Drei Tage mal raus aus seinen vier Wänden, den Kopf frei bekommen von den täglichen Forderungen des Jobs. Eine Lebensnotwendigkeit, die wir uns seit vielen Jahren im Herbst gönnen.
Es war die letzte schöne Herbstwoche mit unendlich viel Sonnenschein und milden Temperaturen. Ferienhof Spreewald-Romantik in Burg hieß unser Ziel. Von Berlin aus schnell zu erreichen. Schon auf der Fahrt fiel alles von uns ab, was mit der Arbeit zu tun hatte. Links und rechts der Landstraße Wiesen, Wald. Kleine Orte, manchmal ziemlich abgelegene Gasthöfe, die einladend wirken.
Idylle pur empfing uns. Hübsche Häuschen im Spreewald-Stil an einem der unendlich vielen Fließe, die die Landschaft durchziehen, und sie absolut prominentimostblog-tauglich machen. Und so soll sie entstanden sein:

Die Sage erzählt, dass der Spreewald ein missglücktes Werk des Teufels ist. Als er vor langer Zeit mit seinem Ochsengespann das Bett der Spree pflügte, war er schon ein gutes Stück vorangekommen, doch die zwei Zugtiere zeigten sich müde und wollten nicht mehr so recht. Das passte dem Leibhaftigen nicht. Wutentbrannt warf er seine Mütze nach den Rindviechern und schrie sie an: „Das euch verdammtes faules Vieh doch meine Großmutter hole!” Diese Aussicht muss die Tiere so sehr erschreckt haben, dass sie die Flucht ergriffen. Sie rannten, mit dem Pflug hinterdrein, kreuz und quer davon. Statt eines ordentlichen Flussbettes rissen die türmenden Ochsen ein Delta mit 350 Wasserläufen, Fließen von mehr als 500 km Länge…

Romantisch und zugleich mystisch wirkt die sagenumwobene Biosphäre, verwunschen, wo die Bäume sich verdichten, ihre Äste das schwarz glitzernde Wasser berühren. Über die Jahrhunderte hat der Spreewald in der Fantasie der Menschen Fabelwesen entstehen lassen. Da wird von Nixen und Geistern erzählt, vom Schlangenkönig, von der Mittagsfrau, den Lutki. Bis heute spielen die Sagen im Leben der Spreewälder eine große Rolle. Sogar die Drehbuchautoren des ARD-„Spreewald-Krimis“ bringen sie auf Ideen für fesselnde Geschichten.
Burg liegt mitten im reizvollen Biosphärenreservat. Wir hielten uns nicht lange mit Koffer auspacken auf, sondern machten gleich unseren ersten Ausflug. Es war Nachmittag, wir hatten Hunger. Der Imbiss an einem kleinen Hafen für Kahnfahrten bei Kauper lockte mit heißen Hefeplinsen und Heidelbeeren. Dazu eine Tasse heißen Kaffee – das war genau das Richtige.

Plötzlich gab es Bewegung auf dem Steg. Etwas Graues, Stachliges war aus dem Wasser geklettert und rannte flink auf ein trockenes Brötchen zu, das ihm der Fährmann zugeworfen hatte. Ein Biber, den man so selten sieht?

Nee, das kann nicht sein, hatte ich von Tierfilmer Andreas Kieling gelernt, als ich ihn einen Tag im Spreewald begleitete. Um einen Biber zu sichten braucht man tierische Geduld. Die emsigen Baumeister sind zu scheu, um sich Menschen zu nähern.
Was also war dieser unerschrockene Nager? Ein Einwanderer! Wir machten die faszinierende Bekanntschaft einer kanadischen Bisamratte. Noch nie hatte ich so ein Tier leibhaftig und dann noch so nah gesehen. Noch dazu in freier Natur. „Sie kommt jeden Tag und holt sich ihr Brötchen ab“, erzählt der Fährmann, während ich diesen prominenten borstigen Spreewälder ablichtete.
Der muntere, fast kaninchengroße Nager hast nichts mit Ratten zu tun, wie der Name irreführend vermuten ließe. Auch wenn rein äußerlich doch eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Die Bisamratte ist eine Verwandte der Wühlmäuse. Und Bisam leitet sich von einem Sekret ab, das stark nach Moschus duftet – Bisam ist eine andere Bezeichnung für Moschus, das die Männchen absondern. Volkstümlich spricht man auch von Moschusratten, auch von Zwergbibern. Womit ich mit meinem ersten Gedanken gar nicht so falsch lag. Aber ich musste eben erst nachlesen.

Hätte mich mein Mann nicht energisch aufgefordert, endlich mit dem Knipsen aufzuhören, ich wäre wohl ewig am Fließ stehen geblieben. Er wollte mit mir nach Straupitz, bevor es dunkel wird. Kein Ort, der besonders reizvoll wäre. Ein Hauch seiner DDR-Vergangenheit ist noch zu spüren. Aber es gibt Sehenswürdigkeiten, die sich lohnen anzuschauen. Und ich fand meine nächsten Fotomotive.

