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Schauspielerin Ursula Werner – Ein Leben voller glücklicher Fügungen

Endlich passte es. Ein halbes Jahr hat es gedauert, bis sich ein Termin für unser Treffen fand. Ursula Werner ist immer auf Achse, wie der Berliner sagt. Beruflich. „Ja“, sagt sie lachend, „ich habe in meinem gereiften Alter so viel zu tun, dass es schon an ein Wunder grenzt, dass wir jetzt hier zusammensitzen.“

Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) empfängt ihre Tante Lena (Ursula Werner) auf dem Bahnhof, nicht ahnend, dass diese nicht nur zu Besuch ist, sondern einem Kriegsverbrecher auf der Spur ©Benoît Linder

Allein im vergangenen Jahr hat sie fünf Filme gedreht. Im Januar war sie als „Lenas Tante“ im ersten Ludwigshafener Tatort 2023 mit Ulrike Folkerts auf dem Bildschirm. Schwärmerisch erzählt sie von der Schauspielerin, der sie vorher nie begegnet war. „Mich hat sofort gereizt, mit ihr zu spielen, da hatte ich das Drehbuch noch gar nicht gelesen. Ich bin ein Fan ihrer Krimis. Ich finde sie von einer großartigen Ausstrahlung, und das hat sich auch bei der Arbeit so erwiesen.“ Ursula Werner spielt die pensionierte Staatsanwältin Niki Odenthal, Lenas Tante, die ihr ganzes Berufsleben darauf ausgerichtet hatte, Naziverbrecher aufzuspüren und zu verurteilen. „Das Thema, die Untiefen der deutschen Vergangenheit aufzuzeigen, machte die Rolle für mich doppelt interessant.“

Eigentlich wollte sie nicht mehr so weit weg von Berlin drehen. Aber wenn ihr dann interessante Drehbücher und Rollen auf den Tisch kommen, sind das Fügungen, denen sie sich nicht entziehen kann – und auch nicht will. Sie hat noch mehr als genug Kraft und Leben in sich. Wüsste ich ihr Alter nicht, würde ich mich sehr verschätzen. Sie trägt die Energie der Jugend in sich und vereint sie mit der Erfahrung und Klugheit des Alters gleichsam ihrer Rolle der Lilo in Axel Ranischs Opern-Musical „Orphea in Love“, das der gebürtige Lichtenberger Regisseur im vergangenen Sommer in München inszenierte. Ursula Werner beschreibt diese Figur als „eine seltene Paarung zwischen alt und jung. In Lilo sind Lebenskampf und Lebenslust vereint, mit glücklichem und auch traurigem Ausgang. Axel Ranisch hat mit seiner Energie, seiner Freude und seinem Übermut soviel Lust an der Mitarbeit verbreitet! Es war eine Wonne, unter diesem optimistisch geladenen, heiteren Menschen zu spielen.“

Ursula Werner als Lilo mit Konstantin Krimmel als Wolfram von Eschenbach in Axel Ranischs Opern-Musical „Orphea in Love“ ©Bayerisches Staatstheater/Dennis Pauls

Der Film spielt in einer dystopisch anmutenden Welt, in der es durch die Liebe noch Hoffnung gibt. „Was anfängt wie ein klassischer Betrugsversuch, entpuppt sich als poetisches Kennenlernen zweier Filmfiguren, und das in einer traumhaften Zauberwelt zwischen Jacques Offenbach, Fred Astaire und LA LA LAND, ist auf der Webseite des 39. Münchener Filmfestes zu lesen. Am 23. März 2023 ist der Kinostart für Axel Ranischs bild- und klanggewaltigen Musikfilm.

Bevor ich zum Interview zu Ursula Werner fuhr, habe ich mir einen halbstündigem Science-Fiction-Horrorfilm angesehen, den sie 2018 mit der Regie-Studentin Sabine Ehrl gedreht hat: „F For Freak“. Dystopie pur. Ich stieß bei Facebook darauf und hatte zu tun, meine Beklemmungen loszuwerden. In einer dreckigen Zukunftswelt, die von überwuchernder Natur und menschlicher Leere geprägt ist, jagen große Menschen kleine. Kopfgeldjäger verkaufen sie als Organspender, Leihmütter, Hilfskräfte. Die 78jährige todkranke Gabriela, die Ursula Werner verkörpert, braucht eine neue Lunge, ein neues Herz. Sie muss sich ihre „Ersatzteilspender“ selbst erjagen. Damit nimmt ihre Verwandlung ins Unmenschliche ihren Lauf.

Gabriela (Ursula Werner) sieht ein Mädchen, das sie mit großen Augen anschaut. Die alte Frau erschrickt vor sich selbst, als ihr bewusst wird, was sie tut. Doch sie will leben, da kann sie keine Rücksicht nehmen „F For Freak“, 2018 Screenshot/©Stephan Buske

Ursula Werner bewegte diese Frau mit ihrer ganzen Körperlichkeit, ist psychologisch genau in Diktion und Mimik. Die plötzlich aufkeimenden Skrupel, an dem, was sie vorhat, die Angst zu sterben, die Selbstberuhigung, dass diese kleinen „Biester“ ja selbst schuld daran sind, dass man sie jagt, weil sie gesund und schön sind, und die Unbarmherzigkeit am Ende des Films, als Gabriela dem Mädchen einen Stein an den Kopf wirft, weil es seine Mutter und die anderen „Schlachtopfer“ aus dem Hospital befreit. Alles drückt Ursula Werner fast ohne Worte in einem ergreifenden und verstörenden Spiel aus.

Auf dem 24. Fantasia Shortfilmfestival 2020 in Kanada wurde sie für ihre Darstellung als „Beste Schauspielerin“ ausgezeichnet. „Der Film hat etwas Unheimliches, meine Figur ist gruselig, so etwas habe ich noch nie gespielt. Ich wollte das mal versuchen, zumal ich das von der Thematik her diskussionswürdig finde“, sagt sie. „Die Frau kommt in den Zwiespalt, wie weit reicht mein Egoismus, andere Leben zu vernichten? Wie weit reicht die Bereitschaft, andere Wesen nicht so lebenswürdig zu betrachten? Das ist ja eine Diskussion, die auf der Hand liegt in unserer Welt. Das knüpft an menschliche Untiefen an und geht über das Thema Organspende weit hinaus. Wozu werden Kriege geführt?“

Es ist eine rhetorische Frage, die Antwort kennen wir, sie wird uns jeden Tag in den Medien präsentiert. Nur muss man sie zu interpretieren wissen. Es ist zwar pure Illusion, aber Ursula Werner ist überzeugt, wenn Mütter schriftlich einwilligen müssten, dass ihre Söhne in den Krieg ziehen, gäbe es keine Kriege. Auf ihrem Auto hat sie einen Aufkleber: „Alle Macht den Müttern“.

Die Arbeit mit Nachwuchsfilmern ist für die Schauspielerin ein gegenseitiges Geben und Nehmen. „Sie wählen sich immer außergewöhnliche Themen, etwas, das aus dem Rahmen fällt“, sagt sie. Die Rollen, die sie bekommt, füllt sie mit Menschlichkeit aus, im Guten wie im Schlechten. Sie lässt in Abgründe blicken. Wie eben in diesem Thriller von Sabine Ehrl, dessen besonderer Reiz für Ursula Werner auch in der Aufnahmetechnik lag. „Es hat mich interessiert, wie da plötzlich diese kleinen Menschlein erscheinen.“ Im vergangenen Jahr stand sie in Osnabrück für den ZDF-Film „Im Tal der Könige“ vor der Kamera, das Spielfilmdebüt des jungen Regisseurs Tim Ellrich. Ein Familiendrama, in dem er seine eigene Geschichte verarbeitet.

Ursula Werner verkörpert in der Inszenierung „Das Himmelszelt“ die 83jährige Dorfälteste Sarah Smith, die selbst 21 Kinder hat und bis vor kurzem noch Handstand konnte ©Deutsches Theater/Arno Declair

Die Dreharbeiten kollidierten zeitlich mit dem Probenbeginn für das historische Gerichtsdrama Das Himmelszelt“ am Deutschen Theater. „Ich stand zwischen Baum und Borke“, sagt sie. „denn ich hatte mich schon Tim Ellrich für seinen Diplomfilm verpflichtet, als das Angebot für die Rolle am Deutschen Theater kam.“ Sie ist jemand, der zu einer Verpflichtung steht. „Man muss sich auf mich verlassen können. Wenn nötig, gehe ich mit dem Kopf unterm Arm auf die Bühne oder vor die Kamera.“ Sie arrangierte es so, dass sie später in die Theaterproben einstieg. „Ich war ganz glücklich, dass ich noch einmal am Deutschen Theater spielen konnte. 1972 hatte ich dort als Vertretung von Jutta Wachowiak und Gudrun Ritter als Charlie in Ulrich Plenzdorfs ,Die neuen Leiden des jungen W. gastiert. Das war kurios. Die eine war die Zweitbesetzung für die andere und beide fielen wegen Erkrankung aus.“

Das Tribunal der zwölf Gemeindefrauen und die Mörderin (r.). Ursula Werner als Sarah ist die zweite von links. ©Deutsches Theater/Arno Declair

Mit ihrer Rolle der 83jährigen Sarah Smith in dem Stück „Das Himmelszelt“ der britischen Autorin Lucy Kirkwood musste sie sich erst anfreunden, weil sie später zum Ensemble dazustieß. „Es ist eine spannende Geschichte“ erzählt sie, „die im Jahr 1759 in einem kleinen Dorf an der englischen Ostküste spielt. Eine junge Mörderin gibt vor schwanger zu sein, denn dann darf sie nicht gehängt werden. Schwangerschaftstests gab es noch nicht, also wurden zwölf Frauen aus der Gemeinde berufen, die feststellen sollen, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt. Diese Frauen mit ihren unterschiedlichen Haltungen und Ansichten sind tolle Figuren. Und ich habe mich gut reingefunden.“ Das macht die Schauspielerin Ursula Werner aus, ihre Schauspielkunst, die sie in 55 Jahren großartig beherrschen lernte.

In der ARD-Filmkomödie „Wer einmal stirbt, dem glaubt man nicht“, präsentierte Ursula Werner ihre komödiantischen Fähigkeiten als Psychologin a.D. Dr. Herta Lundin. Spitzzüngig, ironisch reagiert sie auf ihren selbstverliebten Sohn Ulf (Heino Ferch), einen Bestsellerautor Screenshot ©degeto/Mathias Neumann

Mit ihren fast 80 Jahren, hat Ursula Werner so viele Filmangebote, dass es ihr fast ein schlechtes Gewissen macht. „Andere, gute Kollegen, auch jüngere, warten auf Rollen. Sie müssen zusehen, wie sich durchschlagen.“ Das sind so Ungerechtigkeiten, die sie ungemein stören, ja, traurig machen, weil sie nichts daran ändern kann. „Das schlimmste ist, dass man sich manchmal so hilflos fühlt.“ Da bin ich ganz bei ihr. Selbst musste sich Ursula Werner nie Sorgen machen, ob sie ihren Kindern neue Schuhe kaufen und etwas zu Weihnachten oder zum Geburtstag schenken kann. Oder ob sie sich Ferien gönnen können. Sie hatte seit 1974 ein festes Engagement am Maxim Gorki Theater und war unkündbar, als man 1994 als Nachfolger von Albert Hetterle den Direktor der Münchener Falkenberg-Schauspielschule Bernd Willms einsetzte. Sie erzählt von den Umwälzungen, die nun stattfanden, den Entlassungen. „Ich habe mich bei Gastspielen in der BRD immer gewundert, warum sich die Gespräche der Kollegen dort immer ums Geld drehten. Im Nachhinein ist mir klar, was für eine Freiheit das ist, was für ein Gewinn, wenn man weiß, man kann sein Leben fristen, muss seine Wohnung nicht verlassen.“ Üppig waren Gagen am Theater in der DDR nicht. „Ich bekam 425 Mark Monatsgage bei meinem ersten Engagement 1968 in Halle, hatte aber auch eine Wohnung, die nur 35 Mark Miete kostete. Und ein Brötchen kriege ich heute nicht mehr für 5 Pfennig. Das waren unsere Relationen.“

Fenster ohne Gardinen

Es war kurz vor Heiligabend, als ich Ursula Werner besuchte. Ich hatte von unterwegs eine Tüte Kräppelchen und Spritzkuchen mitgebracht. „Was für eine gute Idee! Das hat ja noch keiner gemacht, zum Interview Futtereien mitzubringen. Wollen wir Kaffee oder Tee trinken?“ Sie mag Kaffee lieber, ich auch.

Ursula Werner wohnt seit ihrer Kindheit in der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg. Das Bild im Hintergrund ist ein Foto von ihrem Haus in Stepenitz ©Bärbel Beuchler

Das kleine Zimmer mit Blick auf die Stargarder Straße ist gemütlich. Sie hat sich in die Kissen auf dem Sofa gekuschelt, ich habe den Stuhl ihr gegenüber genommen. „Das war mal eine Küche“, erklärt sie. „Bei der Sanierung nach der Wende hat man zwei kleine Wohnungen zusammengelegt.“ Ich gucke durch das gardinenlose Fenster hinaus auf die Straße. Es sieht übel aus da draußen. Nieselregen, der auf dem kalten Pflaster sofort gefriert. „Du magst es auch lieber ohne Gardinen?“, frage ich. Sie nickt. „Schon immer. Wenn sich meine Nachbarn in Halle darüber aufregten, habe ich immer gesagt: Die Frau Werner hat viele schöne Gegenstände in der Wohnung, die braucht keine Gardinen.“

Fenster ohne Gardinen laden ein zum Hineinschauen in die Wohnzimmer. Ich mache das gern, wenn ich durch die Straßen gehe, erhasche da ein winziges Stück vom Leben der Bewohner. Ich sammele Eindrücke wie Mosaiksteinchen. Auch jetzt bei Ursula Werner. Auf der Sofalehne hockt ein weißer Teddybär auf seinem eigenen kleinen geblümten Sofa. Am Schrank neben ihr hängt eine überdimensionale Armbanduhr. „Davon habe ich zwei“, sagt sie. „eine hier und eine in meinem Haus draußen auf dem Land.“ Wie sie zu dem Haus mit Garten kam, ist eine der vielen glücklichen Fügungen in ihrem Leben, von denen sie mir erzählt. Es wird ein langer Besuch.

Ende der 70er Jahre suchte sie ein kleines, dauerhaftes Feriendomizil. „Ein Urlaubsplatz kam in der DDR einem Sechser im Lotto gleich. Wenn ich mit meiner Tochter Jenny verreisen wollte, war das ganz schwierig. Manchmal halfen Beziehungen. Mit zwei Kindern schien mir das unerreichbar“, erinnert sich Ursula Werner. „Ich dachte, ein Häuschen auf dem Land wäre die Lösung.“ Sie fragte ihre Freundin Heide Böwe, die Hörspieldramaturgin und Ehefrau ihres so sehr verehrten Kollegen Kurt Böwe, ob sie sich nicht mal umhören könnte. Vielleicht dort, wo sie ihr Ferienhaus haben. Und tatsächlich machte Heide Böwe in der Prignitz, der alten Heimat des Schauspielers, ein schon lange leerstehendes altes Jagdhaus aus, das die Gemeinde verkaufen wollte. „Es hatte ein großes Grundstück, war aber total heruntergekommen. Putz bröckelte von den Wänden, die Fensterscheiben waren kaputt, überall lag Schutt. Man brauchte schon Phantasie, um sich hier eine Ferienidylle vorzustellen.“

Ursula Werner hatte sie. Und es erfüllte sich ein Traum. Tief im Herzen hegte die Schauspielerin seit ihrer Kindheit den Wunsch, an einem solchen Ort zu leben. Mitten im Wald, mit einem Garten, einer großen Wiese, Sträuchern und Obstbäumen. „Ohne meine Freundin Marianne vom Maxim-Gorki-Theater, meine Mutter, meinen Vater und hilfreichen jungen Leuten aus dem Dorf hätte ich das nicht geschafft“, erinnert sie sich dankbar. Seit gut vierzig Jahren hat sie nun in Stepenitz ein zweites Zuhause, gewissermaßen auch ein zweites Leben. Unser Treffen scheiterte auch einige Male daran, dass sie ihre freien Tage zwischen Dreharbeiten und Proben am Deutschen Theater auf dem Land verbringen wollte. „Es tut gut, die Ruhe zu spüren. Die Leute hier im Dorf beschäftigen sich natürlich auch mit der Situation im Land, die für sie eine andere ist als für mich. Sie haben teilweise ganz andere Ansichten. Das ergibt sehr interessante Gespräche. Umweltschutz, Klima, Mobilität ist auf dem Land von anderer Wichtigkeit. Es ist schön, diese Seite zu erleben, nicht nur seine Stadt zu sehen.“

Ursula Werner Anfang der 2000er mit ihren Söhnen, dem heute 43-jährigen Johannes Werner (links), und dem heute 47jährigen Maximilian Richter (rechts) Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Über die Uhren verrät sie mir, dass es einmal Mitbringsel für ihre Söhne Johannes und Maximilian waren. „Ich fand sie originell, die Jungs damals auch“, lacht die 79jährige. Die Teenager wurden erwachsen und fanden die Uhren nicht mehr so toll. Die Mutter nahm’s gelassen und die Geschenke zurück. Zum Entsorgen waren sie ihr zu schade. „Da steckt Arbeit drin, Material und Energie, außerdem funktionieren sie noch. In unserer Wegwerfgesellschaft wird der Wert von Arbeit überhaupt nicht mehr geachtet.“ Das ärgert die Schauspielerin, die 1943 zur Welt kam und in der Zeit des Mangels nach dem Krieg ihre Kindheit erlebte, und gelernt hat, Dinge zu wertschätzen. Essen, Kleidung und was man noch so braucht im Alltag. „Komm, nimm doch auch was“, bittet sie mich und schiebt den Teller mit den Küchlein näher zu mir. „Wir haben als Kinder immer geteilt. Wenn wir auf der Straße oder im Hof Vater, Mutter, Kind gespielt haben, und jemand brachte ’ne Stulle mit oder ’nen Apfel, wurde das geteilt.“

Der Duft von frisch geschnittenem Holz

So sahen die Lebensmittelkarten 1958 in der DDR aus Foto: ©Museum-digital/Sachsen-Anhalt

Wir haben ähnliche Erfahrungen in unserer Kindheit gemacht. Lebensmittel waren damals rationiert. Brot, Fett – Butter, Margarine – und Fleisch bekam man nur auf Marken. In der DDR wurden die Lebensmittelkarten 1958 abgeschafft. Ich weiß noch, wie mich meine Oma, wenn ich in den Ferien bei ihr in Quedlinburg war, mit einer Lebensmittelkarte losschickte, um im Milchladen ein halbes Pfund Butter zu kaufen. Die Abschnitte dafür waren immer zuerst aufgebraucht. Manchmal bekam meine Oma ein Viertel Butter ohne Marke, weil ich zu Besuch war. Da half, dass sie die Milchfrau kannte.

