theater-Gastspiele und auch mal eine kleine Kino- oder TV-Rolle. „Meine Kinder mussten nicht hungern, aber ab 1991 saß ich in einem Existenzangstloch. 1996 war es so still, dass sie sich mit zwei Liebesgeschichten an einem Autorenwettbewerb der Berliner Zeitung beteiligte und den Hauptpreis gewann. Ute Lubosch machte Urlaub, ließ die Seele baumeln und dachte darüber nach, wie sie wieder Fuß fassen kann. Sie ist kein Mensch, den es in die Öffentlichkeit drängt. Doch sie kam zu der Einsicht: Es geht heutzutage nicht anders, du musst gesehen werden. Auf der Berlinale 1997 traf sie den DEFA-Regisseur Frank Beyer wieder, der sie in seiner Verfilmung von Manfred Krugs Buch „Abgehauen“ 1998 mit der Rolle der Schriftstellerin Christa Wolf betraute. „Christa Wolf faszinierte mich immer schon als Autorin und in ihrer menschlichen und politischen Haltung. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, mit meiner Filmfigur inhaltlich übereinzustimmen“, sagt sie. Ein Jahr später lernte sie Tom Tykwer kennen. Den damals jungen Nachwuchsregisseur reizte die Eigenwilligkeit ihrer Persönlichkeit, so dass er Ute Lubosch in seinem Kinofilm „Lola rennt“ (1999) die Rolle der Mutter übertrug.

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Dieses Foto entstand während der Dreharbeiten zu „Peng!“ © Jan Maroske

Es gibt gute und weniger gute Zeiten, was Rollenangebote betrifft. Aber Ute Lubosch klagt nicht. „Ich bin ja  immer noch da“, lacht sie. Man sieht sie in der bayerischen Heimatserie „Dahoam is Dahoam“, im April in „SOKO Stuttgart“, „SOKO Wismar“ und in der ZDF-Serie „Die Spezialisten“. 2017 war ein stressiges Jahr. Denn neben den Dreharbeiten hat sie seit einigen Jahren auch als Lehrbeauftragte an der Musik- und Theaterhochschule Rostock gut zu tun. Eine Arbeit, die ihr vor allem Spaß macht und berufliche Erfüllung gibt.  Dann erzählt sie begeistert von dem Kurzspielfilm „Peng! – Die Pistole“, den sie während der Berlinale 2017 mit dem Filmemacher Jan Maroske gedreht hat.

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Ute Luboschs letzte Saison 2013 in der „Müritz-Saga“. 8. Folge „Gottesfurcht im Niemandsland“  © Gerlind

Die 65-Jährige fühlt wohl in ihrem Leben, wie es ist. „Ich muss nicht darben“, scherzt sie, „habe den besten Mann. Und so lange wir zusammen sind, kann uns nichts passieren.“ In einer Jazz-Kneipe hatte sie den Westberliner Journalisten Rolf Gevelmann 1994 kennengelernt. Im Juli 2009 haben sie in Waren-Müritz geheiratet. Ute Lubosch spielte im Freilichttheater Waren seit 2006 in der „Müritz Saga“.  Und so wurde nach dem Standesamt eine zünftige Mittelalterhochzeit gefeiert. Beide finden, dass sie ein gutes Team sind. „Berufsfrust und Tiefschläge nehme ich durch Rolf leichter. Ich bin dankbar, dass wir uns getroffen haben“, bekennt die Schauspielerin.

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Mit Hilmar Eichhorn 1978 in „Addio, piccola mia“. DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

Anfang Mai beziehen beide wie jeden Sommer ihren „Landsitz“ in Mecklenburg. Ein Schnitterhaus ohne Luxus, mit großem Garten. „Wir mutieren langsam zu Selbstversorgern. Auf meinem Fensterbrett in Berlin stehen kleine Kartoffelpflanzen, und die Auberginen treiben auch schon aus.“ Ute Lubosch sprüht geradezu vor Freude. Der fünfte Sommer, den sie stressfrei genießen wird. Von 2006-20013 stand sie in der Zeit jeden Tag in der „Müritz-Saga“ auf der Freilichtbühne Waren. „Ich merkte plötzlich, dass der Spaß weg war.“ Sich quälen und Zeit versäumen, die sie besser verbringen kann, das will sie sich nicht mehr antun. Ob sie das alter merkst? Ja, wenn wieder ein Kollege oder Freund vom „Schnitter“ geholt wurde. „Bei mir läuft alles noch rund. Ich jogge jeden Tag durch den Wald oder fahre Rad. Im letzten Jahr habe ich Englisch gelernt, jetzt ist Französisch dran.“ Dafür braucht sie keine Volkshochschule. Das macht sie autodidaktisch. Hut ab!

 

Annekathrin Bürger über „Die Anfängerin“, Kindheit und Familiebande

Ein kleiner Kinofilm macht gerade von sich reden. „Die Anfängerin“ – das Spielfilmdebüt der Fotografin Alexandra Sell als Regisseurin. Fasziniert vom Eiskunstlauf und inspiriert durch Interviews mit der ehemaligen DDR-Eiskunstläuferin Christine Stüber-Errath, schrieb die Hamburgerin eine berührende Dreiecks-Geschichte.

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Von ihrer unbarmherzigen Mutter Irene – mit feiner Ironie verkörpert von Annekathrin Bürger – ihres Kindheitstraumes beraubt, ist die Ärztin Annebärbel (Ulrike Krumbiegel) in ihrem Leben erstarrt. Ohne Mitgefühl für Ihre Patienten, ohne Liebe für ihren Mann, nicht einmal für sich selbst. Als ihr Mann sie verlässt, bricht ihr sorgsam errichtetes Kartenhaus zusammen. Sie begreift, dass sie sich vom Einfluss ihrer Mutter befreien muss, um endlich ein eigenes Leben führen zu können. Beim nächtlichen Bereitschaftsdienst an der Eishalle des Olympiastützpunkts erinnert sich Annebärbel ihrer Kindheit, wie sie als Achtjährige Eistanz übte. Nicht gut genug für ihre perfektionistische Mutter. Deren Bewunderung gehört der kleinen Eisläuferin Christine Errath. Annebärbel ist 58, als sie die Schlittschuhe wieder anzieht, um sich ihren Kindertraum zu erfüllen. Dabei kommt es zur schicksalhaften Begegnung mit Christine Stüber-Errath.

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Szenenfoto: Weltmeisterin Christine Stüber-Errath ging für den Film „Die Anfängerin“ zum ersten Mal wieder aufs Eis

Der Film bringt zwei DDR-Legenden ins Rampenlicht zurück. Eiskunstlauf-Weltmeisterin Christine Stüber-Errath drehte für Die Anfängerin“ nach 40 Jahren zum ersten Mal wieder ihre berühmten Pirouetten auf dem Eis. Schauspielerin Annekathrin Bürger ist seit ihrer letzten Kinohauptrolle im DEFA-Film „Hostess“ wieder in einer großen Rolle auf der Leinwand zu sehen. Seit drei Wochen sind die beiden Protagonisten auf Kinotour durch Städte in Ost und West.

