Jutta Wachowiak: „Was ich zu sagen habe, gehört auf die Bühne“

Ich hatte nach langem wieder mal einen Theaterabend erlebt, der mich nicht mit einem unbefriedigenden Gefühl entließ. Ich konnte etwas anfangen mit dem, was mir erzählt wurde. Bei vielen Inszenierungen verstehe ich deren Interpretation nicht mehr. In der Box, der kleinen Bühne des Deutschen Theaters, habe ich mir „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ angesehen. Seit der Premiere im Oktober 2018 sind diese Vorstellungen stets ausverkauft. Ich muss gestehen, dass mich journalistische Neugier getrieben hat, denn es ist über 20 Jahre her, dass ich mit der Schauspielerin gesprochen habe.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
„Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ ist ein Theaterabend von Jutta Wachowiak, Eberhard Petschinka und Rafael Sanchez ©DT/Arno Declair

In ihrem Solo-Abend „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ spielt sie die Wärterin in einem Dinosaurier-Park, den man weder verlassen noch unkontrolliert betreten darf. Zunächst fragt man sich: Was hat der Blockbuster hier zu suchen? Doch schnell erschließt sich eine Parabel auf die DDR. Die Geschichte des Parks vermischt sich mit der Biografie der Schauspielerin. Sie reflektiert die äußeren und inneren Umstände ihres Lebens. Von den Kindertagen angefangen über ihren künstlerischen Werdegang in der DDR, die Zweifel an sich, die Hürden, die Erfolge auf diesem Weg. Sie erzählt von der Hoffnung, als sich der Park öffnet und dem Erlebten danach, wie sie zurückgeworfen wird, nichts mehr so ist wie es war. „Das war eine Zeit, in der ich lebte, als wäre keine Haut auf meiner Seele, so ausgeliefert war ich dem brutalisierten Alltag.“

…und alle heben sich gleichzeitig empor / von ihren Stangen / und flattern hinauf in die Kuppel / als hätten sie das Loch dort oben im Eisengitter / erst jetzt gesehen…“

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
„Ich kann jetzt überall hin, nur nach Hause kann ich nicht“,  sinniert Jutta Wachowiak in ihrem Monolog übetr die Folgen des Mauerfalls ©DT/Arno Declair

Wie die Dinosaurier in dem imaginären Park flogen die Menschen aus den geöffneten „Fenstern“ hinaus in die unbekannte Freiheit. Doch die neue Freiheit ließ sich nicht genießen. Als sie zurückkamen, war der Ort noch da, aber das Zuhause weg. Das Zuhause der Schauspielerin war das Deutsche Theater. Es wurde wie alle ehemaligen DDR-Bühnen einer Metamorphose unterzogen, die künstlerische Merkwürdigkeiten hervorbrachten. Intendant Thomas Langhoff konnte die vormalige künstlerische Höhe des Theaters nicht halten. Seine Inszenierungen seien konventionell, brav, gegenwartsfremd wurde ihm vorgeworfen. Jutta Wachowiak sah sein Dilemma, helfen konnte sie ihm nicht. „Die Arbeit mit Langhoff ist immer elektrisierend gewesen, bis seine Regie an Spannung verlor und ihr Magnetfeld plötzlich zusammenbrach.“ Beide kannten sie sich seit 1963 aus ihrer gemeinsamen Schauspielzeit am Hans-Otto-Theater. Unter seiner Regie stand sie in großen Rolle wie „Maria Stuart“ auf der Bühne oder als Rosi in dem dreiteiligen Fernsehfilm „Guten  Morgen, du Schöne“ nach Maxi Wanders Frauenporträts. Nun verstand sie ihn nicht mehr.

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Jutta Wachowiak 1993 als Mutter Wolffen in Thomas Langhoffs Inszenierung „Der Biberpelz“ am Deutschen Theater (Screenshot aus der ZDF-Fernsehaufzeichnung )

Es kamen Frank Castorf, Einar Schleef und Christoph Schlingensief mit ihren experimentellen Inszenierungen (postdramatisches Theater). Jutta Wachowiak tat sich schwer damit. „Maria Stuart“ flog nach zehn erfolgreichen Jahren 1993 vom Spielplan. Danach feierte sie zwar Erfolge als Mutter Wolffen in Gerhart Hauptmanns „Der Biberpelz“ (1993-97), als Frau Fielitz in seiner Fortsetzung „Der rote Hahn“ (1997). Dennoch wuchs ihr Unbehagen. „Ich hatte damals schon begriffen, dass Castorf und Schlingensief große Künstler sind. Mein Leiden hing eher damit zusammen, dass ich es nicht verstand. Und dass das an mir lag.“ Sie bemerkte, wie sie sich verlor, wie sie eine ungewollte Aggressivität entwickelte, mit der sie andere verletzen konnte. Sie stand morgens hinter der Tür und sagte: „So, die Stacheln raus und rein in die feindliche Welt.“ Das war nicht mehr sie.  Sie zog ihre Konsequenz. Als Schutz und um sich Sensibilität und Verletzbarkeit für ihren Beruf zu bewahren, trainierte sie sich „ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Alleinsein an. So bleibt meine Einmischung in das gesellschaftliche Leben nahe an meiner Arbeit.“  Viel später erst kam ihr ins Bewusstsein, wie sie mir sagt, woran das lag, dass sie sich in einer Verfassung befand, in der sie nicht mehr im Einklang mit sich selbst war. „Ich war damals wirklich aus meiner Mitte herausgerückt“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand.

