Babelsberg – Exkursion in die Geheimnisse des Films Teil II

Eine Filmstadt wächst heran

Mit Guido Seeber an der Seite, seinem handwerklichen Können und kreativen Vermögen als Kameramann, nahmen es Ewers, Rye und Wegener als Herausforderung, die Filmproduktion vom Theater loszulösen, den einengenden (Bild)Rahmen zu verlassen und auf eine neue Art Filme zu machen. Sujets zu suchen, die dem Publikumsgeschmack nahekommen, und sie mit künstlerisch hohem Anspruch so umzusetzen, dass sie Zuschauer ins Kino locken.

Das kreative Trio Stellan Rye, Paul Wegener (v. r. n.l.) mit der Schauspielerin Lyda Salmonova 1913 in Prag, wo der legendäre Stummfilm „Der Student von Prag“ entstand. Oben sitzend Autor Hanns Heinz Ewers. Ganz links im Bild ein Polizist, der unbedingt mitfotografiert werden wollte c/o filmportal.de/DIF,SDK

Mit dem Sozialdrama „Der Verführte“ starteten Hanns Heinz Ewers, Guido Seeber und Paul Wegener in der Titelrolle (unter der Regie von Max Obal) im Frühjahr 1913 ihren ersten Versuch, Filmkunst zu machen, die intellektuelle wie durchschnittliche Kinogänger anspricht. Der Zweiakter spielt im Proletariermilieu und erzählt die Misere des Stuckateurs Max, der dem Alkohol verfällt, seine Familie verliert und im Säuferwahn endet. Eine lebensnahe Geschichte, die ihr Publikum fand. Wenngleich die österreichische Zeitschrift „Kinematographische Rundschau“ nach der Aufführung in Österreich-Ungarn Anfang 1914 lobte: „Die Handlung ist konsequent und straff durchgeführt und hat in Grete Berger und Lyda Salmonova zwei routinierte Filmspielerinnen“, erfüllte der Streifen künstlerisch nicht die Erwartungen von Hanns Heinz Ewers und Paul Wegener.

In Deutschland ging der Film am 30. Juli 1913 durch die Zensur, die selbstredend ein Jugendverbot aussprach. Damit war man immer schnell bei der Hand, wie ich beim Recherchieren bemerkte. Seit es Filme gibt, werden sie zensiert. Man begründete es seinerzeit damit, dass sie den Bruch mit sittlich-moralischen Konventionen offen zeigen und eine „Überreizung der Seele“ beim Proletariat zum Aufstand gegen Staat und Autoritäten führen könne. Das deutsche Kino – muss ich hier zur Erklärung einfügen – war in seiner Frühzeit ein Unterschichtenvergnügen. Das Bildungsbürgertum stand ihm feindselig gegenüber, weil es tradierte Kunstvorstellungen, wie sie das Theater lebte, in Frage stellte. Die Argumentation, warum zensiert werden muss, lebte in der deutschen Kinoreformbewegung lange fort und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Medienpädagogik leicht verändert wieder aufgenommen. Zensur hat also eine lange Tradition.

„Der Student von Prag“ – ein Aufbruch

Hier hat sich Kameramann Guido Seeber in seinen Versuchen zur Mehrfachbelichtung versechsfacht c/o Filmmuseum Potsdam

Zu dieser Zeit war Guido Seeber das filmtechnische Novum gelungen, durch phasenweise Mehrfachbelichtung eines Bildfeldes ein und dieselbe Person in einer Filmszene gleichzeitig mehrfach in verschiedenen Positionen auftreten zu lassen.

Szene aus dem 1913 gedrehten Filmklassiker „Der Student von Prag“, in dem Kameramann Guido Seeber erstmals die perfekte Illusion eines Doppelgängers realisierte. Hier steht der Schauspieler Paul Wegener sich selbst als seinem lebendig gewordenen Spiegelbild gegenüber c/o Filmmuseum Potsdam

Ich weiß nicht, ob er in einem Gespräch mit Paul Wegener und Hanns Heinz Ewers den Vorschlag machte, diesen Trick für ihren nächsten gemeinsamen Film zu nutzen. Gelesen habe ich aber, dass Paul Wegener geradezu erpicht darauf war, als Doppelgänger auf der Leinwand zu erscheinen. Diese Idee inspirierte Ewers zu der Geschichte vom armen Studenten Balduin, der sein Spiegelbild für 100 000 Gulden an den geheimnisvollen Wucherer Scapinelli verkauft. Nicht ahnend, worauf er sich einlässt. Denn sein Abbild tritt aus dem Spiegel heraus und treibt ihn am Ende in den Tod. Balduin schießt seinem imaginären Doppelgänger ins Herz und trifft dabei sich selbst.

Szene im Prager Alchimistengäßchen mit Lyda Salmonova als Zigeunermädchen Lyduschka und Paul Wegener als Student Balduin in „Der Student von Prag“ c/o Filmmuseum Potsdam

Gemeinsam mit Kameramann Gudio Seeber erarbeiteten Regisseur Stellan Rye und Schauspieler Paul Wegener nach Ewers Exposé das Drehbuch und produzierten im Juni 1913 das romantische Stummfilmdrama „Der Student von Prag“. Gedreht wurde der 85 Minuten lange Spielfilm in den Neubabelsberger Studios, in der Prager Altstadt, vor und im Hradschin, im Wiener Schloss Belvedere und den Palais‘ Fürstenberg . Für Ausstattung, Kostüm und Szenenbild waren Kostümforscher und Illustrator Max Tilke und Bühnenbildner Rochus Gliese herangeholt worden. Filmarchitekt Robert A. Dietrich gestaltete die Bauten nach Entwürfen des Malers Klaus Richter. Was sonst nicht üblich war – für diesen Film wurde von Pianist Josef Weiss eine eigene Filmmusik geschrieben.

Paul Wegener als Student Balduin (l.) mit Grete Berger als Comtesse Margit Schwarzenberg und Fritz Weidemann als Baron Waldis c/o Filmmuseum Potsdam

Es war die bis dahin aufwendigste Filmproduktion der Bioscop. Sie sorgte für internationales Aufsehen. Kinokritiker sprachen von einem „künstlerischen Film“, wie es ihn bislang noch nicht gab. Regisseur Stellan Rye und Kameramann Gudio Seeber hatten bei der filmischen Umsetzung nichts dem Zufall überlassen. Bildgestaltung, Auswahl der Drehorte und Kulissen waren im Drehbuch beschrieben und festgelegt. Sogar die Straßenszenen wurden ausgeleuchtet.

Szene in der Studentenstube. Balduin bekommt von Scapinelli (John Gottowt, r.) 100.000 Gulden und erlaubt ihm dafür aus dem Zimmer mitzunehmen, was er will. Scapinelli wählt Balduins Spiegelbild. „Nehmen Sie es“, sagt Baldiun leichthin. Kaum gesagt, tritt der imaginäre Balduin aus dem Spiegel heraus (Paul Wegener, M.) und verschwindet wie ein Geist durch die geschlossene Tür. Auch Scapinelli löst sich quasi in Luft auf. Der wirkliche Balduin (Paul Wegener, l) nimmt es erschrocken wahr… Foto: c/o Filmmuseum Potsdam

Bei Youtube habe ich eine 1992 von „Prima Imagine“ editierte Fassung gefunden und mir angesehen. Ich muss gestehen, dass es ein Erlebnis war. Beeindruckt hat mich die filmische Umsetzung des Plots. Ich nahm kleine Kamerafahrten wahr, Schwenks, Perspektivwechsel, was den Film lebendig macht. Zu den verblüffendsten Kameratricks gehörte neben den sensationellen Doppelgängerszenen für das damalige Publikum wohl das geisterhafte Auftauchen und Verschwinden des imaginären Balduin in den realen Aufnahmen oder Scapinellis Eintreten durch die geschlossene Tür. Seeber benutzte dafür seinen Kameratrick der „Überblendung“. Dieser Trick hat etwas von Zauberei. In vielen DEFA-Märchenfilmen bringt er heute noch die Kinder zum Staunen.

Filmgeschichtlich gilt „Der Student von Prag“ weltweit als Meilenstein auf dem Weg des jungen Mediums, sich vom Theater zu lösen und zu eigenen spezifischen Ausdruckmitteln finden. Nicht zuletzt hat Kameramann Guido Seeber einen großen Anteil daran, dass der Film künstlerische Bedeutung erlangte. Paul Wegener kam im Nachhinein zu der Erkenntnis: „Der eigentliche Dichter des Films muß die Kamera sein.“
Mit englischsprachigen Zwischentiteln versehen, lief „Der Student von Prag“ nach seiner Premiere in den Berliner Mozart-Lichtspielen am 22. August 1913 in vielen Ländern und verschaffte dem deutschen Stummfilm die Aufmerksamkeit internationaler Filmproduzenten. 1926 kam unter Mitwirkung von Ewers eine verstümmelte und umgeschnittene Fassung ins Kino. Der im Juni 1913 gedrehte Originalfilm wurde 1987/88 rekonstruiert und 2012/13 im Auftrag von ZDF/arte noch einmal restauriert, nachdem in Japan 1990 und in den USA 2010 original getönte Nitrokopien entdeckt worden waren. Die Wiederaufführung des Films fand am 15. Februar 2013 innerhalb der Retrospektive der Berlinale statt.

In seiner Doppelrolle schrieb Paul Wegener Filmgeschichte c/o DIF

Die Troika Hanns Heinz Ewers, Stellan Rye und Gudio Seeber, die mit „Der Student von Prag“ das Genre des Fantasy-Films aus der Taufe gehoben hatte, realisierte anschließend weitere phantastische Stoffe. Das Märchen „Ein Sommernachstraum in unserer Zeit“, angelehnt an William Shakespeares‘ Märchentraum, wartete mit erstaunlichen Bildern und Tricks auf. Das Drehteam hatte kameratechnisch und gestalterisch alles ausgelotet, was an spezifischen Ausdrucksmitteln und Gestaltungselementen vorhanden war. Sogar die Natur, Wind und Wetter wurden als korrespondierende Mitspieler einbezogen. „Ich habe die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten des Kinos nach jeder Richtung hin erprobt und gezeigt, wie im Filmdrama die tollsten Verwandlungsszenen und Märchenstimmungen zur Wirklichkeit werden“, so Hanns Heinz Ewers in der Zeitschrift „Das Lichtbild-Theater“ vom 25. September 1913. Ungewöhnlich erscheint, dass sich die Schauspieler ungeschminkt, oft in Großaufnahmen vor der Kamera bewegten, und dass hauptsächlich zur Mittagszeit gedreht wurde.

Autogrammfoto der Schauspielerin Grete Berger, aufgenommen etwas 1907

Der vom Regisseur Stellan Rye beabsichtigte Effekt war eine expressionistisch anmutende Licht-und-Schatten-Wirkung. Ich hätte mir diesen Filmtraum gern angesehen. Leider ist er verschollen, und ich konnte auch keines der Standbilder finden, die die beiden Weltkriege überstanden haben sollen. In der Hauptrolle des Puck ist Grete Berger (Comtesse Margit in „Der Student von Prag“) zu sehen. Stellan Rye besetzte die damalige Lebensgefährtin von Hanns Heinz Ewers oft in anderen Inszenierungen nach dessen Drehbüchern. So spielte Grete Berger auch in der gruseligen Geschichte „Die Augen des Ole Brandis“ mit Alexander Moissi in der Titelrolle, „eine der schwierigsten Rollen, die jemals ein Kinostück einem Künstler auferlegt hat. Moissi… macht das Phantastische glaubhaft, er weiß zu ergreifen und zu erheitern“, hieß es in der Wiener „Neuen Presse“ vom 14. Dezember 1913.

Lucie Höflich als „Gendarm Möbius“ Tochter Stina. Sie wird aus Zorn über die Treuelosigkeit ihres Geliebten zur Brandstifterin. Ihr Vater begeht Selbstmord, um die Famlienehre wieder herzustellen. c/o TMDB/mcarvalho

Im Spätsommer 1913 wagte Stellan Rye mit der Verfilmung „Gendarm Möbius“ nach einer Novelle von Victor Blüthgen einen Ausflug in das Sozialmelodram. Die Bauten auf dem Babelsberger Filmgelände schuf wiederum der Filmarchitekt Robert A. Dietrich. Der Film lief 1913 bereits erfolgreich in Österreich-Ungarn und Japan, ehe er 1914 in deutsche Kinos kam. „Die Geschichte echt deutschen Pflichtbewußtseins wurde von der Bioscop sehr geschickt verfilmt… Die Bilder des Dorfbrandes und die Szenen, die den Seelenkampf des Mädchens ausmachen, aber auch die Hauptmomente des Vater Möbius‘ haben eine gewaltige Wirkung“, las man in der „Kinematographischen Rundschau“ vom 28. September 1913. „Gendarm Möbius“ ist neben „Der Student von Prag“ Ryes einzige Inszenierung, die nicht als verschollen gilt. Im Frühherbst 1913 drehte Stella Rye „Die Eisbraut“, eine Science-Fiction-Inszenierung mit Horrorelementen nach Ewers Novelle „John Llewellyn Hamiltons Ende“, die er 1905 veröffentlich hatte. In einem atemberaubenden Zeitraffer – eine Pionierleistung des Kameramanns Karl Hasselmann – bringt der Film das Publikum zum Gruseln:

Der Schauspieler Theodor Loos spielte den exzentrischen Maler John Hamilton Llewelly. Dieses Foto stammt aus dem Film „Metropolis“ c/o filmportal/DIF

Die 2.000 Jahre alte Schöne zerfließt in den Armen des Malers zu einer gallertartigen Masse, als er sie aus ihrem konservierenden Eispanzer holt und küssen will. Nun ja, das würde uns heute vielleicht ein bisschen ekeln, aber nicht vom Hocker hauen. Oder vielleicht doch? Damals erteilte die Filmzensur ein Aufführungsverbot. Wann der Film das erste Mal gezeigt wurde, ist nicht feststellbar.

Im Winter 1913/14 drehte Stellan Rye auf dem Atelier-Gelände sein Drama „Flug in die Sonne“. Erwähnenswert für mich, weil er die Flugszenen am Himmel von dem Flugpionier Hans Grade doubeln ließ. Es war das erste Mal, dass ein deutscher Pilot in einem Spielfilm flog. Zum anderen, weil die große Theaterschauspielerin Tilla Durieux hier ihr Filmdebüt gab und in der Rolle der raffinierten Verführerin durch Gebärden und temperamentvolles Spiel zu fesseln vermochte. Sie wird der Star der Bioscop. Nach der Pressevorführung am 4. März 1914 schrieb „Der Tag“: „Die Inszenierung hält sich fern von Sentimentalität und bringt ein psychologisch vertieftes Spiel.“ Tilla Durieux wird der neue Star der Bioscop in Babelsberg. Leider gibt es keine Fotos von diesem Film. Aber ich habe eine Aufnahme des ersten Fluges von Hans Grade 1909 gefunden, sodass man eine Vorstellung von den Szenen bekommt.

Flugpionier Hans Grade in seinem Eindecker „Libelle“ I bei seinem Flug im August 1909 auf dem Marsfeld bei Berlin c/o Bundesarchiv, Bild 183-R36065 / CC-BY-SA 3.0

Je länger ich mich mit der Stummfilmzeit in Babelsberg beschäftigte, desto interessanter wurde es für mich. Jeder Film offenbarte mir filmtechnisch Neues, das das Kino einen Schritt vorwärtsgebracht hat. Eine Filmsprache und Filmdramaturgie begann sich zu prägen. Sehr schade ist, dass die meisten dieser frühen Stummfilmproduktionen für mich nicht greifbar sind, weil verschollen, nicht mehr vorhanden oder, weil sie irgendwo auf der Welt in einem Archiv schlummern. Wenn sie denn jemand aufbewahrt hat. Viele Jahrzehnte befand sich auf dem Babelsberger Filmgelände ein „Filmbunker“, den Guido Seeber um 1913/14 zur Lagerung der Negative und teilweise auf Lagerung gelegte Positive errichten ließ. Das Gebäude befand sich halb in und halb über der Erde. In den 20er Jahren kam unter ufa-Ägide ein Neubau hinzu, da die alten Räumlichkeiten nicht mehr ausreichten. Wenn ich mich recht erinnere, wurde dieser Filmbunker auch noch von der DEFA genutzt. Was sich dort nach dem Zweiten Weltkrieg noch an Stummfilmen befand, entzieht sich meiner Kenntnis.

Im Teil III erzähle ich von den ersten Babelsberger Horror- und Mystik-Filmen wie „Der Golem“ und „Lebende Buddhas

Szene aus „Der Golem, wie er in die Welt kam“ 1920 mit Paul Wegener als Golem und Regisseur c/o fiimportal/Murnau-Stiftung, DIF

Teil III am 22. Dezember 2021

Teil IV am 25. Dezember 2021

Teil V am 27. Dezember 2921

Babelsberg – Exkursion in die Geheimnisse des Films Teil I

Kleine Einleitung

Es fällt nicht schwer, zu erraten, wovon ich hier erzählen will. Natürlich, von den Filmstudios Babelsberg, ihrem Ursprung vor 110 Jahren, ihrem Werden und Wachsen zum Mekka der europäischen Filmkunst. Ich habe in den Annalen der Traumfabrik gestöbert. Dabei stieß ich auf viele Geschichten über Filme und Menschen aus den Anfängen des deutschen Films, seiner Blütezeit in den „Goldenen Zwanzigern“ bis 1933, aus den dunklen Jahren der Naziherrschaft bis 1945, in dessen Folge das Land geteilt wurde und im Osten für die Babelsberger Filmstudios als DEFA ein zweites Leben begann. Es war eng verbunden mit dem Land DDR und ihrem ambitionierten, leider verfehlten Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in der nicht der Profit das Prä hat. Nach 45 Jahren war das Land am Ende. Rolle rückwärts. Aus dem anderen Teil Deutschlands kehrte der Kapitalismus zurück. Der volkseigene Spielfilmproduzent DEFA wurde „abgewickelt“, von der Treuhand verkauft und marktwirtschaftlich ausgerichtet. Damit endete das traditionsreiche Leben der Babelsberger Studios als eigenständiger Filmproduzent, wie es von der Deutschen Bioscop 1912 begonnen, von Ufa und DEFA weitergeführt worden war. Babelsberg entwickelte sich in seinem dritten Leben zu einer Medienstadt, die mit ihren Studios und Gewerken vielgefragter Produktionspartner und Dienstleister für in- und ausländische Filmproduktionen ist. Inzwischen ein rentabeles Geschäft.

Blick auf den Sammlungsneubau des Filmmuseums Potsdam auf dem Babelsberger Studiogelände. Das Foto zeigt den Bau im Dezember 2020. Die Straßen auf dem Studiokomplex tragen die Namen berühmter Stars wie Emil Jannings und Marlene Dietrich, die das Gesicht der Filmstadt mitgeprägt haben. Jannings und Dietrich spielten zusammen in dem Kultfilm Der blaue Engel“ (1929/30) ©Filmmuseum Potsdam

Rund 4000 Filme entstanden in den vergangenen 110 Jahren in den Babelsberger Studios. Das Publikum bekam Heiteres, Tragisches, Frivoles, Schlechtes und Gutes zu sehen. Hinter den Kulissen spielten sich Klatsch und Tratsch ab. Ich habe versucht, das Interessanteste herauszufinden. Als ich dem Mythos Babelsberg schon einmal vor zehn Jahren für eine fünfteilige Serie in der SUPEillu nachgegangen bin, faszinierte mich besonders, mit welchem Erfindergeist, welcher kreativen Neugier, mit welchem handwerklichen Können Fotografen, Kameramänner, Filmtechniker und Filmarchitekten gesegnet waren. Welcher Forscherdrang sie beseelte, Bilder zum Laufen und zum Sprechen zu bringen. Vor der Zeit der Digitalisierung war alles „handgemacht“. Tricks und optische Täuschungen, Szenenbilder entstanden analog mithilfe technischer Erfindungen, der Ausnutzung optischer und physikalischer Gesetze und oft ganz einfach auch durch Tüfteln und Experimentieren. Die Babelsberger Filmemacher – die Leute hinter den Kulissen – zeigten sich in der 110-jährigen Geschichten von Anfang an als besonders innovativ, wenn es darum ging, die Illusion auf der Kinoleinwand zu perfektionieren, die Zuschauer mitzunehmen in die Welt der Filmhelden. Wer meinen Blog liest, hat mein Faible für Filmtricks sicher in den Beiträgen zu DEFA-Kinderfilmen wie „Das Schulgespenst“ oder den Märchenverfilmungen entdeckt.