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Szenenfoto: DEFA-Star Annekathirin Bürger als Dr. Irene Hanschke in Alexandra Sells Kinofilm „Die Anfängerin“

Die Anstrengung nimmt die 80-jährige Annekathrin Bürger gern auf sich. Wo immer „Die Anfängerin gezeigt wird, ist das Publikum begeistert. „Die Kinos im Osten sind immer ausverkauft. Im Westen sind Schauspieler aus dem Osten, sprich der ehemaligen DDR, auch 27 Jahre nach der Vereinigung der beiden Staaten weitgehend unbekannt. Aber es gab auch in Essen, Düsseldorf, Köln Eiskunstlauf-Fans, die Weltmeisterin Christine Stüber-Errath zwar nicht kannten, aber neugierig waren“, erzählt mir Annekathrin Bürger von unterwegs am Telefon.

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1976 im DEFA-Film „Hostess“. Foto © Icestorm/DEFA-Stiftung/Dieter Jaeger

Sie sagte immer, sie hätte kein Recht zu jammern, wenn sich keine großen Kinorollen mehr böten. Sie habe ihre Karriere gehabt mit 20 Hauptrollen in DEFA-Spielfilmen und vielen anspruchsvollen Figuren in DDR-Fernsehfilmen. Doch sie hatte das gewisse Quäntchen Glück, das einem manchmal widerfährt, wenn es aussichtslos scheint. Regisseur Hans-Werner Honert, mit dem sie bereits beim DDR-Fernsehen gearbeitet hatte, schrieb ihr für seinen Tatort „Der Fluch des Bernsteinzimmers“ die Rolle der Frederike. „Von da an war ich auf dem Bildschirm vorhanden, mit Nebenrollen in Serien wie ,Die Stein’ oder als Kräuterhexe in ,Mord mit Aussicht’. Eine Rolle, die mir sehr viel Spaß gemacht hat“, erinnert sich Annekathrin Bürger, deren Charisma ihre Figuren prägt.

2013 gehörte sie zu der ausgesuchten Besetzung der Bewohner eines Seniorenheims in der Kinokomödie „Sein letztes Rennen“. Der Erfolg des Films zog für die Schauspielerin ein Angebot nach, an das sie kaum mehr geglaubt hatte. Auf der Premierenfeier bot ihr Alexandra Sell an, ihr eine Rolle zu schreiben. Beide Frauen kannten sich bis dahin nicht. Annekathrin Bürger: „Ich war skeptisch.“ Doch 2016 hatte sie das Drehbuch für „Die Anfängerin“ auf dem Tisch, mit einer Charakterrolle, wie sie sie sich lange gewünscht hatte. „Es war mir ein großes Vergnügen, diese beherrschende Frau Mutter zu spielen, in deren Leben es keinen Platz für Abweichungen oder Gefühle gab. Die nicht über ihren Schatten springen konnte. Das nicht willkommene Kind musste funktionieren.“

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Privatfotos aus der Kindheit der Schauspielerin

In gewisser Weise musste das Annekathrin Bürger in ihrer Kindheit auch. Die Mutter war Solotänzerin an der Berliner Volksoper. Ihr Vater Heinz Rammelt verdiente als freischaffender Tiermaler und Illustrator sein Geld, manchmal auch abends als Schnellzeichner im „Cabarett der Komiker“. Doch die Bedürfnisse seiner kleinen Tochter lagen ihm immer am Herzen.  Mit großer Fürsorge und Liebe kümmerte er sich um das Kind. Als seine Kati erwachsen war, ihre Biografie schrieb, erzählte er ihr, wie sie ihm beim Wickeln einmal vom Tisch gerollt ist, er sie aber noch an einem Bein erwischte. Sie lebten damals am Ku’damm in Berlin-Charlottenburg. In der Wohnung des Kommunisten Heinz Rammelt trafen sich Schauspieler, Maler, Intellektuelle und diskutierten die Nächte durch. Auch über das, was in Deutschland vor sich ging, seit die dunklen Wolken des Nationalsozialismus aufgezogen waren und Krieg in der Luft lag. Manchmal, wenn sie in ihrem Kinderbettchen wach wurde und auf nackten Füßen zum Wohnzimmer tapste, nahm der Vater sie auf den Arm, und sie durfte dabei sein. „Ich habe ganz früh das Wort Nonkonformisten gelernt“, erinnert sich Annekathrin Bürger.

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Die Schauspielerin und ihr Bruder Olaf Rammelt im Atelier des Malers, der das Zeichentalent seines Vater Heinz Rammelt geerbt hat. Foto © Michael Handelmann

Sie hat mich nach Dessau eingeladen, wohin es Heinz Rammelt und seine Familie nach vielen Umzügen 1950 verschlagen hatte. Der passende Ort, um über Kindheit und Familie zu reden. „Meine Mutter Gerda hat meinen Vater wegen eines anderen Mannes verlassen. Nach der Scheidung erkämpfte er sich das Sorgerecht für mich“, erklärt das älteste Rammelt-Kind. 1944 heiratete der Vater wieder. Seine Frau Anneliese wurde ihre neue Mutter, die sie sehr mochte.

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Annekathrin Bürger mit ihrer Büste als Gräfin Dopf. Foto © Michael Handelmann

Annekathrin Bürger, die sich für ihren ersten Film einen anderen Namen zulegen musste und den der Großmutter annahm, steht auf der Treppe, die zu den Ateliers führt, in denen ihr Bruder Olaf Rammelt den Spuren seines Vaters Heinz Rammelt folgt. Im Rücken Olafs Bild „Traum eines Harlekins“, vor ihr eine Büste, die sie als Gräfin Dopf in der Grandguignolade „Nord“ zeigt. Eine Arbeit ihrer Schwägerin, der Bildhauerin Christine Rammelt-Hadelich. Die gewählte Optik ein Ausdruck ihrer kreativen Familienbande. Rammelt und Hadelich sind im Sächsischen und Anhaltinischen bekannte Künstlerdynastien.

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1980 mit Rolf Herricht im DEFA-Film „Der Baulöwe“. Foto © Icestorm/DEFA-Stiftung

Ich lernte Olaf und Christine Rammelt kennen, als ich mich 2008 mit Annekathrin Bürger für einen SUPERillu-Beitrag in Ahrenshoop auf die Spuren des DEFA-Films „Der Baulöwe“ begab. Seit dem Tod ihres Mannes, des Regisseurs Rolf Römer im März 2000, ist die Bindung der Schauspielerin zu ihrer Dessauer Familie enger geworden. Wir beginnen unser Gespräch mit ihrer Rolle als Dr. Irene Hanschke im aktuellen Kinofilm „Die Anfängerin“ und lassen das offizielle Sie, weil wir nunmehr 22 Jahre befreundet sind.

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Szene mit Annekathrin Bürger als Dr. Irene Hanschke und Ernst-Georg Schwill

Du hast dir immer eine Figur gewünscht hast, die knirscht. War das die Irene Hanschke?
Sie kam dem nahe. Meine bisherigen Rollen waren ja immer sympathische Figuren, was diese Mutter nun gar nicht ist. Kinobesucher, die mich kennen, waren geradezu erschüttert: „Wie können Sie nur so eine kaltherzige Frau spielen!“ Aber ich war glücklich darüber, zu zeigen: So kann ich auch. Als die achtjährige Tochter auf dem Eis versagt, wird sie abgeschrieben. Die Mutter nimmt ihr die Schlittschue weg und kritisiert sie ein Leben lang als unzulänglich. Ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich glaube, dass es solche Verhältnisse zwischen Müttern und Töchtern gibt.