Um die Leerlaufzeiten sinnvoll zu überbrücken, unterrichtete sie bis zu ihrem Weggang 2005 aus Berlin Szenenstudium an der Ernst-Busch-Hochschule für SchauspielkunstDas war eine Sache, die Spaß machte. Ich hatte das Gefühl, ich kann den jungen Leuten etwas verklickern. Dabei war ich selber immer am Ball, denn ich musste mich mit meiner ganzen Sensibilität und Beobachtungsschärfe einbringen.

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Herausragend war Jutta Wachowiaks Verkörperung der alternden Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz in Ralf Kirstens Filmbiografie „Käthe  Kollwitz – Bilder eines Lebens“ ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Als dem Berliner Senat 1996 aus Sparsamkeitsgründen die Idee kam, die „Ernst-Busch“ der Westberliner Hochschule der Künste unterzuordnen, schrieb Jutta Wachowiak einen Protestbrief an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. „Da hätte man einen gut funktionierenden Körper an einen Tropf gehängt. Das wäre das Ende der besten deutschen Ausbildungsstätte für Schauspieler gewesen“, kann sich noch so viele Jahre später darüber empören. Diese Unvernunft wollte sie nicht mittragen und war bereit, ihr Bundesverdienstkreuz, das ihr 1992 für ihr politisches Wirken im Herbst 1989 verliehen worden war, zurückzugeben, falls der Senat bei seinem Vorhaben der bliebe. „Man hat mich mit dem Orden für meine Integrität und Gründlichkeit belohnt. Und ich wollte nicht in Verdacht kommen, mich für Arschlöchigkeit loben zu lassen.

Da Eberhard Diepgen auf das Schreiben der Schauspielerin nicht reagierte, kam es zu einer spektakulären Protestkundgebung. Am 14. März 1996 verlas Jutta Wachowiak vor Hunderten Schauspielern, Studenten und Theaterfreunden im bat, dem Studiotheater der Hochschule, ihren Brief. Am 12. März hatten Schauspielstudenten und prominente Künstler begonnen, sich mit Aufführungen und Lesungen gegen die Schließung ihrer Schule zu wehren. Von überall her kamen Solidaritätsbekundungen. Intendant Jürgen Flimm vom Thalia Theater Hamburg schrieb, Thomas Langhoff vom Deutschen Theater, Birgitta Vallgarda von der Lunds Universität in Malmö. Das Schauspielhaus Zürich unterstrich, dass die „Ernst Busch“ mit ihren Besonderheiten und der anerkannten Qualität ihrer Ausbildung erhalten bleiben muss.

Regisseur Roland Gräf mit Jutta Wachowiak 1981 bei den Dreharbeiten zu  Märkische Forschungen“  nach dem Roman von Günter de Buyn ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Die Rolle der Mahnerin gehört nicht zu denen, die sich Jutta Wachowiak gewünscht hat, noch viel weniger, dass das mit „Henry-Maske-Tamtam“ passierte. „Aber es ging hier nicht anders“, betont sie in unserem zweiten Interview, dass wir 1998 führten. Die Fusion fand nicht statt. Die Ernst-Busch-Hochschule hat ihre Eigenständigkeit behalten, auch dank des Einsatzes der prominenten Schauspielerin. Der Orden, den sie nur an jenem Abend am Revers trug, liegt wieder im Schrank.

„Ich bin keine Intellektuelle“, sagt Jutta Wachowiak. „Ich fühlte mich denjenigen nahe, die ihren Brigadeausflug ins Theater machten. Darüber stellte sich zwischen uns eine Art konspiratives Einverständnis her.“ Im Herbst 1989 schloss sie sich ihrem Publikum an, engagierte sich dafür, dass sich in der DDR etwas ändert. „Ich konnte den „Zynismus und die Scheinheiligkeit im Umgang mit den Menschen nicht mehr ertragen. Da lag der Scheißhaufen mitten im Wohnzimmer, und die haben ein Spitzendeckchen drübergelegt. Und wehe dem, der sagte, es stinkt.“ Das hat sie geärgert an der DDR, dass die „feinen Herren aus Wandlitz in ihren Limousinen mit zugezogenen Gardinen zur Arbeit fuhren.“ – und auch wieder zurück. „Die wollten nicht sehen, was wirklich los ist. Trotzdem bin ich wahnsinnig froh, dass ich 40 Jahre auf unserer Seite zugebracht habe. Und den Rest sehe ich zu, dass ich meine Aufrichtigkeit und Integrität verteidige gegen andersgeartete Gefährdungen.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
Jutta Wachowiak nimmt das Theater als moralische Anstalt ernst. Es geht um eine gerechte Ordnung, um eine Gesellschaft der Freien, die moralisch handeln. Darum ging sie 1989 auf die Straße ©DT/Arno Declair

Den Aufbruch 1989 fand sie wunderbar: „Da flog noch mal der Kalk aus den Arterien, es kam Wind in die Bude.“ Jutta Wachowiak stand am 4. November 1989 mit in der ersten Reihe, als Theaterleute, Schriftsteller, Kunst- und Kulturschaffende am Berliner Alexanderplatz für Veränderungen im Staat protestierten. „Wir hatten keinen Umsturz im Sinn. Die Gesellschaft, den Staat umbauen, weiterbauen, darum ging es. Wir wollten die Möglichkeiten der öffentlichen Kritik und freien Meinungsäußerung einklagen, forderten eine andere Medienpolitik“, benennt sie das Anliegen von damals noch einmal.

Sie wurde Mitglied im Zeitweiligen Untersuchungsausschuss mit, der Licht in die gewalttätigen übergriffe der Polizei am 7., 8. und 9. Oktober an Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg bringen wollte. Die Erinnerung daran lässt sie in Rage geraten. Es war grässlich. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass so viele Leute sagten: Ich war’s nichts. Da habe sie viel dazu gelernt, konstatierte sie später.