Szene aus dem 1986 gedrehten DEFA-Kinderfilm „Das Schulgespenst“, Regie Rolf Losansky. Die Herausforderung für Kamera und Szenenbild war die Kombination zwischen Realfilm und Zeichentrick ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Erstaunt hat mich, dass alle wichtigen Tricks bereits in den 1920er Jahren erfunden worden waren und seitdem von den Animateuren und Trickspezialisten nur noch modifiziert ausgeführt werden. Heute ist es dank moderner Filmtechnik zum Beispiel ein Leichtes, einen Schauspieler mit sich selbst als Zwilling oder gar Drilling agieren zu lassen. Für uns im Grunde also nichts Ungewöhnliches. Dennoch hat dieser Trick von seiner überraschenden Wirkung auf den Betrachter seit seiner Erfindung 1912/13 durch den Kameramann Guido Seeber nichts eingebüßt. Nach vielen praktischen Versuchen gelang es ihm, mittels Zweifachbelichtung ein und derselben Aufnahme im fertigen Film einen Doppelgänger entstehen zu lassen. Er praktizierte seine „Erfindung“ erstmals 1913 in dem Stummfilm „Der Student von Prag“. Eine Sensation, die Publikum wie Fachleute gleichermaßen in Erstaunen versetzte. Für die Filmtechnik war es ein Meilenstein. So genau man auch hinschaute, es war kein „Bruch“ in den Doppelgängerszenen zu entdecken.

Avantgardisten der Kinematographie

Die Geschichte des weltältesten und bedeutendsten deutschen Filmstandortes ist gleichsam auch ein Stück Geschichte der Kinematographie und des frühen Kinos, in der sich Namen wie Auguste und Louis Lumière, Ottomar Anschütz, Max und Emil Skladanowsky und Charles Francis Jenkins vereinen. 1894 gelang Anschütz die Projektion von bewegten Bildern auf eine 6 × 8 Meter große Leinwand. Weil es an dieser Stelle zu weit führen würde, auf die Leistungen dieser Wegbereiter des Kinos einzugehen, habe ich sie mit auskunftsfähigen Webseiten verlinkt. Näher eingehen muss ich aber auf den Berliner Optiker Oskar Messter und den Chemnitzer Fototechniker und Kameramann Guido Seeber. Genau genommen beginnt die Babelsberger Filmgeschichte mit diesen beiden Männern und ihren Erfindungen.

Oskar Messter mit seinem Malteserkreuz-Projektor-Schaltwerk c/o FMP/Ulrich Illing „Oskar Messters Erbe“, KTSB

1896 tüftelte der Berliner Optik-Fabrikant Oskar Messter an kinematographischen Geräten und entwickelte als eine der größten Pionierleistungen das Malteserkreuz-Getriebe. Eine Technik, die sich noch heute in Filmprojektoren befindet. Auf der Grundlage dieser Technik konstruierte er eigene Kinoprojektoren und Kameras. In Frankreich hatten die Brüder Lumière ein Jahr zuvor den Cinematographen entwickelt, der Aufnahme-, Kopier- und Abspielgerät in einem war. Der Film wurde mittels Perforation über Greifzähne vor dem Objektiv entlanggeführt. Die erste öffentliche Präsentation veranstalteten sie mit zehn ihrer Kurzfilme am 28. Dezember 1895 im Pariser „Grand Café“. Die Lumière-Brüder hatten damit quasi das Kino erfunden.

Messters Filmkamera mit Malteserkreuzschaltwerk c/o FMP/Ulrich Illing „Oskar Messters Erbe“,KTSB

Am 21. September 1896, so lässt sich in Ulrich Illings Aufsatz „100 Jahre Tonfilm aus Babelsberg“ (in „Moderne in Brandenburg: LICHT-SPIEL-HAUS“ , Koehler & Amelang“) nachlesen, eröffnete Oskar Messter „Unter den Linden“ sein Theater für „kinematographisch-phonographische Vorführungen“. Mit seinem „Thaumatographen“, einem selbstgebauten Filmprojektor, führte er kurze Spielszenen vor und ließ dazu von einem Walzenphonographen (1877 von Edison erfunden) passende Musik abspielen.

Oskar Messter um 1941 Foto: Bundesarchiv N 1275 Bild-001/CC BY-SA 3.0 de

Ab Oktober 1896 bietet Messter auch von ihm entworfene Kameras mit Malteserkreuzschaltung an und beginnt, selbst Filme herzustellen, um die Käufer seiner Apparate mit Programmen beliefern zu können. Anfang November 1896 gründete er die Produktionsfirma Oskar Messters Projektions GmbH Berlin und nahm in der Friedrichstraße sein „Filmatelier für Kunstlichtaufnahmen“ in Betrieb. Er drehte mit seiner selbst entwickelten 35mm-Filmkamera „Biophon-Tonbilder“, zunächst vom Berliner Stadtleben. Im Jahre 1900 gliederte Oskar Messter das Filmgeschäft aus der Stammfirma Ed. Messter aus, die als Fachgeschäft für Optik und Fotoartikel weitergeführt wurde und gründete drei separate Gesellschaften. Er beginnt 1906 kurze Spielszenen wie „Meißner Porzellan“ oderApachen“ mit dem späteren Stummfilmstar Henny Porten zu produzieren. 1909 schränkte Messter, der bis dahin bereits 450 Tonbilder hergestellt hatte, diese Produktion drastisch ein und wandte sich dem lohnenderen Geschäft der Herstellung von stummen Spielfilmen zu. Messters avancierte zu einem der einflussreichsten deutschen Filmproduzenten. 1917 verkaufte er sein Unternehmen an die sich damals gerade gründende Ufa.

Guido Seeber 1912 mit einer Handkurbelkamera. Er fand 1911 das Fabrikgelände in Neubabelsberg, auf dem sich die Medienstadt entwickelte c/o Filmmuseum Potsdam

Den Boden für die Traumfabrik bereitete Friedrich Konrad Guido Seeber, eigentlicher Gründungsvater der Filmstadt Babelsberg. Am 22. Juni 1879 in Chemnitz geboren, absolvierte er nach dem Schulabschluss im väterlichen „Photografischen Geschäft“ eine Fotografen-Lehre, die damals wie heute eine fototechnische Ausbildung einschloss. Die erste Berührung mit dem Medium Film machten die Seebers 1896, als sie erstmals die Filme der Gebrüder Lumière sahen. Sie kauften daraufhin in Berlin bei Oskar Messter kinematographische Apparate und Filme und veranstalteten öffentliche Vorführungen von „Seebers lebenden Riesenphotographien“. So bezeichnete man damals die neu entstehende Technik der Kinematographie. Gemeinsam reisten Vater und Sohn von 1897 bis 1905 damit von Stadt zu Stadt. Nach dem Tod von Clemens Seeber verkaufte sein Sohn Guido 1907 die „Photographischen Ateliers“ und verließ seine Heimatstadt Chemnitz. Mit einem Wanderkino zog er über Paris nach Valencia und führte seine Tonbilder auf. Nach seiner Rückkehr arbeitete er als Filmprüfer in der Deutsche Rollfilm Gesellschaft Frankfurt/.M., bis er 1908 das Angebot bekam, als Erster Kameramann zur „Deutsche Bioscop GmbH“ nach Berlin zu gehen.

Guido Seeber wurde schon früh „von dem Zelluloidbazillus infiziert. Stark fiebernd, einsetzende Flimmeritis, eine bekanntlich unheilbare Krankheit“, notierte er 1928 in seinem „Taschenbuch des Kameramanns“ (Quelle: „Wie haben sie’s gemacht“, Verlag Schüren/Stiftung Deutsche Kinemathek).

Dieser über 100 Jahre alte Edison-Phonograph gehört zu den Exponaten, die der DEFA-Toningenieur und Geräte-Entwickler Ulrich Illing in seinem „Kleinen Tonfilmmuseum“ zusammengetragen hat. Nach seinem Tod 2018 erwarb das Filmmuseum Potsdam die einzigartige Sammlung ©Filmmuseum Potsdam

Mit 18 Jahren begann er sich intensiv mit der Weiterentwicklung kinematographischer Apparate von der Aufnahme über Laborgeräte bis zum Projektor zu beschäftigen. Er konstruierte Maschinen zum Kopieren und stellte mit einer Messter-Kamera kleine „Films“ her, die er im eigenen Labor entwickelte und kopierte. Zusammen mit Oskar Messter kontruiertre er einen handlichen Reisekinematographen, den sie unter der Bezeichnung Seeberograph 1903 als geschütztes Warenzeichen beim Kaiserlichen Patentamt eintragen ließen. Eine besondere Leistung war seine Erfindung des „Seeberophons“ 1904. Zum ersten Mal konnten damit Ton und „laufende“ Bilder „synchronisiert“ werden. Dazu verkoppelte er eine Messter-Kamera schon bei der Aufnahme mechanisch mit einem Grammophon, das eine zuvor aufgenommene Schallplatte abspielte. Ein perforiertes Endlos-Filmband hielt den Projektor und den im Saal befindlichen Grammophon-Antrieb bei der Vorführung im Gleichlauf. Mit seinem „Seeberophon“ wurde Seeber praktisch zum Erfinder der ersten Bild-Ton-Synchron-Verkopplung.

Kinoträume aus dem Dachatelier

In Berlin griff eine Kino-Sucht um sich. Die Menschen waren begeistert von der neuen Unterhaltungsmöglichkeit. Nun muss man bedenken, die Programme des frühen Kinos bestanden nicht aus einem abendfüllenden Spielfilm, wie wir es kennen. Anfangs liefen an so einem Kinoabend mehrere Kurzfilme mit maximal vier Minuten langen, unspektakulären Spielszenen aus dem alltäglichen Leben. Haben sie zunächst durch ihre schiere technische Machbarkeit fasziniert, waren es bald kleine, inszenierte Handlungen. Die Kinobetreiber merkten sehr bald, was die Leute in ihre Vorführungen zog: Die Flohjagd im Damenzimmer, der erste Kuss – schlüpfrige Sachen für damalige Verhältnisse. Oder Flucht und Verfolgung eines Verbrechers über die Dächer von Berlin. Komik, Sex, Verbrechen – damit ließ sich gut Geld verdienen. Und, wie wir wissen, lässt es sich noch immer. Man muss nicht lange überlegen, was der Kinobazillus auslöste. Der Bedarf wuchs. Filmfirmen – in ihrer Art wie Handwerksbetriebe – schossen wie Pilze aus dem Boden. Mag sein, dass ich ein wenig zu weit aushole. Doch das alles gehört zur Vorgeschichte von Babelsberg als Filmstadt.

Eine dieser Filmfirmen war die 1902 von dem Berliner Filmproduzenten Jules Greenbaum in Berlin gegründete Deutsche Bioscope Gesellschaft“, die er 1908 in Bioscope-Theater GmbH umbenannte und bis 1914 betrieb. Neben anderen Unternehmen gründete im Februar 1908 die „Deutsche Bioscop GmbH“, die man getrost als „Mutter“ der Babelsberger Filmstudios ansehen kann.

Der Pfeil zeigt auf das Dachatelier der Deutschen Bioscop GmbH in der Berliner Chausseestr. 123 c/o FMP/Ullrich Illing, KTSB

Ihr erstes Domzil hatte die „Deutsche Bioscop“ in der Friedrichstraße 236. In der angrenzenden Chausseestraße 123 betrieb sie in einem ehemaligen Fotostudio ein vollverglastes Dachatelier. So konnte man für die Aufnahmen von früh bis spät das kostenlose Sonnenlicht nutzen. Künstliche Lichtquellen wurden ungern und wenn, dann nur zur Ergänzung des Naturlichts eingesetzt. Die damals gebräuchlichen Westminster- und Quecksilberdampflampen erzeugten große Hitze. Das machte das Arbeiten in den ca. 6 x 9 Meter großen Aufnahmeräumen wenig angenehm. Warm ist es in den Filmstudios auch heute noch. Doch es besteht nicht die Gefahr, dass sich plötzlich das Filmmaterial entzündet. Der Bildschichtträger war seinerzeit Zellulosenitrat, daher auch der Begriff Nitro-Film, den ich noch aus meiner Volontariatszeit beim DDR-Fernsehen kenne. Ein hochbrennbares Gemenge, hergestellt aus Schwefel- und Salpetersäure und Baumwollresten. Ich will zur Erklärung einfügen, dass ich neben dem Abitur eine Berufsausbildung zur Chemielaborantin gemacht habe. Unsere Ausbilderin demonstrierte uns im Laborversuch, wie ein Wattebausch, mit Salpeter- und Schwefelsäure beträufelt, explosionsartig in Flammen aufgeht. Es bestand bei den Nitrofilmen nun nicht gerade Explosionsgefahr, dennoch kam es oft vor, dass ein Film bei Dreharbeiten in den überhitzten Ateliers entflammte. So hatten die Filmleute seinerzeit ständig Ärger mit den strengen Brandschutzauflagen der Berliner Polizei. Im übrigen hat man noch bis in die 50er Jahre Filme auf „Nitro“ gedreht. Und manchmal brannte es im Vorführraum eines Kinos, weil der Projektor heißlief.

Als Guido Seeber 1907/08 das Angebot der Deutschen Bioscop annahm, in Berlin Filme zu drehen, ahnte keiner, dass er mal die Geschicke des Filmbetriebes lenken würde. Er ging nach Berlin, weil hier in Sachen Kinematographie inzwischen die „Post abging“. Er filmte zunächst wieder Aktualitäten und Tonbilder.

Screenshot aus Guido Seebers Animationsfilm Die geheimnisvolle Streichholzdose“ Das selbständige Bewegen der Streichölzer zu Figuren erreichte er mittels Einzelbildaufnahme. Für eine Sekunde Laufbild hielt er die Kamera 24mal an und bewegte jedes einzelne Streichholz um ein Vierundzwanzigstel weiter c/o wikimedia.org.webm

1909/10 stellte er seine ersten Trickfilme her. Ich habe seinen vier Minuten langen Animationsfilm „Die geheimnisvolle Streichholzdose“ gefunden. Für diesen Trickfilm wandte er die Einzelbildaufnahme an, die bis heute den Zauber vieler Märchen- und Puppentrickfilme ausmacht. Seeber musste die Streichhölzer Stück um Stück mit der Hand legen und jeden Schritt einzeln aufnehmen. 24mal für eine Sekunde. So entstanden die „Sandmännchen“-Vorspänne des Abendgrußes, und auf diese Weise fliegen auch Nadel und Schere in dem DEFA-Märchenfilm „Hans Röckle und der Teufel“ wie von Geisterhand geführt über den Stoff. Guido Seeber war 1909 bereits Chefkameramann und von Bioscop-Direktor Erich Zeiske zudem mit der technischen Leitung des Unternehmens betraut worden.

Es gab damals die erste Krise im Filmgeschäft. Die Besucherzahlen gingen zurück, denn die häufig wenig phantasievollen und kurzen Produktionen hatten an Attraktivität verloren. Die Bioscop nahm die 1910 nach Berlin gekommene Schauspielerin Asta Nielsen und den dänischen Regisseur Urban Gad unter Vertrag.

Szene aus „Der fremde Vogel“. Sir Arthur Wolton (Hans Mierendorff l. )macht mit seiner Tochter May,(Asta Nielsen 2.v.r.), eine Spreewaldtour. Sie fühlt sich von dem jungen Bootsführer Max (Carl Clewing, M.) angezogen. Da die Verbindung von allen Seiten abgelehnt wird, entschließen sich Max und May zur Flucht, doch May stürzt unterwegs ins Wasser und ertrinkt. Ihre Leiche wird inmitten von Seerosen gefunden c/o Filmmuseum Potsdam

Im Dachatelier der Bioscop in der Berliner Chauseestraße entstanden die ersten Asta-Nielsen-Filme mit Gudio Seeber an der Kurbel. Die dramatischen Dreiakter „Heißes Blut“ und Nachtfalter“ waren die ersten Spielfilme der Asta-Nielsen-Serie. Die Leute stürmten die Kinos. 1911 entstand als fünfter Nielsen Film das Melodram „Der fremde Vogel“. Rückblickend muss hier Guido Seebers „sensationelle Kameraführung“ hervorgehoben werden, heißt es in Reclams Lexikon des deutschen Films. Mit rauschenden Bäumen und auf dem Wasser tanzenden Lichtreflexen zeigt der Streifen eine der ersten realen Kulissenlandschaften der deutschen Filmgeschichte. Seebers für damalige Verhältnisse sensationeller Umgang mit Landschaftsaufnahmen und Bildern der ländlichen Welt sind ein kinematographischer Kunstgenuss. Aber es ist auch die gesellschaftliche Komponente, die dem Film Bedeutung verleiht. Zum ersten Mal wird hier eine kausale Verknüpfung zwischen dem Tod der Heldin und den hierarchischen Konventionen gezeigt.

Umzug in die Kunstblumenfabrik

Die Bioscop hatte mit den Dänen das große Los gezogen. Ihre Filme füllten die Kassen, und der Filmverleiher Christoph Müller verpflichete das „lukrative“ Paar für weitere acht Filme. Den Auftrag über 1.400.000 Mark erhielt die Bisocop. Trotz einer Vergrößerung war das Atelier in der Chausseestraße inzwischen an seine Grenzen gekommen. Ein größeres Studio auf einer Freifläche machte sich für die weitere Arbeit unumgänglich.

Im November 1911 begann die Montage des „Kleinen Glashaus“-Ateliers, das am 12. Februar 1912 mit dem Drehbeginn für den Asta-Nielsen-Film „Der Totentanz“ eingeweiht wurde c/o Studio Babelsberg/Deutsche Kinemathek

Im Herbst 1911 erhielt Guido Seeber den Auftrag, sich nach einer ausbaufähigen Freifläche im Umland umzuschauen. Es fand sich zunächst kein geeigneter Platz. Bei einem Besuch seiner zukünftigen Schwiegereltern im Villenviertel von Neubabelsberg (Nowawes) erregte ein verwaistes Betriebsgelände, an dem er sonst vorübergeilt war, seine Aufmerksamkeit. Vom Vater seiner späteren Frau Martha Thomas erfuhr er, dass hier einst Kunstblumen und Futtermittel produziert wurden. Seeber erkannte sofort die gute Eignung des „wüsten Geländes“. Es gab keine Wohnhäuser im Umfeld, die durch einen etwaigen Brand gefährdet würden, ein E-Werk war in der Nähe, und es hatte durch die Staatsbahn eine gute Anbindung an Berlin. Zudem bot sich das Gebäude mit dem Giebel nach Süden geradezu an für den Anbau eines geräumigen gläsernen Studios.

In seiner Planung für die neue Produktionsstätte der Bioscop hatte Seeber an alles gedacht. In der alten Fabrik wurde untergebracht, was für die Produktion eines Films nötig war – Büros, Labore für die Filmentwicklung, Trockenräume, Kleberei, in der die Filme geschnitten und montiert wurden, Werkstätten zur Herstellung der Dekorationen und Kulissen wie Malerei, Tischlerei, ein Fundus für Requisiten, Ausstattung und Kostüme, Räume, in denen die Zwischentitel angefertigt wurden sowie eine Kantine für die Mitarbeiter. Die Bioscop verfügte damit über ein vollständig integriertes Filmstudio, das sämtliche Arbeitsschritte für die Filmproduktion vor Ort ermöglichte. Es war die Geburtsstunde des ältesten Großfilmstudios der Welt.