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Die Autorin im Gespräch mit der Schauspielerin, ihrem Bruder Olaf und seiner Frau Christine. Foto © Michael Handelmann

Wie schwer fiel es dir, dich da hineinzufühlen?
Es fiel mir nicht schwer. Obwohl ich nicht der Typ bin, der von Ehrgeiz besessen die Ellenbogen breit macht. Es gibt die äußerlichen Kämpfer, die viel beiseite treten, und es gibt die stillen Starken. Die sich nicht unterkriegen lassen, aber sich nicht vorn etwas erkämpfen können. Die warten müssen. So ein Mensch bin ich. Nach langer Zeit kam plötzlich das Glück, dass mir eine Figur wie diese geschrieben wird, die den Film mitbestimmt.

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Annekathrin Bürger mit Stefan Lisewski 1958 bei den Dreharbeiten zu „Verwirrung der Liebe“ an der Ostsee. Foto © Icestorm/DEFA-Stiftung/Neufeld

Du selbst hast keine Kinder.
Zu meinem großen Bedauern. Das ist der Tribut, den ich als junge Frau für meinen Traum zahlen musste. Die Hochzeitsszenen für den DEFA-Film „Verwirrung der Liebe“  haben wir im Winter 1958 gedreht. Das dauerte sehr lange, und ich hatte nur das Hochzeitskleid an. Wohnwagen zum Aufwärmen gab es damals nicht. Anschließend lag ich mit Unterleibsproblemen im Krankenhaus. Und das ging so weiter. Rolf und ich hätten gern einen Sohn oder eine Tochter gehabt. Für mich ist es schön, zu erleben, wie innig Olaf, Christine und meine Nichte Henriette miteinander umgehen.

Ich finde, es gibt Parallelen zwischen deinem Leben und der Filmgeschichte. Deiner Mutter war ihre Karriere als Tänzerin wichtiger als du. Wie hast du das als Kind empfunden, und wie siehst du das jetzt?
Meine Mutter Gerda war eine erstklassige Ballett-Tänzerin. Sie kam aus proletarischen Verhältnissen und finanzierte sich ihr Ballett-Studium bei der berühmten Choreografin Mary Wigman in Leipzig mit Gelegenheitsarbeiten. 1933 gewann sie in Warschau auf einem internationalen Tanzkongress eine Bronzemedaille. Sie hat sich hochgearbeitet und wurde 1941 Solotänzerin an der Volksoper Berlin und war viel auf Tournee. Ihr Ehrgeiz bedeutete nicht, dass sie mich nicht mochte. Sie hatte einfach keine Zeit für mich. Aber es gab Lenchen, unser Dienstmädchen, und ich hatte meinen Vater. Im Grunde zog er mich groß. Und wenn es gar nicht anders ging, wurde ich zu meinen sehr lieben Großeltern nach Leipzig gebracht. Käthe Bürger war eine bekannte Landschaftsmalerin.

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Das Autogrammfoto zeigt die Schauspielerin 1956, als sie ihren ersten Film „Eine Berliner Romanze“ gedreht hat. Foto privat/Bürger

Einen Teil deiner Kindheit hast du in Kinderheimen verbracht.
Als mein Vater zum Kriegsdienst musste, wurde ich zwischen Pflegeeltern und Kinderheimen herumgereicht. Meine Mutter Gerda war mit einem österreichischen Komponisten liiert, und ich war nicht willkommen. Als ich sechs war und zur Schule musste, schickte mich meine Mutter in ein N.S.V- Kinderheim nach Brünn. Ihr neuer Mann hatte dafür gesorgt.

Wie fühlte es sich an, immer weitergereicht zu werden?
Sagen wir mal so: Ich bin ein robuster Typ und habe mich in dieser Zeit daran gewöhnt, alles mit mir allein abzumachen. Ich habe gelernt, die Dinge nüchtern zu betrachten und nicht in erster Linie emotional. Ich finde, ich habe nicht unbedingt Recht dazu, meine Mutter dafür zu hassen. Wenn ich im Kinderheim Kochfisch mit Meerrettichsoße nicht leiden konnte, war das so. Trotzdem habe mich wohlgefühlt. Aber ich wusste mich auch durchzusetzen. Zur Not wurde eben geschwindelt, ein Vergehen auf jemand anderen abgewälzt. Und dass wir „Heil, Hilter“ statt „Guten Morgen “ sagen mussten und das „Deutschlandlied“ sangen, habe ich hingenommen. Anfang 1944 wurde das Heim geschlossen und ich kam zurück nach Berlin. Mein Vater erkämpfte sich das Sorgerecht.

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Heinz Rammelt mit seinem Zeichenheft im Berliner Tierpark

Ihr wart euch sehr nahe?
Ja, er war der wichtigste Mensch für mich. Mein Vater sah mir immer an, wenn mich etwas bedrückt hat. Ihm konnte ich nichts vormachen. Ich war kein einfaches Kind und habe meine liebe Stiefmutter Anne, die für mich immer meine Mutti gewesen ist, manchmal ungewollt mit meinem Dickkopf zum Weinen gebracht. Wenn ich etwas angestellt hatte, gab es Strafpredigten, geduldige Belehrungen, aber nie Dresche. Mein Vater hat mich sehr einfühlsam gelenkt. Auch auf meinen Weg zur Schauspielerin. Er meinte, ich müsse erst einmal hinter die Bühne schauen und verschaffte mir eine Stelle im Theater Bernburg. Er kannte den Direktor – das war Hans-Joachim Preil. Ich hatte ja Gebrauchswerberin gelernt und durfte im Malsaal bei der Bühnendekoration mithelfen. Preil hat mich damals auch als Komparsin auf die Bühne gelassen. Manchmal tut es mir leid, dass ich nicht so viel Zeit mit meinem Vater verbracht habe wie meine Brüder Hans-Jörg und Olaf.

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Die Geschwister sehen sich Olafs Skizzen für das neue Ostseebuch an. Foto © Michael Handelmann

Ihr seid Halbgeschwister.
Ja, aber das spielte nie eine Rolle. Die Jungs wussten es lange nicht. Ich fand das nicht wichtig. Wir waren eine Familie. Ich habe mich um sie gekümmert. Als ich nicht mehr zu Hause lebte, habe ich ihnen geschrieben, sie ermahnt, ihre Hausaufgaben zu machen und die Eltern nicht zu ärgern, wie das eine große Schwester eben so macht.

Es ist nicht immer so, dass sich Geschwister noch als Erwachsene verstehen. Zwischen euch liegen 17 Jahre Altersunterschied.
Ich denke, bei uns geht das so gut, weil wir durch unseren Vater verbunden sind. Olaf verbrachte seine Sommerferien oft bei uns in Berlin oder besuchte uns an der Ostsee. Er hat das Talent und die Leidenschaft zum Malen unseres Vaters geerbt. Mir hat es nie Spaß gemacht, wenn ich zum Zeichnen mit meinem Vater in den Tierpark musste. Im Nachhinein beneide ich meinen kleinen Bruder, der durch seine Malerei viel enger mit ihm verbunden war. Und auch dadurch, dass Olaf und Christine mit den Eltern zusammen gewohnt haben, war er ihm näher als ich es sein konnte.