Jutta Wachowiak als Käthe Kollwitz ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Wie sie den monatelangen Spagat durchgehalten hat, vermag sie nicht zu sagen. Tagsüber las sie Gedächtnisprotokolle, die ihr schlaflose Nächte bereiteten, führte Podiumsdiskussionen, abends stand sie als „Maria Stuart“ auf der Bühne des Deutschen Theaters. „Es ging schon an die Substanz. Vielleicht war es naiv, anzunehmen, wir könnten uns einmischen“, sann sie in unserem Gespräch nach. „Aber es ging um unsere Zukunft. Da konnte ich nicht einfach aufhören. Ich habe dafür eine moralische Verantwortung empfunden.“ Mulmig bis ins tiefste Innere wurde ihr, als am 9. November die Mauer fiel. „Da wusste ich, jetzt ist es vorbei mit Umbauen und Weiterbauen. Die Erfahrung aber war nicht umsonst“, denkt sie heute.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
Ich bin hier das Relikt“ , sagt sie ins Publikum ©DT/Arno Declair

Jutta Wachowiak leistet sich keine Larmoyance, keine Nostalgie im Blick auf ihr Leben, derer man ja schnell verdächtig wird heute. „Die Gesellschaft ist eine andere geworden, ich bin anders geworden. Ideologisch geprägte Verhaltensweisen wie Disziplin, Anpassung und Notwendigkeit sind jetzt ganz individuell bezogen. Haben einzig mit dem zu tun, was mich und meine Kinder angeht. Das habe ich zu akzeptieren gelernt.
Die Mutter hatte die Tochter gewarnt, als die aufmachte, Schauspielerin zu werden: „Kind, das ist ein sehr harter Beruf.“ Das bezweifelte die damals 17-Jährige nicht. Aber leicht wollte sie es auch nicht haben „Ich war immer jemand, der es ganz gerne schwer hat. Es muss natürlich auszuhalten bleiben“, erklärt Jutta Wachowiak sechs Jahrzehnte später. Die Zeiten dazwischen haben ihr viel abverlangt.

An die Grenzen des Aushaltbaren kam sie, nachdem Thomas Langhoff seinen Platz als Intendant des Deutschen Theaters räumen und der Solinger Bernd Wilms die Macht übernahm. Er verkörpert den Typ „Wessi“, der von der Warte des Siegers auf die Menschen im Osten guckt. Das hat Jutta Wachowiak sehr schnell zu spüren bekommen. Nach 30 Jahren am Deutschen Theater musste sich die Schauspielerin, die aus den Spielplänen nicht wegzudenken war, fragen lassen: „Wer sind Sie denn?“ So tief verletzt hatte sie noch niemand. Die Ausgrenzung begann. Wilm hat fast das gesamte Ost-Ensemble ausgetauscht. Nur die Unkündbaren wie Jutta Wachowiak gab es noch. Die Kollegen aus dem Westen blieben ihr fremd.

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1979 drehte Roland Gräf mit ihr die Liebesgeschichte „P.S“. Die Bewährungshelferin Margot (Jutta Wachowiak)  verliebt sich in den 18-jährigen Peter (Andrej Pieczinski) ©DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

„Sie stellen sich mal schön hinten an“, hieß es. „Ich war ja staatserhaltend! Habe Auszeichnungen bekommen. Das wurde mir angekreidet.“ Man ließ keine Gelegenheit aus, ihr klar zu machen, dass man sie für eine zwangsweise übernommen Altlast hielt. Die Bitternis von damals klingt an, als sie davon erzählt. Doch dann macht sich Empörung Luft. „Es gibt kein Gefühl dafür, dass wir da auch gerne gelebt haben. Dass wir uns gerieben haben oder dass wir Reglementierungen unerträglich fanden. Man stellt keine Fragen, aber weiß, wie es geht. Ein ganzes Land mit seinen sämtlichen Erinnerungen wird bis heute denunziert. Fähigkeiten, Leistungen, Ideen und Wissen werden ignoriert. Das ist entwürdigend, schmerzhaft und unnötig“, möchte ich die Schauspielerin hier aus dem Programmheft für ihren Abend Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ zitieren.

Man überging sie bei der Besetzung neuer Stücke. Manchen Tag setzte sie sich nachmittags ins Kino und sah sich Blockbuster wie „Blade Runner“ an. Sie wollte, dass die hämmernden Gedanken in ihrem Kopf aufhören: Bin ich wirklich nur auf Scheiße reingefallen? Haben wir wirklich nur Sklavensprache gesprochen? Habe ich mit meiner Kunst den Staat gestützt? Ihr Selbstbewusstsein war am Boden. Mit ihrem Soloabend „Iphigenie auf Tauris“ versuchte sie, sich zu lokalisieren. „Ich musste mich fragen, welche Spielregeln ich akzeptieren kann und welche nicht.“ Sie konnte und wollte die Demütigungen an dem Theater, das nicht mehr ihres war, nicht mehr ertragen.Am Ende der Spielzeit 2004/2005 zog einen schmerzlichen Schlussstrich unter 35 Jahre ihres künstlerischen Lebens am Deutschen Theater. Es war das einzig Richtige, das sie tun konnte. Sie musste da weg, weil sie nicht mehr spielen konnte.