Asta Nielsen und ihr Mann, der Regisseur Urban Gad, während der Dreharbeiten für den Film „Der Totentanz“ im Glashaus -Atelier der Bioscop am neuen Standort Neubabelsberg im Februar 1912. Im Hintergrund werden die Kulissen für eine Szene aufgebaut c/o Filmmuseum Potsdam

Am 12. Februar 1912 gingen am neuen Standort der Bioscop erstmals die Jupiter-Leuchten an. Wintersonne funkelt durch die Scheiben des gläsernen Studios. Regisseur Urban Gad beobachtet das erotische Spiel von Asta Nielsen vor der Kamera. An der Kurbel sitzt Guido Seeber. Gedreht wird innerhalb weniger Tage das Liebesdrama „Der Totentanz“. Am 7. September 1912 kam die erste Babelsberger Produktion in die Kinos. Wegen der erotischen Bilder, die heute jedes Kind ansehen dürfte, wurde der Film vor seiner Uraufführung mit einem Jugendverbot belegt. Was der Zensur frivol erschien, schnitt man kurzerhand heraus – den Bauchtanz und die Liebesszenen im 2. Akt sowie den Mord am Schluss. So fehlten dem 60-minütigen Streifen bei der Premiere vier Minuten. Dabei blieb es nicht. Der Film lief als erster Babelsberger Exportschlager in Schweden, Dänemark, Russland, Amerika – und alle schnippelten weg, was nicht zur Moral passte. Die fragmentarisch erhaltene Kopie von ca. 23 Minuten konnte durch das Auffinden von 40 unveröffentlichten Standfotos in Zusammenarbeit der Filmmuseen Potsdam und München rekonstruiert und restauriert werden. Die nun 26minütige Fassung hatte zum 100. Jahrestag des Drehbeginns auf der Berlinale am 12. Februar 2012 Premiere.

Ich habe mich entschlossen, den sehr langen Beitrag in mehrere Teile zu gliedern. Ihr findet sie in der oben angezeigten Menüleiste unter dem Punkt „Babelsberg – Exkursion in die Geheimnisse des Films“.

Teil II am 18, Dezember 2021

Teil III am 22. Dezember 2021

Teil IV am 25. Dezember 2021

Teil V am 27. Dezember 2921

Waltraut Pathenheimer – Sie war die erste Filmfotografin der DEFA

Vom 20. November 2021 bis 23. Januar 2022 ist im Neuen Atelierhaus Panzerhalle in der Waldsiedlung in Groß Glienicke eine Fotoausstellung zum Werk der Filmfotografin Waltraut Pathenheimer zu sehen. Sie war die erste Frau, die den Beruf einer Stand- bzw. Filmfotografin im DEFA-Studio für Spielfilme ausübte. Die Ausstellung ist eine Hommage an eine Frau, deren Fotos untrennbarer Teil des DEFA-Erbes sind wie die Filme, bei denen sie die Standfotografin war. Vor 75 Jahren wurde die DEFA gegründet, 1992 aufgelöst. Waltraut Pathenheimer hat wichtige Filmproduktionen seit 1954 mit der Kamera begleitet. Am 17. Februar 2022 wäre sie 90 Jahre alt geworden. Ich hatte das besondere Glück, mit ihr kurz vor ihrem 85. Geburtstag 2017 zu sprechen. Sie starb am 21. Dezmeber 2018.

Immer sind es zuerst die Fotos auf einem Filmplakat, in einem Schaukasten, auf einem Flyer, in einem Kinoprogramm, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, Erwartungen wecken und uns animieren, in einen Film zu gehen. Manche Fotos sind zu Ikonen der Filmgeschichte geworden – Filmposter mit James Dean oder Marilyn Monroe etwa.

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Gojko als Tokei-ihto in „Die Söhne der großen Bärin“, 1965 ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

Ebenso Gojko Mitić – unser aller Held der DEFA-Indianerfilme, der als Häuptling „Tokei-ihto“, „Chingachgook, die große Schlange“ oder „Weitspähender Falke“ die Sammelalben seiner Fans füllt, wurde von Waltraut Patheheimer in Szene gesetzt. Ganz bescheiden und klein steht auf den Fotos ihr Signum DEFA-Pathenheimer. Selten wird der Vorname genannt, so dass bislang kaum jemand wusste, wer sich dahinter verbirgt.

Mir ging es da nicht anders. Wie oft habe ich ihre Bilder benutzt, wenn ich über einen DEFA-Film berichtet habe, wenn ich mit Schauspielern wie Klaus-Peter Thiele über „Die Abenteuer des Werner Holt“ gesprochen habe oder mit Annekathrin Bürger über „Königskinder“. Die Liste ließ sich unendlich fortsetzten und enthielte dann große Schauspielernamen wie Erwin Geschonneck, Armin Mueller-Stahl, Manfred Krug, Jessy Rameik, Jutta Hoffmann, Jutta Wachowiak, Hermann Beyer… Sie alle haben vor ihrer Kamera gestanden.

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Annekathrin Bürger in „Königskinder“, 1962. In der Großaufnahme spiegeln sich Gedanken und Gefühle der Figur. Mut, Angst, Wachsamkeit. Für das Foto kroch die Schauspielerin nach dem Dreh so lange durch Matsch und Regen, bis die Fotografin zufrieden war. ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

Mit ihrem Buch „Pathenheimer: Filmfotografin. DEFA-Movie Stills“ haben die Medienwissenschaftlerin Anna Luise Kiss und der Kameramann Dieter Chill das Geheimnis gelüftet. „Mich haben ihre Fotos fasziniert, und ich wollte wissen, wer das ist“, erzählt Anna Luise Kiss. „Wir haben in den Archiven des Filmmuseums Potsdam, bei der DEFA-Stiftung und in Waltraut Pathenheimers Privatarchiv zigtausend Fotos, wahre Schätze, entdeckt.“ Das knapp 200 Seiten starke Buch zeigt erstmals eine Auswahl des umfangreichen künstlerischen Œuvres der Fotografin, die am 17. Februar 85 Jahre alt geworden ist.

„Sie war schon so etwas wie eine kleine Göttin“, schwärmt Dieter Chill, der sie 1988 bei den Dreharbeiten des Kinderfilms „Das Herz des Piraten“ kennengelernte und als Kamera-Assistent mit ihr zusammen gearbeitet hat. „Waltraut ist in dem aufgegangen, was ihre Aufgabe am Drehort war. Sie war integer gegenüber den Regisseuren und ihren Absichten. Es war ihr Ziel, mit der Aussage ihrer Bilder das Anliegen des Films zu verdeutlichen. Sie hat sich nie herausgestellt. Wenn am Ende ihre Bilder dem Film ein besseres Antlitz verliehen, als tatsächlich dahinter war, dann war es Zufall“, sagt Dieter Chill.

Das Buch ist nicht chronologisch nach Jahreszahlen oder Filmen angelegt, sondern nach Themen: „Wir wollten damit den besonderen Blick der Fotografin auf Menschen in  Situationen, ihre Reaktionen und Beziehungen zeigen.“ So kamen die Autoren auf Genres wie „Küssen“, „Tanz“, „Kontraste“, „in Landschaften“, „in Städten“, „Krieg“, „Klassenfeindschaft und Kalter Krieg“, „Widerstand“ oder „Bewegung“. In diesem Kapitel ist eins der wichtigsten Bilder von Waltraut Pathenheimer zu sehen.

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Jürgen Strauch spielte das Kind in „Nackt unter Wölfen“, 1962. Waltraut Pathenheimer fing diesen emotionalen Moment bei der Fahrt mit dem Kamerawagen ein. ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

Eine Szene aus dem DEFA-Film „Nackt unter Wölfen“. Erfasst in einem unwiederholbaren Moment. Männer in Häftlingskleidung. Nur verschwommen zu erkennen. Sie rennen. Einer presst ein Kind unter seinem Arm fest. Der Fokus liegt auf dem Gesicht des kleinen Jungen. Er schreit seine ganze kindliche Angst heraus.

Die Fotografin war Waltraut Pathenheimer. Sie wurde für diese Aufnahme auf dem II. Internationalen Filmfotografie-Wettbewerb 1964 in Karlovy Vary ausgezeichnet. Sie berührt, zeigt den Widerspruch. Als Standfotografin hatte sie die Dreharbeiten 1962 im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, dem originalen Schauplatz der Geschichte des Buchenwaldkindes, begleitet. Es war nach „Königskinder“ ihre zweite Arbeit mit Regisseur Frank Beyer, Kameramann Günter Marczin­kowsky, Szenenbildner Alfred Hirschmeier und Schauspieler Armin Mueller-Stahl. Das junge Team, alle um die 30, einte der Gedanke, Menschlichkeit zu zeigen, wo Unmenschlichkeit herrscht. Die Fotos von „Nackt unter Wölfen“ gehören zu den eindrucksvollsten mit dem Signum DEFA-Pathenheimer, gleichsam ein Siegel für besondere Fotokunst.

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Waltraut Pathenheimer beim Spaziergang mit ihrer Enkelin ©Daniel Pathenheimer

Gerade 22 Jahre war die am 17. Februar 1932 geborene Berlinerin, als sie 1954 ihre Tätigkeit bei der DEFA aufnahm und als erste Frau in die von Männern dominierte Welt hinter der Kamera kam. Die Berufswahl nach dem Abitur 1950 war eher Zufall als geplant. Die zur Zeit unseres Interviews im Februar 2017 85-Jährige erzählte, wie es dazu kam. „Ich suchte einen Platz, auf dem ich nützlich sein konnte. Auf der Suche nach einem Beruf habe ich viele Annoncen gelesen. In einer stand, dass die Fotoabteilung der DEFA eine Fotografenausbildung anbietet. Das schien mir interessant zu sein, schon wegen des Filmbetriebes. Ich hatte bis dahin nie fotografiert oder mich mit Film beschäftigt. Da bin ich hin und habe mich dem Chef vorgestellt. Ich habe ihm erzählt, dass ich gern zeichne und mich für künstlerische Dinge interessiere. Ich schien ihm geeignet für den Beruf und machte eine vierjährige Lehre. Gleich nach der Prüfung wurde ich zu einer Filmproduktion geschickt.“

Mit finanzieller Hilfe ihrer Mutter erwarb Waltraut Pathenheimer eine gebrauchte Mentor-Kamera (9×12-Format) und eine Contax für das Kleinbildformat. „Das Stativ musste ich mir selbst basteln, weil es keins zu kaufen gab“, erinnert sie sich. Ihre ersten Szenenfotos machte sie für den Film „Wer seine Frau lieb hat…“. Das war grundsolides Studiokino mit gebauten und perfekt ausgeleuchteten Bildern. Für die Anfängerin eine gute Schule, das fotografische Sehen zu lernen. Ein Film folgte dann dem nächsten, zwei, drei wurden es jedes Jahr.

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Das Buch erschien 2016 im Ch. Links Verlag

Es dauerte, bis das Fräulein, das sich mit der schweren Ausrüstung abbuckelte, von den „alten Hasen“ anerkannt wurde. Waltraut Pathenheimer weiß noch, wie Regisseur Erich Engel 1958 am Set für „Geschwader Fledermaus“ spöttelte: „Bitte Ruhe, unsere Kleine will ein Foto machen…“ Doch die ließ sich nicht beirren, vertraute auf ihr Können. Und die Qualität ihrer Arbeiten sprach sich unter Regisseuren und Schauspielern herum. „Sie hatte einen hochprofessionellen Anspruch, dem sie sich mit ihren Bildern verpflichtet fühlte“, sagt Peter Bernhardt, der als 1. Kamera-Assistent bei 15 Filmen mit ihr zusammengearbeitet hat. „Sie kannte die Drehbücher, jede Szene, und war immer perfekt vorbereitet. Waltraut überließ nichts dem Zufall. Sie legte sich ihre Fotos im Kopf zurecht und inszenierte mit den Schauspielern die Szenen neu. Dabei verlangte sie von ihnen die gleiche Intensität wie beim Drehen.“

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Waltraut Pathenheimer 1988. Der Barkas war ihr Dienstwagen. ©Dieter Chill

Das stieß nicht immer auf Gegenliebe. Bei der Realisierung der Szenenfotos für den Film „Die Verlobte“ passierte ihr das mit Jutta Wachowiak. Die Schauspielerin, die die Rolle der Widerstandskämpferin Hella Lindau spielte, weigerte sich, nach dem Abdrehen noch einmal für ein Foto tief in die Szene einzutauchen. „Waltraut nutzt gern extreme Lichtverhältnisse. Es waren die ersten Einstellungen in der Wäscherei. Wir drehten auf einem Dachboden. Hella Lindau öffnet ein vernageltes Fenster und wird von dem Licht geblendet. Das wollte Jutta Wachowiak nicht wiederholen, weil es sie emotional sehr angespannt hatte. Waltraut gab kein Pardon, wenn es um die Aussage ihrer Fotos ging. Aber sie suchte Lösungen, um die Schauspieler zur Mitarbeit zu bewegen.“ Jutta Wachowiak war am Ende sehr zufrieden mit den Aufnahmen, und es gab nie wieder Probleme. Krieg und antifaschistischer Widerstand sind für Waltraut Pathenheimer immer relevante Themen und Motivation für außergewöhnliche Standfotos gewesen. Unvergessen darunter „Die Abenteuer des Werner Holt“, „Pugowitza“, „Der Traum des Hauptmann Loy“, „Wo andere schweigen“…

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Badeszene in dem Film „Hilde, das Dienstmädchen“, 1986 ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

„Ich habe von dem beabsichtigen Foto eine feste Vorstellung.… Meine Absicht kann ich aber nur verwirklichen, wenn ich mein Foto selbständig arrangiere und inszeniere. Durch Umstellen der Schauspieler, durch die Wahl eines anderen Kamerastandpunktes, als ihn die Filmkamera hatte, durch Lichtveränderungen erreiche ich mein gewolltes und überlegtes Fotos“, beschrieb Waltraut Pathenheimer 1964 ihre Arbeitsweise, die sich sehr von der anderer Standfotografen unterschied. Es entstanden dabei Fotos, wie diese Badeszene zum Film „Hilde, das Dienstmädchen“, die mit ihrer impressionistischen Bildsprache kleine Kunstwerke waren und eine eigene Geschichte erzählten.

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Jutta Wachowiak in „Seine Hoheit – Genosse Prinz“, 1969 ©FMP/Waltraut Pathenheimer

Von ihrer bevorzugten Arbeitsweise musste Waltraut Pathenheimer zum Teil abgehen, als sie 1965 begann, die actionreichen Indianerfilme mit Gojko Mitic zu fotografieren. „Ich musste nun bei Proben und Dreharbeiten Situationen mitschießen, weil man die Szenen nur unter höchstem Aufwand hätte nachstellen können.“ Durch ihre präzise Beobachtungsgabe und reflexhafte Schnelligkeit, im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken, gelang es Waltraut Pathenheimer, perfekte Genrefotos zu gestalten, wie man sie so heute kaum findet.
Vor diesen interessanten neuen Herausforderungen, denen sie sich zuwandte, lag ein schmerzhafter Einschnitt im Schaffen der Fotografin. Ihr zweites Jahrzehnt bei der DEFA hatte mit Gegenwartsfilmen begonnen, die unter das Diktum des 11. Plenums ZK der SED im Dezember 1965 fielen. Sie hatte an Kurt Maetzigs Film „Das Kaninchen bin ich“ (1965) mitgearbeitet, und ein paar Monate später an dem ambitionierten Spielfilm „Jahrgang 45“ (1966) des Regisseurs Jürgen Böttcher (später Strawalde). Der Film wurde noch vor der Fertigstellung verboten. Er lag Waltraut Pathenheimer besonders am Herzen, da sie das verfilmte Leben aus eigener Anschauung kannte. Es traf sie schwer, dass die Filme und auch ihre Bilder verschwinden mussten.

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„Jahrgang 45“, 1966 ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

Waltraut Pathenheimer ging der Ruf voraus, sie sei kühl, unnahbar. Vor ihr müsse man einen Riesenrespekt haben. „Vor unserem ersten gemeinsamen Arbeitstag hatte ich deshalb richtig Angst, weil ich nicht wusste, ob sie mich unterstützen würde oder nur ihre Arbeit sieht. Sie war ja am Set auch für Filmkassetten und das Filmmaterial zuständig. Aber die Angst war völlig unbegründet. Ich lernte schnell ihr Zuverlässigkeit und fachliche Kompetenz schätzen“, sagt der heute 76-jährige Peter Bernhardt. „ Waltraut ließ nicht wirklich viele Menschen nah an sich heraus, aber wir verstanden uns merkwürdigerweise sehr gut. Wir sind heute noch befreundet. Sie hat für die Fotografie gelebt, dem alles untergeordnet. Da blieb nicht viel Raum für Privates. Eine Zeit lang hatte sie eine Beziehung, über die sie nichts erzählte. 1970 kam ihr Sohn Daniel zur Welt.“ Damals war die 38-Jährige Standfotografin für den Film „Dr. med. Sommer II Film“, eine Geschichte aus dem Alltag eines DDR-Krankenhauses.

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Eine atemberaubende Szene. Gojko lässt in seinem ersten DEFA-Film als Indianerhäuptling Tokei-ihto die Stute Hanka zur Kerze aufsteigen, 1965 ©DEFA-Stiftung/Pathenheimer

In 36 Arbeitsjahren schuf Waltraut Pathenheimer die Szenenfotos von mehr als 80 der rund 800 DEFA-Filme für die Plakatwerbung, für die Schaukästen in den Kinos, für Presseberichte, Starpostkarten und Filmposter. Millionenfach begehrt waren ihre Fotos von Gojko Mitić. Sie hat den „Häuptling“ in fast allen Rollen fotografiert. Er kann sich gut an die agile junge Frau erinnern. „Sie hat nicht viel geredet, hielt sich dezent im Hintergrund und hatte das Geschehen mit scharfem Auge im Blick. Sie wusste genau, was sie wollte. Das war sehr angenehm. Als wir im Kaukasus die ,Bärin‘ gedreht haben, wollte sie Fotos von der Szene, in der Tokei-ihto sein Pferd zur Kerze aufsteigen lässt und schießt. Wir haben das frühmorgens nachgestellt. Ich habe Hanka, mein Pferd, geholt und sie stand schon mit ihren Kameras bereit. Es sind ziemlich schöne attraktive Aufnahmen dabei herausgekommen. Und wenn man bedenkt, dass damals analog fotografiert wurde, man erst nach dem Entwickeln das Ergebnis sehen konnte… Sie war wirklich die Beste.“

Rund 32 000 Fotos hat Waltraut Pathenheimer zwischen 1954 und 1990 bearbeitet und für die Veröffentlichungen gestaltet. Ihre Arbeiten zeichnen hohe Bildästhetik und eine außergewöhnliche Bildsprache aus. Beides zeugt von dem großen gestalterischen und handwerklichen Können der Fotografin, deren Schaffen sowohl Film- als auch Zeitgeschichte spiegelt.

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Ulrich Mühe und Ulrike Krumbiegel in „Sehnsucht“, 1989 ©FMP/Pathenheimer

Nach der Wende hat man Waltraut Pathenheimer, damals gerade 59 Jahre alt, den Lebensinhalt genommen. „Man schickte mich in den Vorruhestand. Ich habe ein Jahr gebraucht, um abzutreten, musste hart daran arbeiten, um zu akzeptieren, dass es vorbei ist. Ich habe später noch Angebote von ehemaligen DEFA-Regisseuren bekommen, die aber abgelehnt. Ich wollte nicht noch einmal von vorn anfangen.“ Waltraut Pathenheimer hat ihre Kameras nie wieder in die Hand genommen. Sie lebt immer noch in Berlin-Prenzlauer Berg.