Eine (Ost)Berliner Lebensmittelkarte für den Monat Februar 1950 Foto: ©DDR-Museum Berlin

In dem total zerstörten Berlin hieß das Gebot der Stunde in jenen Jahren: Organisieren. „Meine Mutter schaffte es immer, dass wir nicht gehungert haben“, erinnert sich Ursula Werner. „Wenn es kein Brot mehr gab, konnte man mit den Brotmarken Zucker kaufen, den es reichlich gab. Sie hat ihn dann in der Pfanne kandiert und für meinen Bruder und mich Bonbons gemacht.“ Ein besonderes Talent, Sachen zu beschaffen, hatte ihre Berliner Oma. „Die war richtig clever, wie man heute sagt. Sie besorgte zum Beispiel die Stoffe, aus denen meine Mutter für uns Kleidung nähte.“

Vieles, worüber wir sprechen, müssen wir uns nicht gegenseitig erklären. Zum Beispiel, dass die knappen Ressourcen in der DDR uns dazu anhielten, zu haushalten, nichts wegzuwerfen, was irgendwie noch gebraucht werden konnte. Weiterverwertung oder aus Alt mach Neu – heute heißt das Recycling – war in der Wirtschaft und im privaten Leben ein wichtiges Element. Als Kinder haben wir Flaschen, Gläser, Lumpen und Papier zum Altstoffhändler gebracht. Dafür gab es ein schönes Taschengeld. Dass heute fast nichts mehr repariert wird oder werden kann, findet Ursula Werner eine große Verschwendung. Da braucht ihr niemand mit Umweltschutz zu kommen. Vom freundlichen Plauderton schlägt ihre Stimme für einen Moment ins Energische um.

Elise Werner mit ihrer einjährigen Tochter Ursula auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Friedrichswalde Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Ursula Werner zusammen mit ihrem anderthalb Jahre älteren Bruder Willi auf dem Land auf. Hochschwanger hatte ihre Mutter im Sommer 1943, als die Royal Air Force schwere Luftangriffe auf Berlin flog, die Stadt verlassen und war zu ihren Eltern nach Friedrichwalde in die Uckermark zurückgekehrt. Es war ihr Glück. Das Haus, in dem die Werners gewohnt haben, wurde ausgebombt. So kam es, dass das Berliner Kind im Krankenhaus Eberswalde zur Welt kam. Auf dem Bauernhof der Großeltern suchten auch die Tanten mit ihren Kindern Zuflucht. Dann kehrte der Bruder ihrer Mutter aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück. Es wurde eng, aber alle fanden Platz, keiner musste in der Scheune schlafen. Onkel Gustav war Zimmermann. Wenn er seine Kreissäge in Gang setzte, quietschte es furchtbar. Andere hielten sich die Ohren zu, Ursula hüpfte das Herz vor Freude, wenn sie das Kreischen beim Aufwachen morgens hörte. „Manchmal durften wir Kinder mit dem Schälmesser die Borke von den Stämmen, die der Onkel zersägen wollte.“

Mit duftendem, frisch geschnittenem Holz zu werkeln, gefiel ihr sehr. „Ich hatte ein gutes, starkes Gefühl für Holz “, sagt sie. Als sie nach dem Abitur zunächst den Tischlerberuf erlernte, wusste sie sehr zu schätzen, dass der Onkel sie mit seinen Werkzeugen arbeiten ließ. „Ich wollte Innenarchitektur studieren, da war ein Facharbeiterbrief als Maurer, Zimmermann oder Tischler Voraussetzung.“ Sie absolvierte in Adlershof eine Lehre zur Möbeltischlerin. „Die Ausbildung war anstrengend. Wir fingen früh um sieben Uhr an. Der lange Weg war besonders im Winter bitter. Doch es machte mir alles Spaß, Hobeln, Sägen, Schleifen und aus den Teilen Tische, Schränke und Stühle bauen. Ich könnte das heute noch“, lacht sie, „müsste nur meine Kenntnisse etwas auffrischen.“

In solcher Idylle wie hier am Krummer See erlebte Ursula Werner ihre Kindheit auf dem Dorf bei den Großeltern Foto: ©Amt Joachimsthal

Die kleine Ursula erlebte eine wunderschöne Zeit. Friedrichwalde, mitten in der Schorfheide mit Wiesen, Wäldern und Wasser, war ein Paradies für die Kinder. Mit nackten Füßen durch feuchtes Gras laufen, Pilze und Blaubeeren sammeln, im See baden – was wollte man mehr als Kind. Später, als die Familie wieder in Berlin wohnte, fuhr sie immer wieder in den Ferien dorthin.

Ein nackter Mann auf dem Sportplatz

Wilhelm Werner war 1947 aus englischer Gefangenschaft gekommen, und so kehrte auch seine Frau Elise mit ihren beiden Kindern aus der Uckermark in den Prenzlauer Berg zurück. „Ich war vier und habe Onkel zu meinem Vater gesagt. Das ihn sehr traurig gemacht. Ich erinnere mich an sein Gesicht in dem Moment“, erzählt sie. Der Kiez um die Stargarder Straße ist ihr Heimat geworden. Von hier aus nahmen all die Fügungen ihren Lauf, die Ursula Werner zu einer der besten Charakterdarstellerinnen des deutschen Theaters und Films werden ließen. Das muss gesagt werden, wenngleich sie auf Platzierungen keinen Wert legt. Schon in der Schule war es ihr egal, ob sie Klassenbeste, zweite oder dritte ist. Sie hat gelernt, weil sie neugierig war, weil es ihr Spaß machte. So geht sie auch an ihre Arbeit heran. „Ich gucke, was wird behandelt, ist das Stück wichtig, ist es wahrhaftig? Da kommt es mir erst einmal gar nicht darauf an, wie groß oder klein die Rolle ist. Wichtig ist mir, dass der Regisseur weiß, was am Ende dabei herauskommen soll.

Ursula war noch fünf, als sie am 1. September 1949 mit Schultasche und Zuckertüte posierte Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Am 1. September 1949 kam sie in die Schule – mit der heißbegehrten Zuckertüte ihres Bruders Willi. An der Schliemann–Oberschule, dem heutigen Gymnasium in der Dunckerstraße, machte sie 1961 ihr Abitur. In der Abiturzeit hatte sie kurz mit der Schauspielerei geliebäugelt. „Ich nahm zur Kenntnis, dass sich drei Mädchen aus der Nachbarklasse an der Schauspielschule beworben hatten, aber es brachte mich nicht dazu, es als Vierte zu wagen. Zumal ich nicht mal wusste, wie man das macht.“ Die Drei waren die später bekannten Filmschauspielerinnen Renate Krößner, Heidemarie Wenzel und Petra Hinze.

Ursula Werner weiß von keinem aus ihrer Familie, der in irgendeiner Weise auf künstlerischen Pfaden gewandelt ist. Der Vater war Klempner und Rohrleger, die Mutter gelernte Stenotypistin und Schneiderin. Aber vielleicht steckte die Begabung zur Schauspielerei doch in ihren Genen. Wilhelm Werner besaß einen außergewöhnlichen schönen Tenor und einen echten Urberliner Witz. „Mein Vater sang Opernarien und Operettenlieder, erzählte seine Schnurren aus dem Stegreif. Er war sehr beliebt als Alleinunterhalter“, erinnert sich Ursula Werner. Doris Borkmann, die als „große alte Dame des ostdeutschen Films“ bekannte Regie-Assistentin und Casterin der DEFA, hat ihn eines Tages für den Film entdeckt. „Sie begegnete meinem Vater bei uns zu Hause, als sie mir wieder einmal ein Drehbuch vorbeibrachte. Ihr gefiel sein Wesen, sein Aussehen, seine ganze Art, und sie verpflichtete ihn für einen Film.“

Statt eines Fußballers, wie es der Auftrag für die Skulptur war, präsentiert Bildhauer Kemmel (Kurt Böwe, Mitte mit Schiebermütze) der Dorfgemeinde einen Läufer, noch dazu einen nackten ©DEFA-Stiftung/Alexander Kühn, Wolfgang Bangemann

Und das war 1973 für Konrad Wolfs spröde anmutende Tragikomödie „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“. Sie schildert ein Stück aus dem Leben des eigensinnigen Bildhauers Kemmel, der in seinem Dorf mit seiner Auffassung von Kunst und seinen Werken keinen Blumentopf gewinnen kann. In leisen, satirischen Episoden geht es um die große Frage, welchen Platz nimmt die Kunst in der sozialistischen Gesellschaft ein. Der 30jährigen Ursula Werner hatte Konrad Wolf die Figur der selbständigen Fotografin Angela zugedacht, eine etwas abgeklärte, bodenständige Frau. „Obwohl ich nicht wusste, wie ich diese Rolle bewältigen sollte, ich hatte von einer Fotografin eine ganz andere körperliche Vorstellung, groß und schlank, was ich absolut nicht bin, habe ich sie angenommen.“

Die Rolle der Fotografin Angela eröffnete Ursula Werner eine neue Sicht auf die Art und Weise, wie ein Regisseur ihre Fähigkeiten fordern kann Foto: Repro B. Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner, ©DEFA-Stiftung/Wolfgang Bangemann, Alexander Kühn

Drei Gründe gab es für sie: „Ich fand das Thema, das gerade hochaktuell war, spannend. Kurt Böwe, den ich wahnsinnig mochte, und der ein so großartiger Bühnenschauspieler war, spielte den Bildhauer Kemmel, über den die Angela eine Fotoreportage machen sollte. Und ich war neugierig auf Konny Wolf. Ich konnte mir nicht erklären, warum er mich besetzt hat. Wir kannten uns nicht.“ Konrad Wolf lockte aus der jungen Schauspielerin eine Art der Darstellung heraus, wie sie sagt, die bis dahin noch nie von ihr gefordert war. „Er hatte eine ganz feine Art, mich auf den Weg zu führen, den er wollte. Alles, was ich ihm anbot, war falsch, zu viel. Hat er aber nicht gesagt. Er nahm es einfach mit kleinen Hinweisen weg. Es war eine ganz tolle Erfahrung, dass ich ausdrücken kann, was jemand erwartet, wenn er weiß, was er will.“ Es war das einzige Mal, dass Ursula Werner mit Konrad Wolf gearbeitet hat. Ihr Vater spielte übrigens ihren Zimmervermieter.

Sie stieß immer wieder auf Menschen, die ihre Begabung sahen, ihr mehr zutrauten als sie es selbst vermochte. „Ja,“ sagt sie, „ich hatte viele gute Regisseure und Schauspieler an meiner Seite, von denen ich lernen konnte.“ Regisseur Robert Trösch vom Berliner Kabarett „Die Distel“ war so jemand. Er holte sie 1963 in das Ensemble. Er hatte sie im Laienensemble von Hella Len entdeckt. Ursula Werner nahm die Ausbildung, die die Schauspieldozentin und Regisseurin ihren Schützlingen angedeihen ließ, sehr ernst. Vielleicht ergab sich ja doch noch mal etwas, was aus der Liebäugelei mit der Schauspielerei mehr werden ließ. Und die „Distel“ war ja immerhin ein Anfang. „Ich sollte die Lücke füllen, die Ellen Tiedtke mit ihrem Weggang hinterlassen hatte“, erzählt Ursula Werner. Überzeugt war sie nicht, dass sie das kann. Ellen Tiedtke beherrschte ihr Handwerk, war eine brillante Kabarettistin, und ich spielte in einem Laienensemble im Haus der DSF, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft.“ Das lag gleich nebenan zum Maxim Gorki Theater, was sich später als eine glückliche Fügung erweisen sollte.

Ursula Werner bei ihrem Bühnendebüt „Bette sich, wer kann“ 1963 in der Berliner Distel mit Gerd E. Schäfer Repro B. Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner/©Die Distel

Robert Trösch hatte das richtige Gespür dafür, was er von der Amateurin fordern konnte, wusste sie als Farbe einzusetzen. Ursula Werner brachte das Burschikose, das Urberlinische mit, das Ellen Tiedtkes Besonderheit war. „Es schien mir naheliegend, dass das für Robby Trösch eine wichtige Voraussetzung gewesen war, mich zu engagieren. Das Handwerkliche zu erlernen sah er als Sache, die sich bei der Arbeit ergeben würde – und auch ergab.“ Gerd E. Schäfer, Gustav Müller, Heinz Draehn, Hanna Donner und Ingrid Ohlenschläger, Größen des Kabaretts in der DDR, ermunterten die Kleene. „Doch, doch, das schaffst du schon!“ Und so bekam sie ihren ersten Bühnenvertrag.

Zwischen Tischlerlehre und Theaterspiel

Dass sich die damals 20jährige mit der Schauspielerei angefreundet hat, lag an dem jungen Regisseur Helmut Nitzschke, den sie zwei Jahre zuvor kennengelernt hatte. Er suchte Darstellerinnen für seinen Diplomfilm Sorgenkinder“. „Ich hatte durch einen Bekannten davon gehört und dachte, dass ich mal ausprobieren könnte, wie das so geht als Schauspielerin beim Film.“ Also stellte sie sich bei ihm vor und bekam eine kleine Rolle. „Es war ein großes Erlebnis für mich, als künftige Schauspielerin sah ich mich da jedoch noch nicht.“

Uschi (Ursula Werner) ist durch den Unfalltod ihres Vaters Waise. Ihr stehen Schorsch (Erwin Geschonneck, l.), Marianne (Marianne Wünscher h.l.) und Hans (Peter Rose, r.) zur Seite ©DEFA-Stiftung/Rudolf Meister

Helmut Nitzschke hatte in zweifacher Hinsicht an ihr Gefallen gefunden, wie sich bald herausstellte. Ein paar Monaten danach saß er eines Tages im Büro ihres Direktors in der Möbeltischlerei. „Da will dich jemand von der DEFA für seinen Film“, empfing er sie. Sie erkannte sofort ihren Regisseur wieder. Helmut Nitzschke hatte extra für sie eine Rolle in seinen Film „Wind von vorn“ geschrieben – in der Hoffnung, sie würde „Ja“ sagen. „Na klar, habe ich ja gesagt. Keine Frage. So eine Chance lässt man sich doch nicht entgehen!“
Der Film erzählt die Geschichte des LKW-Fahrers Schorsch, der im Auftrag des Erdölverarbeitungswerks Schwarze Pumpe Ersatzteile zu den Brigaden auf Außenmontage bringt. Bei einem tragischen Unfall kommt sein Freund Hannes ums Leben. Schorsch nimmt sich dessen Tochter Uschi an. Helmut Nitzksche, für den das sein erster großer DEFA-Spielfilm werden sollte, und Kameramann Roland Gräf zeichneten ein realistisches Porträt der Menschen und ihrer harten Arbeitswelt, sparten dabei auch Planfälschungen, Saufgelage und Prügeleien nicht aus.

Regisseur Helmut Nitzschke (Bildmitte, mit Sonnenbrille) gibt Erwin Geschonneck (LKW-Fahrer Schorsch) Regieanweisungen bei den Dreharbeiten 1961 zu „Wind von vorn“. Drehort hier ist ein Braunkohletagebau bei Spremberg ©DEFA-Stiftung/ Rudolf Meister

Nachdem ungefähr zwei Drittel des Films abgedreht waren, ließ die DEFA-Direktion die Arbeiten wegen „künstlerischer Mängel“ einstellen. Roland Gräfs Aufnahmen würden die „ästhetischen Normen“ verletzen, wie es intern hieß. Was immer damit auch gemeint sein sollte. Der Kameramann selbst mutmaßte, dass seine herben, ungeschönten Großaufnahmen von Arbeitergesichtern die Direktion verstörten. Der Kulturwissenschaftler Joachim Mückenberger war damals gerade zum Generaldirektor des Spielfilmstudios ernannt worden. Und wollte offenbar nichts verkehrt machen. Das Filmmaterial gilt als vernichtet. Nur einige Arbeitsfotos sind erhalten geblieben. Auch einige Fotos von Ursula Werners in ihrer ersten Rolle in einem DEFA-Film. „Ich fand es sehr mutig, mir als Laiin so eine große Rolle zuzutrauen“, erinnert sie sich.

1963. Die Braut, mit Myrthen im Haar, schaut verliebt auf ihren Mann Helmut Nitzschke. Es blieb Ursula Werners einzige Hochzeit Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Die Dreharbeiten hatten ein unerwartetes Nachspiel. Ursula Werner und ihr Regisseur verliebten sich an dem unromantischsten Ort, den man sich vorstellen kann. Zurück in Berlin stand bald die Frage, wie soll es weitergehen? Sie war Achtzehn, er Fünfundzwanzig. Auf ewig Händchen haltend Spazierengehen konnte es nicht sein. Kurz und knapp: Helmut Nitschke machte ihr eines Abends vor der Haustür ihrer Eltern in der Stargarder Straße 5 einen Heiratsantrag, und sie sagte ja. „Es war meine erste und einzige Ehe, um das vorwegzunehmen“, erzählt sie mir mit einem Lachen sechs Jahrzehnte danach. „Und von heute aus betrachtet, mutet diese Heirat doch recht ungewöhnlich an. Ich war ein Arbeiterkind aus dem Prenzlauer Berg und Tischlerlehrling, er ein aufstrebender junger Regisseur aus einem künstlerischen Elternhaus.“

Ihr Mann hat sie nie gedrängt, ihre Lehre aufzugeben, obwohl er wusste, welche schauspielerische Begabung in ihr steckte. Dann hatte sie 1964 ihren Facharbeiterbrief in der Hand, konnte ihr Vorhaben, Innenarchitektur zu studieren, jedoch nicht umsetzen. Es gab keine freien Studienplätze an der Fachschule für angewandte Kunst in Heiligendamm. Das hieß, ein Jahr warten, und es dann noch einmal versuchen. Was tun in der Zeit? „Ich war alles andere als eine Hausfrau.“ Der Gedanke ans Schauspielen flackerte wieder auf. So stieg Ursula Werner im Haus der DSF in die Laienspielgruppe von Hella Len ein, die ihr kleine Rollen in Stücken am Maxim Gorki Theater übertrug, und wo sie „Distel“-Regisseur Robert Trösch entdeckte. Das Studium in Heiligendamm zerschlug sich endgültig mit ihrem Erfolg, den sie am Kabarett hatte. Ja, sie hatte jetzt richtig Lust auf diesen Beruf.