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Der  63-Jährige bei der Arbeit. Foto © Michael Handelman

Olaf wirft ein: Es war für uns alle immer etwas Besonderes, wenn Kathrin nach Hause kam. Sie konnte uns ja nur selten besuchen, weil sie so viel gedreht hat. Ich war ein bisschen verschüchtert als Kind und froh, eine große Schwester zu haben. Als meine Jugendweihe 1968 anstand, war sie schon eine bekannte Schauspielerin und wohnte in Berlin. Sie ist mit mir in die Jugendmode in die Brüderstraße gefahren, ich bekam einen braunen Cordanzug und Jeans. Was ich nie vergessen werde, ist eine Begegnung mit Armin Mueller-Stahl. Kathrin hatte mich mit in die Volksbühne genommen, wo sie mit ihm für „Orpheus und Eurydike“ probte. Ich saß im Zuschauerraum und habe ihn gezeichnet.  Das Bild hat ihm gefallen. Er holte mich auf die Bühne, setzte mich in einen Sessel und spielte nur für mich Geige. Ich war damals Sechzehn. Als wir uns im vergangenen Sommer auf seiner Vernissage hier in Berlin wiedersahen, wusste er das noch ganz genau.

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Ein kreatives Team: Annekathrin Bürger, ihr Bruder Olaf und ihre Schwägerin Christine. Foto © Michael Handelmann

Annekathrin, ist der Zusammenhalt mit Olaf nach dem Tod von Rolf Römer enger geworden?
Manches lässt sich allein schwer bewältigen. Rolf fehlt mir sehr. Fürs Herz, für den Kopf und mit seinen handwerklichen Fähigkeiten für Haus und Garten. Ich habe das Glück, eine Familie zu haben, auf die ich mich verlassen kann, die frisch im Kopf ist, klug im Geist, politisch diskutiert und da ist, wenn ich sie brauche. Olaf war immer ein kluger Gesprächspartner, schon als Junge.

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Hochzeit von Annekathrin Bürger und Rolf Römer 1966 in Moritzburg

Bist du jetzt ein Familienmensch geworden? Du hast immer gesagt, dass du das eigentlich nie so warst wie dein Mann.
Ja,  Rolf war derjenige, der immer darauf gedrungen hat, dass wir so oft es ging zu unseren Eltern fuhren. Es war ihm wichtig, den persönlichen Kontakt eng zu halten. Mehr als mir. Ich habe meinen Eltern sehr viele Briefe geschrieben. Es ist bei mir auch heute noch so, dass ich nicht alle Nase lang bei Olaf und Tine aufschlage. Ich würde mich nie bei ihnen einquartieren. Es ist gut, wenn wir alle zwei Tage telefonieren, um zu wissen, was los ist, und ich ab und zu – so wie jetzt – zu ihnen nach Dessau fahre.

Nach einem Familienweihnachten bei Rolfs Eltern 1964 in Moritzburg musstest du für eine Abendvorstellung von „Schloß Gripsholm“ nach Berlin. Obwohl Rolf dir abgeraten hatte, weil es angefangen hatte zu schneien, hast du dich nach der Vorstellung ins Auto gesetzt, um zu deinen Eltern nach Dessau zu fahren. Dort bist du aber nicht  angekommen.
Ich geriet auf der Autobahn bei Belzig ins Schlingern und bin gegen die Leitplanke geknallt. Damals fuhr man noch ohne Gurt. Ich wurde aus dem Wagen geschleudert. Doppelter Schulterblattbruch und angeknackste Wirbel … Ein Autobahnmeister, der mir auf der anderen Seite der Autobahn entgegengekommen war, wunderte sich, dass die Lichter meines Auto plötzlich verschwunden waren. Er hielt an und fand mich bewusstlos auf einem Acker zwischen abgehackten Baumstümpfen. Der Mann hat mir das Leben gerettet.

 Worüber denkst du nach, wenn du dich einam fühlst?
Solche Momente gibt es hin und wieder. Dann überlege ich, was sein würde, wenn ich eines Tages mein Haus verkaufen muss. Wohin dann? Wie gesagt, würde ich mich nicht in das Universum von Olaf und Tine drängen. Ich wünsche mir einen guten Freund, den man einfach an die Hand nimmt und sagt: Lass uns drei Wochen verreisen. Es geht nicht  um Sex. Ich möchte nur nicht mehr allein an einem Zweiertisch sitzen und alle gucken dich mitleidig an. So wie jetzt bei der Kur.

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Das Buch, wie alle anderen auch, kann in Olafs und Christines Verlag „FederEdition“ erworben werden

Eure familiäre Einheit hat schöne kreative Auswirkungen. Von eurem gemeinsamen Buch „Geliebte Ostsee“ gibt es bereits die fünfte Auflage. Wie bist du eigentlich zum Schreiben gekommen?
Angefangen hat es mit meiner Biografie „Der Rest, der bleibt“, die leider vergriffen ist. Da habe ich das, was ich konnte, selbst geschrieben. Vor ein paar Jahren hatten Olaf und Tine die Idee für ein Ostsee-Buch. Erst wollte ich nicht mitmachen. Aber die beiden haben mich praktisch gezwungen, etwas aufzuschreiben. Auf dem Fischland und dem Darß haben wir als Kinder mit unseren Eltern in den die sogenannten Künstlerkolonien die Ferien verlebt. Dort trafen sich Maler, Schauspieler, Schriftsteller und Intellektuelle. Das war eine tolle Zeit. Die Ostsee blieb auch später immer unserer Urlaubsziel. Für Rolf und mich war eine alte Holländer-Windmühle in Wustrow viele Jahre unser Domizil. Ein befreundeter Chirurg aus Rostock hatte sie uns überlassen. Ein Mekka für meinen liebend gern handwerkernden Mann. Wir haben nur Aktiv-Urlaube gemacht, weil Rolf die ganze Mühle saniert hat.
Olaf: Dass Kati wunderbar erzählen kann, war klar, als sie für einen Katalog, cen wir unserem Vater schenken wollten, eine Hommage an ihn geschrieben hat. Der Lektor war ganz begeistert.
Annekathrin: Als Tine und Olaf mit dem Ostsee-Buch anfingen, saß ich mit einem Gipsbein zu Hause und hatte Langeweile. Ich dachte: Na gut, probier ich’s. Die ersten Seiten gingen stockend, dann lief es wie geschmiert.

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2015 erschienen die „Weisheiten der Liebe“

Der Gedichtband „Weisheiten der Liebe“ war euer zweites Projekt. Bis dahin hast du Verse nur für dich geschrieben. Hat dich auch wieder deine Familie überredet?
Annekathrin: Im gewissen Sinne ja.
Christine: Es war so, dass wir festgestellten, dass wir beide in unseren Gedichten die Liebe aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Das fand ich faszinierend.
Olaf: Ich habe ihre Gedichte gegeneinandergestellt und herauskam eine spannende Lyrik.
Annekathrin: Die du mit frechen Bildern illustriert hast. Es ist ein zauberhaftes unterhaltsames Buch geworden.