Mit dem Moped nach Tanglewood und warum Bashan nicht sterben durfte

Mein Foto in der DEFA-Besetzungskartei für Kleindarsteller

Da ich nicht verreiste, hatte ich mich in jenem Sommer 1968 im DEFA-Besetzungsbüro für Kleindarsteller gemeldet. So ein bischen hinter die Kulissen schauen, Dreharbeiten zu beobachten, reizte mich, und Geld gab es auch noch. 50 Mark für einen Tag als Komparse war nicht zu verachten. Ein paar Tage später bekam ich ein Telegramm – der übliche Informationsweg damals, E-Mail, SMS oder What’s App gab es ja noch nicht –, ich solle mich um 5.30 Uhr früh am Besetzungsbüro auf dem DEFA-Gelände in Babelsberg einfinden. Wie sollte ich um die Uhrzeit dorthin kommen? Ich wohnte in Kleinmachnow, ein Bus fuhr sonntags so früh nicht. Statt mit dem Fahrrad die 15 Kilometer zu fahren, borgte ich mir von einer Mitschülerin ihre „Schwalbe“. Fahrerlaubnis hatte ich, aber keine Fahrpraxis. Erkenntnis am Abend: Das Fahrrad wäre gesünder gewesen.

Auf halber Strecke, kurz hinter Stahnsdorf, ging der Motor aus und ließ sich auch nicht wieder starten. Ich hatte mal was von Anschieben gehört. Also versuchte ich es. Kupplung ziehen, 1. Gang einlegen, flott anschieben. Der Motor sprang auch tatsächlich an. Nur das Aufspringen klappte nicht, als das Moped anrollte. Es rollte mit mir im Schlepp los. Ich konnte es nicht (auf)halten und kippte damit um und rutschte auf der Seite liegend ein Stück über den Asphalt. Ich habe nie wieder versucht, ein Moped anzuschieben. Es würde wohl auch heute nicht klappen. Dass ich mir heftige Schürfwunden zugezogen hatte, merkte ich nicht. Ich hatte nur Angst, nicht rechtzeitig nach Babelsberg zu kommen und war froh, dass der Motor weiterlief. Ich zog die Kupplung, stellte das Moped auf die Räder und fuhr los. Kurz vor halb sechs bog ich in die August-Bebel-Straße ein. Geschafft! Jetzt sah ich, auch Margots „Schwalbe“ hatte heftige „Schürfwunden“. Sie hatte sich das Moped gerade erst gekauft. Meine Eltern drehen mir den Hals um, ging mir durch den Kopf. Sie wussten nicht, dass ich mir ein Moped geborgt hatte. Um es vorweg zu nehmen: Margot beruhigte mich, als ich es ihr zurückgab. „Das repariert mein Bruder. Ich hätte es dir ja nicht leihen müssen.“ Margot war ein Kumpel, in ihrem ganzen Wesen. Alle in der Klasse mochten sie.

Die Banditen um Bashan haben sich in den Häusern verschanzt und warten im Hinterhalt auf die Indianer und Sheriff Patterson. Die Goldsucherstadt Tanglewood lag in der Nähe von Langerwisch. Eine tolle Leistung der DEFA-Architekten und Kulissenbauer. Es waren Holzhäuser, wie sie im 19. Jahrhundert in den nordamerikanischen Siedlungen gebaut wurden. Screenshot: „Weiße Wölfe“ , © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann
Peter Hille (Fred Delmare, l.), Sheriff Patterson (Holger Mahlich, 2.v.l.) und Shave Head (Gojko Mitić, M.) mit seinen Kriegern reiten in Tanglewood ein. Sie sind auf den Hinterhalt vorbereitet. Es wird der letzte Kampf zwischen Weitspähender Falke und Bashan. Screenshot: „Weiße Wölfe“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann

Im Besetzungsbüro bekam ich einen Zettel in die Hand. Rolle: Komparse, Film: „Weiße Wölfe“, Drehort: Tanglewood/Langerwisch. Im Bus saßen mit mir etwa 50 Frauen und Männer verschiedenen Alters. Auf einem großen Flurstück vor einem Kiefernwald hatte die DEFA bei Langerwisch eine komplette Westernstadt aufgebaut mit Saloon, Schmiede, Sheriff-Büro, Wohnhäusern, Gefängnis, Store und dem Büro des Bergwerkaktionärs Harrington, der – wie Filmkenner wissen – sich des Schurken Bashan und seiner Bande bedient, um die Stadt in die Hand zu bekommen. Wir mimten Einwohner der Goldgräberstadt.

Hochzeitsfeier im Saloon. Sheriff Patterson (Holger Mahlich) hat Catherine (Barbara Brylska), die Tochter des Friedensrichters Emerson (Fred Ludwig) geheiratet. Screenshot: „Weiße Wölfe“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann

Die Szene, die gedreht wurde, spielt am Anfang des Films. Bashan reitet mit seiner Bande in die Stadt ein und taucht als ungebetener Gast auf der Hochzeitsfeier des Sheriffs auf. Ich stand mit meinem mir zugewiesen Partner, ich glaube, er hieß Gernot Hermersdörfer, an der Straßenseite neben dem Saloon. Im Film ist das eine Totalaufnahme. Zu sehen sind wir nicht.

Bashan (Rolf Hoppe, l.) taucht mit seiner Bande in Tanglewood (hier mit Karl Zugowski als Andy Sleek) auf. Im Auftrag von Minenboss Harrington (Horst Schulze) raubt er die Transporte mit den Lohngeldern für die Minenarbeiter aus. Screenshot: „Weiße Wölfe“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann

Egal. Die Erinnerung an diesen schönen Sommersonntag in Tanglewood macht immer noch Freude. Geschminkt, in einem langen Kleid und aufgesteckten Haaren, fühlte ich mich einem Kindertraum nah. Leider konnten wir damals keine Fotos machen.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, dieses Kleid in der Kostümabteilung für die Darsteller im „El Dorado“ Templin anzuprobieren Foto: ©Jürgen Weyrich

Das konnte ich 2007 nachholen, als ich mit Gojko Mitić die Westernstadt El Dorado in Templin besuchte. Doch zurück ins Jahr 1968. Was für Kratzer ich am Bein hatte, bemerkte ich erst, als ich von der Kostümbildnerin eingekleidet wurde. „Was haben Sie denn gemacht“, fragte sie. „Sieht ja schlimm aus, aber wir haben hier leider kein Verbandzeug.“ Das war mein Glück, sagte mir der Notarzt am Abend im Krankenhaus Kleinmachnow. Ein Verband wäre festgeklebt. So konnte die Wunde trocknen. Sprach‘s und sprühte mir flüssiges Pflaster drüber. Die Kratzspuren vom Asphalt blieben mir für Jahrzehnte erhalten.

Nicht einen Gedanken verschwendete ich damals daran, mir vorzustellen, dass ich beruflich mal in die Welt der DEFA-Filme und ihrer Protagonisten eintauchen würde. Geschweige denn, dass ich mit Rolf Hoppe und Gojko Mitić einige meiner intensivsten Begegnungen als Journalistin haben würde. Auch ein Jahr später nicht, als die DEFA „Tödlicher Irrtum“ drehte, und ich wieder als „Einwohnerin“ dabei sein durfte. Tanglewood hatte sich in die Stadt Windriver City verwandelt, Sitz der Wyoming Oil Company, die Ende des 19. Jahrhunderts illegal in einem Indianerreservat nach Öl bohrte.

„Tödlicher Irrtum“ ist Rolf Hoppes (M.) dritter Indianerfilm. Er spielt den abgefeimten Chef der „Wyoming Oil Company“. Und wieder steht ihm Gojko Mitić, diesmal als Häuptlingssohn Shave Head, bei seinen Machenschaften, sich die Ölvorkommen im Reservat der Indianer unter den Nagel zu reißen, im Wege. Screenshot: „Tödlicher Irrtum“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann

Rolf Hoppe spielt hier seine „schurkischen Fähigkeiten“ als Company-Chef Allison aus. Er lässt die Häuptlinge ermorden, die mit ihm Förderverträge geschlossen hatten, um so ihr Land mit den Ölvorkommen in seinen Besitz zu bekommen. Gojko Mitić als Häuptling Shave Head kommt ihm auf die Schliche. Trotzdem können die Indianer ihr Recht auf die Ölvorkommen in ihrem Reservat nicht durchzusetzen.

Fünf Häuptlinge, die Förderverträge mit der „Wyoming Oil Company“ abgeschlossen haben, werden ermordet. Häuptlingssohn Shave Head (Gojko Mitić) will die Mörder überführen. Screenshot: „Tödlicher Irrtum“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann

Die Kulissen blieben noch einige Zeit in Langerwisch stehen, mussten aber bewacht werden, damit das wertvolle Mahagoniholz der Innenausstattungen nicht geklaut wird. Später wurden sie nach Babelsberg umgesetzt und sind heute als Westernstadt eine Attraktion im Filmpark. Ein paar Mal diente mir „Tanglewood“ als Kulisse für Interviews mit Gojko Mitić.

Im Mai 2012 traf ich mich mit Gojko Mitić, Frank Träger und Regisseuer Rolf Losansky zu einem Gespräch über den Kinderfilm „Der lange Ritt zur Schule“ in der Westernstadt im Filmpark Babelsberg. © Foto: SUPERillu/Trenkel Boris

In meiner Zeit bei der SUPERillu gab es immer wieder Anlässe und Gelegenheiten für Interviews mit dem „DEFA-Chefindianer“ und seinem schurkischen Widersacher Rolf Hoppe. „Feinde sind wir nur vor der Kamera gewesen“, betonten beide in unseren Gesprächen. In den vielen Wochen, die sie sich 1967 bei den Dreharbeiten für ihren ersten gemeinsamen Film Spur des Falken“ vor der Kamera bekämpften, wuchs hinter den Kulissen eine stille Freundschaft, die nicht danach fragt, wie oft man sich trifft.

Gojko Mitić 1967 bei Drehaufnahmen im Kaukasus als Dakota-Häuptling Weitspähender Falke Foto: © DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Der eine war 27 und drehte seinen dritten Indianerfilm als Häuptling. Der andere war 36 und setzte als Bandit Bashan gerade erst einen Fuß in dieses Genre. Mit der Besetzung des glatzköpfigen Schurken durch den Dresdener Theaterschauspieler Rolf Hoppe war dem Regisseur Dr. Gottfried Kolditz eine spannende Konstellation gelungen. Sie hielt das Kinopublikum noch in vier weiteren Indianerfilmen in Atem – „Weiße Wölfe“,Tödlicher Irrtum“, „Apachen“ und Ulzana“.

Bei unserem Spaziergang durch Dresden erzählt Rolf Hoppe seinem Freund Gojko die Geschichte des „Blauen Wunders“, eines der Wahrzeichen der Stadt. Seit dem Jahr 1893 dient die Stahlkonstruktion als Verbindung der früheren Dörfer und jetzigen Stadtteile Blasewitz und Loschwitz. Foto: © Boris Trenkel/SUPERillu

Im Sommer 2007 gelang es mir, ein gemeinsames Treffen der beiden zu arrangieren. Rolf Hoppe lud seinen liebsten Feind und mich zu sich nach Weißig ein, wo er sich noch mit 62 Jahren den Traum von einem Blockhaus erfüllt hatte. Er hatte gerade einige Tage drehfrei, bevor er wieder nach Triest musste. In der damals neuen ARD-Serie „Commissario Laurenti“ spielte er den Rechtsmediziner Galvano. Und es passte auch gut in den Zeitplan von Gojko Mitić, der viel unterwegs war.

Zwei Wochen nach unserem Treffen in Dresden 2007 besuchte ich Rolf Hoppe in Triest, wo er für die ARD-Krimi-Reihe „Commissario Laurenti“ als Rechtsmediziner Calvano drehte © York Maecke

Weißt du, dass ich in letzter Zeit viel an dich gedacht habe?“, begrüßte Rolf Hoppe seinen Freund, als wir ihn damals besuchten. „Ich habe in Triest gedreht. Die Stadt ist eine bizarre Völkermischung aus Slowenen, Kroaten, Italienern, Österreichern. Ich hatte so viele Fragen, du hättest mir alles erklären können.“ Gojko nickte. „Ja, schade, dass ich nicht auch dort war.“ Dieser gemeinsame Tag, der erste und einzige, an dem beide über ihre Freundschaft und das sprachen, was sie über Jahrzehnte verbindet, wird sowohl für mich wie auch für Gojko unvergessen bleiben. Eine Begegnung die nicht mehr wiederholt werden kann, denn Rolf Hoppe starb am 14. November 2018, kurz vor seinem 88. Geburtstag, der am 6. Dezember gewesen wäre.

Ein halbes Jahrhundert Freunde und manchmal auch erbitterte Feinde

Rolf Hoppe führte uns in seine Datsche, ein kleines Blockhaus im hinteren Teil des Gartens. Sie war sein Refugium, wenn er seine Rollen lernte, wenn er sich bei der Gartenarbeit auspumpte, wenn er neue Kraft sammeln musste. Hier bewahrte er Fotos, Drehbücher und andere Utensilien aus seinen Filmen auf. Ich merkte ihm an, wie glücklich es ihn machte, mit Gojko sich in die gemeinsamen Zeiten zurückzuversetzen.

Staunend hält Gojko Bashans Hut in der Hand. Seit 40 Jahren hütet Rolf Hoppe seine Requisiten wie einen Schatz © Boris Trenkel/SUPERillu

Gojkos Blick fiel sogleich auf einen braunen Hut an der Wand. „Das ist doch Bashans Hut!“ Er lachte, nahm Rolf Hoppes „Allerheiligstes“ vom Haken und piekte mit dem Finger durch das Einschussloch. Ich erinnere mich an die Filmszene auf dem Platz vor dem Sheriff-Büro in Tanglewood. Bashan soll mit seiner Bande verhindern, dass der Friedensrichter, seine Tochter, Goldsucher Patterson und Händler Sam Blake, die die Stadt verlassen. Nicht nur, dass ihm der kleine Fred Delmare in seiner Rolle als Peter Hille den Hut vom Kopf schießt – daher das Loch. Händler Sam Blake holt ihn mit einem gekonnten, ja, kunstvollen Peitschenhieb vom Pferd. Rolf Hoppe legt einen Stunt vom Feinsten hin. So eine Sportlichkeit hatte keiner dem schwergewichtigen Schauspieler zugetraut. Wütend reißt sich Bashan den Hut vom Kopf, wirft ihn auf die Erde und trampelt wie Rumpelstilzchen darauf herum. Die Assoziation war wohl gewollt. Mit dieser Aktion machte er Furore, überall auf der Welt, wo „Spur des Falken“ in den Kinos gelaufen ist.

Bashan will Patterson, den Richter Emmerson, seine Tochter Catherine und den Händler Blake daran hindern, Tanglewood zu verlassen und bedroht sie mit dem Revolver. Sam Blake holt ihn mit seiner Peitsche vom Pferd und schlägt ihm die Waffe aus der Hand. Screenshot: „Weiße Wölfe“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann

Mit einem verschmitzten Blick zog Rolf Hoppe dann aus dem Halfter neben dem Hut einen Colt. „Was denn, den hast du auch noch?“staunte der „Häuptling“. Die Männer alberten herum, zeigten, dass sie es noch draufhaben, und ließen das Schießeisen um den Finger wirbeln. Gojko kam der Griff etwas größer vor. Rolf Hoppe nickt und verriet: „Den Colt hat der Radebeuler Indianer-Klub für mich angefertigt. Ich wog zwei Zentner. Meine Finger waren für den Colt aus der Requisite zu dick, um ihn wie ein Cowboy zu handhaben. Mit der Sonderanfertigung klappte es.

Es war eine Sternstunde für den DEFA- Film, als Gottfried Kolditz die beiden so grundverschiedenen Schauspieler für seinen Film Spur des Falken“ zu erbitterten Widersachern machte. „Während der Dreharbeiten änderte er plötzlich meine Rolle“, erinnerte Rolf Hoppe. „Mir wurde in der Maske gerade die Glatze geschoren, da gab mir jemand ein Blatt Papier. Bashan stirbt nicht, stand da. Eigentlich sollte mich Gojko beim Kampf in Tanglewood töten. Doch Kolditz wollte den Indianerhasser auch in seinem nächsten Film dabeihaben. Ich schlug vor, dass mich ein Pfeil am Hals verletzt. Damit bliebe mein Schicksal offen.“

Die Indianer brennen das verhasste Tanglewood nieder. Falke trifft Bashan mit Pfeil am Hals. Screenshot: „Spur des Falken“, © DEFA-Stiftung/Otto Hanisch

Was für ein Spannungsmoment für die Zuschauer! Erstmals drehte die DEFA die Fortsetzung eines Indianerfilms. Sie erleben in „Weiße Wölfe“ ein Jahr später dramatische Begegnungen zwischen Weitspähender Falke und Bashan, der bei den Indianern inzwischen „Schiefhals“ heißt. Wie von Rolf Hoppe vorgeschlagen, wird Bashan in Spur des Falken“ vom Pfeil des Dakota-Häuptlings am Hals getroffen und es blieb in der Schwebe, ob er die Verletztung überlebt. Natürlich ahnten wir als gewiefte Zuschauer, dass da noch mal was kommt. In der Fortsetzung tötet Bashan Falkes Frau Blauhaar. Der Häuptling schwört, Rache an den Mörder zu nehmen. Als er ihn in Bashan erkennt, hat er nur ein Ziel: ihn zu töten.

Weitspähender Falke kann den Mörder seiner Frau Blauhaar töten. Aber er wird danach von dessen Bande erschossen. Screenshot: „Weiße Wölfe“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann
Bashan stirbt durch das Messer seines ärgsten Feindes, Häuptling Weitspähender Falke. Screenshot: „Weiße Wölfe“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann

In Tanglewood stehen sich die erbitterten Feinde schließlich in der Schlussszene gegenüber. Bevor Bashan schießen kann, trifft ihn Falkes Messer ins Herz, der daraufhin von Bashans Bande erschossen wird. „Meine Mädchen hatten damals in der Schule ganz schön was auszustehen“, erinnerte sich Rolf Hoppe und drohte Gojko scherzhaft mit dem Finger. „Alle Kinder schimpften: Euer Vater hat Gojko umgebracht! Dabei tötest du mich und meine Bande rächt mich dann. Ich musste in die Schule gehen und das richtigstellen!“ Für diesen Film hatte Regisseur Konrad Petzold Bashans Part Rolf Hoppe auf den Leib schreiben lassen.