Ursula Werner 1963 Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Nach zwei Anläufen begann sie 1965 schließlich an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin-Schöneweide mit dem Studium. Endlich war sie auf dem richtigen Weg, an dessen Anfang ein riesiger Stolperstein lag. Beim ersten Vorsprechen in der Eignungsprüfung hatte sich ihr ausgeprägter Berliner Dialekt als Tücke erwiesen. Ein Stück aus „Faust“ galt als obligatorisch. Sie hatte sich Lieschen am Brunnenausgesucht. Dieses Lieschen berlinerte derart, dass die Prüfer zurückzuckten. Als Eliza Doolittle aus Bernarnd Shaws „Pygmalion“ machte sie einiges wett. „Ausnahmsweise durfte ich noch mal wiederkommen.“ Das zweite Vorsprechen lief gut, dank der DEFA-Schauspielerin Friedel Nowack, die mit der Berliner Göre die Katharina aus Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung“ einstudierte. Ursula Werner demonstriert beim Erzählen, wie schwer ihr das Hochdeutsch auf der Zunge lag. „Ich dachte neulich nach“, sagt sie, „warum mir das Berlinische so selbstverständlich war. Wir kamen aus der Uckermark nach Berlin und haben platt gesprochen.

Die Zweitklässlerin Ursula Werner mit ihrer Banknachbarin Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Die Kinder auf der Straße machten sich lustig über meinen Bruder und mich. Da haben wir uns ganz schnell angepasst. Das Platt verwischte sich und Berlinern wurde meine Muttersprache.“ Davon ist fast nichts zu merken. „Das Schleifen eines Dialekts muss sein für diesen Beruf. Aber ich finde es wichtig, dass auch etwas erhalten bleibt. Das macht die Satzmelodie natürlich.“ Und was hältst du vom Gendern? Sie prustet. „Da würde ich abgehen. Das sieht als Schrift hässlich aus und ist beim Sprechen doppelt hässlich! Ein Graus!“ Sie will kein Unterstrich, kein Doppelpunkt oder ein „In“ sein, das auch nur ein Anhängsel vom Mann, also dem Maskulinum, ist. „Das ist doch das Gegenteil von dem, was die Genderfrauen erreichen wollen: Sie sind unten drunter, nicht auf gleicher Höhe!“ Keine Frage.

Die 13jährige Ursula in ihrem hübschen Konfirmationskleid Foto: Repro: Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner

Übers Erzählen ist es Zwölf geworden. Die Glocken der Gethsemane-Kirche schräg gegenüber läuten. Die Kirche hat Bedeutung für Ursula Werner. Nicht nur, weil sie dort zum Kindergottesdienst ging, als der Religionsunterricht nicht mehr in der Schule stattfand, da sich der Staat von der Kirche getrennt hatte. Die DDR wurde ein säkularer Staat. Die Kirchensteuer wurde nicht mehr automatisch vom Lohn oder Gehalt abgezogen, so wie heute wieder, wenn man nicht amtlich bescheinigt aus der Kirche austritt. „Wir waren eine christliche Familie, ich bin getauft und bin mit dreizehn eingesegnet worden. Meine Eltern haben mich nicht dahin gejagt, ich fand es interessant, etwas aus der Religionsgeschichte zu erfahren. Vieles in der Kunst, vor allem in der früheren Malerei, geht darauf zurück. Ich konnte meinen Kindern immer die biblischen Zusammenhänge auf Gemälden erklären.“ Für sie hat es nichts mit Glauben oder Nichtglauben zu tun, die Bibel zu kennen. „Es ist eine Bildungsfrage“, erklärt sie. Darin kann ich ihr zustimmen. Ich sehe mir gern Kirchen an. Aber die Darstellungen an den Kuppeln, Fenstern und Kanzeln erschließen sich mir ohne Erklärung nicht. Einiges haben wir im Kunstgeschichte-Unterricht besprochen. Leider ist davon bei mir wenig hängengeblieben. Die Schülerin Ursula Werner ging auch zu Pioniernachmittagen, ohne Pionier zu sein. „Meine Mutter fand die Organisation nicht gut, verbot mir aber auch nicht, zu den Arbeitsgemeinschaften und Treffen zu gehen. An der Erweiterten Oberschule bin ich dann in die FDJ eingetreten. Ich sah das als Abschluss meiner Kindheit an. Die blauen Blusen mit der gelben Sonne strahlten ja auch etwas Optimistisches aus.“ Nach vorn schauen hieß es für sie und ihre Familie.

Willi Werner mit seiner Schwester Ursula 1961 beim Studentenfasching. Beide sind seit ihrer Kindheit ein Herz und eine Seele. An dem Abend setzte ihr ein Student der Filmhochschule Babelsberg den „Floh“ ins Ohr, sich als Schauspielerin zu versuchen Foto: Privatarchiv Ursula Werner

Dass ihr Bruder Willi, er studierte Physik an der Humboldt-Universität, 1961 mit falschem Pass in den Westen abgehauen ist, hat sie verstanden. „Er wollte schon als Junge die Welt bereisen, Forscher und Entdecker werden. Mit der Mauer vor der Nase ging das nicht. Also machte er einen Abflug, beendete in West-Berlin sein Studium und nahm ein Angebot der NASA an. Willi arbeitete viele Jahre in der Weltraumforschung in den USA. Genau so etwas hatte er sich gewünscht. Amerikanischer Staatsbürger ist er nicht geworden. Sich in den Vietnam-Krieg hineinziehen lassen, danach stand ihm nicht der Sinn. Er war dann drei Jahre in Australien und ging von dort nach Südafrika. Mir kam 1961 gar nicht in den Sinn, dass ich Willi viele Jahre nicht sehen würde.“ Seit 2000 sind sie wieder in Berlin vereint. Ihr Bruder kehrte mit seiner malaiischen Frau und ihren drei Kindern in die Heimatstadt zurück.

Seine Schwester hatte nie den Wunsch, auszureisen oder sich bei Gastspielen in den Westen abzusetzen. „Dass ich die Reisefreiheit nicht hatte, finde ich bedauerlich. Aber ich habe in der DDR keine Tafel kennengelernt, brauchte keine Arche, keine Suppenküche aufsuchen, weil ich ein zu armes Kind war. Keiner musste bei uns um ein paar Groschen betteln. Das war für mich Literatur des 18./19. Jahrhunderts, nicht Realität.“ In dieser Gesellschaft, in der wir leben, hat das nie aufgehört für Millionen Menschen, genauer 13, 87 Bundesbürger, Realität zu sein. Was das Reisen angeht, räumt sie ein, sei sie in der DDR privilegiert gewesen. „Ich konnte mich auf Gastspielen umschauen.“ Und was sie gesehen hat, habe sie sehr nachdenklich gestimmt. „Ich fand dieses überbordende Angebot in den Warenhäusern irrsinnig. Daran hat sich ja bis heute nichts geändert. Das kann doch kein Mensch verbrauchen! Und auf der anderen Seite gibt es in unserer sich so sozial gebenden Gesellschaft diese schreckliche Armut. Die Leute gehen arbeiten und können davon nicht leben. Das können Staat und Politik doch nicht wollen?.“ Fragezeichen, Punkt. Wohin geht die Reise?

Studienzeit und erster Film im Kino

Manfred Krug als Tannhäuser und Ursula Werner als Knappe Moritz 1966 in der DEFA-Filmkomödie „Frau Venus und ihr Teufel“ Screenshot ©DEFA-Stiftung/Hans Heinrich

Nein, Ursula Werner musste sich zu keinem Zeitpunkt um ihre Zukunft sorgen. An der Schauspielschule angekommen, ging alles seinen sozialisitischen Gang, wie wir immer sagten. Wenngleich das erste Studienjahr ein bisschen anders verlief, als es sich die 22jährige vorgestellt hatte. Ein halbes Jahr war sie da, als die DEFA schon anklopfte, und sie für einen Film mit Manfred Krug vor die Kamera holte. „Frau Venus und ihr Teufel“ wurde ihr erster Kinofilm, der es auch auf die Leinwand schaffte und noch immer beliebt ist. Über 59.000mal streamten Fans die heiter-musikalische Liebesgeschichte 2022 bei YouTube. Die Schauspielstudentin im ersten Semester stand dem erfahrenen Manfred Krug nicht nach. „Wir hatten Augenhöhe“, sagt sie. Es stimmt. Ich habe den wunderbaren humorigen Schlagabtausch der beiden genossen, als ich mir den Film jetzt noch einmal ansah. Das Berliner Paar Hans (Manfred Krug) und Maria alias Moritz (Ursula Werner) will die Wartburg besichtigen, die aber geschlossen hat. Eine alte Frau – Inge Keller – führt sie durch die Gemäuer. Hans will sich nicht zu seiner Liebe bekennen. Die Alte – Frau Venus– lässt ihn ins Mittelalter fallen, er findet sich als Tannhäuser wieder.

Moritz rettet Hans vor den Rittern, indem sie mit einer Pistole herumfuchtelt ©DEFA-Stiftung/Götz Jaeger

Moritz springt ihm nach. Sie geraten zwischen Ritter und in den Sängerkrieg. Hans brüskiert die Minnesänger mit einem Jazztitel über Frauen, und wird von Walther von der Vogelweide zum Duell gefordert. Moritz rettet ihm mehrfach das Leben, ohne dass Hans in dem scheinbaren Jungen Maria erkennt. „Das waren tolle Filmerfahrungen, die ich gemacht. Inge Keller Rolf Hoppe, Wolfgang Greese, Herbert Köfer, Horst Kube, Helga Labudda … ein großartiges Ensemble, in dem ich agieren durfte. Mit Manfred Krug kam ich wunderbar aus. Er gab mir in seiner unverblümten Art Tipps, ohne mich damit zum Weinen zu bringen. Ich konterte, er vertrug es. Er war mir ein großartiger Kollege. Nach diesem Film haben wir nicht wieder zusammengearbeitet. Wir trafen uns nur einmal im Friedrichstadtpalast wieder, kurz nachdem die Grenze offen war. Als er 2016 verstarb, habe ich bedauert, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, ihn zu besuchen, als er so krank war.“

Ursula Werner Mitte der 80er Jahre mit ihrer Tochter Jenny, 1967 geboren, heute Juristin, und ihrem Sohn Johannes Repro: B. Beuchler/ Privatarchiv Ursula Werner

Bei der Premiere des Films am 25. Juni 1967 in Erfurt konnte die Hauptdarstellerin nicht dabei sein. „Ich hatte gerade meine Tochter Jenny geboren. Ich war noch im ersten Studienjahr schwanger geworden.“ Noch bevor das Kind zur Welt kam, hatten sich die Eltern scheiden lassen. „Wir haben vier Jahre bei Helmuts Eltern im Haus gewohnt, und ich merkte, dass sich unsere Beziehung nicht mehr wie das große Glück anfühlt. Manne Krug bot uns seine Wohnung im Prenzlauer Berg an, zog da gerade aus. Ich bin tief in mich gegangen und fand, ich sollte nicht mit Helmut in eine Wohnung ziehen. Wir waren nicht auf Dauer füreinander geschaffen, das war mir klargeworden.“ Ursula Werner ging zurück in die Stargarderstraße zu ihren Eltern. Oma und Opa nahmen die kleine Jenny in ihre Obhut. Die Mutter verbrachte mit ihr in den Semesterferien glückliche Zeiten auf dem Land bei ihrer Tante Mariechen in Friedrichswalde. Ich frage nicht danach, Ursula Werner erzählt von selbst, warum sie ihre Tochter Jenny genannt hat. Sie mochte Brechts „Dreigroschenoper“, besonders die Seeräuber-Jenny. „Das ist eine starke Frau, die sich gegen Vorurteile und Anfeindungen wehrt.“ Diese Kraft wünschte sich für ihre Tochter und legte ihr das mit der Namensgebung gewissenmaßen in die Wiege. „Jenny ist Juristin geworden“, sagt sie.

Schwanger zu sein, war an der Schauspielschule nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil. „Man sagte uns, gut so, es ist die beste Zeit für eine Schauspielerin ein Kind zu bekommen. Wir werden damit fertig. Wenn ihr euer erstes Engagement habt, wird es schwierig. Ihr müsst ihr erst einmal Fuß fassen, dann gibt es Spielpläne, die eingehalten werden müssen. Da kann sich das mit dem Kinderkriegen hinziehen.“ Ursula Werner weiß, wovon sie spricht. Sie hatte sich immer mehrere Kinder gewünscht. Sohn Johannes kam 1979 auf die Welt, als ihre Tochter bereits dreizehn und sie 36 Jahre alt war. Sein Vater war der Beleuchtungsmeister Bernd Kühne vom Maxim-Gorki-Theater. Mit ihm lebte sie vier Jahre zusammen. „Wir wollten beide noch ein Kind, da war es höchste Zeit. Als meine Bettnachbarin im Krankenhaus sagte, ach, Sie sind auch eine Spätgebärende, habe ich geschluckt. Wieso Spätgebärende? Meine Mutter war auch über 30, als sie meinen Bruder und dann mich bekam. Heute kriegt man ja mit über 40 noch Kinder und das gilt als normal.“ Bernd Kühne wechselte 1997 ans Theater nach Bochum. „Mein drittes Kind“, flicht sie ein, „bekam ich sozusagen fertig ins Haus. Mein Lebenspartner Gottfried Richter brachte Max mit in unsere Beziehung. Ich traf den Jungen zum ersten Mal, da war er zehn. Meine Kinder freuten sich über den neuen Bruder, und wir haben es geschafft, eine Familie zu werden.“

Ursula Werner und Gottfried Richter 1992 in Gorkis „Wassa Schelesnowa“ unter der Regie von Rolf Winkelgrund Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Der Leipziger Schauspieler war aus Liebe zu ihr ans Maxim Gorki Theater gewechselt. „Wir kannten uns durch ein Gastspiel, verliebt haben wir uns aber in Berlin bei Synchronarbeiten für den französischen Film ,Edith & Marcel‘. Ich sprach die Piaf, er den Boxer Marcel Cerdan.“ Es war eine große Liebe, sowohl auf der Leinwand als auch davor. Sie lebten zwölf Jahre als Familie zusammen, bevor sich Gottfried Richter nach der Wende gezwungenermaßen als „freier“ Schauspieler verdingen musste. Er war der Entlassungswelle am Theater zum Opfer gefallen und fand in Berlin kein neues Engagement. Schauspieldirektor Peter Dehler holte ihn 1999 ans Mecklenburgische Landestheater nach Schwerin. Die Notwendigkeiten der Trennungen ließen zwischen der Schauspielerin und ihren Partnern kein böses Blut aufkommen. „Wir sind noch immer freundschaftlich verbunden, die Kinder halten den Kontakt zu ihren Vätern“, sagt sie. Die Drei haben Ursula Werner inzwischen siebenmal zur Großmutter gemacht. „Leider habe ich zu wenig Zeit für meine Enkel, es bleiben oft nur die großen Feiertage, die wir zusammen in der Prignitz verbringen.

Etüdenspiel an der Schauspielschule Schöneweide. Ursula Werner als Donna Elvira in Molières „Don Juan“ Foto: Repro Bärbel Beuchler/ Privatarchiv Ursula Werner

Noch einmal zurück ins Jahr 1965, in dem sich Ursula Werners Weg ans Landestheater Halle schon anbahnte. Damals hieß es noch Theater des Friedens. Regisseur Horst Schönemann, zugleich Oberspielleiter am Hallenser Theater, sah sich ein Szenenstück von Walfriede Schmitt an. „Wally hatte mich gebeten, ihr einige Handreichungen zu machen, ohne die sie nicht gut spielen konnte. Ich war unheimlich stolz, von einer aus dem 3. Studienjahr als Mitspieler ausgesucht worden zu sein. Horst Schönemann gab mir einige Hinweise, auf die ich sofort ansprang. Das muss ihm wohl gefallen haben. Nach meinem Abschluss 1968 bot er mir ein Engagement in Halle an.“ Wieder so eine Fügung, die sie auf ihrer Laufbahn weiterbrachte. Beim Kabarett in Berlin bedauerte man sehr, dass sie nicht weitermachen wollte. „Es liefen noch zwei Programme mit mir, trotzdem entließ mich Georg Honigmann, der Direktor, aus meinem Vertrag. Wenn ich mich berufen fühlte, dramatisches Theater zu machen, dann solle ich das tun. Bei Schönemann sei ich gut aufgehoben.“

Aufbruch ins Leben am Theater

Mit Jürgen Reuter als Hofmeister Läuffer stand sie zwischen 1968 und 1974 als Gustchen in der historischen Tragikomödie von Jakob Michael Reinhold Lenz „Der Hofmeister“ auf der Bühne Foto: Repro Bärbel Beuchler/Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Halle – das war ein ganz besondere Haus unter den Theatern der DDR. Ein Vierspartenaus mit Schauspiel, Oper, Operette, Ballett. „Wir in der Abteilung dramatisches Gegenwartstheater hatten einen Sonderstatus. Wir holten den Alltag, die Probleme der Leute auf die Bühne, gingen in die Betriebe nach Buna, Leuna, Wolfen, Bitterfeld, sprachen Wahrheiten aus, die nicht so gern gehört wurden. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit.“ Es ging gegen Engstirnigkeit, Widersinnigkeiten in der Planwirtschaft, Dogmatismus in Volksbildung. „In unseren Polit-Revuen „Anregung 1“: Was ist heute revolutionär?“ und Anregung 2: Anregung für Lehrende und Lernende“ waren Szenen zu sehen, die in der DDR ihres gleichen suchten. Da durften ungenutzte Kabel von einem Betrieb nicht an andere Betriebe abgegeben werden, die sie dringend brauchten. Das wäre ein rechtlicher Verstoß gewesen. Unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit half man sich trotzdem. „So etwas konnten wir auf die Bühne bringen“, nimmt Ursula Werner an, „weil der SED-Bezirksparteichef Horst Sindermann seine schützende Hand über uns legte. Wir waren wirklich ein Theater im Aufbruch.“ Ja, das aufregendste Gegenwartstheater in der DDR.

Mit seinem Stiefsohn Peter Sindermann stand sie 1970 in Rudi Strahls Heirats-Komödie „In Sachen Adam und Evaauf der Bühne. „Die Eva hatte er mir auf den Leib geschrieben. Wir hatten uns 1969 bei den Dreharbeiten für seine Komödie ,Seine Hoheit – Genosse Prinz‘ kennengelernt. Eine wunderbare Besetzung mit Rolf Ludwig, Jutta Wachowiak und Regina Beyer. Rudi Strahl fragte mich, wie es mir am Theater ginge. Na ja, sagte ich ehrlich, ist schön, aber die richtige Rolle habe ich da noch nicht gehabt.“ Er versprach, ihr eine solche zu schreiben. Die Aufführung wurde ein Riesenerfolg. „Die Leute liebten uns und die herrlich-witzige Verwicklung. Eva und Adam wollen zum Standesamt und geraten in einen Gerichtssaal, in dem über Heiratsfähigkeit entschieden werden soll“, erinnert sich Ursula Werner. Während meiner Studienzeit in Leipzig haben wir eine Exkursion nach Halle gemacht und uns am Abend „In Sachen Adam und Eva“ angesehen.

Sie spielte gern mit Peter Sindermann. Als Hermia tanzte sie mit ihm als Lysander in der Inszenierung von Christoph Schroth durch Shakespeares „Sommernachtstraum“. Barfuß, weil es natürlicher aussah. „Peter ist 1971 leider tödlich verunglückt.“ Er war Fluglehrer. Bei einem Trainingsflug stürzte er am 17. Oktober 1971 mit seinem Flugschüler auf einem Feld bei Halle ab.