Jetzt arbeitet ihr an eurem zweiten Ostsee-Buch „Teilzeitfischköppe“, wieder mit Geschichten von dir, Annekathrin. Verlegst du dich jetzt aufs Schreiben?
Nein, nein. Ich werde keine Schriftstellerin, da würde ich mir die Latte zu hoch legen. Aber Gebrauchsliteratur muss ja auch nicht schlecht sein, nur weil sie emotionaler als die gehobene Literatur ist. Ich ärgere mich heute, dass ich meine Erlebnisse früher nie aufgeschrieben habe. Es gibt nur Briefe und Notizen in Kalendern. Man kommt in ein Alter, in dem man viele Dinge vergisst. Ich war im November an der polnischen Ostsee zur Kur und habe Stoff für eine neue Erzählung mitgebracht. Am Hafen habe ich einen Fuchs auf der Kaimauer gesehen. Das ist etwas Verrücktes, Geheimnisvolles. Was wollte der da?  Ich freue mich schon darauf, die Geschichte zu schreiben.

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Annekathrin und ihre Schwägerin amüsieren sich über ihre Gedichte Foto © Michael Handelmann

Wie weit seid ihr mit dem Buch?
Meine ersten 21 DIN A4-Seiten sind fertig.  Tine hat sie schon abgetippt. Ich schreibe ja alles mit der Hand. Aber manches dauert eben, weil  bei mir auch heute immer noch etwas dazwischen kommt. Das Jahr 2017 war voll mit meinen Chanson-Abenden „Weisheiten der Liebe“,  den konzertanten Lesungen „Erotische Geschichten aus Boccaccios Decamerone“. Dann habe ich das erste Mal an den Weihnachtslesungen teilgenommen, die Schauspielerkollegen seit zehn Jahren veranstalten.  Und für dieses Jahr sind auch schon wieder Veranstaltungen gebongt. Worauf mich sehr freue: Am 9. März lese ich in Olafs Ausstellung „Tiere im Atelier“ im Kulturhaus Berlin-Karlshorst aus der Erzählung zu Camille Saint-Saëns Suite „Karneval der Tiere.

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Ein Blatt aus der Reihe „Gala der Tiere“ von Olaf Rammelt

Olaf und Christine haben die Geschichte zu Camille Saint-Saëns Musikstücken in Wort und Bild neu interpretiert. Ich sehe hier faszinierende Grafiken und Lithografien. Gibt es die auch zu kaufen?
Olaf: In unserem Verlag FederEditon kann man sie als einzelnes Bild oder auch in einem Buch gebunden kaufen. Tine hat dazu sehr vergnügliche Texte geschrieben.

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Künstlerdruck aus „Karneval der Tiere“

Annekathrin,  bist ja wie eh und je unterwegs. Wird dir es nicht zu anstrengend, immer wieder herumzureisen, dir immer wieder neue Programme und Lesungen zu erarbeiten?
Ich mache das nicht mehr mit links und benötige zum Regenerieren etwas länger als früher. Aber ich brauche die geistige Bewegung. Es macht mir Freude, mich auf Neues einzulassen. Für 2019 bereite ich für die Abschlussveranstaltung des Fontane-Literaturfestivals eine musikalische Lesung aus der Kriminal-Novelle „Unterm Birnbaum vor. Auf diese Weise immer noch unter Leute zu kommen und zu spüren, dass es ihnen gefällt, was man macht, finde ich schön. Es ist ja ein Vorteil des Alters, dass man nicht mehr alles machen muss. Ich habe mich bewiesen in meinem Leben, ob das die Leute nun wissen oder nicht.

Da gibt es doch die Geschichte von der Rettung des Pöppelmann-Palais‘ in Dresden. Du hast verhindert, dass es gesprengt wird. Davon spricht kein Stadtführer.
Das Barockgebäude sollte gesprengt werden, weil die Japaner an der Stelle in der Großen Meißener Straße  ein Hotel bauen wollten. Es gab Bürgerinitiativen gegen die erneute Vernichtung von kulturhistorischem Erbe, aber es bewegte sich nichts. Ich wusste von Plänen, nach denen das alte Palais in den Neubau, integriert werden konnte und habe in meiner Eigenschaft als Mitglied des DDR-Kulturrates am 30. Dezember 1981 an Erich Honecker geschrieben. Die Sprengung sollte im Januar 1982 erfolgen. Es ist für mich heute noch wundersam, dass ich, eine Schauspielerin, das letztlich verhindern konnte. Das alte Palais macht heute den prachtvollen barocken Mittelbau des Hotels „Bellevue“ aus. Darauf bin ich stolz.

Kannst du auch sein!

Ein Besuch auf den Webseiten der Künstler lohnt sich.

Annekathrin Bürger – http://www.annekathrin-buerger.de/

Atelier Olaf Rammelt & Christine Rammelt-Hadelich – http://www.atelier-rammelt-hadelich.de/

 

Annekathrin Bürger über den Rest, der bleibt

Was ist der Rest, der bleibt, wenn man 80 ist? Zehn Jahre, fünfzehn, zwanzig oder irgendetwas dazwischen? Annekathrin Bürger will es nicht wissen. „Keiner will hinter diese Tür gucken“, sagt sie. „Ab der Mitte des Lebens, wo immer die auch liegt, wird er weniger, der Rest, der bleibt.“

Wir sitzen im Wintergarten, wie jedes Mal seit 21 Jahren, wenn ich für ein Interview hierherkomme. Ich mag die Gemütlichkeit, die Helligkeit, die Nähe der Natur. Große Fenster mit einer Schiebetür zum Garten geben den Blick auf eine schöne Rotbuche und die Rhododendren frei, die Annekathrins Mann Rolf Römer gepflanzt hat. Haus und Garten – das ist eine Geschichte für sich. Ich erfuhr sie irgendwann beim Übergang vom Sie zum du. Was hier steht und wächst ist das private Lebenswerk von Rolf Römer. Zu Hause schlüpfte der Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur in seinen Blaumann. Er mauerte, putzte, malerte, klempnerte und gärtnerte, um diese Oase zu schaffen. „Rolf liebte den Garten“, sagt Annekathrin Bürger.

Das Ende einer Liebe

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Rolf Römer, der „Gärtner“ erklärt seiner Frau Annekathrin, was er gerade gemacht hat ©privat 

Vor 17 Jahren wurde er ihm zum Verhängnis. Beim Laubverbrennen fing der Overall des Schauspielers Feuer. Rolf Römer starb am 14. März 2000 an den Folgen der schweren Verbrennungen. Am 3. April ist Annekathrin Bürger 80 Jahre alt geworden. 39 Jahre davon hat sie mit Rolf Römer verbracht. Es ist für sie legitim, dass wir über ihn sprechen. Neben ihrem Vater, dem Tierillustrator und Trickfilmzeichner Heinz Rammelt, war Rolf der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Sie waren ein starkes Paar, künstlerisch und im alltäglichen Leben, das sie durch einige Tiefen geführt hat. „Ich habe mich an das Alleinsein gewöhnt, nur manchmal fehlt er mir als Gesprächspartner, mit dem man sich gemeinsam erinnern kann.“
Sie nimmt einen Zug aus der Zigarette und schaut nachdenklich in den Garten. Sie hat das grausige Schauspiel mit ansehen müssen. Verzweifelt hat sie mit einer Decke das Feuer erstickt, den Notruf 112 gewählt. „Das Bild wirst du nicht los. Du musst es an dich heranlassen, damit du damit leben kannst“, sagt sie.