Der Tod von Häuptling Weitspähender Falke ließ Millionen Zuschauer bedrückt die Kinos verlassen. Doch es starb ja nicht Gojko Mitić. Es folgten noch weitere spannende Filme mit ihm als Häuptling. Ein Jahr später schon folgte „Tödlicher Irrtum“ , 1973 kam „Apachen“ in die Kinos und 1974 die Fortsetzung „Ulzana“. Screenshot: „Weiße Wölfe“, © DEFA-Stiftung/Eberhard Borkmann

Es ist besonders Rolf Hoppe, der sich den Zuschauern neben Gojko Mitić als Akteur in den DEFA-Indianerfilmen eingeprägt hat. „Die Leute wissen noch heute, dass ich im Film Bashan hieß. Das ist für mich ein Wunder“, meinte er. Gojko erinnerte sich an eine Begebenheit in Samarkand. „Wir drehten dort 1972 ,Apachen‘ und waren in die Stadt gefahren. Vor der Moschee spielten Kinder, die sich plötzlich ihre Käppis vom Kopf rissen, auf die Erde warfen und darauf herumtrampelten.“ Ein Lächeln zog über Hoppes Gesicht: „Ich wollte mir das Grab des berühmten Tamerlan ansehen. Die Kinder erkannten mich und spielten mir die Szene aus dem ,Falken‘ vor, in der ich vor Wut meinen Hut in den Staub werfe. Als ich begriff, was sie meinten, war das eine meiner größten Freuden.“

Eine legendäre Szene. Bashan trampelt wütend auf seinem Hut herum, in den Hilfssheriff Peter Hille ein Loch geschossen hat. Screenshot: „Spur des Falken“, © DEFA-Stiftung/Otto Hanisch

Dann sagte er – es klang ein bisschen traurig: „Es waren immer nur kleine Rollen, weil ich während der Drehzeiten auch Vorstellungen am Theater in Dresden hatte. Aber ich habe sie gern gespielt.“ Gojko, der mit Regisseur Gottfried Kolditz die Drehbücher für „Apachen“ und „Ulzana“ schrieb, verriet ihm schmunzelnd: „Kolditz hatte immer Angst, dass für dich nicht genug Platz zum Spielen ist. Du warst unser Juwel, und das musste man richtig verkaufen. Darauf haben wir beim Schreiben geachtet.“

In der Galerie von Rolf Hoppes Hoftheater erinnerten die beiden Freunde an gemeinsame Filmanekdoten © Boris Trenkel/SUPERillu

Dass Rolf Hoppe als Bashan und Captain Burton („Apachen“ und „Ulzana“) im Gedächtnis geblieben ist, wunderte Gojko überhaupt nicht. „Es ist Rolfs Spezialität, das Negative einer Figur dem Zuschauer ganz pointiert zu vermitteln. Ich habe von ihm und anderen guten Schauspielern wie Hannjo Hasse oder Helmut Schreiber gelernt, filigran zu arbeiten, mit dem Körper zu sprechen. Es war für mich damals sehr wichtig, in ein gutes Ensemble eingebettet zu sein, weil ich noch keine Schauspielausbildung hatte.“ Hoppe nickte nachdenklich. „Trotzdem hast du den Film getragen. Ohne dich hätte es die Indianerfilme in der DDR nicht gegeben. Bashan bedient das Klischee des schwärzesten Bösen. Ich habe ihn so gespielt, dass die Menschen das Böse verlachen.“ Das ist ihm gelungen. Im Kino wurde gelacht, wenn Bashans hinterlistige Aktionen fehlschlugen.

Rolf Hoppe 1973 in „Ulzana“ als Captain Burton © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Gojko und Rolf Hoppe – zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Dennoch verband sie viel. Beide fühlen in der Seele wie Indianer, teilen sie deren Liebe zur Natur, zu Mutter Erde und zu den Pferden. In Hoppes Bücherschrank stehen alle Erzählungen von Karl May und Liselotte Welskopf-Henrich. „Sie waren meine Fachliteratur zur Vorbereitung auf meine Rollen. Von Karl May habe ich gelernt, wie ein Cowboy sein Pferd zäumt.“

In Rolf Hoppes Lieblingsrestaurant auf Schloss Weesenstein beschlossen beide den Tag mit einem deftigen Essen und einem kühlen Bier © Boris Trenkel/SUPERillu

Der Reiz seiner Rolle lag für Hoppe vor allem in den Reitszenen. „Dem Dicken war kein Hindernis zu hoch. Niemand hat ihm so eine Behändigkeit auf einem Pferd zugetraut. Er saß da drauf wie ein Jockey“, erzählte Gojko, der selbst jeden wilden Mustang reiten konnte. Während der Dreharbeiten hat er den Zwei-Zentner-Mann täglich mit zum Joggen genommen und ihn überzeugt, sich bewusst zu ernähren. „Ich habe durch Gojko ein ganz neues Körpergefühl bekommen… Für meine Rolle hat es mir aber zuerst einmal sehr geholfen, dass ich so fett war. Ich kam ungeschickt angewatschelt, jeder glaubte, der fällt vom Pferd. Doch der Klops blieb sitzen…“ Er grinste auf eine Art schelmisch, wie es nur Rolf Hoppe konnte.

Rolf Hoppe als Bashan in „Spur des Falken“. So haben ihn Millionen Kinofans auf der Welt in Erinnerung © DEFA-Stiftung /Waltraut Pathenheimer

Herrmann Zschoche über Lütt Matten, ungehorsame Nebelschwaden und das Warten auf Wolkenzüge

Vor sechs Jahren habe ich angefangen, hier über DEFA-Filme und ihre Geschichten zu schreiben. Das Erbe, das die vor 75 Jahren, am 17. Mai 1946, gegründete Deutsche Film AG nach ihrem endgültigen Ende am 19. Mai 1992 hinterlässt, umfasst 750 Kinofilme, ebenso viele Animationsfilme sowie 2250 Dokumentar- und Kurzfilme. Dass ein Fünftel der Produktionen dem Kinderfilm vorbehalten war, gehört wohl mit zum großen Verdienst der volkseigenen (VEB) Filmstudios. Für manche der wunderbaren DEFA-Kinderfilme bin ich als 1949er Jahrgang einfach zu früh geboren. Aber ich konnte durch meinen Beruf nachholen, was ich versäumt hatte, zumindest einiges.

Zum Beispiel kam ich so auf die Spur des poesievollen, liebenswerten Films „Lütt Matten und die weiße Muschel“, den Herrmann Zschoche 1963 nach Bennos Pludras gleichnamiger Erzählung gedreht hat. Im Januar 2015 besuchte ich den Regisseur in seinem Haus in Schwenow, um mit ihm über den Film zu sprechen, wie er entstanden ist, und was alles so rund um die Dreharbeiten passiert war. Vor allem interessierte mich, was ihn, einen jungen Regisseur bewog, zum dritten Mal einen Kinderfilm zu drehen. Für seinen Diplomfilm hatte er sich die Bilderbuchgeschichte „Der Märchenschimmel“ von Fred Rodrian ausgesucht. Sein nächster Film war Die Igelfreundschaft“ nach einer Erzählung von Martin Viertel, eine Koproduktion mit den Barrodov-Studios Prag. Drängte es einen als Absolvent der Filmhochschule nicht eher in die Richtung großer Spielfilme für Erwachsene?

Im Januar 2015 besuchte ich den Regisseur Herrmann Zschoche in seinem Haus in Schwenow. Wir sprachen über seinen Film „Lütt Matten und die weiße Muschel“, und er erzählte mir auch ein bisschen von sich © Boris Trenkel

Herrmann Zschoche erklärte mir seine Vorliebe für dieses Genre so: „Als Nachwuchs-Regisseur musstest du dich selbst kümmern, wenn du einen eigenen Film machen wolltest, zu uns kam die Studioleitung nicht mit Angeboten. Ich habe mich immer nach schönen Stoffen umgesehen, und davon gab es die besten für Kinder. Außerdem kam man mit Kinderfilmen besser rein ins Spielfilmstudio, wo sich die ältere Generation der Spielfilmregisseure etabliert hatte – Kurt Maetzig, Günter Reisch, Slatan Dudow, Hermann Beyer und Wolfgang Kohlhaase als Autor. Anders stand man lange vor der Tür.“

Seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“ drehte Herrmann Zschoche 1960 im thüringischen Heldburg. Auf dem Foto erklärt er dem achtjährigen Lutz Bosselmann, was gemacht werden soll © DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Kinderfilmer hatten es auch insofern einfacher, da sie von „Erwachsenfilm-Regisseuren“ eher belächelt denn als Konkurrenz angesehen wurden. Außerdem waren bei der DEFA – und das zählte schon sehr – vier Spielfilmproduktionen im Jahr für Kinder eingeplant. Ihre Herstellung war finanziell abgesichert, ihr Verleih und ihre Verbreitung innerhalb der DDR garantiert, weil sie grundsätzlich gewollt waren. Dieser hohe Stellenwert des Kinderfilms auf der einen Seite und die Betrachtung als etwas „Niedliches“ auf der anderen Seite, gab den Regisseuren und Autoren auch eine große Freiheit. Nämlich in einem konkreten Lebensraum der Kinder größere soziale und gesellschaftliche Konflikte mit zu verhandeln. Besser konnte es sich ein „Frischling“ von der Filmhochschule kaum wünschen.

Erik S. Klein spielte Lütt Mattens Vater. Anders als seine Rollenfigur hatte der Schauspieler viel Verständnis für die Kinderdarsteller, hier die Schlüsselszene mit dem 11jährigen Lutz Bosselmann. An der Kamera sitzt Horst Hardt (r.) Regisseur Herrmann Zschoche wirft einen Blick auf die Einstellung. Den Ton nahmen Joachim Preugschat und Werner Klein auf. © DEFA-Stiftung

Der heute 86-jährige Herrmann Zschoche erinnerte sich in unserem Gespräch, dass der Kinderbuchautor Benno Pludra damals in aller Munde war. Heiner Carow hatte seinen Ost-West-Jugendroman „Sheriff Teddy“ verfilmt, im DEFA-Trickfilmstudio entstand gerade ein Animationsfilm nach seiner Bilderbuchgeschichte „Heiner und seine Hähnchen“.

Heiner pflegt liebevoll seine drei Hähnchen, aber als er einen Regenpfeifer und eine Möwe sieht, sind seine drei Freunde vergessen… Ein bezaubernder Trickfilm von Klaus Georgi ©DEFA-Stiftung/Hans Schöne

Anfang März 1963 erschien Benno Pludras Erzählung „Lütt Matten und die weiße Muschel“. Herrmann Zschoche bekam das Buch in die Hand und hatte seinen neuen Filmstoff gefunden. „Mir gefiel die knappe und gleichsam bildreiche Erzählweise, die wunderbare Chancen für schöne, stimmungsvolle Sujets bot“, sagte er. Wer Benno Pludras Bücher kennt, weiß, dass er nicht mit reißender Action fesselt – was er gekonnt, ihn als Schriftsteller aber gelangweilt hätte. Er erzählte lieber stille Abenteuer in einer feinen, poetischen Sprache. Und so passte das Zusammenspiel von Poesie und Realismus seiner Inselgeschichte von dem Fischerjungen Lütt Matten perfekt in Zschoches Auffassung von Film, die, wie er für sich rekapitulierte, damals wohl von der emotionalen, epischen Machart sowjetischer Filme wie Michail Kalatosows „Wenn die Kraniche ziehen“ beeinflusst war. „Einige DEFA-Regisseure hatten danach den Hang zu gebauten Bildern. Wir von der dokumentaren Fraktion nannten sie Luxusbilder.“ Er selbst gab seinen Akteuren lieber Freiheit zum Spielen, hatte aber immer im Blick, dass die Kamera schöne Aufnahmen machen konnte. Ich denke da an Szenen in seinem Jugendfilm „Sieben Sommersprossen“ nach einem Drehbuch von Christa Kožik. Bei Lütt Matten allerdings, gestand er, „baute“ er sich seine schönen Aufnahmen, indem er auf die Natur wartete.

Jeden Sommer segelte Benno Pludra mit der „Mobby Dick“ vor Hiddensee. Dieses Privatfoto entstand 1960

Herrmann Zschoche hatte sich damals, im März 1963, umgehend an das Szenarium für eine Verfilmung von „Lütt Matten und die weiße Muschel“ gemacht. Die Bäume trieben gerade ihr erstes Grün nach dem Winter aus. Schmunzelnd erzählte er, wie er nach Hiddensee fuhr, um mit Benno Pludra über das Drehbuch zu sprechen. Vom Frühjahr bis zum Herbst verbrachte der Schriftsteller dort oben. Er liebte die Ostsee, den norddeutschen Menschenschlag. Man redete nicht viel, war freundlich, aber nicht überschwänglich, sprach auf den Punkt. Das kam der Mentalität des kleinen zierlichen Mannes sehr entgegen. Auch Benno Pludra ging sparsam mit Worten um, machte lange Denkpausen, so dass ein Gespräch manchmal schon am Ende schien, er aber plötzlich den Faden wieder aufnahm.

Der Schriftsteller Benno Pludra starb im August 2014

Ein Drehbuch mit ihm zu schreiben, war speziell, das hatte Heiner Carow bei der Arbeit an „Sheriff Teddy“ erlebt, das musste auch Herrmann Zschoche erfahren. „Ich kam also in Vitte an und ging erst mal auf die Suche nach Benno, weil er nicht zu Hause war. Aber jeder auf der Insel kannte ihn, und man gab mir den Tipp: Wird wohl am Boot sein. Ich traf ihn beim Abschrubben der Bootswände an. Er drückte mir einen Schleifklotz in die Hand und sagte: ,Hilf mal!‘ Dabei blieb es im Wesentlichen, obwohl ich immer wieder darauf drang, sich das Szenarium anzusehen.“

Die Arbeit an seinem Segelboot war dem Wahlinsulaner aber wichtiger. Er musste ja die Jolle klar machen, um endlich raussegeln zu können. Was er am liebsten tat. Für Benno Pludra war klar: Er hatte sein Buch geschrieben, einen Film daraus zu machen, war nicht seine Sache. Dafür gab es ja Drehbuchschreiber und Regisseure. „Mittag schleppte er mich in seine Stammkneipe, zu Putbrese“, setzte Herrmann Zschoche fort. „Es gab einen Schnaps, dann noch einen, dann Aalsuppe, war ja Vorsaison, in der Urlaubszeit kriegste keinen Aal. So ging das bis zum Nachmittag. Das war Benno!“ Zschoche lachte.

In „Aloa-hé“ hat Benno Pludra seine Erlebnisse auf dem Segelschulschiff „Padua“ und seinen Untergang mit der „Ditmar Koel“ verarbeitet © B. Beuchler

In der Fischerkneipe Putbrese hatte Benno Pludra beim Snack mit den Alten wohl auch die Legende von der weißen Muschel gehört. So zumindest erinnerte er sich später, als ich ihn fragte, wie er auf die Geschichte kam. „Ich wusste, das könnte eine gute Kindergeschichte werden.“ Benno Pludra hatte einen Riecher dafür, ob sich etwas zu schreiben lohnt oder nicht. Natürlich für Kinder. Für Erwachsene wollte er nie schreiben. Gute Bücher für Kinder seien wichtiger. Eine einzige Ausnahme machte er mit seinem autobiografischen Roman „Aloa-hé“. Den ungewöhnlichen Namen Matten borgte er sich von einem Fischer auf Hiddensee. Lütt Matten klang gut in seinen Ohren und passte zu dem Jungen und der Geschichte, die er im Kopf hatte. Die vom großen Kummer eines Kindes erzählt, dessen Träume und kleine Wünsche vom Vater nicht ernstgenommen werden. Der nicht hält, was er dem Sohn verspricht und ihn damit tief enttäuscht.

Irgendwann an dem Tag oder dem nächsten, als Herrmann Zschoche mit seinem Szenarium oben auf Hiddensee war, hat er es doch noch geschafft, mit dem Kinderbuchautor über das Drehbuch für den Film zu sprechen. Das war ihm wichtig, musste sein. „Ich bin kein Autorenfilmer, der seine Bücher selber schreibt oder die Vorlagen anderer so gründlich umkrempelt, dass man sie nicht mehr erkennt.“ Für Zschoche gilt Werktreue. Nur ein Drehbuch hat er allein geschrieben, für seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“. Bei vielen seiner anderen Filme hat er am Drehbuch mitgewirkt, wie eben bei „Lütt Matten und die weiße Muschel“.

Herrmann Zschoche (M.) erklärt Lutz Bosselmann und Heike Lange eine Szene am Steg © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Der Sommer war noch nicht angebrochen, da bezog der Drehstab aus Babelsberg Quartier auf Hiddensee. 30 Mann, manchmal auch mehr, wurden in Gartenhäusern und Scheunen untergebracht. Die wenigen Hotels blieben den FDGB-Urlaubern vorbehalten. Die Dreharbeiten dauerten bis zum Ende der Saison. Die DEFA zeigte sich immer sehr großzügig bei ihren Kinderfilmproduktionen. Herrmann Zschoche gerät nahezu ins Schwärmen. „Vielleicht lag es daran, dass Prof. Albert Wilkening, der war damals Direktor für Produktion und Technik, auf Hiddensee ein Sommerhaus hatte. Er war jedenfalls sehr interessiert an dem Stoff, und wir verbrachten vier Monate auf der Insel. Das war selbst für DEFA-Verhältnisse eine ungewöhnlich lange Zeit. So konnten wir abwarten, bis sich eine Wolkenbahn genau in die Richtung bewegte, die ich mir für die Aufnahme vorstellte. Wenn sie von links unten nach rechts oben ziehen sollte, wurde das abgewartet. Oder wenn wir eine Möwe brauchten, die von rechts nach links am Himmel segelte. Es lauerte keiner im Rücken, weil der Drehstab anderweitig gebraucht würde, keiner guckte aufs Geld.“

Die Geschichte:

Lütt Matten (Lutz Bosselmann) ist seinem Vater (Erik S. Klein) nachgelaufen. Er hatte ihm doch das Netzzeug für eine Reuse versprochen © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Der Fischerjunge Lütt Matten träumt vom großen Fang. Aale möchte er fischen wie sein Vadding und seine Kollegen von der Produktion. Eine eigene Reuse möchte er haben. Der Vater hat versprochen, ihm Netzzeug und Stangen dafür zu geben. Doch wie schon so oft hat er auch an dem Morgen, wo es sein sollte, keine Zeit für seinen Sohn und dessen Wunsch. Er vertröstet ihn, schickt den Jungen nach Hause. Lütt Matten läuft ihm nach. Schließlich darf er sich im Materialschuppen selber die Sachen zusammensuchen.

Als sein Freund Kaule ihm die Reuse miesmacht, ruft Lütt Matten wütend: „Dann hau doch ab, Stippfischer, mit deiner plumprigen Angel!“ © DEFA-Stiftung/hans-Joachim Zillmer

Mühsam schleppt Lütt Matten Stecken und Netze den langen Weg über die Düne zum Steg. Als sein Freund Kaule Brammig kommt, bittet er ihn, beim Aufstellen der Reuse zu helfen. Doch Kaule lässt ihn im Stich. „Das ist ja nur Spielkram, keine Rüs nicht, was du da machst.“ Lütt Matten ist enttäuscht und wütend. Da kommt Mariken vorbei und bietet ihre Hilfe beim Spannen der Netze an. Zusammen stellen sie die Reuse auf.

Voller Hoffnung, dass seine Reuse gefischt hat, fährt Lütt Matten raus © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Erwartungsfroh guckt Lütt Matten am nächsten Morgen in den Reusenkopf. Doch der ist leer. Auch am nächsten Tag und dem darauf. Es geht kein Fisch rein. Die Kinder im Dorf laufen schon hinter ihm her und singen ein Spottlied auf den „Reusen-Admiral“, und auch die Fischer, die mit vollen Aalkisten heimkommen, lachen. Lütt Matten ärgert sich und zermartert sich den Kopf, warum seine Rüs nicht fischt. „Ach, wenn es doch ein Wunder gäbe. Wenn ich die weiße Muschel hätte, die hier irgendwo liegen soll“, denkt er und sucht den Strand ab. Außer Steinen liegt da nichts, keine Muschel.

Mariken (Heike Lange) und Lütt Matten wollen von Großvadding (Otto Saltzmann) wissen, ob es die weiße Muschel wirklich gegeben hat. Ob es stimmt, was so erzählt wird von dem Seemann John Hagenbrink. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am nächsten Vormittag besucht er Mariken, die vor dem Haus sitzt und in einem alten Buch blättert. Seeschlangen und anderes Meeresgetier sind da abgebildet. „Ist da auch eine Muschel drin? “, fragt Lütt Matten. „Guck mal weiter“, antwortet Marikens Großvadding. Und tatsächlich, da ist eine große weiße Muschel abgebildet. Die Kinder wollen nun wissen, ob es so eine Muschel war, die der Seemann John Hagenbrink von seiner langen Weltreise mitgebracht hat, die den Fisch und das Glück herbeisang. „Soll wohl so sein, genau weiß das keiner. Wer Glück hat, kann sie sehen“, sagt Marikens Großvadding. „Und wo ?, fragt Lütt Matten. „Er soll sie draußen im Bodden versenkt haben. Kann sein, sie liegt am Steilufer, kann sein an der Mole, kann sein im Bodden. Bis jetzt hat sie keiner gesehen“, sagt der Großvater.