1970 stand Ursula Werner im Landestheater Halle in Goethes „Faust“ als Gretchen auf der Bühne. Kurt Böwe, von ihr hochverehrt, spielte den Faust Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Viele ihrer wichtigen Rollen spielte sie an der Seite von Kurt Böwe, sowohl auf der Bühne in Halle als auch am Maxim-Gorki-Theaters sowie in DEFA- und Fernsehfilmen. In Halle besetzte Horst Schönemann sie 1970 in seiner „Faust“-Inszenierung als Gretchen. Ich habe sie nie in dieser Inszenierung gesehen, kann deshalb nur übernehmen, was Hans-Dieter Schütt schrieb: Sie sei für ihn die Emanzipatorischste, die er je sah, mitten in großer Zartheit. Die Aufwühlendste, so seelenzerreißend um ihre Liebe kämpfend, so ohnmächtig und kraftvoll zugleich. Und sie selbst resümiert: „Die Rolle ist ein Traum für jede junge Schauspielerin. Du lieber Himmel, war das schön!“ Ihre wachen Augen strahlen bei der Erinnerung daran. „Eigentlich war ich nur die Zweitbesetzung“, sagt sie, „aber Walfriede Schmitt wechselte aus Liebe zu ihrem Mann das Theater und ich rückte nach. So ist das mit den Fügungen! Wenn sie sich ergeben, muss man bereit sein, die Chance wahrzunehmen.“ Was ihr beim ersten Vorsprechen an der Schauspielschule nicht gelang, kam ihr nun leicht von den Lippen. Hochdeutsch sprechen und dabei die Rolle gut zu spielen.

Am Premieren-Abend lauerte schon die nächste Fügung. Horst Sindermann war gekommen. Sein Sohn Peter trat in der Szene in Auerbachs Keller auf. Als nach der Aufführung alle ins Gespräch kamen, hörte Horst Sindermann von ihrer katastrophalen Wohnsituation und gab ihr aus seinem Kontingent eine kleine Neubauwohnung am Bahnhof. Ihre ersten eigenen vier Wände, schön eingerichtet, dass keine Gardinen vonnöten waren. Und endlich konnte ihre Mutter sie mit der kleinen Jenny besuchen.

Für ihre Rolle als Marusja, hier wieder mit Kurt Böwe, in „Himmelfahrt zur Erde“ wurde Ursula Werner mit dem Kunstpreis der Stadt Halle ausgezeichnet Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Für die künstlerische Entwicklung der jungen Schauspielerin gab ihr vor allem die Arbeit mit Horst Schönemann das beste Fundament. In ihren gemeinsamen vier Jahren gab es nur einmal Streit. Das war 1971. Armin Stolper hatte Sergej Antonows Roman Der zerrissene Rubel“ fürs Theater bearbeitet. Das Stück hieß Himmelfahrt zur Erde“, und für Ursula Werner sprang die wunderbare Rolle der Marusja heraus. Ein Mädchen auf dem Dorf, scheu mit Kopftuch und Brille, das sich nach einem komisch-traurigen Liebeserlebnis zur Frau voller Gerechtigkeitsenergie entwickelt. Diese Gerechtigkeitsenergie ist auch der Persönlichkeit von Ursula Werner immanent, was sich Jahrzehnte später für die Mitarbeiter des Maxim Gorki Theaters als Glück erweisen sollte. Ursula Werner übernahm die Funktion der Personalrätin. Der Streit mit Regisseur Horst Schönemann kam aus dem Grund zustande: „Marusja hält am Schluss eine flammende Rede auf Vitali, und ich merke, dass da ein Widerspruch zur Bühnenumsetzung besteht. So konnte ich das nicht spielen. Horst Schönemann sah das nicht ein. Ich verließ die Probe. Am Ende hat Armin Stolpe die betreffende Stelle umformuliert, und es ging. Mit dem Stück haben wir dann sogar in Berlin gastiert.“ Für ihre Marusja erhielt Ursula Werner den Kunstpreis der Stadt Halle. „Mit dem Preisgeld habe ich mit meiner Mutter und meiner Tochter eine schöne Reise gemacht.“

Ein Jahr später brachte das Theater als erste Bühne Ulrich Plenzdorfs „Die Leiden des jungen W.“ heraus mit Ursula Werner in der weiblichen Hauptrolle, der Charlie. Fünf Jahre hatte Plenzdorfs Filmskript schon bei der DEFA gelegen. Doch die Geschichte um den Aussteiger Edgar Wibeau war den Verantwortlichen zu heiß. „Es lag wohl wieder an Horst Sindermann, dass wir das spielen durften.“ Die Sensation hatte sich in der Republik herumgesprochen.

Uraufführung des Stückes von Ulrich Plenzdorf „Die Leiden des jungen W.“ 1972 in Halle, mit Ursula Werner als Charlotte und Reinhard Straube als Edgar Wibeau Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Landestheater Halle

Als sie das Stück beim Theater Festival 1972 im Deutschen Theater zeigen, muss die Polizei die Massen bändigen, die ins Theater wollten. Man wollte sogar mich nicht durchlassen“, erinnert sich Ursula Werner. Horst Schönemann wechselte danach ans Deutsche Theater. „Ich wäre gern mitgegangen nach Berlin, aber es gab keine Vakanzen, weder am Maxim Gorki Theater noch am Deutschen Theater oder der Volksbühne.“ Nach Schönemanns Weggang fühlte sie sich nicht mehr gut aufgehoben in Halle. „Ich habe in meinen ersten vier Jahren am Theater sehr viel Gutes spielen dürfen.“ Schönemanns Nachfolger sah sie nicht mehr in Rollen, in denen sie sich sah. Es war Zeit zu gehen. „Ich machte in meinen zwei letzten Hallenser Jahren eine wichtige Lebenserfahrung: Es läuft nicht immer so, wie es einem am genehmsten ist.“ Die Saison 1973/74 war ihre letzte dort.

Glückliche Zeit am Maxim Gorki Theater

Es waren nicht nur neue Anforderungen, die Ursula Werner suchte. Sie wollte unbedingt nach Berlin zu ihrem Kind, das noch immer bei ihren Eltern lebte. Ihr Herz hatte die Schauspielerin an das Theater verloren und würde es noch immer vorziehen, wenn sie vor der Wahl stünde. Doch sie hatte damals sogar beim Fernsehen vorgesprochen. Intendant Heinz Adameck hätte sie für das Fernsehensemble eingestellt. Es fügte sich zu ihrem Glück anders. Albert Hetterle, der Intendant vom Maxim Gorki Theater, meldete sich. Er hatte sie als Charlie in den neuen Leiden des jungen W.“ gut in Erinnerung behalten. Jetzt hätte er einen Platz für sie im Ensemble, ob sie noch nach Berlin wolle. Und ob! Sie löste ihren Vertrag in Halle und begann ihr Engagement am Maxim Gorki Theater.

Für ihre Rolle als Generalswitwe Anna Petrowna Wojnizewa – hier mit Jochen Thomas – in Thomas Langhoffs Inszenierung „Platonow“ erhielt Ursula Werner 1984 den Kritikerpreis der „Berliner Zeitung“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Der Anlass ist gegeben, daran zu erinnern, warum das Maxim Gorki Theater 1952 gegründet wurde, sieben Jahre nach Ende des verheerenden deutschen Angriffskrieges auf die Sowjetunion, der 28 Millionen Sowjetbürger das Leben kostete. Es ging darum, den Deutschen die russische und sowjetische Literatur und Dramatik nahezubringen. „Das Theater hat sich immer als Ort der Völkerverständigung verstanden. Der Westen hat ja nie aufgehört, den Völkerhass gegen die Sowjetunion zu schüren.“ Das ist uns so gegenwärtig!

Ursula Werner 1977 als Frau Lehmann mit Monika Lennartz (l.) in Gerhart Hauptmanns Drama „Einsame Menschen“. Die beiden Schauspielerinnen verbindet eine lange Freundschaft Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

In ihrer drei Jahrzehnte währenden Zeit im Maxim Gorki Theater kamen auf Ursula Werner wunderbare Rollen zu. „Wir spielten zeitgenössische und klassische Werke, hauptsächlich russischer und sowjetischer Autoren.“ Sie nennt es ein Glück, dass sie unter der Regie von Thomas Langhoff arbeiten konnte. Sie erinnert sich an ihre erste Zusammenarbeit 1977, als er sie in Gerhart Hauptmanns Drama „Einsame Menschen“ als Frau Lehmann besetze. „Die Kulturfunktionäre versuchten, das Stück zu verbieten. Es sei eine dekadente Inszenierung. Albert Hetterle hielt große Stück auf seinen Regisseur, und wir brachten das Stück heraus.“

Ursula Werner als Mascha, Swetlana Schönfeld als Irina und Monika Lennartz als Olga (v.l.n.r.) in Thomas Langhoffs Inszenierung „Drei Schwestern“, die von 1979 bis 1989 am Maxim Gorki Theater gespielt wurden Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Die wunderbarste Aufgabe hätte sie, wie sie sagt, als Mascha in Anton Tschechows Tragikomödie „Drei Schwestern“ bekommen, die Thomas Langhoff 1979 mit ihr, Swetlana Schönfeld als Irina und Monika Lennartz als Olga inszenierte. „Es war ein fantastisches Arbeiten. Wir drei haben uns vor den Vorstellungen immer angefeuert. Die Mascha ist die wundervollste Rolle, die man sich denken.“ Wenn sie in ihrem schwarzen Kleid die Bühne betrat, war sie eine andere Ursula. Erotisch, aufmüpfig und bedingungslos in ihrem Lebens- und Liebesanspruch. Das Trio heimste zehn Jahre lang bei jeder Vorstellung Riesenapplaus ein. Der Ruf der drei Schwestern, „Wir wollen leben!“, als Sinnbild für die Sehnsucht nach Freiheit und einem Leben jenseits der Bevormundung durch Staat und Partei, wurde im Saal wohl verstanden. Das Publikum spürte nie Routine bei den Schauspielerinnen. „Die Rollen wurden mit uns älter, veränderten sich mit uns. Das machte es für alle immer wieder spannend“.

Ursula Werner als Mascha in „Drei Schwestern“, für sie die schönste Rolle in der gesamten Dramatik Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Mit dem Stück ging es auf viele erfolgreiche Gastspielreisen, so nach Wien und Düsseldorf. „Ich habe eine dreitägige Tourneepause genutzt und bin nach Paris gefahren. Das Bürgeramt in Düsseldorf tauschte meinen Ost-Pass problemlos gegen einen West-Pass aus. Paris war umwerfend. Zur Vorstellung war ich natürlich pünktlich zurück.“ Sie wollte ja nicht wegbleiben. Aber es gab bei jedem Gastspiel im Westen auch Schwund, weiß sie. Als Thomas Langhoff im Februar 2012 starb, standen Ursula Werner, Swetlana Schönfeld und Monika Lennartz auf der Trauerfeier, die Claus Peymann im Berliner Ensemble für ihn inszeniert hatte, noch einmal als die „Drei Schwestern“ auf der Bühne. „Wir hatten unsere Kostüme angezogen und spielten die Schluss-Szene. Es war ein sehr bewegender, unvergesslicher Abschied.“

Albert Hetterle hat sie 1974 ans Maxim Gorki Theater geholt und war ganze zwanzig Jahre ihr Intendant. „Als er mit 76 Jahren ging, bedeutete das für uns alle, das ganze Ensemble, einen ungeheuren Einschnitt. Mit Bernd Willms zogen Regisseure und Kollegen ein, die anders sozialisiert waren, eine andere Auffassung vom Theaterspielen hatten. Da blieben Kollisionen nicht aus.“ Da musste sich die gestandenen DDR-Schauspieler von einem zugereisten Regisseur sagen lassen: „Vergessen Sie mal Brecht und lernen, wie man richtig Theater spielt.“ Er hatte keine Ahnung. Nichts gehört von dem großen sowjetischen Schauspiellehrer, Regisseur und Theaterreformer Konstantin Stanislawski, nach dessen Methode die Schauspieler in der DDR auch ausgebildet wurden. Im übrigen lehren die berühmten amerikanischen Schauspielschulen von Lee Strasberg und Stella Adler nach der Stanislawski-Methode. „Mit ziemlicher Arroganz meinten die neu hinzugekommenen Westkollegen zu wissen, dass wir im Osten das Handwerk zwar perfekt beherrschen, aber ohne Empathie und nur DDR-Stücke spielen, keine Ahnung hätten, was im Westen so läuft.“ Welch ein Irrtum! „Inzwischen hat sich das schon verändert“, sagt Ursula Werner, die in den letzten Jahren viel in München gespielt hat und aktuell am Deutschen Theater mit Kolleginnen, die ihre Wurzeln nicht im Osten haben.

Mit Kurt Böwe und Sigrid Skoetz (r,) agiert sie als Natascha in Gorkis „Nachtasyl“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Viele schöne Rollen hatte Ursula Werner unter Albert Hetterle spielen dürfen. Sie wird die mitfühlende Natascha in Gorkis bekanntestem und erfolgreichstem Schauspiel „Nachtasyl“, das in einem russischen Obdachlosenheim um 1901 spielt. Geliebt hat sie ihre Rolle als Jelena Nikolajewa, die mit 24 schon Witwe ist und windig genug, sich ein reiches Bürgersöhnchen zu angeln. Das Stück, „Die Kleinbürger“, wurde 1982 von Albert Hetterle inszeniert.

Albert Hetterle inszenierte 1982 mit Ursula Werner als Jelena Gorkis „Kleinbürger“. Es wurde eins der meistbesuchten Stücke des Maxim Gorki Theaters Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

„Die russischen Dramatiker, ob Gorki, Tschechow oder Ostrowski, sind von großer Wahrhaftigkeit, so genau in den Dialogen. Ich habe sie sehr gern gespielt, auch, weil sie mutig in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität sind.“ In den 80er Jahren nahm Albert Hetterle zunehmend systemkritische sowjetischen Stück in den Spielplan auf. Da konnten nicht so schnell Einwände erhoben werden, schließlich kamen sie ja „von den Freunden“, wie es bei uns immer hieß. Ich erinnere mich an „Protokoll einer Sitzung“ und „Die Prämie“. Ursula Werner erzählt, wie sie ihren Vater und seine Brigade aus dem VEB Wärmeversorgung eingeladen hat, und mit ihnen nach der Vorstellung diskutierte. „Lebhafte Debatten führten die Zuschauer mit uns nach Aufführungen von Viktor Rossows Stück ,Das Nest des Auerhahns‘. Dass Versagen innerhalb des sozialistischen Systems durchaus nicht nur am Versagen eines persönlichen Charakters lag, kam ziemlich deutlich zum Ausdruck. Das Stück ist eine Kritik an Fehlern der Gesellschaftsordnung. Und es hieß ja bei uns, von der Sowjetunion lernen… “

Ursula Werner und Alfred Müller in Viktor Rossows „Das Nest des Auerhahns“ Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner ©Maxim Gorki Theater

Sie lässt den Satz offen, ich weiß, was sie meint. Die Geschichte von einem DDR-Autoren geschrieben, hätte keine Chance gehabt. Da hätte auch nicht das Argument geholfen, dass man ja „von Freunden lernen“ will. Kritik am sozialistischen Realismus brauchte bei uns eine feingeschliffene Feder, die unsichtbaren Zwischenzeilen. Das Publikum des Maxim Gorki Theaters wusste aber die Parallelen in den Stücken zu finden. „Rainer Kerndls Drama „Der Georgsberg“ brachten wir nur bis zur Premiere. Nach drei Vorstellungen wurde es abgesetzt. Es ging um eine Provinzstadt, die ihren Berg an einen westdeutschen Konzern verhökert, der dort ein Luxushotel für Valuta-Gäste bauen will. Es wurde verboten. DDR verkauft sich nicht. Dabei passierte es schon an allen Ecken, nur gesagt werden durfte das nicht“, erzählt sie. Das wussten alle in der DDR. Hermann Kant hatte vergeblich gegen die Borniertheit der Funktionäre interveniert.

Rudi Strahls „Flüsterparty“ schaffte es nur bis zur Generalprobe und wurde dann untersagt. „Dabei war es eine ernstzunehmende Abhandlung über Jugendliche im sozialistischen Land DDR“, sagt Ursula Werner. Da wird geschildert, wie Abiturienten ihre Mitschülerinnen aufstacheln, sich durch Prostitution Westgeld zu besorgen, dass dann gemeinsam im Intershop für Schnaps und Zigaretten ausgegeben wird. In unbewohnten Lauben feierten sie dann stille Partys. Es durfte ja niemand bemerken. So etwas gäbe es nicht, wurde von Oben beschieden. Doch Rudi Strahl hatte die Geschichte von seinem Sohn. „Das waren die Wechselbäder, in denen wir uns bewegten. Immer die Angst der Kulturfunktionäre: Was bringt mir mehr Minuspunkte ein, wenn ich es verbiete oder wenn ich es gestatte? Das war die Unberechenbarkeit.“

Hoffnung, Wandel – immer geht’s weiter

Trotz der Argusaugen der Kulturfunktionäre gelangte systemkritische DDR-Stücke auf die Bühne des Maxim Gorki Theaters und in den Spielplan. Eine Sensation wurde am 30. März 1988 die Aufführung von Volker Brauns niederschmetternder Zukunftsvision „Die Übergangsgesellschaft“, in der das Ende der DDR stark durchschimmert. Braun hatte zu einem Trick gegriffen. Er verlegte Tschechows Drama „Drei Schwestern in die Gegenwart und übernahm teilweise die originalen Dialoge. Thomas Langhoff inszenierte das Stück mit dem „Schwestern“-Trio Ursula Werner, Swetlana Schönfeld und Monika Lennartz. Ursprünglich hatte Volker Braun das Stück für das Berliner Ensemble geschrieben. Er war der Hausautor des BE.