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In dem Fernsehfilm „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (Josef Karlík) 1968 lernte die 27-jährige  Schauspielerin, dass sie rustikale Kraft und Lebenserfahrung der Partisanin Babka über eine ganz karge Grundhaltung ausdrücken kann Foto: Screenshot/ DDR-F, Günter Eisinger

Sie veließ die Gefilde, in denen man sie kannte,  ihre Leistung als der Schauspielerin schätzte, und folgte Anselm Weber, der als Gast am DT inszeniert hatte, auf dessen Angebot hin nach Essen. Weber übernahm als Intendant das dortige Schauspielhaus und baute mit jungen Leuten ein neues Ensemble auf. Rafael Sanchez, den sie auch schon vom DT kannte, Roger Vontobel, David Bösch. Die erfahrene Schauspielerin wollte ihre Erfahrungen weitergeben und mutierte selbst zur Lernenden. „Ich wollte ihre Art, Theater zu machen, verstehen.“ Sie bemerkte, dass die Jungen die emotionalen Verquickungen genau wie sie sehen. „Sie finden dafür aber ganz andere Bilder und meinen es nicht so angriffig, wie ich dachte.“ Sie ließ sich auf sie ein. „Plötzlich war mein Zugang zu ihren Inszenierungen viel größer“, konstatierte sie schon bald.

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Der 40jährige Karl (Dieter Mann) steckt in der Midlife- Crisis. Er verliebt sich in eine Jüngere und eröffnet seiner Frau Elisabeth (Jutta Wachowiak) nach vielen Ehejahren, sie nie geliebt zu haben.  Das gesellschaftskritische Filmdrama „Glück im Hinterhaus“ (1980 von Hermann Zschoche gedreht) ist eine Adaption von Günter de Bruyns Roman „Buridans Esel“ ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

In Essen, wo sie niemand kannte, keiner je DEFA-Filme geguckt hat, gelang es Jutta Wachowiak aus ihrem seelischen Tief, ihrer emotionalen Talsohle herauszukommen. „Ich fühlte mich in der Stadt keinen Moment fremd.“ Die Stadt, die Menschen und das Leben hatten etwas Vertrautes, es kam ein bisschen DDR-Gefühl hoch – ein gutes.  Sie blieb bis Anselm Weber ans Schauspielhaus Bochum wechselte und kehrte 2009 nach Berlin zurück. Sie traf Thomas Langhoff wieder, der sich national wie international als Regisseur etabliert hatte, und spielte am Berliner Ensemble in seiner Inszenierung „Donã Rosita oder die Sprache der Blumen.“ Ihr Neubeginn auf einer Berliner Theaterbühne. Das Deutsche Theater betrat sie erst 2012 wieder, als Rafael Sanchez sie in William Shakespeares Tragödie „Coriolanus“ besetzte. „Früher hätte ich auch keinen Schritt in das Haus setzen können, partout nicht“, sagt Jutta Wachowiak. Dass sie nun wieder öfter auf ihrer einstigen Hausbühne steht, bedeutet der Schauspielerin sehr viel.

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Jutta Wachowiak 1995 bei meinem Besuch in ihrem Sommerparadies ©Boris Trenkel

Für mein Interview 1995 besuchte ich sie in ihrem Sommerparadies auf der Potsdamer Halbinsel Hermannswerder. Ein winziges Stück Idylle, direkt am Templiner See. Wir saßen am Steg, an dem ein Paddelboot vertäut war. Wochenlang kann sie allein sein im Garten. Hier kann sie stricken, lesen, schwimmen, sich sonnen… Wenn die Aprikosen reif sind, lädt sie Freunde zum Knödelessen ein. „Ick muss mir Abwechslung verschaffen können, wann ick will. Sonst kriege ick die Motten.“ Die Parzelle, auf der sie sich ein Haus gebaut hat, ist auch ihr Schlupfloch, wo Trubel und Chaos des Alltags draußen bleiben.

Der Drang nach Abwechslung führte Jutta Wachowiak in den Schauspielerberuf. „Ich mochte Theater und bin in jede neue Aufführung gegangen.“ Als es daran ging, dass sie in der Schule einen Berufswunsch äußern sollte, hatte sie keine Vorstellung. „Ich war vierzehn, extrem winzig, gerademal 1,42 Meter und zart. Das ist jetzt vielleicht zum Lachen, wenn man mich anguckt.“ Sie lässt den Blick an sich heruntergleiten und hat dabei ein schönes Strahlen im Gesicht.

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Jutta Wachowiak 1980 ©DEFA-Stiftung/Nobert Kuhröber

Jutta Wachowiak hatte eine gescheite Mutter, eine echte Berlinerin, die fest im Leben stand. Im Kriegsjahr 1944 war sie mit ihren beiden Töchtern wie Tausende Berliner Mütter aus der Stadt in die deutschen Ostgebiete im heutigen Polen evakuiert worden. Nach Kriegsende kehrte sie in den Prenzlauer Berg zurück. Aus Angst vor den Russen ging die Mutter mit den kleinen Mädchen sie zu Fuß, lehnte freundliche Aufforderungen, sie mitzunehmen ab. Doch als die Kinder nicht mehr konnten, stieg sie doch auf die Ladefläche eines Wagens. Und die kleine Jutta schrie und schrie, bis es nicht mehr auszuhalten war. Da stieg der Offizier aus dem Wagen, ging  zu einem Garten und riss einen Stachelbeerstrauch heraus. Und Jutta pickte bis Berlin die Beeren ab und stopfte sie in den Mund. Ruhe war nun. Sie kamen in ihre Wohnung in der Wichertstraße, die noch war, wie sie verlassen hatten.