Lütt Matten schleicht aus seinem Bett in den Flur und durchstöbert die Seemannskiste seines Urgroßvaters. Er findet eine große weiße Muschel. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Die weiße Muschel lässt Lütt Matten keine Ruhe. Nachts schleicht er aus dem Bett und stöbert in der alten Seekiste seines Urgroßvaters, die keiner geöffnet hat, so lange er denken kann. Unter Seesternen, einer alten Laterne und anderem Krimskrams findet er eine große weiße Muschel, die genauso aussieht wie in Marikens Buch. Wie ein Dieb versteckt er die Muschel unter seinem Pullover und klettert damit aus dem Fenster. Bei der Reuse lässt er sie ins Wasser und flüstert: „Sing mir den Aal herbei, dann darf keiner mehr über mich lachen.“ In seinen Gedanken sieht er sich mit einer Kiste voller Aal im Arm und das ganze Dorf staunt. Doch am nächsten Morgen, als er aufwacht und zur Reuse guckt, ist kein Fisch drin. Und wieder bleibt der Reusensack auch den Tage darauf ist nichts drin. Mariken kann die Traurigkeit ihres Freundes nicht ertragen und setzt unbemerkt eine Plötze ins Netz.

Die Mutter (Johanna Clas) tröstet Lütt Matten, macht ihm Mut. „Das wird schon noch mit der Reuse.“ © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Glücklich rennt Lütt Matten damit nach Hause. Die Muschel hat wohl gewirkt. Aber so richtig glaubt ihm der Vater den Fang nicht. „Lütt Matten, min Jung, das glaube mir nun mal: In deine Reuse geht keine Plötze rein, gar nichts geht da rein“, sagt er. „Und wenn eine Plötze drin war, dann hat sich jemand einen Schabernack gemacht. Hat dir die Plötze reingesetzt. Einfach aus Jux. So und nicht anders, Lütt Matten.“ Lütt Matten entgegnet: „Einfach aus Jux und Schabernack, wie kannst du das wissen, du hast die Rüs ja nicht mal gesehen!“

Er ist den Tränen nahe und läuft zur Düne. Da sitzt er im Gras und will keinen sehen, auch Mariken nicht, die angeschlendert kommt und ihm Blumen schenken will. „Geh weg, ich will deine blumen nicht!“, sagt Lütt Matten unfreundlich. Seine Gedanken kreisen. Und wenn es so ist, und Vadding recht hat, denkt er, war es wohl nicht die richtige Muschel.

Mariken hat es nicht ausgehalten, dass sie Lütt Matten beschwindelt hat. Sie erzählt ihm, dass sie die Plötze in die Reuse gesetzt hat © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am Abend Mariken steht unter seinem Fenster und gesteht, die Plötze ins Netz getan zu haben. Lütt Matten ist wütend auf sie. Er rennt zum Wasser, nimmt das Segelboot des Vaters und fährt raus auf den Bodden. Mariken ahnt, dass das in der Dunkelheit gefährlich werden kann. Doch Lütt Matten hat nur eins im Kopf: Es kann doch sein, dass da draußen die Muschel liegt, die John Hagenbrink versenkt hat. Ein starker Wind kommt auf und treibt das Boot in die Reusen der Fischer. Allein kommt Lütt Matten da nicht raus, so sehr er sich auch anstrengt. Mariken hat inzwischen seinen Vater alarmiert.

Die Dorfbewohner laufen mit Fackeln zum Strand, der Vater fährt mit den Fischern zu den Reusen. Die starken Männer können Lütt Mattens Boot leicht aus den Reusen befreien. Als der Junge dem Vater erzählt, was er draußen auf dem Bodden wollte, entspinnt sich folgender Dialog:
„Die Muschel wolltest du also finden. Ich denke, die gibt es nicht.“
Lütt Matten: „Warum wird es dann erzählt?“
Vater: „Früher haben sich die Leute allerhand Sachen ausgedacht und an Wunder geglaubt, weil es ihnen schlecht ging und sich was wünschten.“
Lütt Matten: „Mir geht auch schlecht.“
Vater: „Aber hast du nicht immer satt zu essen, einen warmen Ofen und Spielzeug?“
Lütt Matten. „Aber die Reuse, alle lachen.“
Vater: „Nun schlaf erst mal. Morgen reden wir über die Rüs.“
Lütt Matten: „Ja, morgen, immer sagst du morgen.“

Lütt Matten holt die nutzlose Muschel aus dem Wasser © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am nächsten Morgen setzt Lütt Matten die Plötze wieder aus, holt die weiße Muschel aus dem Wasser und baut zusammen mit Mariken die nutzlose Reuse ab. Da kommt der Vater: „Ich wollte mal deine Rüs besehen“, sagt er und dann: „Die Reuse, wenn sie so steht, im flachen Wasser, kann sie nicht fischen. Auch mit der weißen Muschel nicht. Wenn ihr wollt und später bei der Stange bleibt, können wir zusammen eine richtige Reuse im tiefen Wasser bauen.“ Als Lütt Matten zu Kaule und Mariken sagt: „Das hat min Vadding schon so oft versprochen“, geht dem Vater plötzlich ein Licht auf, und er begreift, wie sehr er das Vertrauen seines Sohnes erschüttert hat.

Lütt Mattens Vadding kommt nun doch, um sich die Reuse zu besehen. „So wie sie steht, im flachen Wasser kann sie nicht fischen“, erklärt er den Kindern und verspricht, mit ihnen weiter draußen, im tiefen eine richtige Reuse zu bauen © DEFA-Stiftung/Hans-Joschim Zillmer

Der Film endet für die Kinder glücklich. Lütt Mattens Vater und die Fischer fahren mit ihnen raus auf den Bodden, und sie stellen zusammen eine Reuse auf. Die gehört ihnen ganz allein. Am nächsten Morgen schwimmen 23 Aale im Reusensack. Und ein paar mehr vielleicht schin am nächsten Tag. Und auch der Vater-Sohn-Konflikt hat erledigt. Der Vater hat das Vertrauen seines Sohnes wiedergewonnen und für sich die Erkenntnis, dass er eine Verantwortung dem Sohn gegenüber hat, ihn ernstnehmen muss.

Ein Aufwand, wie ihn Hollywood nicht kennt, wurde für die Szenen betrieben, als Lütt Matten in der Nacht auf der Suche nach der weißen Muschel auf den Bodden rausfährt und sich in den Reusen verfängt. Weil mit den Kindern nur zwei, drei Stunden gearbeitet werden durfte, hat Zschoche die Szenen zuerst am Tag auf Spezialmaterial gedreht. Da war zwar der Himmel dunkel, aber der Horizont blieb immer hell. Das gefiel Wilkening nicht und er bestand darauf, die Szenen noch mal nachts zu drehen. Das Boot des Jungen lag 300 bis 400 Meter weit draußen im Wasser. Für die Beleuchtung, das waren riesige 10 Kw Scheinwerfer, damals gab es noch keine kleinen Einheiten, wurden Flöße gebaut und die Kabel vom Haus durch das Wasser bis zur Reuse gezogen.

Die Dorfkinder hatten ihren Spaß bei den Filmarbeiten. Sie durften in einigen Szenen mitspielen. Hier erzählt ihnen Lütt Matten, dass eine Plötze in seiner Reuse war
Lutz Bosselmann© DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Die Dreharbeiten hatten auch für Inselkinder Abenteuerpotenzial. Sie durften mitspielen, wenn Lütt Matten durchs Dorf lief, und ein Spottlied auf den „Reusen-Admiral“ singen. Durften bei der Suchaktion die Fackeln bei den Nachtaufnahmen halten oder die Schippen mit dem qualmenden Pulver schwenken, das den Nebel erzeugte. Weil da gerade die Sommerferien begonnen hatten, waren auch Benno Pludras Söhne Matthias und Thomas mit ihren beiden Cousins, den Söhnen des Schriftstellers Klaus Beuchler, dabei. „Das Zeug stank wie die Pest. Und weil der Wind die Schwaden oft auf den Bodden trieb und nicht dahin, wo der Kameramann sie brauchte, dauerte der Spaß drei Nächte“, erinnert sich Matthias Pludra. „Und das Ganze für anderthalb Minuten in einem Kinderfilm. Heute unvorstellbar“, meinte mein Mann, als er mir von jenem Sommer auf Hiddensee erzählte.

Blick auf die Heidelandschaft bei Neuendorf. Herrmann Zschoche (r.) mit Horst Hardt © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Ziller

Es wurde alles genutzt, was Hiddensee an Motiven hergab: die flache weite Heidelandschaft mit ihren knorrigen, vom Wind geformten Bäumen bei Neuendorf, die Dünen, auf denen das Gras hochwächst, die Sicht auf den Bodden bei Vitte, die bis zum Horizont reicht, die Wellen, die an die Steine am Strand schlagen, den Flug der Möwen, den Zug der Wolken, die Fischerboote im Hafen, die weißgetünchten Katen der Fischer. Es war vielleicht gewagt. Aber Regisseur wie auch Autor Benno Pludra trauten dem kindlichen Publikum den Zugang zu epischen Bildern und das Erkennen der Schönheit im Detail zu. Das Drehbuch folgt den kargen Dialogen der literarischen Vorlage, die gestalterische Umsetzung ihren poetischen Beschreibungen.

Eine Reuse voller Aale, davon träumt der Fischerjunge Lütt Matten © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Es ist Herrmann Zschoches wohl choreografiertes Spiel der Kinder Lutz Bosselmann und Heike Lange, das den Film so zu Herzen gehen lässt. Dabei gestaltete sich Besetzung der Rolle von Lütt Matten schwierig. „Treppauf, treppab haben wir die Schulen an der Küste abgeklappert. Zuerst haben wir Kaule gefunden, dann Mariken in Rostock. Aber kein Junge hat in die Rolle des Lütt Matten gepasst“, erinnert sich der Regisseur. Ich wusste schon aus meinen vielen Gesprächen mit Kinderfilmregisseur Rolf Losansky (†2016): Kinder müssen passen, Schauspieler können sich reinfinden, Kinder nicht. Herrmann Zschoche hatte wie Losansky ein gutes Gefühl für Kinder und vermochte sie sensibel zu lenken. „Kindern muss man alles sagen, aber man muss sie locker machen, viel loben. Es muss ihnen Spaß machen, das zu spielen, was sie sollen. Sobald Zwang kommt, ist es aus.“

1960 drehte Herrmann Zschoche seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“, Premiere war im Juni 1961. Lutz Bosselmann (hier mit Rosemarie Stein) spielte Peter, einen der drei Brüder, die ausziehen, um ihre Träume zu suchen. © DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Für die Besetzung von Lütt Matten fiel ihm zu guter Letzt der kleine Berliner Lutz Bosselmann ein, der in seinem Diplomfilm „Das Märchenschloss“ eine der Hauptrollen gespielt hatte. Ein stilles, knubbeliges Kind, das viel mit sich selber ausmacht, und dem man im Gesicht ablesen konnte, was in ihm vorgeht. Genauso hatte Benno Pludra Lütt Matten in seinem Buch beschrieben.

Lütt Matten leidet unter dem Spott der Kinder und der Fischer. Er fragt sich: „Warum fischt die Rüs nicht?“ © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Kameramann Horst Hardt erfasste die Gemütsstimmungen des Jungen in wunderbaren Großaufnahmen. Der Film ist genau besehen ein Kamerafilm. Er lebt sehr von Hardts ausdrucksstarken Aufnahmen, die großartig von Schnittmeisterin Brigitte Krex montiert wurden. So fungiert die Natur der Insel nicht als bloße malerische Kulisse. Sie ist die Lebenswelt des Jungen und korrespondiert in den Bildern mit seinen seelischen Befindlichkeiten. Georg Katzers einfühlsame Musik tut ein Übriges.

Mariken will Lütt Matten trösten. „Guck mal, dann ist es eben ein Spiel mit Rüs.“ Ein solches Ansinnen hat ihm gerade noch gefehlt. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Dem Regisseur selbst gefällt am besten die Szene mit Mariken und Lütt Matten auf der Wiese, als sie zu ihm sagt: „Lütt Matten hat eine Reuse aufgestellt, obwohl sogar sein bester Freund das unsinnig findet. Und dann fängt er keine Fische damit.“ Und sie fragt: „Na, Lütt Matten, bist du schon an der Reuse gewesen?“ Er antwortet: „Ja, mal eben.“ Mariken: „War wieder nichts drin?“ Lütt Matten schüttelt den Kopf. Er bückt sich ins Gras, damit er Mariken nicht ansehen muss. Seit Tagen kommt sie und fragt, und seit Tagen sagt Lütt Matten: „Nein, nichts, kein Stück. Aber morgen, pass auf, morgen ganz bestimmt.“

Filmplakat 1963

Die Filmpremiere am 26. Januar 1964 im Berliner Kino Kosmos war ein grandioser Erfolg. 1983 lief „Lütt Matten und die weiße Muschel“ im West-Fernsehen. Von Herrmann Zschoche erfuhr ich, dass Lutz Bosselmann 2008, mit 56 Jahren, gestorben ist. Schauspieler ist er nicht geworden. „Mariken“, die heute 64-jährige Heike Lange-Kahl, erinnert sich noch gut, wie sie ausgewählt wurde. „Wir mussten bei den Probeaufnahmen den Satz ,Lütt Matten, din Rüs hät fischt‘, sprechen. Ich konnte das R richtig gut rollen und war mir ganz sicher, dass ich die Rolle bekomme.“ Die Zeit auf Hiddensee verbindet die promovierte Literaturwissenschaftlerin mit dem großen Gefühl von behüteter Freiheit. „Wir waren vier Monate ohne Eltern und erlebten jeden Tag Aufregendes.“ Schauspielerin wollte Heike trotzdem nie werden. Sie zog es zum Eissport. 1975 wurde sie Vize-Weltmeisterin im Eissprint. Ihre Berufung fand sie nach der Wende im Engagement für die „Deutsche Kinder- und Jugendstiftung“.

„Lütt Matten und die weiße Muschel“ wurde einer der schönsten DEFA-Kinderfilme. „Ich war angenehm überrascht“, reflektierte Herrmann Zschoche im Abstand von fünf Jahrzehnten. „Es war mühsam, aber es hat sich gelohnt. Ein sehenswerter Film auch für Erwachsene. Ab und zu staunt man über sich selber.“

Ja, der Film lebt. Er hat den Untergang des Landes, in dem er spielt, und der DEFA überdauert. Die Legende von John Hagenbrinks Wundermuschel, die den Fischern von Hiddensee in ihrer ärgsten Not den Fisch und das Glück herbeisang, ist auf der Insel in Vergessenheit geraten. Wen sie auch gefragt habe, erzählte mir Archivarin Jana Leistner vom Heimatmuseum Hiddensee, keiner hatte je davon gehört. Sie bereitet derzeit eine Sonderausstellung zu Benno Pludra und seiner Geschichte von Lütt Matten und der weißen Muschel“ vor. Ich weiß nicht, wer von den Dorfkindern und Fischern, die 1963 die Dreharbeiten miterlebten, heute noch auf Hiddensee wohnt. Vergessen haben sie dieses Abenteuer sicher nicht und erzählen es vielleicht ihren Enkeln weiter. Und die hätten sicher ihre Freude an dem Film, der ihnen die Welt ihrer Großeltern zeigt.

Christa Kožik zum 80. Geburtstag: „Ich bin ein Kind der DDR“

Unsere Bekanntschaft begann vor zehn Jahren mit dem DEFA-Kinderfilm Moritz in der Litfaßsäule“. Ich recherchierte damals für einen Beitrag zur Veröffentlichung der DVD in der SUPERillu. Regisseur Rolf Losansky schlug vor, unser Gespräch gemeinsam mit der Autorin Christa Kožik zu führen, zumal sie auch das Szenarium für den 1982/83 entstandenen Film geschrieben hatte. Mit ihren poetisch-phantasievollen Erzählungen über Kinder, die in einer vergangenen Zeit in einem vergangenen Land lebten, hat sie in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur ihren Platz neben so bekannten Kinderbuchautoren wie Benno Pludra, Gerhart Holtz-Baumert, Peter Abraham oder Elizabeth Shaw. Adäquat die Verfilmungen, die zum besten Teil des DEFA-Kinderfilms gehören. Sie wurden in über 30 Länder verkauft.

Regisseur Rolf Losansky († 15. 9. 2016) und Autorin Christa Kožik im Interview mit Bärbel Beuchler im September 2011. Foto: Jürgen Weyrich / SUPERillu

Christa Kožiks Credo ist es, das Leben mit den drei Augen zu sehen, die Kinder haben. „Das dritte, das innere Auge, ist die Phantasie mit der sie im Alltäglichen das Unsichtbare, das Wundersame aller Dinge und in sich selbst entdecken“, erklärt sie. Ein Satz von Karl Marx wurde für ihr Schaffen ganz wichtig. „Er sagte“, zitiert sie, „die Phantasie erhebt sich über die Wirklichkeit, um tiefer einzudringen.“ Wenn Moritz in der Litfaßsäule mit der welterfahrenen Straßenkatze sinniert: „Wenn Erwachsene Weltschmerz haben, gießen sie sich einen auf die Lampe. Aber was machen wir Kinder, wenn wir Weltschmerz haben?“, hat das eine philosophische Dimension. Das geht an die Erwachsenen. Auf dem 4. Internationalen Kinder- und Jugendfilmfestival „Goldener Spatz“ 1985 in Gera erhielt der Film den Sonderpreis „Pädagogisch besonders wertvoll“. Heute steht er bundesweit im Schulfilmprogramm und kommt in Kinoveranstaltungen oft zum Einsatz.

Andij Greissel spielte den kleinen Philipp in Christa Kožiks Debütfilm, der 1976 in die Kinos kam Foto: Herbert Kroiss/DEFA-Stiftung

Christa Kožik zeigt eine Kinderwelt, die Schmerz und Verlust kennt, aber auch Magie. Ihre Geschichten verstehen die Kinder überall auf Welt, weil sie sich in der einen oder anderen Weise darin finden. Ihr Debüt als Drehbuchautorin gab sie 1976 mit dem Film „Philipp der Kleine“. Den Film hat sie zum Abschluss ihres Dramaturgie-Studiums an der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg zusammen mit dem DEFA-Regisseur Herrmann Zschoche realisiert. Er war Teil ihrer Diplomarbeit über das Realfantastische in Kinderfilmen und wurde 1977 auf Filmfestival in Wien ausgezeichnet. „Mich reizte immer die Poesie in den Geschichten für Kinder wie sie Benno Pludra schrieb, bei Christa Kožik auch die märchenhaften Elemente“, sagte mir Herrmann Zschoche in einem Interview. Zschoche bevorzugte das Genre Kinderfilm, „weil dafür die besseren Drehbücher vorlagen“.