„Die Übergangsgesellschaft“ mit der Besetzung der „Drei Schwestern“ Swetlana Schönfeld, Klaus Manchen, Ursula Werner, Monika Lennartz und Hilmar Baumann (v.l.n.r) feierte eine sensationelle Premiere Repro: Bärbel Beuchler ©Maxim Gorki Theater

Da lag es fünf Jahre. Manfred Wekwerth, damals Intendant des BE, hatte nicht gewagt, die resignierenden Klagen über ein verfehltes, sinnloses Leben, die in drängende Fragen an die gesellschaftlichen Realitäten münden, herauszubringen. Auch wenn es 1988 noch niemand wirklich wusste, jeder spürte, dass sich die DDR ihrem Ende zuneigte. Als die Inszenierung 1990 aufgezeichnet wurde, war die Mauer schon gefallen. Gegen das Versprechen des Schriftstellers, dem BE etwas Neues zu schreiben, überließ Wekwerth das Stück dem Maxim Gorki Theater. Die Premiere endete mit tosendem Applaus. „Wir haben die Gemüter so bewegt, dass sich die Leute in den Gesprächen nach der Vorstellung offenbart haben. Sie sprachen sich von der Seele, was an ihnen schon lange genagt hat. Ihre Unzufriedenheit darüber, wie der Staat geführt wird. Wir haben unser Theater für freie Diskussionen geöffnet und damit eine Bewegung losgetreten.“

Es war die Zeit, in der sich die Schauspielerin in der Bürgerbewegung „Neues Forum“ engagierte, deren Zentrum die Gethsemane Kirche wurde. Ursula Werner war der Verbindungsmann zum Theater. „Wir hatten uns überlegt, was wir gegen die Dickfälligkeit und Ignoranz unserer Regierung tun können, die nicht merken will, dass alles den Bach runter geht. Wir wollten Reformen in der staatlichen Führung, in der Reise- und Pressefreiheit, offene Diskussionen, Meinungsfreiheit. Wir haben eine Resolution verfasst und die ganze Unzufriedenheit dere Bevölkerung öffentlich ausgesprochen.“ Das Ensemble des Maxim Gorki Theaters hat auf Vorschlag von Gregor Gysi schließlich die Demonstration am 4. November 1989 organisiert. „Es waren aufregende Tage“, erinnert sich Ursula Werner. Für den Abend hatte das Maxim Gorki Theater Volker Brauns „Übergangsgesellschaft auf den Spielplan gesetzt.

Noch in scheinbarer Ruhe wurde die Schauspielerin am 28. August mit dem Goethepreis für ihr Film- und Theaterschaffen geehrt. Er wurde 1949 vom Magistrat von Groß-Berlin gestiftet und alljährlich zur Feier von Goethes Geburtstag an Künstler und Wissenschaftler verliehen. Letztmalig 1989. „Ich kannte diesen Preis nicht und fragte Albert Hetterle, ob ich den annehmen könnte. Nimm ihn an, sagte er. Das ist Kunstpreis und Geld hängt auch dran. Mit meiner Mutter und meiner Tochter habe ich davon eine Reise nach Ungarn gemacht und eine große Summe der Gethsemane-Kirchgemeinde für die Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste gespendet. Ich wollte nicht alles für mich behalten“ Ursula Werner stand da in einer Reihe mit bekannten Berlinern wie ihren Kollegen Albert Hetterle, Alexander Lang, Peter Reusse, Alfred Müller, Lotte Loebinger, Monika Lennartz, Schriftstellern wie Hermann Kant, Günter Görlich, Rudi Strahl, Wolfgang Kohlhaase.

Ursula Werner im „DEFA-Zeitzeugengespräch“ 2020 ©DEFA-Stiftung/Teubner

Der Spielplan am Maxim Gorki Theater wandelte sich ab Mitte der 90er Jahre sehr, weg von sowjetischen Dramen, kritischen Gegenwartsstücken. Eine gewisse Effekthascherei und Selbstverwirklichung der Regisseure eroberte die Bühne. „Wenn ich einen Monolog spreche und hinter mir frisst jemand eine Zwiebel, und der Regisseur findet das gut, weil er keinen Plan hat, wohin er mit dem Stück will, weiß ich, wohin das Publikum guckt. Da kann ich aufhören.“ Ursula Werner spricht das auch aus, so wie sie früher auch nicht alles hinnahm, wenn ihr etwas nicht schlüssig erschien. Sie hat jedoch nie etwas eskaliert. „Ich bin ein sehr ausgleichender Typ und immer bemüht, die verschiedenen Standpunkte zu verstehen und zu transportieren“. Sie wollte nach der Wende die neue Demokratie auch am Theater mitgestalten, fungierte sechs Jahr lang als Personalratsvorsitzende. „Immerhin“, sagt sie, „klappte die Verständigung von unten nach oben, und ich konnte für die Kollegen einiges erreichen.“

Es gab kurz nach der Wende vielerlei Missverständnisse und Misstrauen, begleitet von Vorurteilen und verbalen Verletzungen. „Auf beiden Seiten“, erinnert sich Ursula Werner. „Da prallten Welten aufeinander. Aber wir Schauspieler saßen in einem Boot und mussten uns miteinander arrangieren.“ Spurlos vorüber gingen diese Umwälzungen nicht an ihr. Zum ersten Mal passierte es ihr, dass sie bei der Premiere eines Stückes plötzlich stockte, nicht mehr wusste, wo im Text sie war. „Mir wurde in der Szene ein Kleid angepasst. Ich stand auf einem Stuhl und verstummte. Ein Hänger passiert schon mal, aber ich war komplett draußen. Und die Souffleuse, sie hieß Steffi, schwieg auch, weil sie dachte, ich fange mich. Aber die Stille wurde lang, ich habe dann einfach gesagt: Lange nichts von Steffi gehört. Die Premierenfeier habe ich dann sausen gelassen, weil mich das so irritiert hat. Das musste mit der Wende zusammengehangen haben, wo man innerlich so zerrissen wurde.“

Wir denken in dem Moment beide an Peter Reusse, dem die tiefgreifenden Veränderungen 1990, das Aus von Film, Fernsehen, Rundfunk und Platte, seelisch so zusetzten, dass sie ihn fast zerstört haben. Er schloss 1993 hat mit seinem Leben als Schauspieler ab, schrieb Bücher. Im Juni des vergangenen Jahres ist er an einer schweren Krankheit gestorben. Ursula Werner blieb noch zehn Jahre am Maxim Gorki. 2008 spielte sie unter der Regie von Armin Petras ihr letztes Stück, Tom Lanoyes „Mefisto forever“. Sie war inzwischen 65 Jahre, quasi im Rentenalter. Was für sie aber keineswegs ein Ende im Ruhestand bedeutete. Schluss am Maxim Gorki Theater, ja. Aber sie hatte keinerlei Bedürfnis, sich zurückzuziehen.

Ursula Werner als Olga Benario in der Inszenierung „Erklär mir, Leben“ in den Münchner Kammerspielen Sreenshot ©Münchner Kammerspiele/Thomas Schmauser

Sie fand in den Münchener Kammerspielen eine neue Theaterfamilie. Ihre erste Rolle dort führte sie in eine neue Sphäre. „Du mein Tod“ erzählt die Geschichte des Transsexuellen Robert Eads (1945-1999). Eads wurde als Frau geboren, durchlitt eine Ehe, zwei Schwangerschaften und vollzog schließlich die Wandlung zum Mann mit über vierzig Jahren. Ursula Werner verkörperte Eads in einer sehr beeindruckenden Weise. Wie beiläufig, berichtet sie von Alltäglichkeiten, aber auch vom schweren Selbstfindungsprozess und den damit verbundenen äußeren Schwierigkeiten. Es war das Regiedebüt von Thomas Schmauser, mit dem sie gleich darauf „Erklär mir, Leben“ inszenierte.

Es ist die Geschichte der jüdischen Kommunistin Olga Benario-Prestes, die 1942 nach einem langen Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager in Bernburg vergast wurde. Erzählt wird aus einer Zelle im brasilianischen Gefängnis heraus, in der Olga Benario mit zwei jüngeren Frauen eingesperrt war. Die Gefolterten drohen den Verstand zu verlieren. Ursula Werner transportiert die psychische und physische Gewalt, den Versuch, ihr zu entrinnen, mit einer starken und intensiven Darstellung. Dabei agiert sie mit minimalistischen Mitteln, was einem den Atem nimmt.

Auf einer Nebenstrecke zur DEFA

Ursula Werner signiert für mich ihre Autobiografie „Und immer geht’s weiter“, die 2014 im Verlag Neues Leben erschienen ist. Das Bild auf dem bunten Untersetzer zeigt ihre Eltern Foto: ©Bärbel Beuchler

Mein Blick fällt auf die große Armbanduhr an der Schrankwand neben dem Sofa. Sie geht auf halb drei zu. Die Zeit rennt, und es gibt noch so vieles, was wir nicht besprochen haben. „Alles geht auch nicht, du willst ja kein Buch über mich schreiben“, lacht sie. Nein, will ich nicht, das gibt es schon. Ihre Autobiographie „Immer geht’s weiter…“, die 2014 im Verlag Neues Leben erschienen war. In der DDR war es normal, dass Schauspieler eine große Arbeitspallette zur Verfügung hatten. Film Hörspiel, Platte, Synchron, und einige, wie Ursula Werner, gaben zudem ihre Erfahrungen als Dozenten an der Schauspielschule weiter. Seit ihrer ersten Filmrolle 1967 in „Frau Venus und ihr Teufel hat sie praktisch nie aufgehört, neben ihrer Theaterarbeit zu drehen. DEFA und Fernsehen haben die kleine quirlige Frau, die zugleich soviel Ruhe und Besonnenheit hatte, immer gern besetzt.

In dem DEFA-Film „Netzwerk“ spielt Ursula Werner – hier mit Fred Düren – 1969 eine Krankenschwester. Es ist ihre dritte Filmrolle ©DEFA-Stiftung/Richard Günther, Wolfgang Reinke, Johann Wieland

Ursula Werner machte sich über jede Rolle, selbst so kleine wie die der Krankenschwester in „Netzwerk“ Gedanken. „Wir haben gelernt, unsere Figuren zu analysieren, ihr Umfeld, wer sind sie, was sollen sie.“ Sie drehte unter der Regie von Ulrich Thein mit Renate Geißler, Annekathrin Bürger und ihrem Hallenser Bühnenpartner den dreiteiligen Fernsehfilm Jule – Julia – Juliane“. Eine Ehegeschichte im Rückblick aus der Sicht der jungen Krankenschwester Juliane, in der es um Gleichberechtigung zwischen den Partnern geht. Sie wurde 1972 mit großem Erfolg ausgestrahlt.

Ursula Werner und Renate Geißler1972 in dem dreiteiligen Fernsehfilm „Jule – Julia -Juliane“ Quelle: Amazon, ©DDR-TV-Archiv

Ursula Werner war in Halle voll beschäftigt, als sie noch im selben Jahr eine Hauptrolle in dem zweiteiligen DDR-Fernsehfilm Zement“ bekam. Die Außenaufnahmen fanden im Zementwerk Halle und an der Schwarzmeerküste in Bulgarien statt. Halle ließ sich noch gut einrichten. Aber sie musste für einen Drehtag auch nach Baltschik. Sie erzählt mir ihre Odyssee. „Ich bekam drei Tage frei, einschließlich An- und Abreise. An dem Tag, als ich fliegen sollte, schneite und stürmte es in Berlin. Wir flogen dann von Dresden ab. Ich kam nachts in Sofia an, wurde in ein eiskaltes Auto verfrachtet und ans Meer gefahren. Alle waren am nächsten Morgen ausgeschlafen, nur ich hundemüde. Wir haben gedreht, abends bei Zigeunermusik gefeiert.“

Am nächsten Morgen ging esganz früh zurück nach Halle. Im Handgepäck hatte sie Film-Muster, die nach Babelsberg sollten. „Leider waren sie unbrauchbar, weil Hilmar Thate seine Mütze nicht aufhatte, die er im Gegenschnitt, gedreht in Halle, trug. Also Nachdreh im DEFA-Studio. So kann’s gehen.“

Ursula Werner als Polja mit Hilmar Thate als Gleb in dem zweiteiligen DDR-Fernsehfilm „Zement“ Quelle: Amazon ©DDR-TV-Archiv

Der Film nach dem Roman von Fjodor Wassiljewitsch Gladkow schildert die Konflikte in der jungen Sowjetunion nach der Revolution von 1917 zu Anfang der 20er Jahre. Regisseur Manfred Wekwerth hatte Ursula Werner die Rolle der jungen Kommunistin Polja gegeben. Neben Hilmar Thate und Renate Richter eine Schlüsselfigur. „Polja war voller Zerrissenheit, für eine Schauspielerin eine hoch interessante Aufgabe“ erinnert sie sich. Haften geblieben ist ihr besonders die Szene, in der Polja völlig fassungslos sagt: „Wozu die ganzen Opfer in der Revolution, alles vergeblich. Jetzt geht es ja mit diesen verdammten Ungleichheiten weiter.“ Der zweiteilige Schwarzweißfilm hatte am 4. August 1973 in einer Sondervorstellung im Rahmen der 10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im Berliner Kino Kosmos Premiere. Es blieb die einzige Vorführung auf der Leinwand. Die Fernsehausstrahlung erfolgte im November 1973. Erst im Dezember 1989 kam der Film wieder ins TV-Programm.

Namhafte DDR-Regisseure wie Hermann Zschoche („Bürgschaft für ein Jahr“, „Insel der Schwäne“, „Glück im Hinterhaus“, „Grüne Hochzeit“), Wolfgang Hübner („Einzug ins Paradies“), Siegfried Kühn („Unterwegs nach Atlantis“) und nicht zuletzt Roland Oehme wussten ihre schauspielerischen Fähigkeiten zu schätzen. Mit ihm drehte Ursula Werner zehn Jahre nach „Frau Venus und ihr Teufel“ ihren sechsten DEFA-Film, die Komödie „Ein irrer Duft von frischem Heu.

Dr. Angelika Unglaube (Ursula Werner) von der SED-Bezirksleitung soll den Gerüchten um das „Zweite Gesicht“ des Parteisekretärs von Trutzlaff nachgehen. Roalnd Oehme drehte die DEFA-Komödie „Ein irrer Duft von frischem Heu“ 1977 nach dem Lustspiel von Rudi Strahl ©DEFA-Stiftung/Klaus Zähler

Es ist die Verfilmung des gleichnamigen Bühnenstücks, das Rudi Strahl mit Blick auf Ursula Werner in der weiblichen Hauptrolle 1975 fürs Theater geschrieben hat. Die Uraufführung am Maxim Gorki Theater spielte allerdings Monika Lennartz, weil die eigentliche Zielperson anders besetzt werden sollte. „Es war ein ziemliches Verwirrspiel, wie das im Theaterleben manchmal so ist. Später habe ich im Stück die Rolle der LPG-Vorsitzenden übernommen, weil die Erstbesetzung ein Kind bekam.“

Dass sie mit der Komödie um den Parteisekretär des Kaffs Trutzlaff, der das zweite Gesicht haben soll, einen Kultfilm produzieren, hätte bei der DEFA keiner gedacht. Weil’s so schön war, sie zwinkert, hat sie mit Roland Oehme noch einige Filme gedreht. „Über die Jahre waren wir zu Freunden geworden. Sein Tod im vergangenen November hat mich erschüttert. Es war wieder einmal zu spät für einen Besuch. Immer hatte ich es mir vorgenommen, dann kam die Arbeit dazwischen.“ Mit berührenden Worten hat sie sich in der rbb-Sendung „Abschied ist ein leises Wort“ erinnert.

Kinderfilme waren für viele DDR-Schauspieler ein großer Reiz. Hier war Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit gefragt. Kinder merken, wenn einer nicht mit dem Herzen dabei ist. Mit großer Freude wirkte Ursula Werner in Produktionen der bekannten Kinderfilmregisseurin Karola Hattop mit. Mir fallen da ein „Ich liebe Victor“, ein Film über die Freundschaft und das Verliebtsein zwischen zwei Mädchen und einem Jungen, das Märchen von „König Phantasios und – wie könnte ich das vergessenen — der Jugendfilm „Jan Oppen“ nach dem gleichnamigen Buch von Klaus Beuchler.

Vom Prenzlauer Berg nach Cannes

Ursula Werner hatte das große Glück – oder nennen wir es wieder Fügung – in den 90er Jahren nicht von der Bildfläche zu verschwinden, wie so viele gute DDR-Schauspieler. In der Phase der Abwicklung des DDR-Fernsehens hatte Bodo Fürneisen noch das Psychodrama „Das Scheusal produziert. Es war sein Beitrag zum „Grand Prix Italia“ 1991 und wurde 1990 mit dem Münchener Fernsehpreis „Goldener Gong“ ausgezeichnet. Die ARD strahlte den Film im Mai 1992 aus. Der Plot: Vier unglaublich nette Schwestern zwischen 50 und 60 erzählen in einer Fernsehsendung von ihrer tollen Karriere. Ein Telegramm zerreißt die scheinbare Idylle. Die seit ihrer Kindheit aufeinander eifersüchtigen Schwestern schenken sich nichts. Die wunderbaren Charakterdarstellerinnen Ursula Werner, Christine Schorn, Jutta Wachowiak und Walfriede Schmitt spielten sich in Hochform. Ihnen zuzuhören und zuzuschauen war eine Wonne.

Mit Andreas Dresen und „Wolke 9“ auf Premierenfahrt in Paris Foto: Repro Bärbel Beuchler, Privatarchiv Ursula Werner

Sie ist kein Workaholic. Sie arbeitet einfach nur gern. Es ist eine relativ stille Karriere, die sie nach der Wende vor der Kamera macht. Da ist die durchgehende Nebenrolle in der Kinderfernsehserie Schloss Einstein, in der sie als Frau Mell von 2001 bis 2005 mitspielte, da ist die Briefträgerin Frau Kortleben in dem ZDF-Vierteiler „Liebesau – die andere Heimat“, der in dem fiktiven ostdeutschen Ort in der Nähe von Halle zwischen 1953 und 1989 angesiedelt ist. Eine Dorf- und Familiengeschichte, in der sich die politischen Umwälzungen jener Jahre spiegeln. Eine Zeit, in der sich auch Ursula Werners Leben prägte.

Wichtig wurde für die Schauspielerin das Zusammentreffen mit Regisseur Andreas Dresen im Jahr 2000. Er besetzte sie in seinem mehrfach ausgezeichneten Sozialdrama „Die Polizistin“ mit der kleinen Rolle der Mutter Schmiedel und behielt die genaue, authentische spielende Darstellerin im Auge. Vier Jahre später steht sie in seiner Verfilmung von Christoph Heins Roman „Willenbrock“ als Kommissarin vor der Kamera. Die Schicksalsgeschichte eines ostdeutschen Gebrauchtwagenhändlers überzeugt durch ihre lebensnahen Figuren und ihren sozialen Realismus. Andreas Dresen wird mit dem Internationalen Literaturfilmpreis 2005 ausgezeichnet.

Ursula Werner und Horst Westphal spielen das verliebte Paar Inge und Karl in Andreas Dresens Film „Wolke 9“ Foto: Senator/DIF ©Andreas Dresen

Dann kam das Jahr 2008. Andreas Dresen rief an und fragte, ob sie bereit wäre, mit ihm einen Film zu machen, in dem es um Liebe und Sex im Alter geht. „Ich hatte seine großartigen Filme ,Stilles Land‘ und ,Halbe Treppe‘ gesehen. Und wir kannten uns von den Dreharbeiten für die ,Die Polizistin‘. Für mich ist er ein Regisseur, bei dem man einfach nur Ja sagen kann.“ Und das tat sie sofort. Der umsichtige Regisseur gab ihr noch Bedenkzeit, denn es ging auch um Nackt- und Sexszenen. Sie blieb bei ihrem Wort.