Die Mutter sagte ihrer feinnervigen und durch eine Lymphdrüsen-Tuberkulose im Wachstum zurückgebliebenen Tochter nun als es an die Berufswahl ging: „Pass auf, da lernste erst mal Steno und Maschine. Da kann man immer was mit anfangen. Dann sehen wir weiter.“ Also lernte das Mädchen Stenotypistin und war mit sechzehn Sekretärin beim Stadtbezirk Prenzlauer Berg. „Meine kleine Mama raste ins Büro, um mich und meine Schwester durchzukriegen. Sie war eine ganz ungewöhnliche Frau, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommend, mit einer ungewöhnlichen Toleranz versehen, so lebhaftem Interesse an ernsthaften Vorgängen zwischen den Menschen. Das hat sie mir alles mitgegeben.“ Die Mutter war im Jahr vor unserem Interview gestorben.

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Günter Linke fotografierte die Schauspielerin 1969  für ein Autogrammfoto ©FMP/Günter Linke

Es dauerte nicht lange, da fing die frischgebackene Sekretärin an,  ihr Büro andauernd umzuräumen, legte die Briefe mal hier hin, mal dort hin, damit die Handgriffe nicht immer die gleichen waren. „Ich merkte, ich bin nicht ausgelastet oder verkehrt an dem Platz.“ Nach einem Jahr suchte sich sie eine Anstellung bei der Notenbank. „Ganz bewusst da, weil ich wusste, die haben eine Laienspielgruppe.“ Nach der Arbeit im Büro stand sie auf der Bühne und empfand sich da am richtigen Platz. Wohlwollend beobachtet von ihrem Chef, Herrn Todtmann, der später Karriere im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe in Moskau machte. Jutta Wachowiak erinnert sich gern an ihn: „Er war ein feiner Herr mit romantisch gebildetem Hintergrund. Wir hatten lange Kontakt. Es war gut, sich mit so jemandem zu unterhalten, man kam über den eigenen Horizont hinaus.“ Herr Todtmann war es, der sie zur Schauspielschule schickte. „Fräulein Jutta“, sagte er, „hier können Sie nicht bleiben. Sie müssen zum Theater.“ Sie bekam von ihm zum Einstudieren Komödien von Curt Götz, die sie überhaupt nicht kannte, weil das kein Theater in Ostberlin gespielt hat.

Ihr Vorspiel an der Schauspielschule in Schöneweide endete im Fiasko. Sie sei unbegabt. „Wenn man fünf Stunden warten muss und dann nicht mehr kann, weil sich da eine Sensibilität verrät, die irgendwann von Nutzen ist, wenn man sie durch Professionalität mit Kraft versieht, ist das kein Zeichen für Unbegabtheit, sondern für das Gegenteil.“ So sieht es die erfahrene Schauspielerin heute. Und so sah das damals auch die wohl bekannteste Berliner Dozentin für Schauspiel Doris Thalmer, der Schauspieler wie Christian Grashof, Franziska Troegner, Dieter Mann und Katharina Thalbach ihr handwerkliches Können verdanken. Doris Thalmer schickte die 17jährige Jutta zur Filmhochschule Babelsberg und sagte ihr, sie müsse sich gleich vorstellen, weil man da nur bis achtzehn immatrikuliert. An der Schauspielschule suche man ohnehin handfeste, proletarische Frauentypen. Ein solcher war die zarte, fummelige Jutta ja nun nicht.

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Jutta Wachowiak und Christian Grashof 2019 nach ihrer Fontane-Lesung ©Andrea Doberenz

Das Studium in Babelsberg gefiel ihr. An der Filmhochschule konnte man ihrer Fummeligkeit umgehen. 1963 dann das erste Engagement am Hans-Otto-Theater Potsdam. Fünf Jahre blieb sie und hatte ordentlich Lehrgeld zu zahlen. „Ich war noch so hingebungsvoll, hatte eine übertriebene Anerkennung für alles, was die anderen sagten, dass ich anfing zu zweifeln, ob ich richtig bin in dem Beruf.“ Diese Selbstzweifel behinderten sie in ihrem Spiel, wenngleich sie auch Erfolg hatte als Eliza in „Pygmalion“, ihre erste größere Rolle. „Ich konnte mich nicht öffnen. Es war mir klimatisch nicht möglich, zu der Form aufzulaufen, die ich zu dem Zeitpunkt sogar schon hätte haben können“, schätzte die Schauspielerin im Rückblick ein.

Sie wechselte 1968 an die Karl-Marx-Städter Bühne. „Ich wollte erfahren, ob ich den Beruf durchhalte.“ Plötzlich hatte sie den Raum und die Atmosphäre, die sie brauchte. Sie spielte ohne Hemmungen, setzte ihre emotionale Kraft, ihre Phantasie und ihr erlerntes Können ein. An der Seite von Christian Grashof spielte sie die Luise in „Kabale und Liebe“. Es war eine unerwartet starke Darstellung, auch für Jutta Wachowiak selbst. „Ich besann mich wieder, warum ich den Beruf ergriffen habe und dass ich mir selbst der wichtigste Zensor bin.“ Sie legte sich ihre Messlatte selbst, und wenn es in ihren Augen „nüscht war“, hat es sie doch weitergebracht. 1970 holte der grandiose Schauspieler und Regisseur Prof. Wolfgang Heinz das kongeniale Paar Wachowiak/Grashof ans Deutsche Theater nach Berlin.

Es war ein Start mit Hindernissen. Jutta Wachowiak kam mit der brüskierenden Arroganz des Intendanten Hanns Anselm Perten nicht klar. Die Gelegenheit war günstig, sich erst einmal auszuklinken. Sie hatte gerade den Nachrichtensprecher Klaus Ackermann geheiratet und zu ihm gesagt: „Komm wir machen ein Kind“. Tochter Anja kam im November 1971 zur Welt, ein halbes Jahr später kehrte die junge Mutter ans Theater zurück. Schon sehr erwartet von Prof. Wolfgang Heinz. Er wollte mit ihr Tschechows „Onkel Wanja“ inszenieren. Perten war wieder weg.