Rolf Losansky (M.) mit Walfriede Schmitt als Mutter und Dirk Möller als Moritz bei den Dreharbeiten zu „Moritz in der Litfaßsäule“ 1982 im thüringischen Pösneck Foto: Klaus Zähler/DEFA-Stiftung

Seit Mitte der 60er Jahre tendierten Regisseure wie Rolf Losansky und Herrmann Zschoche dahin, Phantasien ihrer kleinen Protagonisten in deren Wirklichkeit zu integrieren. „Christas Geschichten eigneten sich dafür wunderbar, weil ihre Phantasie aus der Realität kommt“, antwortete Rolf Losansky auf die Frage, was ihn an Christa Kožiks Büchern so anzog. Sie nennt es einen großen Glücksfall, dass sie den begnadeten Kinderfilmregisseur 1973 auf ihrer erster Auslandsdienstreise zum Internationalen Kinder- und Jugendfilmfestival in Gottwaldow kennenlernte. „Mir konnte nichts Besseres passieren, weil Rolf genau meine Wellenlänge hatte. Er besaß diese wundervolle Art mit Kindern umzugehen und begann das Realfantastische als filmisches Mittel zu lieben.“

„Kicki und der König“ erschien 1990 als Christa Kožiks letztes Buch im Kinderbuchverlag Berlin. Ihr märchenhafter kritischer Blick auf die DDR kam aber durch die Abschaffung des Staates nicht mehr in den Verkauf. 2011 legte der Eulenspiegel Kinderbuchverlag den Roman vom König und der wahrheitsriechenden Katze neu auf. Flyer von Paul Eckelt,

Ich bedauere sehr, dass mir ihre Bücher und Filme erst so spät begegnet sind. Zu spät für meine Kinder, nicht zu spät jedoch, meinen Enkelkindern Christa Kožiks Geschichten nahezubringen. Neulich passierte das ganz zufällig. Meine Enkelin Lina übernachtete bei uns. Ich sollte ihr vor dem Schlafen etwas vorlesen. Sie suchte sich Kicki und der König aus. Es war wohl der Einband mit Cleo-Petra Kurzes Katze, die eine goldgeränderte Brille in der Pfote schwingt und sehr allwissend aus ihren verschiedenfarbigen Augen guckt, der die Vierjährige anzog. Ich fing also an zu lesen. Das Kind kuschelte sich ein und lauschte. Ich kam aber immer nur ein paar Zeilen voran. „Warum hilft die Katze dem König? Warum hat sie ein blaues und ein gelbes Auge? Braucht sie darum eine Brille? Warum kann die Katze sprechen?“, bombardierte es mich. Als ich am nächsten Tag weiterlesen wollte, nahm Lina mir das Buch aus Hand, schlug es auf und spann ihre eigene Geschichte.

Während Lina erzählte – mehr für sich als für mich – erinnerte ich mich daran, was Christa Kožik bei unserem Gespräch über „Moritz in der Litfaßsäule“ sagte: „Kinder haben eine Schatzkiste im Kopf, mit der sie wunderbare Dinge tun können. Dichten, Musikmachen, tolle Bilder malen. Auf diese schöpferische Kraft, ihre Phantasie, will ich sie aufmerksam machen.“ Wie gut ihr das gelingt, erlebte ich noch einmal vor ein paar Tagen, als Lina sich den Film „Philipp der Kleine“ ansah. Philipps und Trixis kindlich-ernste Unterhaltung über den Tod, als sie den Hamster begruben, brachte Lina auf die Frage, ob sie ihre Uroma vielleicht wieder ausgraben könnte. Ich wollte wissen, warum sie das möchte. „Na, weil ich sie so liebhabe.“ Lina hat die Uroma nie kennengelernt, aber ihr Grab ist auf einem kleinen Friedhof an einem Wald, den sie mit ihren Eltern oft besucht. Und da gefällt es ihr sehr.

„Der verzauberte Einbrecher“,erschien 1994 als Buch, 1996 drehte Rolf Losansky den Film nach dem Drehbuch von Christa Kožik. Szene mit Friedrich (Friedrich Lindner) und dem alten Fischer (Günter Lamprecht) Fotoquelle: Wild Utopia DIF

Für den verträumten Moritz in ihrer Geschichte erfand Christa Kožik die sprechende Straßenkatze, die mit dem Jungen über seine Plagen philosophiert. Im „Verzauberten Einbrecher sagt der alte Fischer zu dem neunjährigen Friedrich: „Du bist nicht zu schwach. Du kannst Geschichten schreiben. Nutze deine Phantasie. Sie hilft dir, stark zu werden. Dann hast du Muskeln im Kopf.“ Das Wunder, das „Philipp dem Kleinen“, der von allen gemobbt wird, widerfährt: Er bekommt eine „Wunderflöte“ geschenkt, lernt sie zu spielen und gewinnt Zutrauen zu sich und plötzlich Anerkennung. Christa Kožiks leise Botschaften kommen leichtfüßig, mit Humor daher. Sie unterhält jedoch nicht mit oberflächlichem Spaß. Es gibt immer eine tiefere Ebene, die auch für die Erwachsenen gedacht sind.

Christa Kožik in ihrem Arbeitszimmer. Linkerhand über dem Schreibtisch ein gerahmtes Foto, das sie im Oktober 1989 in Stockholm mit der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren zeigt. Foto: Heike Niemeier/SUPERillu

Am 1. Januar ist die Schriftstellerin, die Sanftmut ausstrahlt und manchmal melancholisch wirkt, 80 Jahre alt geworden. Als ich sie an ihrem Geburtstag anrief, um zu gratulieren, kamen wir ins Reden. Sie war mit ihrem Mann Christian allein, da wegen der Corona-Pandemie eine Feier mit der großen Patchwork-Familie flachfiel. Sie hat drei Söhne, acht Enkel und eine Urenkelin. Christa Kožik liebt es, ihre Familie um sich zu haben. Der Zustand jetzt macht sie traurig.

Dem Besucher fällt an der Haustür sofort der Aufkleber mit einer Picasso-Friedenstaube auf und das Bekenntnis: Nein zum Krieg

Mir fiel auf, wie wenig ich doch über sie wusste, trotz der langen Zeit, die wir uns kennen. Und ich fragte, ob sie Lust hätte, mir für meinen Blog aus ihrem Leben zu erzählen. Hatte sie. Gern hätte ich sie wieder zu Hause in Babelsberg besucht, mit ihr im Arbeitszimmer gesessen, beim Reden Bilder aus ihren zweimal vierzig Jahren – wie sie ihre Lebenszeit einteilt – angeschaut. Doch das verbot sich. Also beschränkten wir uns aufs Telefonieren in der Woche darauf. Fotos schickte sie mir per Post. Wir sprachen in Fortsetzungen miteinander.

I

Für unser Gespräch hatte sie sich in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen. Ihr Refugium im oberen Stock, in dem sie Ruhe hat zum Schreiben, zum Nachdenken oder Lesen. Ich erinnere mich an den Raum mit unendlich vielen Büchern, Fotos und einem Filmplakat von „Moritz in der Litfaßsäule“ an den Wänden. Zu Beginn erzählt sie, dass sie zu ihrem 80. eigentlich ihre Lebenserinnerungen schreiben wollte. Das angefangene Manuskript läge nun eine ganze Weile schon im Schreibtisch. Auf halber Strecke sei ihr die Luft ausgegangen. Das eigene Leben aufzurollen, all die aufwühlenden Bilder von Toten und Verwundeten heraufzuholen, vom Feuerschein am Himmel, wenn Bomben fielen, dazu fehlte ihr die Kraft. Es ist keine Geschichte, die sie selbst gestalten kann, die nur Spaß macht beim Schreiben.

Die Schriftstellerin und ihr Mann, der Pianist und Musikdozent Christian Kožik, im Juli 2008 Foto: Arwid Lagenpusch

Es sind andere Dinge, die sie jetzt beschäftigen. Ihre ganze Energie braucht Christa Kožik seit Geraumem für ihren Mann. Der Pianist und Musikdozent leidet an einer hochgradigen Spinalkanalstenose. Für ihn da zu sein, ist der 80-Jährigen wichtiger, als dem eigenen Ich nachzuforschen. Sie hat ihre Memoiren zurückgestellt. „Die müssen warten.“ Sie macht eine Pause. „Wir bejammern uns aber nicht. Wir sind im Kopf wach und verschaffen uns gute Momente. Wir ziehen uns etwas Schönes an, lesen viel und tauschen uns aus.“

Goldene Hochzeit 2013 mit den Söhnen Adrian, Sebastian und Dirk (v.l.). Dirk, der Sohn von Christian Kožik, gehört von klein auf zur Familie. Foto: Arwid Lagenpusch

So halten es Christa und Christian Kožik seit ihrem Kennenlernen Silvester 1962. Mit einem Lächeln im Gesicht, das man durchs Telefon spürt, erinnert sie sich. Nur wegen Beethovens 9. Sinfonie hatte sie die Einladung des Fotografen Arwid Lagenpusch angenommen, ihn auf die Silvesterfeier seines Freundes Christian zu begleiten. „Als der junge Mann mit dem Fotoapparat um den Hals mich ansprach, stand ich mit einem Koffer voll Briketts auf dem Bassinplatz in Potsdam. Jetzt kann man darüber lachen. Es war eiskalt und tiefer Schnee im Dezember damals, und man brauchte eine Kohlenkarte, um sich Kohlen zu kaufen. Die hatte ich noch nicht, denn ich war erst ein paar Tage zuvor von zu Hause ausgezogen. Deshalb hatte ich mir Kohlen von meiner Mutter aus Stahnsdorf geholt, jedes Brikett feinsäuberlich in Zeitungspapier gewickelt und in einen Koffer gepackt. Arwid trug mir den Koffer bis vors Haus und malte mir den Abend aus. Sein Freund sei Pianist und hätte alles so organisiert, dass wir ab fünf Uhr Nachmitttags gemeinsam Beethovens 9. Sinfonie im Radio anhören würden, dann würde man reden und tanzen. Feierlich Beethovens 9. anhören – da bin ich weich geworden. Ich war kulturversessen.“

Ein Liebesgedicht für ihren Mann, 1976

Es wurde auch der schönste Geburtstag, den sie je erlebt hatte. Der schwarzhaarige Pianist mit den blauen Augen und dem slawischen Nachnamen kam wie sie aus Schlesien. Er ließ den ganzen Abend die Augen nicht von ihr. Sie sprachen über Musik, Literatur und Kunst. „Ich konnte mit ihm über meine Gedichte sprechen und fand zum ersten Mal jemanden, der sich dafür interessierte. Aber er war auch ein Macho“, lacht sie. „hatte ungewöhnliche Ideen, wie die, dass Arwid, der keine Freundin hatte, ein unbekanntes Mädchen mitbringen sollte, das er auf der Straße ansprach. Ja, so war Christian.“ Seine Küsse, die er ihr um Mitternacht schenkte, schlugen wie kleine Blitze bei ihr ein. „Mit meinem 22. Geburtstag begann für mich der zweite, der gute Teil meines Lebens“, sagt sie, an die gemeinsamen 58 Jahre denkend.

Das Paar 1971 Foto: Arwid Lagenpusch

Am 27. Juli 1963 stand sie mit dem sechs Jahre älteren Musiker vor der Standesbeamtin und wurde Christa Kožik. Christian und Christa schien ihr passend. Im Dezember kam ihr Sohn Adrian zur Welt, drei Jahre später Sebastian. 1963 wurde auch das Jahr, in dem sich die kartografische Zeichnerin aufmachte, eine vielgelobte Lyrikerin zu werden. Dass sie bald auch Kinderbücher und Filmszenarien schrieb, ergab sich einfach. Christian Kožik hat viele Gedichte seiner Frau zu Chansons vertont. Die künstlerische Zusammenarbeit mit ihm sei ein ganz wesentlicher Punkt in ihrem Leben, betont Christa Kožik. Das dürfe ich auf keinen Fall vergessen zu schreiben.

Ich höre Christian Kožik von unten heraufrufen, dass Sebastian auf der anderen Leitung sei. Wir vertagten uns. Das war auch gut so, denn ich wollte mit ihr in die Kindheit zurückreisen, wissen, woher die Traurigkeit kommt, die ihr oft im Blick liegt. Man sieht es auf allen Fotos, immer schaut sie gedankenverloren in die Kamera.

Allen fiel das auf, in der Schule, in der Lehre, im Studium. Sie hört noch die ständige Frage: Christa, wo bist du wieder mit deinen Gedanken? „Ich war überempfindlich, habe gelitten und wusste nicht warum“, erzählt sie. „Oft dachte ich an meinen Vater, nach dem ich mich so sehnte und mir wünschte, er käme zu mir, obwohl ich ja wusste, dass er tot ist. Als kleines Mäuschen trug ich sein Foto in der Schulmappe. Das war mit der Zeit so zerknittert, dass man sein schönes Gesicht kaum noch erkennen konnte.“

Es kümmerte damals keinen, wie es einem kleinen Menschen ging, der Bomben, Tod und so viel Schreckliches gesehen hat. „Man war froh, den Krieg überlebt zu haben und schaute nur nach vorn. Psychische Probleme waren kein Thema. Sattwerden und den Alltag bewältigen, darum drehte sich unser Leben in den 40er und 50erJahren. Da gab es nichts Strahlendes“, erinnert sich Christa Kožik.

II

Es ist eine tragische Familiengeschichte, die sich mir bei unserem nächsten Telefonat auftat. Christa Kožik kam im niederschlesischen Liegnitz, dem polnischen Legnica, zur Welt. Der Vater arbeitete als Streckenwärter, ein ruhiger Mann, der nichts von Krieg hielt. Eines Tages kehrte er von der Arbeit nicht heim. Bei einer Gleiskontrolle hatte ihn ein Zug erfasst. Das war im Januar 1943, kurz nach dem zweiten Geburtstag seiner Tochter Christa. Sie erinnert sich nicht, ob die Mutter weinte oder jemand sagte, dass der Vater tot ist. Aber es hat sich in ihr Bewusstsein gegraben, dass er plötzlich weg war, nicht mehr kam, um sie auf den Arm zu nehmen. Das Kind verlor seine Fröhlichkeit. Ein Kinderfoto vom Mai 1943 zeigt die Zweijährige am Grab ihres Vaters. Ein nachdenkliches kleines Mädchen mit traurigem Blick.

Die zweijährige Christa kann noch nicht verstehen, was tot heißt, warum ihr Vater unter der Erde liegt und nicht wiederkommt

Wie groß das Leid ihrer Mutter war, konnte Christa Kožik erst viel später ermessen, nachdem sie erfahren hatte, was die Mutter ertragen musste. Hedwig Schmidt hatte schon den Vater ihrer Tochter Margot verloren, mit dem sie nach einigen Verhältnissen endlich glücklich zu werden schien. Aber 1933 war nicht die Zeit für die Liebe zwischen einem „arischen“ Mädchen und einem Juden. Ihre Beziehung galt als Rassenschande. Das Paar floh nach Görlitz, um unerkannt sein Kind zur Welt zu bringen. Doch jemand verriet sie an die Gestapo. „Meine Mutter kam ein Jahr ins Frauengefängnis Dresden, weil sie sich weigerte zu unterschreiben, dass sie, eine blonde Schönheit, von dem ,Judenschwein‘ vergewaltigt worden ist.“ Die Spur von Margots Vater verliert sich im KZ Buchenwald. Der Wirtin des kleinen Hotels, in dem Hedwig Schmidt im Oktober1934 entbunden hatte, gelang es, das Baby vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Sie gab es in ein Kinderheim, wo es die Mutter nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis 1936 abholte. „Meine Mutter kehrte traumatisiert zu ihren Eltern nach Liegnitz zurück und lernte zum Glück bald meinen Vater kennen“, erzählt Christa Kožik. Der Streckenwärter Schmidt heiratete die junge Frau, der die Leute „Judenhure“ an die Tür geschmiert hatten, und nahm ihre Tochter Margot als sein Kind an. Das war für beide die Rettung.

Der Krieg näherte sich Liegnitz. Wenn sie das Donnern der Geschütze und das Heulen der Flugzeugbomben hörte, versteckte sich die kleine Christa in einem Pappkarton. Ihr Schutzraum, in dem die Angst keinen Platz hatte. „Ich dachte immer: Warum spielen die so böse Spiele, warum machen die Menschen so böse Sachen. Es wuchs ein Misstrauen gegen die Erwachsenen, das ich als Kind immer hegte.“ Im Januar 1945 begann die Evakuierung der deutschen Bevölkerung aus der Kleinstadt. Dem vierjährigen Mädchen prägten sich schlimme Bilder ein, die es nie loswurde. „Kurz vor Frankfurt/Oder wurde unser Zug bombardiert. Ich weiß noch, wie wir rausgestürzt sind, dabei die Hälfte unserer Sachen verloren. Meine Mutter warf sich über uns. Die Bomben krachten nieder, ich hörte Schreie, sah Verwundete im Schnee liegen.

Zu Fuß schleppte sich Hedwig Schmidt mit ihren beiden Töchtern an den Schienen entlang zum Bahnhof. „Ich wunderte mich über die Bretter, die auf dem Bahnsteig herumlagen“, erzählt Christa Kožik. Dann sah sie, dass es Menschen waren, deren gefrorene Leiber man einsammelte und auf einen Güterzug warf. „Dieses krachende Geräusch ging mir so tief unter die Haut, dass ich das als junge Frau noch nicht verkraftet hatte.“ So sind der Tod und die Bilder des Krieges in vielen ihrer Gedichte zugegen, sie in jungen Jahren geschrieben hat.

Als Kind ging ich gern durch die Blumen
und mochte die Spitzen der Saat.
Da lag auf dem Feld in den Gräsern
Ein junger toter Soldat.

Aus einer schlesischen Kleinstadt
war unser Treck gekommen.
Die Thüringer haben schnell noch
ihre Wäsche von der Leine genommen.

Als ich Brennesseln essen mußte,
fragt’ ich Mutter, ob Gott Winterschlaf hält,
wenn statt blinkender Regentropfen
Eisen vom Himmel fällt.

Der Junge, mit dem ich spielte,
der war am Morgen tot,
weil die Bombe das Haus zerstörte.
Und nachts war der Himmel rot.

Da kamen auch manchmal Kolonnen
mit vergittertem Blick und stumm.
Von Weimar her sind sie gekommen,
und manchmal fiel einer um.

Wir spielten gerne mit Scherben,
die in den Trümmern lagen,
und einer alten Standuhr.
Doch die hat nie mehr geschlagen.

Erst als der Krieg zu Ende war,
wurde mein Schlaf ruhig und tief,
und ich brauchte mich nicht mehr zu fürchten,
wenn ich zum Milchholen lief.

Frühe Kindheit nannte sie dieses Gedicht, das ich in ihrem Lyrik-Band „Tausenddritte Nacht“ fand, den sie mir schenkte. Er war 2001 im Märkischen Verlag erschienen.

Ende Februar 1945 endete für den Flüchtlingstreck aus Liegnitz die Reise bei Jena. Es klingt Christa Kožik noch in den Ohren, wie ihre Mutter schrie: „Paradies, Paradies!“ Die Mädchen sahen aus dem Fenster und konnten nichts Paradiesisches entdecken. Sie waren auf dem Bahnhof Paradies, einem Orteil von Jena, angekommen. Die Flüchtlinge wurden auf Lastwagen verfrachtet und auf die Dörfer verteilt. „Wir landeten in Wogau, da gab es 13 Bauernhöfe. Auf unserem Hof war kurz zuvor noch ein Lazarett gewesen.“ Fast symbolisch erscheint heute ein Kinderfoto, das sie im Mai 1945 bei strahlendem Sonnenschein lachend in einer Zinkbadewanne zeigt.

Es waren glückliche Tage, die das Kind auf dem Bauernhof in Wogau erlebte. Christas liebste Spielgefährten waren die Katzen. Diese selbstbewussten Tiere liebt sie auch heute noch.

Im September 1947 kam sie in die Schule. Sie war wissbegierig, lernte sehr schnell und durfte als Fünftklässlerin dem Lehrer helfen und die Kleinen aus der ersten Klasse unterrichten. „Dieses Lernprinzip, dass ältere Schüler ihr Wissen jüngeren vermitteln, habe ich 1979 auch in Kuba erlebt. Da war ich mit einer DEFA-Filmdelegation und meinem Film ,Sieben Sommersprossen’ zu einem Filmfestival“, flicht sie ein. Die Schule machte sie glücklich. Von ihrem Lehrer bekam sie Bücher, die für sie Rettungsboote, Türen und Fenster zur Welt wurden. Sie machten ihre kleine Welt auf dem Dorf groß.