Mir brachte der Film die persönliche Bekanntschaft mit der Schauspielerin, bei der es mich jedes Mal freute, wenn ich ihren Namen las, hin und wieder auch einen ihrer Filme sah. Wir saßen uns nach der Pressevorführung am 27. April 2009 im Garten des „Quasimodo“ gegenüber, und es hat sozusagen „klick “gemacht. In dem Sinne, dass wir wussten, wir müssen nicht umständlich miteinander umgehen.

Zwischen Inge und ihrem Mann Werner ( Horst Rehberg ) ist die Liebe eingeschlafen, die Ehe nur noch ein Nebeneinanderher Foto: Senator/DIF ©Andreas Dresen

Andreas Dresens außergewöhnlicher Liebesfilm „Wolke 9“ hatte es 2008 zu Filmfestspielen nach Cannes geschafft. Im Jahr darauf ist Ursula Werner darauf für ihr ergreifendes, einfühlsames und leidenschaftliches Spiel der 70jährigen Inge, die nach 30 Jahren aus ihrer routinierten Ehe heraus eine Affäre mit einem noch älteren Mann beginnt, mit dem Deutschen Filmpreis „Lola“ als beste Darstellerin und dem Bambi geehrt worden. Ohne Scheu und Hemmungen, mit großer Natürlichkeit haben sich die Schauspieler Ursula Werner, Horst Rehberg und Horst Westphal auf das immer noch tabuisierte Thema Sex im Alter mit allem, was dazu gehört, eingelassen. In unserem Interview damals sagte sie mir: „Als wir den Film das erste Mal gesehen haben, saßen wir bei Andreas Dresen und waren ganz erstaunt, dass uns die Geschichte so mitgenommen hat. Obwohl wir sie mitentwickelt hatten und den Ausgang wussten. Es war wie ein Sog, der uns festhielt.“

Sie ist stolz auf ihre Leistung in diesem Film, der in vielen Ländern gezeigt wurde. Das gibt sie ohne falsche Zurückhaltung zu. Er hat ihr Aufmerksamkeit gebracht, im eigenen Land als auch international. Was ich – und sicher nicht nur ich – an der Schauspielerin schätze, ist ihre Bodenständigkeit im Privaten, ihre Authentizität in den Rollen. Was sie auf dem Theater von sich erwartet, dass das Publikum ihr abnimmt, was sie spielt, ist auch ihr Maßstab beim Film.

Ausbildungsleiter Borchardt (Fritz Schediwy ) konterkariert die Probenarbeit von Corinna Trampe (Ursula Werner) Szene in „Unten, Mitte, Kinn“ Foto: ©Filmgalerie451

Auf ein ihr gut bekanntes Terrain führt sie Nicolas Wackerbarths Kinofilm „Unten, Mitte, Kinn“. Schauspielschüler stehen vor dem Ende ihrer Ausbildung. Plötzlich ist der Ausbildungsleiter verschwunden. Eine Studentin kann den Altstar Corinna Trampe, eine dominante Diva, als Regisseurin für das Abschluss-Stück, Maxim Gorkis „Nachtasyl“, gewinnen. Sich selbst als Star oder Diva zu empfinden, liegt ihr fern. Sie weiß, dass sie eine gute Schauspielerin ist, sie gibt immer ihr Bestes in jeder Rolle. Dabei kommt es ihr nicht darauf an, vorn zu stehen, auch wenn es sie glücklich, besser zufrieden, macht, wenn es denn so ist. So ist das auch mit den Preisen, die ihr in ziemlicher Zahl zuteil werden.

Es sind die unterschiedlichsten Charaktere, in denen Ursula Werner ihre außergewöhnliche Darstellungskunst präsentieren darf. Bewegend ist ihre Figur der Schwiegermutter eines krebskranken Familienvaters (Milan Peschel) in Andreas Dresens mehrfach preisgekröntem Drama Halt auf freier Strecke“. 2012 erhielten Andreas Dresen und das Ensemble dafür den Deutschen Filmpreis Lola in Gold.

Ursula Werner als Lene Grundmann 2011 in dem Kinderfilm „Wintertochter“ Foto: ©epdfilm/zorro

Berührend und zugleich sehr nachdenklich stimmend ist der Kinderfilm „Wintertochter“, in dem sie mit einem zwölfjährigen Mädchen nach dessen biologischem Vater sucht. Er soll in Polen sein. Es wird auch eine Reise in die Vergangenheit von Lene Grundmann, die nie wieder in die alte Heimat zurückkehren wollte, die sie nach dem Krieg als Kind verlassen musste. Die inneren Wunden werden aufgerissen, schmerzhafte Erinnerungen wach. Man sieht es der Figur an, wie sie mit sich kämpft, etwas zuzulassen, das sie über Jahrzehnte verdrängt hat. Solche Rollen sind Ursula Werners Stärken. „Für diesen Film habe ich Barkas fahren gelernt“, erzählt sie. „Ich bin tatsächlich auch gefahren.“ Der Film mit ihr in der Hauptrolle wurde 2012 als bester Kinderfilm ausgezeichnet.

An einem Sommerwochenende kommt die zerstreute Familie Kerkoff zwischen Kühen und Bienenstöcken am Rande eines Klosters zusammen Uschs Tochter Kati will Nonne werden. Bei dieser Landpartie bleibt keine Wahrheit ungesagt. Szene aus „Schwestern“ mit Ursula Werner (Usch) und Jesper Christensen (ihr Bruder Rolle) Foto: Farbfilm Verleih, DIF, ©Dreamtool Entertainment/Wolfgang Ennenbach

Nach „Wolke 9 “ haben sich viele Türen für die nun schon 65jährige Schauspielerin geöffnet. Man sieht sie 2012 in der dramatischen Familiengeschichte Schwestern“, 2013 in „Bornholmer Straße“. 2015 steht sie in dem ZDF-Fernsehspiel Die Hände meiner Mutter“ vor der Kamera. Es geht um das noch nie offen angesprochene Thema des Kindesmissbrauchs durch Mütter. Das ging an die Nieren, auch der Darstellerin, die hier in ihrer Rolle als Therapeutin damit konfrontiert wird.

Zu ihren schönsten Dreharbeiten gehört für sie „Der Junge muss an die frische Luft“ nach der Autobiografie von Hape Kerkeling. Der Film erhielt die Lola“ in Bronze. Ursula Werner gab darin Oma Berta. Witzigerweise ist dies einer ihrer Vornamen. „Ich heiße Ursula, Anna, Berta“, sagt sie lachend. „Julius Weckauf, der den 12jährigen Hape spielt, ist ein unglaubliches Naturtalent. Seine Eltern haben ein Schreibwarengeschäft. Es hat einen riesigen Spaß gemacht, mit ihm zu spielen“, erinnert sie sich.

Ursula Werner als Hapes Oma Berta hatte ihn dieser Rolle einen Riesenspaß mit dem Darsteller Julius Weckauf Foto: DIF ©WarnerBrosEntertainment

Ihre Vermutung, dass der Film vielen Menschen Freude gemacht hat, fand große Bestätigung. Er erlebte mit 3,87 Millionen Kinobesuchern das beste Startwochenende 2018 und liegt damit auf Platz des Jahrescharts. Die Film- und Medienbewertung versah ihn mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“. Ursula Werner wurde in der Kategorie Schauspielerin in einer komödiantischen Rolle mit dem Schauspielerpreis 2019 ausgezeichnet.

Einen Film möchte sie selbst noch genannt wissen – Caroline Links Kinderfilm „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Es ist die Verfilmung von Judiths Kerrs gleichnamigen Roman, in dem sie ihre eigene Familiengeschichte adaptiert. Die unbeschwerte Kindheit des neunjährigen jüdischen Mädchens Anna Kemper endet mit Hitlers Machtergreifung 1933. Die Familie flieht, sie können nur wenig Gepäck mitnehmen. Ausgerechnet Annas Lieblingsspielzeug, ein rosa Kaninchen, bleibt zurück. Ursula Werner ist darin das Kindermädchen Heimpi. Der Film wurde bereits 1978 schon einmal vom WDR verfilmt. 2019 kam die Neuverfilmung der Sommerhaus Filmproduktion GmbH in die Kinos.

Was mir vor diesem Porträt gar nicht bekannt war, sind ihre vielen Kurz – und Debütfilme von Studenten, fast alle mit einem Preis ausgezeichnet. Ursula Werners Darstellungskuns, jedweder Rolle einen plausiblen Charakter, Stimme und Gesicht zu geben, überzeugend zu sein, hat sich offenbar bei Regie-Debütanten an den Filmhochschulen herumgesprochen. Über „F For Freaks habe ich anfangs etwas gesagt. Wahre Entdeckungen sind für mich die Kurzfilme „Am anderen Ende“ und „Nagel zum Sarg“ von Philipp Döring. In beiden fesselt Ursula Werner durch ein intensives Spiel. In ersterem verkörpert sie die Telefonseelsorgerinn Marianne, die für jeden Anrufer die richtigen Worte findet. Eines Nachts jedoch muss sie sich mit einem eigenen Problem auseinandersetzen.

Marianne ist die beste Telefonseelsorgerin. Nur vor ihrem eigenen Problem flüchtet sie Screenshot ©Leonard Lehmann

Ihre drogenabhängige Tochter sucht sie auf, um Geld zu fordern. Marianne leidet und versucht verzweifelt, Mittzwanzigerin von den Drogen abzubringen. In der Filmbewertung heißt es: Ursula Werner gibt dieser Frau mit einer grandiosen schauspielerischen Leistung ein markantes Gesicht und eine charaktervolle Stimme. (…) Eine atmosphärische Erzählung, auf Kürze zu einem großen und anrührenden Drama verdichtet. Besser geht es kaum!“ Bei den „Babelsberger Medienpreisen“ 2010 wird sie mit dem Schauspielerpreis ausgezeichnet, beim Grand OFF – World Independent Short Film Awards in Warschau als Beste Schauspielerin geehrt.

Ursula Werner lässt beim Zuschauer Verständnis und Empathie für die Täterin aufkommen ©Blue Elephant/Philipp Döring

Nach einer literarischen Vorlage von Wolfgang Kohlhaase – er schrieb auch an dem Drehbuch mit – drehte Philipp Döring das Kurzfilmdrama „Nagel zum Sarg. Ein Polizist steht vor der Tür einer alten Frau. Seit 30 Jahren trägt sie die Last mit sich herum, am Tod ihres Mann schuld zu sein. Sie pflegt sein Grab. Durch einen Zufall wird nun ein Schädel gefunden, in dem ein verrosteter Nagel steckt. In einem langen Monolog beichtet sie dem Polizisten, wie sie aus purer Verzweiflung eine Menge Schuld auf sich geladen hat. Ursula Werner vermag in einem intensiven Spiel, den Gewissenskonflikt dieser vom Schicksal grausam geprüften Frau subtil, ergreifend, aufwühlend deutlich zu machen. Auf dem Filmfest 2012 in Dresden gewann Philipp Döring den Förderpreis Goldener Reiter – nicht zuletzt dank der Hauptdarstellerin.

Die des Lebens müde Christine (Monika Lennartz) wird von ihrer Freundin Eva (Ursula Werner) auf einen Trip in das Nachtleben von St. Pauli entführt und muss sich mit einer Lebenseinstellung auseinandersetzen, für die sie sich viel zu alt fühlt ©Jäger & Becker Film

Die wunderbare Kurzfilmkomödie „Mädchenabend“ vereint 2011 nach vielen Jahren wieder die Tschechow-Schwestern Ursula Werner und Monika Lennartz. Die 74jährige Eva und die 75jährige Christine teilen sich als beste Freundinnen im Seniorenheim ein Zimmer. Letztere hat den Tod ihres vor Jahren verstorbenen Mannes nicht verwunden. Eines Abends entführt Eva die Freundin in einen Männerstripclub. Die beiden blühen, auch dank ihres erheblichen Alkoholkonsums, im wahrsten Sinne des Wortes auf. Eva, die stark auf Antidepressiva angewiesen ist, wird diese Nacht nicht überleben, Christine sich daraufhin wieder mehr dem Leben zuwenden. Die beiden Theaterkämpen lassen das Spiel zum Genuss werden. Und wieder gibt es das Prädikat „Besonders wertvoll“ und 2012 den Max-Ophüls-Preis als bester Kurzfilm. Ursula Werners wurde auf dem Festival in Saarbrücken als Ehrengast mit all ihren preisgekrönten Kurzfilmen und den Debütfilmen gefeiert.

Es ist schwer einen Schluss zu finden, wo lange noch nicht Schluss ist. Die Schauspielerin Ursula Werner hat in den Kammerspielen München eine neue Theaterheimat gefunden, spielt in Dresden und Berlin, und vor allem hat sie aktuelle Filmaufgaben. Während ich hier schreibe, dreht sie neben den Vorstellungen im Deutschen Theater einen neuen Fernsehfilm im Schwarzwald. „Rosengarten– die authentische Lebensgeschichte eines jungen Regisseurs. „Er ist der Sohn eines Syrers und einer Deutschen und bewegt sich zwischen zwei Welten. Er stellt sich die Frage: Wo ist man zu Hause?“, verrät sie mir. Ein Konflikt, den viele junge Ausländer, die in unser Land gekommen sind, für sich lösen müssen.

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Jutta Wachowiak: „Was ich zu sagen habe, gehört auf die Bühne“

Ich hatte nach langem wieder mal einen Theaterabend erlebt, der mich nicht mit einem unbefriedigenden Gefühl entließ. Ich konnte etwas anfangen mit dem, was mir erzählt wurde. Bei vielen Inszenierungen verstehe ich deren Interpretation nicht mehr. In der Box, der kleinen Bühne des Deutschen Theaters, habe ich mir „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ angesehen. Seit der Premiere im Oktober 2018 sind diese Vorstellungen stets ausverkauft. Ich muss gestehen, dass mich journalistische Neugier getrieben hat, denn es ist über 20 Jahre her, dass ich mit der Schauspielerin gesprochen habe.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
„Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ ist ein Theaterabend von Jutta Wachowiak, Eberhard Petschinka und Rafael Sanchez ©DT/Arno Declair

In ihrem Solo-Abend „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ spielt sie die Wärterin in einem Dinosaurier-Park, den man weder verlassen noch unkontrolliert betreten darf. Zunächst fragt man sich: Was hat der Blockbuster hier zu suchen? Doch schnell erschließt sich eine Parabel auf die DDR. Die Geschichte des Parks vermischt sich mit der Biografie der Schauspielerin. Sie reflektiert die äußeren und inneren Umstände ihres Lebens. Von den Kindertagen angefangen über ihren künstlerischen Werdegang in der DDR, die Zweifel an sich, die Hürden, die Erfolge auf diesem Weg. Sie erzählt von der Hoffnung, als sich der Park öffnet und dem Erlebten danach, wie sie zurückgeworfen wird, nichts mehr so ist wie es war. „Das war eine Zeit, in der ich lebte, als wäre keine Haut auf meiner Seele, so ausgeliefert war ich dem brutalisierten Alltag.“

…und alle heben sich gleichzeitig empor / von ihren Stangen / und flattern hinauf in die Kuppel / als hätten sie das Loch dort oben im Eisengitter / erst jetzt gesehen…“

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
„Ich kann jetzt überall hin, nur nach Hause kann ich nicht“,  sinniert Jutta Wachowiak in ihrem Monolog übetr die Folgen des Mauerfalls ©DT/Arno Declair

Wie die Dinosaurier in dem imaginären Park flogen die Menschen aus den geöffneten „Fenstern“ hinaus in die unbekannte Freiheit. Doch die neue Freiheit ließ sich nicht genießen. Als sie zurückkamen, war der Ort noch da, aber das Zuhause weg. Das Zuhause der Schauspielerin war das Deutsche Theater. Es wurde wie alle ehemaligen DDR-Bühnen einer Metamorphose unterzogen, die künstlerische Merkwürdigkeiten hervorbrachten. Intendant Thomas Langhoff konnte die vormalige künstlerische Höhe des Theaters nicht halten. Seine Inszenierungen seien konventionell, brav, gegenwartsfremd wurde ihm vorgeworfen. Jutta Wachowiak sah sein Dilemma, helfen konnte sie ihm nicht. „Die Arbeit mit Langhoff ist immer elektrisierend gewesen, bis seine Regie an Spannung verlor und ihr Magnetfeld plötzlich zusammenbrach.“ Beide kannten sie sich seit 1963 aus ihrer gemeinsamen Schauspielzeit am Hans-Otto-Theater. Unter seiner Regie stand sie in großen Rolle wie „Maria Stuart“ auf der Bühne oder als Rosi in dem dreiteiligen Fernsehfilm „Guten  Morgen, du Schöne“ nach Maxi Wanders Frauenporträts. Nun verstand sie ihn nicht mehr.

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Jutta Wachowiak 1993 als Mutter Wolffen in Thomas Langhoffs Inszenierung „Der Biberpelz“ am Deutschen Theater (Screenshot aus der ZDF-Fernsehaufzeichnung )

Es kamen Frank Castorf, Einar Schleef und Christoph Schlingensief mit ihren experimentellen Inszenierungen (postdramatisches Theater). Jutta Wachowiak tat sich schwer damit. „Maria Stuart“ flog nach zehn erfolgreichen Jahren 1993 vom Spielplan. Danach feierte sie zwar Erfolge als Mutter Wolffen in Gerhart Hauptmanns „Der Biberpelz“ (1993-97), als Frau Fielitz in seiner Fortsetzung „Der rote Hahn“ (1997). Dennoch wuchs ihr Unbehagen. „Ich hatte damals schon begriffen, dass Castorf und Schlingensief große Künstler sind. Mein Leiden hing eher damit zusammen, dass ich es nicht verstand. Und dass das an mir lag.“ Sie bemerkte, wie sie sich verlor, wie sie eine ungewollte Aggressivität entwickelte, mit der sie andere verletzen konnte. Sie stand morgens hinter der Tür und sagte: „So, die Stacheln raus und rein in die feindliche Welt.“ Das war nicht mehr sie.  Sie zog ihre Konsequenz. Als Schutz und um sich Sensibilität und Verletzbarkeit für ihren Beruf zu bewahren, trainierte sie sich „ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Alleinsein an. So bleibt meine Einmischung in das gesellschaftliche Leben nahe an meiner Arbeit.“  Viel später erst kam ihr ins Bewusstsein, wie sie mir sagt, woran das lag, dass sie sich in einer Verfassung befand, in der sie nicht mehr im Einklang mit sich selbst war. „Ich war damals wirklich aus meiner Mitte herausgerückt“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand.

Um die Leerlaufzeiten sinnvoll zu überbrücken, unterrichtete sie bis zu ihrem Weggang 2005 aus Berlin Szenenstudium an der Ernst-Busch-Hochschule für SchauspielkunstDas war eine Sache, die Spaß machte. Ich hatte das Gefühl, ich kann den jungen Leuten etwas verklickern. Dabei war ich selber immer am Ball, denn ich musste mich mit meiner ganzen Sensibilität und Beobachtungsschärfe einbringen.