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2012 inszenierte Rafael Sanchez Shakespeares „Coriolanus“ und besetzte Jutta Wachowiak als Cominius und Konsul ©DT/Arno Declair

Die Arbeit mit Wolfgang Heinz bescherte Jutta Wachowiak eine wichtige Erfahrung. Ehrfurcht und Demut vor diesem klugen Mann, diesem einfühlsamen Schauspieler und Regisseur, hatten sie anfangs in den Proben gelähmt. Sie wusste, in Prof. Heinz hat sie jemanden, der steht wie ein Fels. Ein gediegener, gewachsener. Wenn der sagte: Nein, Kindele, dann wollte er sie nicht schikanieren. Er wollte, dass die Sache gut wird. „Ich ging auf der Bühne in die Knie, wenn er von seinem Sitz im Saal etwas sagte. Ich ertrug es nicht, dass ich oben stand und er saß unten. Aber irgendwann im Leben gibt es einen Punkt, wo es anfängt, dass man die qualvollen Strecken auch genießen muss, damit sie Folgen haben.

Und dann kam dieser Punkt. Sie blieb stehen und führte den Dialog in aufrechter Haltung. Genau das hatte Wolfgang Heinz provozieren wollen. Sie redeten auf Augenhöhe. „Er wollte nicht, dass man in die Knie geht. Er wollte sich auch reiben.“ Auf diese Weise haben sie dann viele Jahre gearbeitet. Die Schauspielerin litt, als er nicht mehr so gegenhalten konnte mit wachsendem Alter. Sie zog für sich die Konsequenz. „Ich versuchte, zu ihm zu halten, dachte: jetzt ist dir eben eine Verantwortung zugewachsen, jetzt haste das mit aufzufangen. Das ist mir nicht immer gelungen.“

Hermann Beyer und Jutta Wachowiak als Ehepaar Pötsch 1981 in Roland Gräfs Literaturverfil- mung Märkische Forschungennach dem Roman von Günter de Bruyn ©DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer

Neben der Bühne hat Jutta Wachowiak seit ihrem Studium eine Parallelwelt vor der Kamera. Die DDR war klein, DEFA und Fernsehen hatten zwar eigene Ensemble, aber man griff gern auf Theaterschauspieler zurück. Sie brachten ihre Bühnenerfahrungen mit ein und hatten auf der anderen Seite selbst mehr Abwechslung in den Rollen. So funktionierte das 40 Jahre lang wunderbar.

Thomas Langhoff, der ab 1971 auch als Regisseur Fernsehfilme drehte, besetzte Jutta Wachowiak 1976 mit der Hauptrolle in seinem Frauendrama „Die Forelle“. Ihre erste große Filmrolle und ein Durchbruch vor der Kamera. Sie spielt eine junge Frau, die durch einen Unfall ihren Mann verliert. Allein mit zwei Kindern sehnt sich bald nach einem neuen Partner. Die Schauspielerin erspürt Leiden, Verlustschmerz, Sehnsucht, Hoffnung und Zweifel ihrer Figur mit einer seltenen Gefühlstiefe und Empfindsamkeit.

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Jutta Wachowiak und Erwin Berner 1977 in Thomas Langhoffs Fernsehspiel „Befragung  – Anna O.“ ©Waltraut Denger, Quelle: FFdabei 16/1977

Im Jahr darauf drehte Thomas Langhoff mit ihr das Fernsehspiel „Befragung – Anna O“, in dem es um eine Vierzigjährige geht, die lange von ihrem Mann getrennt war. Auf sich gestellt, hat sie sich zu einer starken, selbstbewussten Persönlichkeit emanzipiert. Jutta Wachowiak verlieh dieser Frau große Souveränität. Es entwickelten sich spannende und dramatische Spielszenen.

Der Regisseur holte seine Protagonistin immer wieder in Rollen vor die Kamera, in denen sie ihre spielerischen Facetten ausloten konnte. Er entlockte ihr in seinen eigenwilligen Adaptionen klassischer Sujets wie „Stine“ (1979) und „Stella“ (1982 die ihr gegebenen Fähigkeiten. 1980 entstand der sensible, warmherzige und auch heitere Fernsehfilm „Muhme Mehle“, nach einer Erzählung von Ruth Werner. Er spielt Anfang der 40er Jahre und ist eine Geschichte von der Freundschaft der unpolitischen Muhme (Käte Reichel) und der kommunistischen Funkerin Mirjam (Jutta Wachowiak), die abgelegen in den Schweizer Bergen leben.

„Die Verlobte” DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer
So akzeptierte es Jutta Wachowiak, das Standfoto machen zu lassen ©DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer

Ihre ergreifende Verkörperung der Widerstandskämpferin Hella Lindau im DEFA-Film „Die Verlobte“ dürften allen, die sie gesehen haben, unvergessen bleiben. Sie wurde dafür 1980 mit dem Nationalpreis I. Klasse der DDR ausgezeichnet. Auf dem XXII. Internationalen Filmfestival in Karlový Váry folgte im selben Jahr der Grand Prix. Die Filmfotografin Waltraud Pathenheimer erinnerte sich in einem Gespräch mit mir, wie schwer es war, eine bestimmte Szene nachzustellen. „Jutta Wachowiak weigerte sich, für das Standfoto nach dem Abdrehen noch einmal tief in die Szene einzutauchen. Es waren die ersten Einstellungen in der Wäscherei. Wir drehten auf einem Dachboden. Hella Lindau öffnet ein vernageltes Fenster und wird von dem Licht geblendet. Das wollte Jutta Wachowiak nicht wiederholen, weil es sie emotional sehr angespannt hatte.“ Die Fotografin suchte nach Lösungen, um die Schauspielerin zur Mitarbeit zu bewegen. Am Ende entstand eine bewegende Aufnahme.