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Die Büste von Rolf Römer modellierte seine Schwägerin Christine Hadelich-Rammelt ©privat

In ihren autobiografischen Erinnerungen „Der Rest, der bleibt“ (2007) hat sie das innerlich alles noch einmal durchgemacht. „Über den Schmerz kommt man hinweg. Es macht mich nur unendlich traurig, wenn ich Filme mit Rolf sehe und wie gut er war. Auf der anderen Seite weiß ich, dass er nie wieder er geworden wäre und so nicht hätte leben wollen.“ Es war ihr Erklärung, Trost, beruhigender Abschluss der Trauer. Sie braucht keinen besonderen Anlass, um an ihn zu denken. Der Garten und seine Büste, die ihre Schwägerin Christine Hadelich-Rammelt modelliert hat, lassen ihn jeden Tag gegenwärtig sein. Annekathrin hat den Kopf ans Fenster gestellt mit Blick in den Garten, den ihr Mann so geliebt hat.

Ihre Gedanken kehren aus der Vergangenheit zurück. „Ja, was ist der Rest, der bleibt, wenn man 80 Jahre gelebt hat? Hört man auf zu rauchen?“ Nein, das wird sie sich nicht mehr abgewöhnen für den Rest, der bleibt. Ganz pragmatisch gesehen, habe sie ja damit doch ein ganz schön langes Stück Leben geschafft. „Hinter den 80 Jahren“, sagt sie, „steht eine schöne Karriere, die ich hatte, 61 Jahre Film, mit dabei 52 Jahre Theater. Jetzt versuche ich, mit dem Rest, der vorhanden ist, umzugehen.“ Sie drückt die halb gerauchte Zigarette aus, holt frischen Kaffee aus der Küche. Im Gehen und Kommen sagt sie: „Einfach etwas tun möchte ich noch. Aber für 80-Jährige gibt es wenige Figuren.“ Da fallen hin und wieder Minirollen ab wie in „Mord mit Aussicht“, „Nele in Berlin“ oder „Soko Stuttgart.“

der_rest_der_bleibtEs gibt Ausnahmen wie „Sein letztes Rennen“ mit Dieter Hallervorden 2012. Gerade fertig geworden ist der Spielfilm „Die Anfängerin“, in dem sie mit Ulrike Krumbiegel als Mutter und Tochter vor der Kamera steht. „Die beiden haben ein schwieriges Verhältnis zu einander, weil die Mutter das Leben ihrer Tochter immer dominiert hat.“ Ein Film mit Anspruch, eine Rolle mit Anspruch. „Ich war sehr glücklich, dass Regisseurin Alexandra Sell mich haben wollte. Schade ist nur, dass sich die Veröffentlichung so hinzieht.“ Eine Premiere um ihren 80. Geburtstag herum, hätte die Schauspielerin gefreut. Da wäre sie zu ihrem Jubiläum mit etwas Neuem in ihrem Metier präsent gewesen. Nun soll der Film im Herbst kommen und zunächst im Kino laufen, danach auf ZDF und Arte ausgestrahlt werden. Es macht sie ein wenig traurig, dennoch kann man zufrieden sein, meint sie. Annekathrin Bürger hat einen klaren Blick auf das Metier, in dem sie so lange erfolgreich war. Es ist nicht mehr verlässlich, schon gar nicht für jemanden, dem die allgemeine Popularität fehlt. Nach der Wende ist der gesamtdeutsche Film an ihr vorbeigegangen. Im Fernsehen hatte sie einige Rollen, die sie mochte. Sieben Jahre hat sie die Waschsalonbesitzerin Frederike im MDR-„Tatort“ mit Peter Sodann als Kommissar Ehrlicher gespielt.

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Annekathrin Bürger mit ihrem ehemaligen DDR-Kollegen Klaus Manchen  in der ZDF-Serie „Die Stein“ ©ZDF

In der Fernsehserie „Die Stein“ agierte sie als Mutter der Titelfigur. 2009 war sie in dem Episodenfilm „Eines Tages…“ als Ehefrau eines Demenzkranken besetzt. „ Ich habe nicht den Depressionsehrgeiz von Leuten, die daran verzweifeln, dass sie nicht mehr gebraucht werden“, erklärt sie. Sich anbieten, Klinken putzen, das hat sie nach der Wende nicht gemacht und dazu hat sie jetzt, mit 80, erst recht keine Lust. Auch wenn sie ihre Autobiografie untertitelt hat „Erinnerungen an ein unvollkommenes Leben“ ist es im Rückblick besehen erfüllt gewesen. „Ich habe kein Recht zu jammern, wenn ich keine Filmrolle mehr bekomme. Ich hatte alles.“

Durchgefallen und doch genommen

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Als Frederike mit Peter Sodann als Kommissar Ehrlicher im „Tatort“ ©mdr/Spitz

Dieses „alles“ begann 1955, als DEFA-Regisseur Gerhard Klein ihr die Rolle der Uschi in seinem Ost-West-Liebesfilm „Eine Berliner Romanze“ gab. Da hatte die 17-jährige Gebrauchswerberin Annekathrin Rammelt – unter dem Namen steht sie im Geburtsregister von Berlin-Charlottenburg – ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, bereits begraben. Sie war bei der Bewerbung an der Schauspielschule „Ernst Busch“ aufs nächste Jahr vertröstet worden. „Mein lieber Vater wollte mir helfen und gab mir eine Annonce. Die DEFA suchte ein waschechtes Berliner Mädchen, 16 bis 19 Jahre alt.“

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Annekathrin mit 17 als Bühnenbild-Assistentin im Theater Bernburg ©privat

Waschecht war sie, aber mit anhaltinischem Dialekt. Der Wehrmachtsgefreite Heinz Rammelt war im April 1945 von seinem Standort in Rathenow desertiert und mit seiner schwangeren Frau Anne und der kleinen Kathrin vor der heranrückenden Roten Armee in Richtung Elbe geflohen. „Wir sind in Sachsen-Anhalt kleben geblieben, ich bin da zur Schule gegangen, habe dann bei der HO eine Lehre als Gebrauchswerberin gemacht und war ein Jahr Bühnenbild-Assistentin und Requisiteurin im Theater Bernburg.“ Der Dialekt färbte über die Jahre ab. In Berlin hatte sie ohnehin nur ihre ersten vier Lebensjahre verbracht. Der Vater musste an die Front. Annekathrins leibliche Mutter Gerda, eine Tänzerin, gab das Kind in ein Heim in Thüringen. „1943 ließ sie mich dann in ein Jugendheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt in Brünn bringen. Mein Vater hätte das nie zugelassen. Meine Mutter war aber inzwischen mit einem nationalsozialistisch gesinnten Komponisten liiert. Sie ließ sich von meinem Vater scheiden“, erzählt die Tochter. Es gab nur noch einmal eine Begegnung zwischen Annekathrin und ihrer Mutter Gerda. „Da war ich 18“, erinnert sich die Tochter. In Rathenow lernte Heinz Rammelt eine neue Frau kennen. Sie heirateten 1944. Heinz Rammelt forderte das Sorgerecht für seine Tochter ein, seine Frau Anne wurde ihre neue Mutter. Annekathrin bekam noch zwei Brüder, Hans-Jörg und Olaf, die in Dessau leben. AK-Schauspielerin-Annekathrin-Buerger-in-Kamera-blickend