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Herausragend war Jutta Wachowiaks Verkörperung der alternden Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz in Ralf Kirstens Filmbiografie „Käthe  Kollwitz – Bilder eines Lebens“ ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Als dem Berliner Senat 1996 aus Sparsamkeitsgründen die Idee kam, die „Ernst-Busch“ der Westberliner Hochschule der Künste unterzuordnen, schrieb Jutta Wachowiak einen Protestbrief an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. „Da hätte man einen gut funktionierenden Körper an einen Tropf gehängt. Das wäre das Ende der besten deutschen Ausbildungsstätte für Schauspieler gewesen“, kann sich noch so viele Jahre später darüber empören. Diese Unvernunft wollte sie nicht mittragen und war bereit, ihr Bundesverdienstkreuz, das ihr 1992 für ihr politisches Wirken im Herbst 1989 verliehen worden war, zurückzugeben, falls der Senat bei seinem Vorhaben der bliebe. „Man hat mich mit dem Orden für meine Integrität und Gründlichkeit belohnt. Und ich wollte nicht in Verdacht kommen, mich für Arschlöchigkeit loben zu lassen.

Da Eberhard Diepgen auf das Schreiben der Schauspielerin nicht reagierte, kam es zu einer spektakulären Protestkundgebung. Am 14. März 1996 verlas Jutta Wachowiak vor Hunderten Schauspielern, Studenten und Theaterfreunden im bat, dem Studiotheater der Hochschule, ihren Brief. Am 12. März hatten Schauspielstudenten und prominente Künstler begonnen, sich mit Aufführungen und Lesungen gegen die Schließung ihrer Schule zu wehren. Von überall her kamen Solidaritätsbekundungen. Intendant Jürgen Flimm vom Thalia Theater Hamburg schrieb, Thomas Langhoff vom Deutschen Theater, Birgitta Vallgarda von der Lunds Universität in Malmö. Das Schauspielhaus Zürich unterstrich, dass die „Ernst Busch“ mit ihren Besonderheiten und der anerkannten Qualität ihrer Ausbildung erhalten bleiben muss.

Regisseur Roland Gräf mit Jutta Wachowiak 1981 bei den Dreharbeiten zu  Märkische Forschungen“  nach dem Roman von Günter de Buyn ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Die Rolle der Mahnerin gehört nicht zu denen, die sich Jutta Wachowiak gewünscht hat, noch viel weniger, dass das mit „Henry-Maske-Tamtam“ passierte. „Aber es ging hier nicht anders“, betont sie in unserem zweiten Interview, dass wir 1998 führten. Die Fusion fand nicht statt. Die Ernst-Busch-Hochschule hat ihre Eigenständigkeit behalten, auch dank des Einsatzes der prominenten Schauspielerin. Der Orden, den sie nur an jenem Abend am Revers trug, liegt wieder im Schrank.

„Ich bin keine Intellektuelle“, sagt Jutta Wachowiak. „Ich fühlte mich denjenigen nahe, die ihren Brigadeausflug ins Theater machten. Darüber stellte sich zwischen uns eine Art konspiratives Einverständnis her.“ Im Herbst 1989 schloss sie sich ihrem Publikum an, engagierte sich dafür, dass sich in der DDR etwas ändert. „Ich konnte den „Zynismus und die Scheinheiligkeit im Umgang mit den Menschen nicht mehr ertragen. Da lag der Scheißhaufen mitten im Wohnzimmer, und die haben ein Spitzendeckchen drübergelegt. Und wehe dem, der sagte, es stinkt.“ Das hat sie geärgert an der DDR, dass die „feinen Herren aus Wandlitz in ihren Limousinen mit zugezogenen Gardinen zur Arbeit fuhren.“ – und auch wieder zurück. „Die wollten nicht sehen, was wirklich los ist. Trotzdem bin ich wahnsinnig froh, dass ich 40 Jahre auf unserer Seite zugebracht habe. Und den Rest sehe ich zu, dass ich meine Aufrichtigkeit und Integrität verteidige gegen andersgeartete Gefährdungen.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
Jutta Wachowiak nimmt das Theater als moralische Anstalt ernst. Es geht um eine gerechte Ordnung, um eine Gesellschaft der Freien, die moralisch handeln. Darum ging sie 1989 auf die Straße ©DT/Arno Declair

Den Aufbruch 1989 fand sie wunderbar: „Da flog noch mal der Kalk aus den Arterien, es kam Wind in die Bude.“ Jutta Wachowiak stand am 4. November 1989 mit in der ersten Reihe, als Theaterleute, Schriftsteller, Kunst- und Kulturschaffende am Berliner Alexanderplatz für Veränderungen im Staat protestierten. „Wir hatten keinen Umsturz im Sinn. Die Gesellschaft, den Staat umbauen, weiterbauen, darum ging es. Wir wollten die Möglichkeiten der öffentlichen Kritik und freien Meinungsäußerung einklagen, forderten eine andere Medienpolitik“, benennt sie das Anliegen von damals noch einmal.

Sie wurde Mitglied im Zeitweiligen Untersuchungsausschuss mit, der Licht in die gewalttätigen übergriffe der Polizei am 7., 8. und 9. Oktober an Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg bringen wollte. Die Erinnerung daran lässt sie in Rage geraten. Es war grässlich. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass so viele Leute sagten: Ich war’s nichts. Da habe sie viel dazu gelernt, konstatierte sie später.

Jutta Wachowiak als Käthe Kollwitz ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Wie sie den monatelangen Spagat durchgehalten hat, vermag sie nicht zu sagen. Tagsüber las sie Gedächtnisprotokolle, die ihr schlaflose Nächte bereiteten, führte Podiumsdiskussionen, abends stand sie als „Maria Stuart“ auf der Bühne des Deutschen Theaters. „Es ging schon an die Substanz. Vielleicht war es naiv, anzunehmen, wir könnten uns einmischen“, sann sie in unserem Gespräch nach. „Aber es ging um unsere Zukunft. Da konnte ich nicht einfach aufhören. Ich habe dafür eine moralische Verantwortung empfunden.“ Mulmig bis ins tiefste Innere wurde ihr, als am 9. November die Mauer fiel. „Da wusste ich, jetzt ist es vorbei mit Umbauen und Weiterbauen. Die Erfahrung aber war nicht umsonst“, denkt sie heute.

Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park
Ich bin hier das Relikt“ , sagt sie ins Publikum ©DT/Arno Declair

Jutta Wachowiak leistet sich keine Larmoyance, keine Nostalgie im Blick auf ihr Leben, derer man ja schnell verdächtig wird heute. „Die Gesellschaft ist eine andere geworden, ich bin anders geworden. Ideologisch geprägte Verhaltensweisen wie Disziplin, Anpassung und Notwendigkeit sind jetzt ganz individuell bezogen. Haben einzig mit dem zu tun, was mich und meine Kinder angeht. Das habe ich zu akzeptieren gelernt.
Die Mutter hatte die Tochter gewarnt, als die aufmachte, Schauspielerin zu werden: „Kind, das ist ein sehr harter Beruf.“ Das bezweifelte die damals 17-Jährige nicht. Aber leicht wollte sie es auch nicht haben „Ich war immer jemand, der es ganz gerne schwer hat. Es muss natürlich auszuhalten bleiben“, erklärt Jutta Wachowiak sechs Jahrzehnte später. Die Zeiten dazwischen haben ihr viel abverlangt.

An die Grenzen des Aushaltbaren kam sie, nachdem Thomas Langhoff seinen Platz als Intendant des Deutschen Theaters räumen und der Solinger Bernd Wilms die Macht übernahm. Er verkörpert den Typ „Wessi“, der von der Warte des Siegers auf die Menschen im Osten guckt. Das hat Jutta Wachowiak sehr schnell zu spüren bekommen. Nach 30 Jahren am Deutschen Theater musste sich die Schauspielerin, die aus den Spielplänen nicht wegzudenken war, fragen lassen: „Wer sind Sie denn?“ So tief verletzt hatte sie noch niemand. Die Ausgrenzung begann. Wilm hat fast das gesamte Ost-Ensemble ausgetauscht. Nur die Unkündbaren wie Jutta Wachowiak gab es noch. Die Kollegen aus dem Westen blieben ihr fremd.

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1979 drehte Roland Gräf mit ihr die Liebesgeschichte „P.S“. Die Bewährungshelferin Margot (Jutta Wachowiak)  verliebt sich in den 18-jährigen Peter (Andrej Pieczinski) ©DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

„Sie stellen sich mal schön hinten an“, hieß es. „Ich war ja staatserhaltend! Habe Auszeichnungen bekommen. Das wurde mir angekreidet.“ Man ließ keine Gelegenheit aus, ihr klar zu machen, dass man sie für eine zwangsweise übernommen Altlast hielt. Die Bitternis von damals klingt an, als sie davon erzählt. Doch dann macht sich Empörung Luft. „Es gibt kein Gefühl dafür, dass wir da auch gerne gelebt haben. Dass wir uns gerieben haben oder dass wir Reglementierungen unerträglich fanden. Man stellt keine Fragen, aber weiß, wie es geht. Ein ganzes Land mit seinen sämtlichen Erinnerungen wird bis heute denunziert. Fähigkeiten, Leistungen, Ideen und Wissen werden ignoriert. Das ist entwürdigend, schmerzhaft und unnötig“, möchte ich die Schauspielerin hier aus dem Programmheft für ihren Abend Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ zitieren.

Man überging sie bei der Besetzung neuer Stücke. Manchen Tag setzte sie sich nachmittags ins Kino und sah sich Blockbuster wie „Blade Runner“ an. Sie wollte, dass die hämmernden Gedanken in ihrem Kopf aufhören: Bin ich wirklich nur auf Scheiße reingefallen? Haben wir wirklich nur Sklavensprache gesprochen? Habe ich mit meiner Kunst den Staat gestützt? Ihr Selbstbewusstsein war am Boden. Mit ihrem Soloabend „Iphigenie auf Tauris“ versuchte sie, sich zu lokalisieren. „Ich musste mich fragen, welche Spielregeln ich akzeptieren kann und welche nicht.“ Sie konnte und wollte die Demütigungen an dem Theater, das nicht mehr ihres war, nicht mehr ertragen.Am Ende der Spielzeit 2004/2005 zog einen schmerzlichen Schlussstrich unter 35 Jahre ihres künstlerischen Lebens am Deutschen Theater. Es war das einzig Richtige, das sie tun konnte. Sie musste da weg, weil sie nicht mehr spielen konnte.

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In dem Fernsehfilm „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (Josef Karlík) 1968 lernte die 27-jährige  Schauspielerin, dass sie rustikale Kraft und Lebenserfahrung der Partisanin Babka über eine ganz karge Grundhaltung ausdrücken kann Foto: Screenshot/ DDR-F, Günter Eisinger

Sie veließ die Gefilde, in denen man sie kannte,  ihre Leistung als der Schauspielerin schätzte, und folgte Anselm Weber, der als Gast am DT inszeniert hatte, auf dessen Angebot hin nach Essen. Weber übernahm als Intendant das dortige Schauspielhaus und baute mit jungen Leuten ein neues Ensemble auf. Rafael Sanchez, den sie auch schon vom DT kannte, Roger Vontobel, David Bösch. Die erfahrene Schauspielerin wollte ihre Erfahrungen weitergeben und mutierte selbst zur Lernenden. „Ich wollte ihre Art, Theater zu machen, verstehen.“ Sie bemerkte, dass die Jungen die emotionalen Verquickungen genau wie sie sehen. „Sie finden dafür aber ganz andere Bilder und meinen es nicht so angriffig, wie ich dachte.“ Sie ließ sich auf sie ein. „Plötzlich war mein Zugang zu ihren Inszenierungen viel größer“, konstatierte sie schon bald.

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Der 40jährige Karl (Dieter Mann) steckt in der Midlife- Crisis. Er verliebt sich in eine Jüngere und eröffnet seiner Frau Elisabeth (Jutta Wachowiak) nach vielen Ehejahren, sie nie geliebt zu haben.  Das gesellschaftskritische Filmdrama „Glück im Hinterhaus“ (1980 von Hermann Zschoche gedreht) ist eine Adaption von Günter de Bruyns Roman „Buridans Esel“ ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

In Essen, wo sie niemand kannte, keiner je DEFA-Filme geguckt hat, gelang es Jutta Wachowiak aus ihrem seelischen Tief, ihrer emotionalen Talsohle herauszukommen. „Ich fühlte mich in der Stadt keinen Moment fremd.“ Die Stadt, die Menschen und das Leben hatten etwas Vertrautes, es kam ein bisschen DDR-Gefühl hoch – ein gutes.  Sie blieb bis Anselm Weber ans Schauspielhaus Bochum wechselte und kehrte 2009 nach Berlin zurück. Sie traf Thomas Langhoff wieder, der sich national wie international als Regisseur etabliert hatte, und spielte am Berliner Ensemble in seiner Inszenierung „Donã Rosita oder die Sprache der Blumen.“ Ihr Neubeginn auf einer Berliner Theaterbühne. Das Deutsche Theater betrat sie erst 2012 wieder, als Rafael Sanchez sie in William Shakespeares Tragödie „Coriolanus“ besetzte. „Früher hätte ich auch keinen Schritt in das Haus setzen können, partout nicht“, sagt Jutta Wachowiak. Dass sie nun wieder öfter auf ihrer einstigen Hausbühne steht, bedeutet der Schauspielerin sehr viel.

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Jutta Wachowiak 1995 bei meinem Besuch in ihrem Sommerparadies ©Boris Trenkel

Für mein Interview 1995 besuchte ich sie in ihrem Sommerparadies auf der Potsdamer Halbinsel Hermannswerder. Ein winziges Stück Idylle, direkt am Templiner See. Wir saßen am Steg, an dem ein Paddelboot vertäut war. Wochenlang kann sie allein sein im Garten. Hier kann sie stricken, lesen, schwimmen, sich sonnen… Wenn die Aprikosen reif sind, lädt sie Freunde zum Knödelessen ein. „Ick muss mir Abwechslung verschaffen können, wann ick will. Sonst kriege ick die Motten.“ Die Parzelle, auf der sie sich ein Haus gebaut hat, ist auch ihr Schlupfloch, wo Trubel und Chaos des Alltags draußen bleiben.

Der Drang nach Abwechslung führte Jutta Wachowiak in den Schauspielerberuf. „Ich mochte Theater und bin in jede neue Aufführung gegangen.“ Als es daran ging, dass sie in der Schule einen Berufswunsch äußern sollte, hatte sie keine Vorstellung. „Ich war vierzehn, extrem winzig, gerademal 1,42 Meter und zart. Das ist jetzt vielleicht zum Lachen, wenn man mich anguckt.“ Sie lässt den Blick an sich heruntergleiten und hat dabei ein schönes Strahlen im Gesicht.

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Jutta Wachowiak 1980 ©DEFA-Stiftung/Nobert Kuhröber

Jutta Wachowiak hatte eine gescheite Mutter, eine echte Berlinerin, die fest im Leben stand. Im Kriegsjahr 1944 war sie mit ihren beiden Töchtern wie Tausende Berliner Mütter aus der Stadt in die deutschen Ostgebiete im heutigen Polen evakuiert worden. Nach Kriegsende kehrte sie in den Prenzlauer Berg zurück. Aus Angst vor den Russen ging die Mutter mit den kleinen Mädchen sie zu Fuß, lehnte freundliche Aufforderungen, sie mitzunehmen ab. Doch als die Kinder nicht mehr konnten, stieg sie doch auf die Ladefläche eines Wagens. Und die kleine Jutta schrie und schrie, bis es nicht mehr auszuhalten war. Da stieg der Offizier aus dem Wagen, ging  zu einem Garten und riss einen Stachelbeerstrauch heraus. Und Jutta pickte bis Berlin die Beeren ab und stopfte sie in den Mund. Ruhe war nun. Sie kamen in ihre Wohnung in der Wichertstraße, die noch war, wie sie verlassen hatten.

Die Mutter sagte ihrer feinnervigen und durch eine Lymphdrüsen-Tuberkulose im Wachstum zurückgebliebenen Tochter nun als es an die Berufswahl ging: „Pass auf, da lernste erst mal Steno und Maschine. Da kann man immer was mit anfangen. Dann sehen wir weiter.“ Also lernte das Mädchen Stenotypistin und war mit sechzehn Sekretärin beim Stadtbezirk Prenzlauer Berg. „Meine kleine Mama raste ins Büro, um mich und meine Schwester durchzukriegen. Sie war eine ganz ungewöhnliche Frau, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommend, mit einer ungewöhnlichen Toleranz versehen, so lebhaftem Interesse an ernsthaften Vorgängen zwischen den Menschen. Das hat sie mir alles mitgegeben.“ Die Mutter war im Jahr vor unserem Interview gestorben.

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Günter Linke fotografierte die Schauspielerin 1969  für ein Autogrammfoto ©FMP/Günter Linke

Es dauerte nicht lange, da fing die frischgebackene Sekretärin an,  ihr Büro andauernd umzuräumen, legte die Briefe mal hier hin, mal dort hin, damit die Handgriffe nicht immer die gleichen waren. „Ich merkte, ich bin nicht ausgelastet oder verkehrt an dem Platz.“ Nach einem Jahr suchte sich sie eine Anstellung bei der Notenbank. „Ganz bewusst da, weil ich wusste, die haben eine Laienspielgruppe.“ Nach der Arbeit im Büro stand sie auf der Bühne und empfand sich da am richtigen Platz. Wohlwollend beobachtet von ihrem Chef, Herrn Todtmann, der später Karriere im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe in Moskau machte. Jutta Wachowiak erinnert sich gern an ihn: „Er war ein feiner Herr mit romantisch gebildetem Hintergrund. Wir hatten lange Kontakt. Es war gut, sich mit so jemandem zu unterhalten, man kam über den eigenen Horizont hinaus.“ Herr Todtmann war es, der sie zur Schauspielschule schickte. „Fräulein Jutta“, sagte er, „hier können Sie nicht bleiben. Sie müssen zum Theater.“ Sie bekam von ihm zum Einstudieren Komödien von Curt Götz, die sie überhaupt nicht kannte, weil das kein Theater in Ostberlin gespielt hat.

Ihr Vorspiel an der Schauspielschule in Schöneweide endete im Fiasko. Sie sei unbegabt. „Wenn man fünf Stunden warten muss und dann nicht mehr kann, weil sich da eine Sensibilität verrät, die irgendwann von Nutzen ist, wenn man sie durch Professionalität mit Kraft versieht, ist das kein Zeichen für Unbegabtheit, sondern für das Gegenteil.“ So sieht es die erfahrene Schauspielerin heute. Und so sah das damals auch die wohl bekannteste Berliner Dozentin für Schauspiel Doris Thalmer, der Schauspieler wie Christian Grashof, Franziska Troegner, Dieter Mann und Katharina Thalbach ihr handwerkliches Können verdanken. Doris Thalmer schickte die 17jährige Jutta zur Filmhochschule Babelsberg und sagte ihr, sie müsse sich gleich vorstellen, weil man da nur bis achtzehn immatrikuliert. An der Schauspielschule suche man ohnehin handfeste, proletarische Frauentypen. Ein solcher war die zarte, fummelige Jutta ja nun nicht.