Meine Filmbegegnungen mit Jutta Wachowiak begannen mit der DEFA-Komödie „Auf der Sonnenseite“. Sie studierte damals gerade im ersten Jahr an der Filmhochschule, als Regisseur Ralf Kirsten sie für einen Miniauftritt als Sängerin vor die Kamera holte. Wirklich erinnern kann ich mich an die Szene nicht. Dafür aber an den DEFA-Krimi „Die Glatzkopfbande“.

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Ende August 1961. Der ehemalige Fremdenlegionär King (Thomas Weisgerber, r.) treibt mit einer Band Rowdys (Rolf Römer als Jolle, l.) sein Unwesen in der DDR ©DEFA-Stiftung/Alexander Schittko

Er spielt wenige Tage nach dem Mauerbau am 13. August 1961 und erzählt von einer randalierenden Gang im Ostseebad Bansin. Aus Frust und Langeweile scheren sich die Jungs die Schädel kahl, knattern auf Motorrädern umher, pfuschen bei ihrer Arbeit und belästigen die Urlauber auf Usedom. Klar ist das ein Fall für den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei…
Für Jutta Wachowiak seien die Dreharbeiten 1962 ihre „erste grauenhafte Bekanntschaft mit dem Medium“ gewesen, erzählte mir die heute 79-Jährige. Als Kind hatte sie Lymphdrüsen-Tuberkulose und von dieser Krankheit eine schwarze Stelle im Schneidezahn zurückbehalten. Regisseur Richard Groschopp schickte sie zum Zahnarzt. „Der stülpte mir eine Plastekrone drüber, damit ich immer schön lächeln konnte. Mehr machte ich auch nicht, sonst wäre mir das Ding aus dem Mund gefallen.“

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Jutta Wachowiak spielte nur eine kleine Rolle als Marianne Pohl in dem ersten Actionfilm der DEFA, aber sie war nachhaltig ©DEFA-Stiftung/Alexander Schittko

Mit eingefrorenem Lächeln stakste sie so ungelenk durchs Bild, dass es sogar die bekannte und scharfzüngige Filmkritikerin Renate Holland-Moritz vom Satiremagazin „Eulenspiegel“ einer Erwähnung wert befand: Auffallend, die umwerfend miserable agierende Elevin Jutta Wachowiak… Heulend wollte sie sich von der Filmhochschule exmatrikulieren lassen, so blamabel fand sie sich. Aber was hatte sie ihrer Mutter gesagt: „Ich will ja auch nicht leicht haben.“ Nein, da musste sie durch! Viel zu nah war sie ihrem Traumberuf schon gekommen. Und die ihre Lehrer fanden eher den Film schlecht als sie.

Als ich Jutta Wachowiak 1995 kennenlernte, hatte sie gerade an der Seite von Harald Juhnke in der deutsch-österreichischen Adaption des Fallada-Romans „Der Trinker“ vor der Kamera gestanden. Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf hatte Hans Falladas tragische Geschichte des Unternehmer Erwin Sommer in die Zeit nach der Wende verlegt. Unaufdringlich-präzise ist Jutta Wachowiaks Darstellung der Ehefrau Magda Sommer. Über die Rolle hatte sie sich wahnsinnig gefreut. Es war das erste Mal, dass die damals 53-Jährige nach Jahren wieder vor der Kamera stand. Ihren letzten Film, „Scheusal“ (1990) hatte sie noch für das DDR-Fernsehen gedreht.

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Jutta Wachowiak und Harald Juhnke in „Der Trinker“ Quelle: DW-Kultur-Berlin

6,8 Millionen Zuschauer verzeichnete die ARD bei der Ausstrahlung des „Trinkers“ am 6. Dezember 1995. Was für die Schauspielerin wie ein Comeback in große Fernsehrollen aussah, erfüllte sich nicht. „Ich bekam sehr schöne Briefe von Leuten – die mir was wert sind – aber keine neuen Angebote“, erinnerte sie in unserem Interview drei Jahre später. Natürlich hatte sie darauf gehofft, doch festzuklammern hatte sie sich abgewöhnt. „Dieser Industriezweig, der heute Schauspieler verwertet, hat mich danach so wenig beachtet wie vorher.“

Der Markt war durch den Zulauf an DDR-Schauspielern nach Wende übervoll. Die Filmproduzenten und Casting Agenturen wussten auch kaum etwas anzufangen mit dem Namen Wachowiak, kannten ihn nicht mal. Dem Warten im Abseits begegnete die vormals sehr gefragte Schauspielerin mit Nüchternheit. „Es macht nicht glücklich, aber ich leide darunter nicht. Das Leben von Frauen zwischen 50 und 65 interessiert keinen, deshalb gibt es auch kaum gute Rollen für uns. Die Zeiten großer Filme, wie wir sie bei der DEFA und im DDR Fernsehen gedreht haben, sind ohnehin vorbei.“

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Jutta Wachowiak (M.) 1986  in dem DEFA-Film „Das Haus am Fluss“ von Roland Gräf. Die Fischersfrau Voß lebt mit ihren beiden Töchtern, der und Schwiegertochter und dem Schwiegersohn Jupp an einem großen Strom. Es ist das Jahr 1942 und der Krieg zieht auch hier ein ©DEFA-Stiftung/Dietram Kleist