Straupitz liegt am nördlichen Rand des Spreewalds. Der Name, ursprünglich niedersorbisch Tšupc, bedeutet Ort, wo Leute eines Mannes namens Strup wohnen, oder auch schorfiger Wald. Erstmals urkundlich erwähnt wurde er 1294 bei der Verleihung der Güter Straupitz, Laasow und Butzen an Dietrich von Yhlow durch den Lausitzer Markgrafen Dietrich. All das erfuhr ich von den Schrifttafeln an den wenigen historischen Gebäuden im alten Ortskern.

Die Straße zum Schloss führt am historisch Kornspeicher vorbei. Ein Fachwerkbau, der mich regelrecht anzog. Ich bin in Quedlinburg aufgewachsen, der berühmten Stadt am Fuße des Harzes, und habe vielleicht deswegen so eine romantische Affinität zu Fachwerkbauten.

Für den nächsten Tag hatten wir uns Branitz vorgenommen. Der Park ist das Alterswerk des berühmten Gartengestalters Fürst Pückler. Den Namen hörte ich zum ersten Mal als Kind. Da war ich vielleicht sieben Jahre alt und in den Sommerferien bei meinen Großeltern in Quedlinburg. Mit meiner Oma bin ich oft in die Stadt gegangen, einkaufen, bummeln, Eis essen. Gemeint ist die Altstadt am Fuße des Schlossbergs mit ihren Jahrhunderte alten Fachwerkhäusern. Meine Großeltern wohnten in der Süderstadt. An der Bodebrücke am Bahnhof, die wir überqueren mussten, stand immer ein Eiswagen. Außer den bei mir beliebten Kugeln in der Tüte gab es dort auch Pücklereis.
Um mal wieder ein paar Weisheiten zu verbreiten:

Das älteste bekannte Rezept für das Pückler-Eis kreierte der Königlich-Preußische Hofkoch Louis Ferdinand Jungius, der Pückler 1839 in seinem Kochbuch ein dreischichtiges Sahneeis widmete: Geschlagene Sahne wurde mit Zucker, frischen Früchten oder Konfitüre verrührt und in einer viereckigen Form in Schichten angeordnet. Wegen des hohen Fettgehalts der Sahne gefriert die Masse nur halb. Meine Oma liebte die Pücklerschnitten. Ich mochte sie nie. Mir schmeckt dieses halbgefrorene sahnige Eis bis heute nicht. War Kugeleis ausverkauft, habe ich lieber gar keins gegessen.

Es war ein wunderschöner Tag, an dem wir Branitz besuchten. Wir begegneten keinem Menschen, waren nur mit uns und der Natur allein. Balsam für die Seele. Schauen, wenig reden. Einfach nur flanieren.

Bizarr hoben sich die alten Bäume gegen den Himmel. In jeder Blickrichtung entdeckte ich Schönheit – und einen kleinen vorwitzigen Hund, der bellend auf mich zurannte, stoppte, guckte und davonsprang.

Wasserläufe durchziehen den Park, beidseitig weite Wiesen und kleine Wäldchen mit Buchen, Kastanien, Nadelbäumen. Anmut, Großzügigkeit und Geheimnisvolles verbinden sich atemberaubend, wenn man sich dem Träumen hingibt. Es wirkt alles so ursprünglich, dass ich etwas enttäuscht war, als ich später las, das dies ein künstliches Werk von Hermann Fürst von Pückler-Muskau ist. Die Wasserläufe sind angelegt. Die kleinen Hügel auf einst flachem Ackerboden aufgeschüttet, die Alleen bilden Sichtachsen. Alles wohl durchdacht, auf dem Papier konstruiert – geschaffen ohne vorherige Computeranimation!!

Pückler gilt als einer der größten europäischen Gartenkünstler. Er entwickelte eine international anerkannt „Handschrift” bei der Gestaltung von Landschaftsgärten. Er hatte ein Händchen für den Gartenbau. Doch für eins hatte er kein Händchen. Das war Geld. Er gab es aus und musste aus Finanznot sein Anwesen in Muskau verkaufen und sich über 60-jährig auf das von seinen Großeltern geerbte „Ackerland“ zurückziehen. Für die Nachwelt ein Glück.Denn sonst gäbe es den 600 ha großen beeindruckenden Park Branitz nicht und auch nicht diese großartige Sammlung von Kunstschätzen, die das Auge verwöhnen, an denen man sich nicht satt gucken kann.
Es ist atemberaubend schön, was sich dem Besucher in den Sälen und Räumlichkeiten bietet. Der Fürst lebte ein extravagantes Leben. Aber er war auch ein gastfreundlicher Mann. Seine Hausordnung beschied: „Vollständige Freiheit für Wirth und Gäste“ – bis auf dies: „zum Dinner um 9 Uhr zu kommen, wenn der Tamtam zum zweitenmal donnert.“

Ein bisschen neidisch machte mich das einladende Frühstückszimmer in warmen Violett gehalten. Ich habe ein Faible für „alte“ Möbel, die einem Raum Individualität, Wärme und Gemütlichkeit verleihen. Sie haben Charakter, Stil. Sie sind nicht „stylisch“ – wie ich dieses oberflächliche Wort hasse – und überdauernd daher ihre Zeit. Was dem modernen Interieur wohl nicht gelingen wird. Es überlebt sich, weil immer Neues, noch Stylischeres kommt. Heute wird zum Wegwerfen produziert. Unsere Schuld. Denn, wie denken wir? Aufheben, pflegen? Ach, weg mit dem Krempel. Zumindest ist das die Haltung der jüngeren Generation. Aber ich will nicht alle über einen Kamm scheren.