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Jutta Wachowiak und Christian Grashof 2019 nach ihrer Fontane-Lesung ©Andrea Doberenz

Das Studium in Babelsberg gefiel ihr. An der Filmhochschule konnte man ihrer Fummeligkeit umgehen. 1963 dann das erste Engagement am Hans-Otto-Theater Potsdam. Fünf Jahre blieb sie und hatte ordentlich Lehrgeld zu zahlen. „Ich war noch so hingebungsvoll, hatte eine übertriebene Anerkennung für alles, was die anderen sagten, dass ich anfing zu zweifeln, ob ich richtig bin in dem Beruf.“ Diese Selbstzweifel behinderten sie in ihrem Spiel, wenngleich sie auch Erfolg hatte als Eliza in „Pygmalion“, ihre erste größere Rolle. „Ich konnte mich nicht öffnen. Es war mir klimatisch nicht möglich, zu der Form aufzulaufen, die ich zu dem Zeitpunkt sogar schon hätte haben können“, schätzte die Schauspielerin im Rückblick ein.

Sie wechselte 1968 an die Karl-Marx-Städter Bühne. „Ich wollte erfahren, ob ich den Beruf durchhalte.“ Plötzlich hatte sie den Raum und die Atmosphäre, die sie brauchte. Sie spielte ohne Hemmungen, setzte ihre emotionale Kraft, ihre Phantasie und ihr erlerntes Können ein. An der Seite von Christian Grashof spielte sie die Luise in „Kabale und Liebe“. Es war eine unerwartet starke Darstellung, auch für Jutta Wachowiak selbst. „Ich besann mich wieder, warum ich den Beruf ergriffen habe und dass ich mir selbst der wichtigste Zensor bin.“ Sie legte sich ihre Messlatte selbst, und wenn es in ihren Augen „nüscht war“, hat es sie doch weitergebracht. 1970 holte der grandiose Schauspieler und Regisseur Prof. Wolfgang Heinz das kongeniale Paar Wachowiak/Grashof ans Deutsche Theater nach Berlin.

Es war ein Start mit Hindernissen. Jutta Wachowiak kam mit der brüskierenden Arroganz des Intendanten Hanns Anselm Perten nicht klar. Die Gelegenheit war günstig, sich erst einmal auszuklinken. Sie hatte gerade den Nachrichtensprecher Klaus Ackermann geheiratet und zu ihm gesagt: „Komm wir machen ein Kind“. Tochter Anja kam im November 1971 zur Welt, ein halbes Jahr später kehrte die junge Mutter ans Theater zurück. Schon sehr erwartet von Prof. Wolfgang Heinz. Er wollte mit ihr Tschechows „Onkel Wanja“ inszenieren. Perten war wieder weg.

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2012 inszenierte Rafael Sanchez Shakespeares „Coriolanus“ und besetzte Jutta Wachowiak als Cominius und Konsul ©DT/Arno Declair

Die Arbeit mit Wolfgang Heinz bescherte Jutta Wachowiak eine wichtige Erfahrung. Ehrfurcht und Demut vor diesem klugen Mann, diesem einfühlsamen Schauspieler und Regisseur, hatten sie anfangs in den Proben gelähmt. Sie wusste, in Prof. Heinz hat sie jemanden, der steht wie ein Fels. Ein gediegener, gewachsener. Wenn der sagte: Nein, Kindele, dann wollte er sie nicht schikanieren. Er wollte, dass die Sache gut wird. „Ich ging auf der Bühne in die Knie, wenn er von seinem Sitz im Saal etwas sagte. Ich ertrug es nicht, dass ich oben stand und er saß unten. Aber irgendwann im Leben gibt es einen Punkt, wo es anfängt, dass man die qualvollen Strecken auch genießen muss, damit sie Folgen haben.

Und dann kam dieser Punkt. Sie blieb stehen und führte den Dialog in aufrechter Haltung. Genau das hatte Wolfgang Heinz provozieren wollen. Sie redeten auf Augenhöhe. „Er wollte nicht, dass man in die Knie geht. Er wollte sich auch reiben.“ Auf diese Weise haben sie dann viele Jahre gearbeitet. Die Schauspielerin litt, als er nicht mehr so gegenhalten konnte mit wachsendem Alter. Sie zog für sich die Konsequenz. „Ich versuchte, zu ihm zu halten, dachte: jetzt ist dir eben eine Verantwortung zugewachsen, jetzt haste das mit aufzufangen. Das ist mir nicht immer gelungen.“

Hermann Beyer und Jutta Wachowiak als Ehepaar Pötsch 1981 in Roland Gräfs Literaturverfil- mung Märkische Forschungennach dem Roman von Günter de Bruyn ©DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer

Neben der Bühne hat Jutta Wachowiak seit ihrem Studium eine Parallelwelt vor der Kamera. Die DDR war klein, DEFA und Fernsehen hatten zwar eigene Ensemble, aber man griff gern auf Theaterschauspieler zurück. Sie brachten ihre Bühnenerfahrungen mit ein und hatten auf der anderen Seite selbst mehr Abwechslung in den Rollen. So funktionierte das 40 Jahre lang wunderbar.

Thomas Langhoff, der ab 1971 auch als Regisseur Fernsehfilme drehte, besetzte Jutta Wachowiak 1976 mit der Hauptrolle in seinem Frauendrama „Die Forelle“. Ihre erste große Filmrolle und ein Durchbruch vor der Kamera. Sie spielt eine junge Frau, die durch einen Unfall ihren Mann verliert. Allein mit zwei Kindern sehnt sich bald nach einem neuen Partner. Die Schauspielerin erspürt Leiden, Verlustschmerz, Sehnsucht, Hoffnung und Zweifel ihrer Figur mit einer seltenen Gefühlstiefe und Empfindsamkeit.

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Jutta Wachowiak und Erwin Berner 1977 in Thomas Langhoffs Fernsehspiel „Befragung  – Anna O.“ ©Waltraut Denger, Quelle: FFdabei 16/1977

Im Jahr darauf drehte Thomas Langhoff mit ihr das Fernsehspiel „Befragung – Anna O“, in dem es um eine Vierzigjährige geht, die lange von ihrem Mann getrennt war. Auf sich gestellt, hat sie sich zu einer starken, selbstbewussten Persönlichkeit emanzipiert. Jutta Wachowiak verlieh dieser Frau große Souveränität. Es entwickelten sich spannende und dramatische Spielszenen.

Der Regisseur holte seine Protagonistin immer wieder in Rollen vor die Kamera, in denen sie ihre spielerischen Facetten ausloten konnte. Er entlockte ihr in seinen eigenwilligen Adaptionen klassischer Sujets wie „Stine“ (1979) und „Stella“ (1982 die ihr gegebenen Fähigkeiten. 1980 entstand der sensible, warmherzige und auch heitere Fernsehfilm „Muhme Mehle“, nach einer Erzählung von Ruth Werner. Er spielt Anfang der 40er Jahre und ist eine Geschichte von der Freundschaft der unpolitischen Muhme (Käte Reichel) und der kommunistischen Funkerin Mirjam (Jutta Wachowiak), die abgelegen in den Schweizer Bergen leben.

„Die Verlobte” DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer
So akzeptierte es Jutta Wachowiak, das Standfoto machen zu lassen ©DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer

Ihre ergreifende Verkörperung der Widerstandskämpferin Hella Lindau im DEFA-Film „Die Verlobte“ dürften allen, die sie gesehen haben, unvergessen bleiben. Sie wurde dafür 1980 mit dem Nationalpreis I. Klasse der DDR ausgezeichnet. Auf dem XXII. Internationalen Filmfestival in Karlový Váry folgte im selben Jahr der Grand Prix. Die Filmfotografin Waltraud Pathenheimer erinnerte sich in einem Gespräch mit mir, wie schwer es war, eine bestimmte Szene nachzustellen. „Jutta Wachowiak weigerte sich, für das Standfoto nach dem Abdrehen noch einmal tief in die Szene einzutauchen. Es waren die ersten Einstellungen in der Wäscherei. Wir drehten auf einem Dachboden. Hella Lindau öffnet ein vernageltes Fenster und wird von dem Licht geblendet. Das wollte Jutta Wachowiak nicht wiederholen, weil es sie emotional sehr angespannt hatte.“ Die Fotografin suchte nach Lösungen, um die Schauspielerin zur Mitarbeit zu bewegen. Am Ende entstand eine bewegende Aufnahme.

Meine Filmbegegnungen mit Jutta Wachowiak begannen mit der DEFA-Komödie „Auf der Sonnenseite“. Sie studierte damals gerade im ersten Jahr an der Filmhochschule, als Regisseur Ralf Kirsten sie für einen Miniauftritt als Sängerin vor die Kamera holte. Wirklich erinnern kann ich mich an die Szene nicht. Dafür aber an den DEFA-Krimi „Die Glatzkopfbande“.

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Ende August 1961. Der ehemalige Fremdenlegionär King (Thomas Weisgerber, r.) treibt mit einer Band Rowdys (Rolf Römer als Jolle, l.) sein Unwesen in der DDR ©DEFA-Stiftung/Alexander Schittko

Er spielt wenige Tage nach dem Mauerbau am 13. August 1961 und erzählt von einer randalierenden Gang im Ostseebad Bansin. Aus Frust und Langeweile scheren sich die Jungs die Schädel kahl, knattern auf Motorrädern umher, pfuschen bei ihrer Arbeit und belästigen die Urlauber auf Usedom. Klar ist das ein Fall für den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei…
Für Jutta Wachowiak seien die Dreharbeiten 1962 ihre „erste grauenhafte Bekanntschaft mit dem Medium“ gewesen, erzählte mir die heute 79-Jährige. Als Kind hatte sie Lymphdrüsen-Tuberkulose und von dieser Krankheit eine schwarze Stelle im Schneidezahn zurückbehalten. Regisseur Richard Groschopp schickte sie zum Zahnarzt. „Der stülpte mir eine Plastekrone drüber, damit ich immer schön lächeln konnte. Mehr machte ich auch nicht, sonst wäre mir das Ding aus dem Mund gefallen.“

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Jutta Wachowiak spielte nur eine kleine Rolle als Marianne Pohl in dem ersten Actionfilm der DEFA, aber sie war nachhaltig ©DEFA-Stiftung/Alexander Schittko

Mit eingefrorenem Lächeln stakste sie so ungelenk durchs Bild, dass es sogar die bekannte und scharfzüngige Filmkritikerin Renate Holland-Moritz vom Satiremagazin „Eulenspiegel“ einer Erwähnung wert befand: Auffallend, die umwerfend miserable agierende Elevin Jutta Wachowiak… Heulend wollte sie sich von der Filmhochschule exmatrikulieren lassen, so blamabel fand sie sich. Aber was hatte sie ihrer Mutter gesagt: „Ich will ja auch nicht leicht haben.“ Nein, da musste sie durch! Viel zu nah war sie ihrem Traumberuf schon gekommen. Und die ihre Lehrer fanden eher den Film schlecht als sie.

Als ich Jutta Wachowiak 1995 kennenlernte, hatte sie gerade an der Seite von Harald Juhnke in der deutsch-österreichischen Adaption des Fallada-Romans „Der Trinker“ vor der Kamera gestanden. Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf hatte Hans Falladas tragische Geschichte des Unternehmer Erwin Sommer in die Zeit nach der Wende verlegt. Unaufdringlich-präzise ist Jutta Wachowiaks Darstellung der Ehefrau Magda Sommer. Über die Rolle hatte sie sich wahnsinnig gefreut. Es war das erste Mal, dass die damals 53-Jährige nach Jahren wieder vor der Kamera stand. Ihren letzten Film, „Scheusal“ (1990) hatte sie noch für das DDR-Fernsehen gedreht.

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Jutta Wachowiak und Harald Juhnke in „Der Trinker“ Quelle: DW-Kultur-Berlin

6,8 Millionen Zuschauer verzeichnete die ARD bei der Ausstrahlung des „Trinkers“ am 6. Dezember 1995. Was für die Schauspielerin wie ein Comeback in große Fernsehrollen aussah, erfüllte sich nicht. „Ich bekam sehr schöne Briefe von Leuten – die mir was wert sind – aber keine neuen Angebote“, erinnerte sie in unserem Interview drei Jahre später. Natürlich hatte sie darauf gehofft, doch festzuklammern hatte sie sich abgewöhnt. „Dieser Industriezweig, der heute Schauspieler verwertet, hat mich danach so wenig beachtet wie vorher.“

Der Markt war durch den Zulauf an DDR-Schauspielern nach Wende übervoll. Die Filmproduzenten und Casting Agenturen wussten auch kaum etwas anzufangen mit dem Namen Wachowiak, kannten ihn nicht mal. Dem Warten im Abseits begegnete die vormals sehr gefragte Schauspielerin mit Nüchternheit. „Es macht nicht glücklich, aber ich leide darunter nicht. Das Leben von Frauen zwischen 50 und 65 interessiert keinen, deshalb gibt es auch kaum gute Rollen für uns. Die Zeiten großer Filme, wie wir sie bei der DEFA und im DDR Fernsehen gedreht haben, sind ohnehin vorbei.“

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Jutta Wachowiak (M.) 1986  in dem DEFA-Film „Das Haus am Fluss“ von Roland Gräf. Die Fischersfrau Voß lebt mit ihren beiden Töchtern, der und Schwiegertochter und dem Schwiegersohn Jupp an einem großen Strom. Es ist das Jahr 1942 und der Krieg zieht auch hier ein ©DEFA-Stiftung/Dietram Kleist

Diese Vielseitigkeit anspruchsvoller Rollen vermisst sie. Eine ihrer intensiven Figuren war zum Beispiel die Hebamme Christine in Heiner Carows Mutter-Tochter-Film So viele Träume“ aus dem Jahr 1985. Im gleichen Jahr stand sie bei Roland Gräf in der tragischen Kriegsgeschichte „Das Haus am Fluss“ vor der Kamera. Jutta Wachowiak hält nicht viele Rollen, in denen sie in den Jahren nach der Wende vor der Kamera gestanden hat, für erwähnenswert. Da waren 1995 kleine, feine in der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ und „Nikolaikirche“. 1996 spielte sie in dem 12-minütigen Kurzfilm „Fremde Heimat“ von Damir Lukacevic eine der drei Frauen, deren Schicksal er erzählt. Der Film gewann den Bundesfilmpreis in Gold.

Die Zeit in Essen gehörte der Bühne und ihrer seelischen Genesung. Hier kam sie iirgendwann wieder bei sich an. „Es ist mir tatsächlich gelungen, wieder gesund zu werden. Das war ein mühsamer und sehr schwerer Weg“, schrieb sie mir in einer Mail. Sechs Jahre hatte sie keine Filmrollen angenommen. Zuletzt agierte sie 2004 in der TV-Biografie über die Schriftstellerin Brigitte Reimann als deren Mutter. Erst nach ihrer Rückkehr 2009 nach Berlin und auf die Bühne, kehrte die Schauspielerin  in einer kleinen Gastrolle in dem sozialkritischen ARD-Gesellschaftsdrama „Wohin mit Vater“ auch auf den Bildschirm zurück. Sie wollte wieder dabei sein. Es folgten Parts in der ZDF-Krimi-Reihe „Bella Block“ und der Beziehungskomödie Nach all den Jahren“.

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Sie knacken den 30-Millionen-Jackpot (v.l.):  das schwule Paar Otto (Ulrich Pleitgen) und Jacob (Joachim Bliese), die gutmütige Rosi (Ursula Karusseit), das liebesmüde Ehepaar Günter (Dieter Mann) und Karin (Jutta Wachowiak) und der alternde Lebemann Conrad (Michael Gwisdek) Altepflegerin Ursula (Marie Gruber, M.) sorgt sich um die sechs ©ARD Degeto/Arvid Uhlig

Zu ihren schönsten Rollen der letzten Jahre  gehört die lebensfrohe, rüstige Karin in der ARD-Tragikomödie „Die letzten Millionen“, die mit ihrem griesgrämigen Mann Günter in einem Seniorenheim wohnt. Der wird gespielt von ihrem großartigen Kollegen Dieter Mann vom Deutschen Theater, 1984-1991 Intendant des Hauses. Mit ihm spielte sie auch in Thomas Langhoffs Inszenierung Der Biberpelz“ auf der Bühne. „Die letzten Millionen“  sind eine wundervolle Ensemblearbeit herausragender Schauspieler, zu denen noch Ursula Karusseit, Marie Gruber, Swetlana Schönfeld, Michael Gwisdek, Ulrich Pleitgen, und Joachim Bliese gehören.

Jutta Wachowiak hat es geschafft, wieder dabei zu sein. Ihre kleine Rolle als lebenserfahrene Oma in dem Drama „Hanne“ war ein Highlight für mich. Zwei Hauptrollen im „Prag Krimi: Der kalte Tod“ und im „Polizeiruf 110: Mörderische Dorfgemeinschaft“ lassen auf mehr hoffen. Jutta Wachowiak steht im 80. Lebensjahr. Ich habe sie damals, vor 25 Jahren, gefragt, was sie sich für die kommende Zeit noch wünscht. Die Antwort: „Eine Rolle in einem richtig schönen Menschenfilm, wo zugegeben wird, dass das Leben wunderbar und erbarmungslos ist. Und eine schöne alte Frau möchte ich sein, äußerlich und innerlich.“ Letzteres hat sich aus meiner Sicht schon erfüllt. An der Sache mit dem Film könnten die Drehbuchschreiber noch arbeiten. Da ist noch Luft nach oben.

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Zu Hochform lief Jutta Wachowiak 2015/16 als Corinna in Roland Schimmelpfennigs „Wintersonnenwende“ auf. Das Stück zeichnet ein genaues Bild der gegenwärtigen Mitte der Gesellschaft und kratzt dabei an der Wunde des schlimmsten Kapitels deutscher Geschichte. ©DT/Arno Declair

Ein Gedanke sei noch gesagt: Der Solo-Abend „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ ist mehr als eine Selbstreflexion der Schauspielerin über ihr Leben. Dabei sein heißt für sie, die zurückgewonnene Kraft nutzen, um sich unser Leben nicht immer von den erzählen zu lassen, die nicht dabei waren. „Für mich ist die Inszenierung auch ein Versuch, die offizielle Geschichtsschreibung ein wenig gerade zur rücken“, heißt es im Programmheft. Deshalb erzählt sie ihr Leben auch auf westdeutschen Bühnen wie Köln und Braunschweg.  Mag sein, dass es nicht allen Zuschauern gelingt, die Zusammenhänge bis ins Letzte zu erfassen – dafür muss man sich auskennen mit der DDR. Aber jeder Abend endet für die Schauspielerin mit dem wundervollen Gefühl, dass das Publikum ihr zugehört hat, sie zu verstanden hat. Dass sie es mit ihrer Botschaft erreicht hat.