Diese Vielseitigkeit anspruchsvoller Rollen vermisst sie. Eine ihrer intensiven Figuren war zum Beispiel die Hebamme Christine in Heiner Carows Mutter-Tochter-Film So viele Träume“ aus dem Jahr 1985. Im gleichen Jahr stand sie bei Roland Gräf in der tragischen Kriegsgeschichte „Das Haus am Fluss“ vor der Kamera. Jutta Wachowiak hält nicht viele Rollen, in denen sie in den Jahren nach der Wende vor der Kamera gestanden hat, für erwähnenswert. Da waren 1995 kleine, feine in der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ und „Nikolaikirche“. 1996 spielte sie in dem 12-minütigen Kurzfilm „Fremde Heimat“ von Damir Lukacevic eine der drei Frauen, deren Schicksal er erzählt. Der Film gewann den Bundesfilmpreis in Gold.

Die Zeit in Essen gehörte der Bühne und ihrer seelischen Genesung. Hier kam sie iirgendwann wieder bei sich an. „Es ist mir tatsächlich gelungen, wieder gesund zu werden. Das war ein mühsamer und sehr schwerer Weg“, schrieb sie mir in einer Mail. Sechs Jahre hatte sie keine Filmrollen angenommen. Zuletzt agierte sie 2004 in der TV-Biografie über die Schriftstellerin Brigitte Reimann als deren Mutter. Erst nach ihrer Rückkehr 2009 nach Berlin und auf die Bühne, kehrte die Schauspielerin  in einer kleinen Gastrolle in dem sozialkritischen ARD-Gesellschaftsdrama „Wohin mit Vater“ auch auf den Bildschirm zurück. Sie wollte wieder dabei sein. Es folgten Parts in der ZDF-Krimi-Reihe „Bella Block“ und der Beziehungskomödie Nach all den Jahren“.

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Sie knacken den 30-Millionen-Jackpot (v.l.):  das schwule Paar Otto (Ulrich Pleitgen) und Jacob (Joachim Bliese), die gutmütige Rosi (Ursula Karusseit), das liebesmüde Ehepaar Günter (Dieter Mann) und Karin (Jutta Wachowiak) und der alternde Lebemann Conrad (Michael Gwisdek) Altepflegerin Ursula (Marie Gruber, M.) sorgt sich um die sechs ©ARD Degeto/Arvid Uhlig

Zu ihren schönsten Rollen der letzten Jahre  gehört die lebensfrohe, rüstige Karin in der ARD-Tragikomödie „Die letzten Millionen“, die mit ihrem griesgrämigen Mann Günter in einem Seniorenheim wohnt. Der wird gespielt von ihrem großartigen Kollegen Dieter Mann vom Deutschen Theater, 1984-1991 Intendant des Hauses. Mit ihm spielte sie auch in Thomas Langhoffs Inszenierung Der Biberpelz“ auf der Bühne. „Die letzten Millionen“  sind eine wundervolle Ensemblearbeit herausragender Schauspieler, zu denen noch Ursula Karusseit, Marie Gruber, Swetlana Schönfeld, Michael Gwisdek, Ulrich Pleitgen, und Joachim Bliese gehören.

Jutta Wachowiak hat es geschafft, wieder dabei zu sein. Ihre kleine Rolle als lebenserfahrene Oma in dem Drama „Hanne“ war ein Highlight für mich. Zwei Hauptrollen im „Prag Krimi: Der kalte Tod“ und im „Polizeiruf 110: Mörderische Dorfgemeinschaft“ lassen auf mehr hoffen. Jutta Wachowiak steht im 80. Lebensjahr. Ich habe sie damals, vor 25 Jahren, gefragt, was sie sich für die kommende Zeit noch wünscht. Die Antwort: „Eine Rolle in einem richtig schönen Menschenfilm, wo zugegeben wird, dass das Leben wunderbar und erbarmungslos ist. Und eine schöne alte Frau möchte ich sein, äußerlich und innerlich.“ Letzteres hat sich aus meiner Sicht schon erfüllt. An der Sache mit dem Film könnten die Drehbuchschreiber noch arbeiten. Da ist noch Luft nach oben.

Wintersonnenwende
Zu Hochform lief Jutta Wachowiak 2015/16 als Corinna in Roland Schimmelpfennigs „Wintersonnenwende“ auf. Das Stück zeichnet ein genaues Bild der gegenwärtigen Mitte der Gesellschaft und kratzt dabei an der Wunde des schlimmsten Kapitels deutscher Geschichte. ©DT/Arno Declair

Ein Gedanke sei noch gesagt: Der Solo-Abend „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ ist mehr als eine Selbstreflexion der Schauspielerin über ihr Leben. Dabei sein heißt für sie, die zurückgewonnene Kraft nutzen, um sich unser Leben nicht immer von den erzählen zu lassen, die nicht dabei waren. „Für mich ist die Inszenierung auch ein Versuch, die offizielle Geschichtsschreibung ein wenig gerade zur rücken“, heißt es im Programmheft. Deshalb erzählt sie ihr Leben auch auf westdeutschen Bühnen wie Köln und Braunschweg.  Mag sein, dass es nicht allen Zuschauern gelingt, die Zusammenhänge bis ins Letzte zu erfassen – dafür muss man sich auskennen mit der DDR. Aber jeder Abend endet für die Schauspielerin mit dem wundervollen Gefühl, dass das Publikum ihr zugehört hat, sie zu verstanden hat. Dass sie es mit ihrer Botschaft erreicht hat.

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