Jahre später, 1955, wartete sie in Babelsberg mit hunderten anderen Mädchen auf die Probaufnahmen und wurde aussortiert, ehe sie den Regisseur Gerhard Klein zu Gesicht bekam. Aber es war noch lange nicht aller Tage Abend. Im Sommer mimte Annekathrin auf Rügen für den Naturfilm „Gebirge und Meer“ eine Pionierleiterin. Klein hatte seine Uschi immer noch nicht gefunden und suchte sie nun gerade dort, wo Annekathrin drehte. Es ist das berühmte Quäntchen Glück, das sie hatte. Ihr Kameramann kannte den Regie-Assistenten, der sie in Babelsberg aussortiert hatte. Es war Heiner Carow, der später den Kultfilm „Die Legende von Paul und Paula“ gedreht hat. Annekathrin erinnert sich: „Ich entsprach überhaupt nicht Kleins Vorstellung, ich war ihm viel zu dick. Aber irgendwas muss es gewesen sein, dass er mich trotzdem genommen hat.“ Klein war kein Feinfühliger. Jeden Tag beim Essen hat er seiner Hauptdarstellerin jeden Bissen in den Mund gezählt und Stopp gesagt. Dass sie  krank werden könnte, kam ihm nicht in den Sinn, als er die Abschlussszene auf dem Jahrmarkt im Winter drehte. „Ich stand da in meinem dünnen Kleid, barfuß in Sandalen bei Minusgraden und musste Sommergefühle zeigen.“ Die Folgen blieben nicht aus.

Thein – Rammelt – Pape?

a_burgerFür Gerhard Klein war die gebürtige Berlinerin aus Bernburg eine Notbesetzung. Aber wie das manchmal so ist. Er drehte mit ihr einen der gelungensten DEFA-Filme. Mit ihrer Unbekümmertheit, Frische und Natürlichkeit bescherte das Mädchen mit dem Babyspeck dem Film einen Riesenerfolg. Allerdings blieben ihre ersten Fotos in den Zeitungen namenlos. Klein hatte ein Problem mit ihrem Familiennamen: Rammelt. Die Werbeplakate würden zur Lachnummer, wenn über den Fotos der Hauptdarsteller stünde: Thein – Rammelt – Pape. Sie sollte sich einen anderen Namen suchen. „Mir fiel nur Bürger ein, so hieß meine Großmutter Käthe. Und da sie Malerin war, also Künstlerin, passt das, dachte ich mir.“

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Fünf Jahre waren Annekathrin Bürger und Ulrich Thein ein Paar. Hier mit dem Esel Charlie, den er von Dreharbeiten zu „Fünf Patronenhülsen“ aus Bulgarien mitbrachte ©privat

2006 lief „Eine Berliner Romanze“ auf der Berlinale in der Retrospektive „Traumfrauen. Stars der fünfziger Jahre“. Annekathrin Bürger neben Doris Day, Elizabeth Taylor, Marina Vlady… Was für ein Gefühl! Sie lacht: „Ich hatte allen Grund, mich zu freuen. Aber was dachte ich: O Gott, was ziehe ich an? Wie soll ich denn da, 1,55 Meter groß, in keine gängige Konfektionsgröße passend, gegen Designerkleider halten, in denen die Stars und Nichtstars in diesen Zeiten stecken?“ Sie sah’s dann nüchtern: „Es geht um dich, deinen ersten Film, nicht um dein Kleid.“

Mit Gerhard Klein hat sie nie wieder gedreht. „Ich weiß nicht, warum er mich nicht mehr wollte“, sagt sie heute. Die Dreharbeiten hatten sie für ein Schauspielstudium qualifiziert, das sie an der Filmhochschule Babelsberg absolvierte. Die Dreherei lief nebenher weiter. Spur in der Nacht“, „Tilmann Riemenschneider, Verwirrung der Liebe“… Annekathrin Bürger war auf dem Weg zum Filmstar, der aber auch die Mühen der Ebenen zu bewältigen hatte. Sie büffelte, um Studium, Examen und Dreharbeiten mit  ihrem Privatleben unter einen Hut zu kriegen. Denn der Junge aus der „Romanze“ und das Mädchen haben die gespielte Filmliebe mit ins Leben genommen. Ulrich Thein und Annekathrin Bürger waren ein verlobtes Paar, bis er sie im Februar 1961 für die tschechische Schauspielerin Jana Brechová verließ. Einen Tag, bevor Annekathrin zur Premiere ihres Films „Fünf Tage – fünf Nächte“, der ersten deutsch-sowjetischen Koproduktion, nach Moskau flog.

Die Liebe und der Ananas-Fresser

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Annekathrin Bürger und Rolf Römer 1968 in „Mit mir nicht, Madam!“ ©DEFA-Stiftung

Als sie damals zurückkam, brauchte sie jemanden zum Reden. Ihr fiel sofort Rolf Römer ein, der sie schon an der Filmhochschule mit seiner Klugheit, seinem Durchblick und seiner Lebensweisheit beeindruckt hatte. Er kam ein Studienjahr später und irritierte sie zunächst. Spillerig, hager wie ein Specht – das war übrigens sein Geburtsname – aber mit einem ungeheuren Selbstbewusstsein ausgestattet. „Er fraß eine Büchse Ananas, als ich ihn zum ersten Mal sah“, erzählte sie in einem unserer früheren Interviews. Das hat sich eingeprägt. Aber er hatte etwas, das ihr gefiel. Er war ruppig, zärtlich, verletzlich, ehrlich. „Rolf provozierte mit seiner klaren Sicht auf die Dinge, mit seiner Direktheit. Er verbog sich nicht, was ihn immer politisch anecken ließ. Am Theater in Senftenberg, als er sich weigerte, sich von Heiner Müller Stück ,Die Umsiedlerin‘ zu distanzieren, wurde der Genosse Römer postwendend aus der SED ausgeschlossen“, beschreibt sie ihren Mann. Sie wusste damals, er mag sie. Nein, er liebte sie. Sie mochte ihn. Aus ihrem Mögen wurde Liebe. Sie wollte nur noch ihn. 1966 heirateten sie.  Er schrieb ihr mit „He, Du!“, Mit mir nicht, Madam! und „Hostess“ drei ihrer schönsten Filme.

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Annekathrin Bürger als Magdalena 1962 in „Königskinder“ ©DEFA-Stiftung /Pathenheimer

Das Jahr 1961 ist für das Leben von Annekathrin Bürger von besonderer Bedeutung. Frank Beyer hatte gerade mit ihr und Armin Mueller-Stahl die Dreharbeiten für „Königskinder“ begonnen, als es in Berlin politisch heiß wurde. Am 13.August teilte plötzlich eine Mauer die Stadt. Die DDR machte ihre Grenzen zum Westen dicht. „Das war ein Schock für uns“, erinnert sich Annekathrin Bürger. Das Leben wurde halbiert. Kein Kinobesuch mehr drüben, keine der großen amerikanischen und französischen Filme mehr sehen können. Nich zu reden von der Kosmetik, die sie nun nicht mehr kaufen konnten. Für Schauspielerinnen das A und O. Mit Rolf Römer diskutierte sie das Für und Wider der nun undurchlässigen Grenze. Mit nachhaltiger Wirkung. Der angehende Filmstar sieht über den Tellerrand ihrer Karriere hinaus und setzte sich von da an auch politisch auseinander, mischte sich in die Kulturpolitik ein, arbeitete im Rat für Kultur beim Minister für Kultur.