Über 5000 Objekte – Möbel, Kunsthandwerk, Gemälde, Grafiken, Skulpturen – umfasst Pücklers Sammlung. Die schönsten Stücke brachte er aus dem Orient mit. Sechs Jahre lang, 1834-1840, bereiste er das Morgenland – über Südosteuropa nach Griechenland, Ägypten, Syrien und Kleinasien. In seinen Reisebüchern schrieb er über die Grandiosität der Städte, Parkanlagen und Paläste, übersah dabei auch die Schattenseiten nicht wie Sklaverei, Krankheiten, Korruption und Armut.


Würde er heute reisen – wenn er es denn wagte – was stünde auf seinen 350 Seiten? Was würde er heute sehen? Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror. Eine islamische Welt, in der im Namen Allahs Völkermord verübt wird, Gläubige, die Jahrtausende alte heilige Stätten ihres Glaubens, einmalige Kulturzeugnisse der Menschheit, zerstören.

Es ist ein Religionskrieg, hinter dem weit mehr steckt. Unter dem Vorwand, Freiheit und Demokratie zu verteidigen, öffneten die USA im Irak die Büchse der Pandora. Es geht um politischen und wirtschaftlichen Machteinfluss im arabischen Raum. Dafür wurden „Revolutionen“ angefacht, die die ganze Region destabilisiert und in Bürgerkriege gestürzt haben. Die Folgen – Terroranschläge des IS – haben uns erreicht. Und nun steht uns täglich die Frage vor Augen: Wohin führt uns das?
Diese Gedanken drängten sich mir beim Schreiben auf. Doch nun zurück zu meinen Entdeckungen im Schloss Branitz.

Ein magischer Ort ist Pücklers Bibliothek. Von Klein auf gehören Bücher zu meinem Leben. Sie haben etwas, das mir die digitale Welt nicht bietet. Ich kann sie in die Hand nehmen, das Papier fühlen, die Druckfarbe riechen, wenn sie neu sind. Beim Lesen entsteht zwischen uns eine Beziehung. Manchmal verfängt sich mein Blick an einem Titel im Regal plötzlich. Ich nehme das Buch heraus, blättere und staune, wie lange ich es schon habe.

Diese Liebe zu Büchern vermittelte mir vor allem mein Großvater. Von ihm bekam ich ein paar sehr alte Exemplare geschenkt. „Schlossers Weltgeschichte“ von 1872 etwa. Wahrlich kein Vergleich mit dem Schatz, den Pücklers Familienbibliothek bietet. Vom Boden bis zur Decke reichen die Eichenholzregale, in denen sich Buchrücken an Buchrücken reiht.

Generationen hatten das beachtliche Kompendium von 15000 Bänden der Kultur,- Philosophie-, Wissenschafts- und Religionsgeschichte zusammengetragen. An ihrem originalen Standort im Schloss befinden sich heute allerdings nur etwa 4 600. Ein Großteil der Bestände lagert als „Beutekunst“ in Russland.

Berührt war ich, als ich auf einem Tisch eine Leipziger „Illustrirte Zeitung“ aus dem Jahr 1863 entdeckte. Sie schlug einen weiten Bogen rückwärts in mein Leben, zu meiner Studienzeit an der Sektion für Journalistik in Leipzig. In der Pressegeschichte nimmt die „Illustrirte Zeitung“, die 1843 als erstes „Bilderblatt“ in Deutschland erschien, eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung der Zeitschriften ein.
Sie führte das Bild – anfangs waren es Holzstich-Illustrationen – als Bestandteil eines Textes ein, 1883 erschien sie mit dem ersten gedruckten Pressefoto. Als die Zeitschrift im September 1944 eingestellt wurde, waren 5041 Ausgaben erschienen. Sie bieten mit mehr als 300.000 Illustrationen über 100 Jahre ein einmaliges Archiv des zeitgenössischen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Meine Lehrstoff-Weisheiten.
Und wer mir jetzt sagt, Bücher und Zeitungen sind überholt, den kann ich nur bedauern. Die digitale Welt wächst, bestimmt immer mehr unser Leben. Aber das gedruckte Wort wird überleben. Auch das Video killte das Radio nicht. In unserer Familie kaufen wir nach wie vor Bücher, schenken sie uns zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Denn bei jedem Lesen gibt es neue Entdeckungen. Oder?
Wieder einmal ein wunderschöner Bericht, der mich dazu verleitet, im Sommer nächsten Jahres mal in den Spreewald zu fahren und auch Schloss Branitz zu besuchen.
Danke 🙂
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