Erich Honecker sagte: „Bleibt wie ihr seid!“

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Annekathrin Bürger singt am 4. November 1989 auf dem Alex

Der Name Annekathrin Bürger hatte inzwischen Gewicht. Sie rettete 1975 Charlotte von Mahldorfs Gründerzeitmuseum. In einem persönlichen Gespräch wollte sie 1976 den Kulturminister über den ideellen Schaden aufklären, den die Ausbürgerung von Wolf Biermann nach sich zog. „Kaum jemand kannte ihn vorher. Durch diese Aktion bekam er eine unverdiente Popularität. Das war eine politische Dummheit“, sagt sie heute. Erreicht hatte sie damals nichts, der Minister war zum vereinbarten Termin außer Haus. Biermann blieb bis zur Wende draußen und viele andere Kulturschaffende sind auch gegangen. „Die ideologische Gängelei, die Repressalien wurden danach heftiger, bis zur Unerträglichkeit. Film, Literatur, Bildende Kunst litten darunter. Das durfte so nicht bleiben“, erklärt sie. Das Schauspielerehepaar Römer/Bürger schrieb sich in einem seitenlangen Brief von der Seele, was sich seit 1961 angestaut hatte, und trug dies in einem persönlichen Gespräch am 29. April 1977 Erich Honecker vor. Der Generalsekretär des ZK der SED hörte mit zustimmender Freundlichkeit zu. „Als wir nach einer Dreiviertelstunde gingen, sagte er zu uns: ,Bleibt, wie ihr seid!’ Wir haben viele guten Leute verloren.“

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Annekathrin als Klärchen 1963 bei der Probe für „Egmont“ mit Ottmar Richter, Regisseur Klaus Gendries (M) und Rolf Römer in Senftenberg @FMP/Kastler

Für Annekathrin Bürger und Rolf Römer stand die Frage nie, ob sie die DDR verlassen. Es war ihr Land, zu dem sie standen, zu der sozialistischen Idee, deren Umsetzung sich in der Realität als Utopie erwies . „Wir hätten viele Gelegenheiten gehabt, nicht wieder in die DDR zurückzukehren, bei Dreharbeiten im Ausland, bei Theater-Gastspielen, den DDR-Filmwochen in Frankreich oder unserem Urlaub in Italien. Aber das war nicht in unserem Sinne, nicht im Sinne unserer Eltern, die wir ohnehin nie verlassen hätten. Warum auch. Ich habe Fellini kennengelernt, und es wäre leicht gewesen zu sagen: Ich bleibe. Aus heutiger Sicht war man vielleicht blöd, das nicht zu tun. Aber uns erschien es damals unsinnig, ohne Freunde und Familie in ein fremdes Land zu gehen. Wir hatten ja alles.“ 

Ein Land geht verloren und eine gute Idee

Am 4. November 1989 passierte der Umbruch, der Versuch einer Reformation des realen Sozialismus. Auf dem Alexanderplatz in Berlin demonstrierten 500 000 gutwillige DDR-Bürger für eine Veränderung des doktrinären Systems. Annekathrin Bürger sang das Lied eines politischen Häftlings an Stalin und widmete es dem Schriftsteller Walter Janka. Sie war eine der Initiatoren des Begehrens für eine reformierte DDR, das von den Schauspielern, den künstlerischen Mitarbeitern der Volksbühne ausging, dem die anderen Theater folgten. „Wir standen auf dem Alex und wollten etwas anderes als das, was dann mit der Vereinigung passierte.“

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1990 in „Der Rest, der bleibt“ mit Alexander Höchst ©Gudrun Hensling

In dem Jahr, 1989, bekommt Regisseur Bodo Fürneisen endlich die Zusage des DFF, seinen Film „Der Rest, der bleibt“ zu drehen, den er bereits 1983 für Annekathrin Bürger geschrieben hat und realisiert ihn 1990. Sie spielt eine Chansonsängerin Ende Vierzig, die sich mit ihrem Mann nichts mehr zu sagen hat und eine Liaison mit einem 20 Jahre jüngeren Mann beginnt. „Sechsmal wurde das Buch vom DDR-Fernsehen abgelehnt, weil die Beziehung einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann unmoralisch sei, die Menschen würden dagegen protestieren. Umgekehrt ginge, das kenne man ja. Was für eine Heuchelei!“, regt sie sich jetzt noch auf. Ihr bedeutet der Film viel, für den auch sie so bei der Fernsehintendanz gekämpft hat. „Er ist zwar mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden, aber die Menschen haben ihn leider nicht wirklich wahrgenommen worden“, bedauert sie.

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Mit Stefan Lisewski 1958 in „Verwirrung der Liebe“.  Annekathrin Bürger wird immer beliebter beim DDR-Publikum ©DEFA-Stiftung

Die TV-Premiere des Films „Der Rest, der bleibt“ am 12. September 1991 fiel in eine Zeit, als die Menschen im Osten mit anderen Dingen beschäftigt waren. Sie mussten die neue Situation verdauen und sehen, wie sie ihre Existenz als Neubürger der BRD sichern. „Da waren viele schwarze Löcher zu überwinden, erinnert sich die Schauspielerin, die sich wieder nicht herausgehalten hat aus der Politik, als Vorsitzende der Nationalen Bürgerbewegung aktiv war und das Wort Solidarität praktizierte. Mit ihrem Mann Rolf Römer sammelte sie Hilfsgüter für  Waisenkinder in dem russischen Städtchen Rasswjet. Mit Gleichgesinnten gründeten sie 1993 den Verein „Waisenkinder am Don“ e.V.

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Das frisch verheiratete Ehepaar 1966 in Dresden ©privat

„Es war uns ein Bedürfnis, zu helfen, als wir von der Not und dem Engagement des Ehepaares Sorokin für die Kinder erfuhren. Ich habe die Organisation der Spendensammlung, die Koordination der Transporte nach Rolfs Tod noch zwei Jahre weitergeführt, bin nach Rasswjet gefahren. Dann habe ich das nicht mehr geschafft.“ Manchmal hat sie heute ein schlechtes Gewissen, sich nicht im Ehrenamt für die armen Kinder hierzulande zu engagieren. Aber dann fragt sie sich, was tut eigentlich die Regierung unseres reichen Landes für die Rechte der Kinder auf Bildung, soziale Sicherheit? „Das, was sie am besten kann: reden, Blasen schlagen.“

Seit dem Tod ihres Mannes lebt Annekathrin Bürger allein. Manchmal nervt sie das. Aber sie hat ihre Freundin, die Familie. Sie schreibt Gedichte und ist mit ihren musikalischen Lesungen „Weisheiten der Liebe“, „Erotische Geschichten aus Boccaccios Decamerone“ und ihrem Lyrik- und Chansonprogramm Liebe ist das schönste Gift“ unterwegs.

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Mit dem Gedichtbuch „Weisheiten der Liebe“, das sie zusammen mit ihrer Schwägerin Christine Hadelich-Rammelt geschrieben hat ©Michael Handelmann

Ihr Publikum hat sie noch nie vor leeren Sälen auftreten lassen. Ihre Wünsche für den Rest, der bleibt: „Ich hätte gern Figuren gehabt, die aus sich herausgehen, wo es knirscht, wie sie Jutta Hoffmann spielen durfte. Vielleicht kommt ja so eine Altersrolle mit Abgründen oder Konflikten noch.“ Es ist noch nicht aller Tage Abend.