1953 zog Hedwig Schmidt mit ihrer Tochter Christa zum Onkel nach Stahnsdorf bei Potsdam. Ein sterbenskranker, alter Mann, der Platz in seinem Haus hatte, aber nicht mehr allein für sich sorgen konnte. Seine Pflege oblag dem Mädchen. „Ich musste ihn waschen, windeln – von einer schönen Kindheit konnte nicht die Rede sein. Mir blieb keine Zeit für Freundinnen, ich stand deshalb immer abseits.“ Es ging auch nicht anders. Die Mutter fuhr jeden Tag zur ihrer Arbeit als Verkäuferin ins Kaufhaus nach Potsdam. Sie hatte keinen Nerv für die Bedürfnisse ihrer Tochter. Die musste funktionieren. Bücher waren Christas einziges Vergnügen. Trotz allem schaffte sie es, als eine der Besten auf die Erweiterte Oberschule zu kommen. Sie wollte das Abitur machen, studieren. Aber die Mutter verlangte, dass sie zum Lebensunterhalt beiträgt. „Das gnädige Fräulein will wohl was Besseres werden“, rieb sie dem Mädchen unter die Nase. „Der Krieg hatte meine Mutter zerstört. Durch das große Leid ist sie hart und böse geworden, und ich kann es ihr nicht verdenken“, sagt Christa Kožik, „Aber sie als junger Mensch immer zu verstehen, das ging nicht.“ Erst als sie ihr eigenes Leben hatte, eine Familie, konnte sie mit der Mutter ihren Frieden machen.

Aus „Tausendunddritte Nacht“, Märkischer Verlag Wilhelmshorst 2001

Damals aber,1957, fügte sich die 16-Jährige sich. Sie verließ nach der 10. Klasse die Schule, lernte kartographische Zeichnerin und begann am Staatlichen Geologischen Institut in Berlin zu arbeiten. Was wie eine zerplatzte Zukunft aussah, wandelte sich zum Guten. Sie war im Brennpunkt der Künste. Täglich kam das junge Mädchen am Antiquariat neben dem Dorotheenstädtischen Friedhof vorbei, kaufte sich für ein paar Pfennige Bücher, vor allem Gedichte von Friedrich Hölderlin, Charles Baudelaire, Annette von Droste-Hülshoff, Edith Södergau, Else Lasker-Schüler… „Sie gaben mir Trost. Ich schleppte ja diese ganze Traurigkeit meiner Kindheit mit mir herum und habe mich nie wohlgefühlt.“ Irgendwann verspürte sie den inneren Drang, ihr Seelenleben selbst in Gedichten auszudrücken.

III

Dann kam das Jahr 1963, in dem sich für Christa Kožik die Ereignisse überstürzten. Sie hatte nicht nur ihren Mann kennengelernt, geheiratet und ihren ersten Sohn geboren. Die 22-Jährige folgte einem Aufruf der FDJ an junge Leute, für den 1. Potsdamer Lyrik-Abend Gedichte einzusenden und wurde mit ihren Wintergedichten eingeladen. Amüsiert erinnert sie sich an ihren Auftritt am 22. Februar im Potsdamer Klubhaus „Walter Junker“. Die Platzanweiserin am Eingang wies sie ab, es sei alles voll. Sie könne ja draußen stehen bleiben, es würde alles übertragen. „Naiv wie ich war, dachte ich: wenn die das sagt und bin weggegangen. Dann klopfte aber mein preußisches Pflichtbewusstsein. Was ist, wenn man da drinnen auf mich wartet? Also bin ich zurück, nahm meinen ganzen Mut zusammen und entgegnete: Ich soll doch hier lesen! Mit einem Aufatmen: Ach, Sie sind das, die noch fehlt, schubste mich die Frau vom Einlass in letzter Minute auf die Bühne.“

Da stand sie nun, zierlich und schüchtern in ihrem weitausgestellten Kleid – damals trug man Petticoats – mit Hochsteckfrisur und Wespentaille, ein bescheidenes Mäuschen wie auf einem Tablett, und dachte: Jetzt bist du in der Falle. Hier kommst du nicht weg. Doch tapfer trug sie ihre Gedichte vor.

Christa Kožik am 22. Februar 1963 auf dem 1. Potsdamer Lyrik-Abend im Klubhaus „Walter Junker“. Im Hinteregrund der bekannte Arbeiterschriftseller Hans Marchwitza Foto: privat

Es geschah ein Wunder: keine Buhrufe, kein betretenes Schweigen, wovor sie so große Angst gehabt hatte. Das Publikum war begeistert, klatschte laut . Am nächsten Tag zitierte die Bezirkszeitung „Märkische Volksstimme“ die bekannte Lyrikerin Gisela Steineckert: „Christa Schmidt, die kleine Schüchterne mit ihren Wintergedichten war für mich das Talent des Abends.“ Daneben ein Gedicht und ein Foto der „Försterin mit dem lyrischen Talent“, wie darunter stand. „Ich hatte nach dem Mauerbau meine Stelle in Berlin aufgegeben und ans Forstinstitut gewechselt. Försterin war mein Dienstgrad“, erklärt mir Christa Kožik. An jenem Abend öffneten sich für sie erneut Türen, die ihre Welt größer machten. Diesmal in der Realität.

Die Karriere begann ihren Lauf zu nehmen. Die junge Poetin wurde zum 2. Lyrik-Abend im Berliner Filmtheater Kosmos eingeladen, auf dem sie Schriftsteller Volker Braun, Kurt Bartel, Sarah und Rainer Kirsch, Jens Gerlach und viele andere prominente DDR-Künstler kennenlernte. Eine Freundschaft verband sie bald mit dem Schriftsteller Willi Meinck, dessen Abenteuerroman „Die seltsame Reise des Marco Polo“ zu den beliebtesten Jugendbüchern in der DDR gehörte. „Er war für mich ein geistiger Vater und Vaterersatz“, beschreibt sie ihn. Ein großes Erlebnis wurde für sie 1983 ihre gemeinsame Literaturreise nach Sri Lanka. Ein beidseitiger Kulturaustausch, der seit der Anerkennung der DDR regelmäßig stattfand. Ihre Reiseeindrücke fasste sie in Gedichte. „Das war Pflicht. Am Ende musste man etwas schreiben.“ Sie rezitiert ein paar Zeilen aus ihrem Gedicht „Nacht in Kandy“:

Immer fällt er aus heiterem Himmel,
der Regen fällt plötzlich ein in diese
blütenschwere Verschwendung des Gartens,
so wie der Tag hier in die Nacht fällt
ohne den dämmernden Übergang.
Doch schon nach wenigen Minuten versiegt er, und
er zieht dunkle Stille ein…

Nur der Coha schreit plötzlich auf,
undim Tal der Könige schläft die
Vergangenheit,wie vorzeiten sirren
Zikadenb, ein geheimer nächtlicher Chor
wispert die Lebens- und Todeslieder vom
allzuraschen Blühn und Vergehn
und vom selig ersehnten NICHTS

Eine besondere Episode, die ihr einfällt, war die Einladung zu Lotte Ulbrichts 60. Geburtstag am 19. April 1963. Die Frau des DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht und Vorsitzende des Demokratischen Frauenbundes Deutschland (DFD) hatte im „Neuen Deutschland“ Christa Kožiks Verse „Ihr Mädchen von 17 und älter“ gelesen und wollte die junge Dichterin kennenlernen und lud sie ein. „Ich selber fand das Gedicht nicht so toll. Aber ich hatte wohl den Nerv der Zeit getroffen. Da sind so Zeilen drin wie: Es ist unsere Zeit, die euch streichelt, sie gibt euch den festen Blick… Ihr habt die Zeit überrundet, seid kein Gefühlsdepot. Das Glück wird euch nicht mehr gestundet, Ihr nehmt es euch täglich en gros…“ spricht sie in den Telefonhörer und lässt mich wie schon so oft über ihr gutes Gedächtnis staunen.

Weil sie so schüchtern war, wollte sie da eigentlich nicht hin. Die Einladung abzulehnen, hätte sie aber nicht anständig gefunden. Von ihrer Mutter wurde sie erzogen, Respekt und Anstand zu wahren. Also schrieb sie ihr Gedicht in schöner Handschrift auf und überreichte es Lotte Ulbricht in einer Mappe. Die viel Kleinere legte dem schüchternen Mädchen die Hand auf die Schulter und fragte: „Sag mal, Christa, wie bist du denn darauf gekommen?“ An ihre Antwort kann sie sich heute nicht mehr erinnern. Aber daran, dass die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ das gefilmt hat. „Es war mir unangenehm, mich im Kino zu sehen. Andererseits war ich stolz, dass meine Poesie so gelobt wurde und ich damit Anerkennung und Mut fürs Weiterschreiben hatte.

Auszug aus dem Gedichtband „Tausendunddritte Nacht“. Erstmals erschienen diese und andere Gedichte 1980 von Christa Kožik in der der Lyrik-Reihe „Poesiealbum“ im Heft 158 mit Illustrationen von Ruth Mossner

Der Schriftsteller Franz Fabian, der ihre Wintergedichte für den 1. Potsdamer Lyrik-Abend ausgewählt, holte die begabte Nachwuchspoetin in den „Zirkel schreibender Arbeiter“ des RAW Potsdam. Namhafte Autoren wie Brigitte Reimann, Christa und Gerhard Wolf und Heiner Müller leiteten diese Literaturzirkel, die nach der „Bitterfelder Konferenz“ 1959 überall im Land entstanden. Man diskutierte über Theater, Bücher und lernte, selbst zu schreiben. „Das machte mir nach der Arbeit riesigen Spaß. Und es war für mich ein wunderbarer literarischer Kindergarten“, sagt Christa Kožik heute. Sie habe da die Grundlagen des schriftstellerischen Handwerks erlernt. Ihre Begabung lag auf der Hand, und man delegierte sie in die „Arbeitsgemeinschaft junger Autoren“ des Schriftstellerverbandes Potsdam. „Ich habe irgendwie immer das Glück gehabt, gute Menschen zu finden, die klug waren, die mich geleitet haben“, rekapituliert sie.

Nach der Geburt ihrer Söhne war sie fünf Jahre zu Hause. „Ich habe viel geschrieben in dieser Zeit, und das war ganz wichtig für mich.“ Gedichte, Erzählungen und vor allem Kindergeschichten entstanden, für die sie bei ihren Jungs „nassauerte“. „Bis zu ihrem 14. Lebensjahr habe ich Tagebücher über sie geschrieben und bewundert, was sie an Phantasie hatten. Was die alles rausgehauen haben!“, erinnert sie sich lachend. Ihr Sohn Adrian gab den Anstoß für das Buch „Moritz in der Litfaßsäule“, das seine Mutter 1979 schrieb. An seinem zweiten Schultag war der Sechsjährige ausgebüxt. Als die Eltern ihn spielend im Park fanden und fragten, warum er weggelaufen sei, antwortete der kleine Kerl nur: „Es hat mir nicht gefallen. “ Der Schlüsselsatz in der Geschichte von Moritz.

IV

Im Schreiben fand Christa Kožik ihre schöpferische Kraft, die sie stark machte, sich dem zu stellen, was dem Kind und der jungen Frau die Unbeschwertheit genommen hatte. Vielleicht resultiert daraus das Bedürfnis, sich in ihren Geschichten vor allem Kindern zuzuwenden, die sich allein, unverstanden fühlen, die am Rande stehen und Zuspruch brauchen, um sich nicht unterkriegen zu lassen von den Realitäten, die sich vor ihnen aufzutürmen scheinen.

1970 drehte der DEFA-Regisseur Kurt Weiler nach ihrem Szenarium den Kurzfilm „Der Löwe Balthasar“ für die Reihe „Basteln für Kinder“ Foto: Erich Günther/DEFA-Stiftung

1969 ergab sich für die zweifache Mutter die Chance, als Assistentin im DEFA-Kurzfilmstudio zu arbeiten. Ihre Jungs waren aus dem Gröbsten raus, konnten in den Betriebskindergarten. Wieder ein Schritt weiter auf dem Parkett, auf dem sie ihr Talent entfalten konnte. In der Abteilung für Kinderkurzfilme entwickelte sie Szenarien für Trickfilme und kleine Spielfilme. Dass sie mehr konnte, wurde schnell erkannt, und das Studio delegierte sie zum Dramaturgie-Studium an die Filmhochschule. Das absolvierte sie neben der Arbeit in einem Frauensonderstudium, einer staatlichen Fördermaßnahme neben vielen anderen, die es berufstätigen Müttern ermöglichten, sich ihre Wünsche nach höherer Bildung und Qualifikation zu erfüllen.

Mit der Gründung der DDR hatte im Osten Deutschlands das Jahrhundert der Frauen begonnen, ihre Emanzipation und Bildung in jeder Weise zu fördern, wurde eine gesellschaftliche Hauptaufgabe. „Ich hatte das Glück, zu den Frauen der Nachkriegsgeneration zu gehören, denen die Gleichberechtigung selbstverständlich und wie auf die Haut gewachsen war. Doch diese Selbstverständlichkeit im Familienalltag auszuleben, ließ sich trotz guter Gesetze für uns Frauen nicht so einfach umsetzen.“ Sie konnte da aus eigener Erfahrung schöpfen, musste sie doch Haushalt, Kinder, Arbeit und Studium allein schmeißen. Ihr Mann Christian lebte das althergebrachte Rollenbild. „Dieses Los teilte ich mit Millionen anderer Mütter. Aber man entwickelt ja als junger Mensch ungeheure Kräfte, um sein Ziel zu erreichen. Diese Förderung und zum Lernen und zur Bildung genötigt zu sein, hat mir so gutgetan. Ich war eingebettet und konnte mein Talent entwickeln.“ Dafür brauchte es keine Forderungen nach Quoten und Paritäten, keine Verkrüppelung der Sprache mit Gendersternchen & Co. „Wir Frauen hatten zum Selbstbewusstsein gefunden und fühlten uns keineswegs durch den Gebrauch des generischen Maskulinums diskriminiert.“

Christa Kožik hat mehr erreicht, als sie sich je vorgestellt hat. Nach dem Abschluss ihres Studiums 1976 an der Babelsberger Filmhochschule hat sie 1977 noch ein Jahr am Literaturinstitut Leipzig drangehängt. Ihre Abschlussarbeit wurde das Kinderbuch „Moritz in der Litfaßsäule“, das sich seit seinem Erscheinen 1980 ungebrochener Beliebtheit erfreut. Der LeiV Kinderbuchverlag Leipzig hat es jetzt anlässlich ihres 80. Geburtstags als Neuauflage zusammen mit dem „Verzauberten Einbrecher“, „Ein Schneemann für Afrika“ und Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ in sein Lesebuch-Programm aufgenommen.

Ihr literarisches und filmisches Schaffen ist ein poetischer und ungeschönter Zeitzeuge einer Gesellschaft, die 40 Jahre lang das Beste für die Menschen anstrebte, aber an sich zerbrach. „Ich fühlte mich in der untergegangenen sozialistischen Gesellschaft privilegiert. Dafür brauchte ich kein Parteibuch. Es ging mehr in der DDR, als man uns heute weismachen will.“ Der Mensch sei ihr wichtig, nicht eine Weltanschauung, die nie ideologisch wertfrei ist. Ihre Sicht auf die Welt ist eine marxistische. „Ich weiß, wo meine Wurzeln sind“, sagt sie. „Meine Mutter hat mir eingetrichtert, das nie zu vergessen. Ihre Rede war: Wir sind arme Leute und der Staat tut etwas für die Armen, auch wenn er nicht vollkommen ist. Das war mir immer plausibel durch Erlebnisse, die ich hatte, und Menschen, die ich kennenlernte. Ich bin mit meinem ganzen Lebenslauf ein Kind der DDR.“

In der Zeit intensivster Kreativität und mit der Anerkennung, die ihr lange versagt geblieben waren, legte sich ihre Traurigkeit. „Ich habe sehr in der Gegenwart und nach vorn gelebt“, sagt sie. Mit 38 Jahren erhielt sie den „Nationalpreis für Kunst und Literatur“ der DDR. Eine Auszeichnung auf die sie stolz ist. Im selben Jahr reichte sie ihr Szenarium für einen biografischen Film über Friedrich Hölderlin ein. Eine Herzenssache, die der Liebe zu seinen Gedichten entsprang, die sie mit 16 Jahren regelrecht verschlungen hatte. „Seine Sprache war wie Opium für mich, beim Lesen kam ich in so einen wohltuenden Rausch und konnte alles Bedrückende vergessen“, verrät sie. Weil die DEFA auch marktwirtschaftlich denken musste und der Film Addio, piccola mia“ über das Leben von Georg Büchner gerade gefloppt war, musste sich Christa Kožik fünf Jahre in Geduld üben. 1984 durfte Herrmann Zschoche, der sich für die Regie beworben hatte, „Hälfte des Lebens drehen, mit Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann in den Hauptrollen.

Nadja Klier, die die Gritta spielte, ist heute Fotografin Foto: Waltraut Pathenheinmer/DEFA-Stiftung

In der Zwischenzeit schrieb sie die Drehbücher für ihren Kinderfilm „Trompeten-Anton“, den Märchenfilm „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“ nach dem Kinderbuch von Gisela und Bettina von Arnim, sowie den weniger bekannten Spielfilm „Grüne Hochzeit“. Wochenlang hat sie sich über die Engelslehre in der Gegenwart und Geschichte belesen und schließlich ihr wohl schönstes Kinderbuch „Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ zu Papier gebracht. Diese Gewissenhaftigkeit, mit der sie das Thema anging, ist eine Eigenart von ihr. „Ich musste es ganz genau wissen, um so zu schreiben, dass ich nicht anecke, weil ich ja manches ironisch betrachte. Das einzuordnen fällt manchen schwer.“ Dass sie von der Kirche gelobt und zu Lesungen eingeladen wurde, hat sie dann doch erstaunt.

V

Dann kam die Wende 1989 und der Westen übernahm die Regentschaft über den Osten Deutschlands. Es wurde alles ausgelöscht, was nur im Entferntesten an den sozialistischen Staat erinnern könnte. Und das waren vor allem Bücher. „Sie fielen der großen Säuberung von DDR-Literatur zum Opfer. Zu Hunderttausenden wurden sie aus den Lagern direkt auf die Müllhalden geworfen.“ Christa Kožik bedient sich bewusst der Vokabeln, die an ungute Zeiten der jüngeren Geschichte erinnern. „Wir DDR-Autoren waren plötzlich heimatlos. Der Kinderbuchverlag kam in westdeutsche Hände. Es gab kein Interesse an unserer Mitarbeit“, sagt sie.

Manche hat das bitter gemacht. Christa Kožik wollte nicht verbittern. Sie holte sich die Rechte ihrer Bücher zurück und fand andere Verlage. Ihr Katzenroman „Kicki und der König“, der 1990 auf dem Müll statt in den Buchläden landete, erschien 1991 beim Hochverlag Stuttgart. Auch von ihren anderen Kinderbüchern „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“, „Ein Schneemann für Afrika“, „Moritz in der Litfaßsäule“ und dem „Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ erschienen ab Mitte der 90er Jahre Neuauflagen. Auf die Frage eines westdeutschen Journalisten, wie es denn sein konnte, dass so ein subversives Buch in der ideologisch atheistisch ausgeprägten DDR durch die Zensur kam, antwortete sie: „Wenn man nur hartnäckig genug war, hat man alles durchgebracht. Heute“, weiß sie aus Erfahrung, „nützt alle Hartnäckigkeit nichts, wenn ein Entscheider meint, es gäbe keinen Markt für das Thema, oder wenn er es aus ideologischen Gründen ablehnt. Da bist du raus.“

Natürlich war es ein Tabubruch, in einem DDR-Kinderbuch einen Engel agieren zu lassen. Doch Christa Kožik erzählt die sieben biblischen Geschichten ganz irdisch. „Ich bin nicht religiös“, sagt sie. „Es geht in der Begegnung von Lilli und dem Engel, den sie mit in die Schule nimmt, um Wertschätzung, um die Toleranz anderer Auffassungen.“ Etwas, das sie sich für die jetzige Zeit, in der sich die Gesellschaft durch intolerantes und identitäres Verhalten aufspaltet, sehr wünscht. „Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ erschien 1983 in 20tausender Auflage im Kinderbuchverlag Berlin und war bald vergriffen. Der westdeutsche Arena Verlag Würzburg wollte es 1985 nachdrucken. Nachdem die Lektoren aber alles gestrichen haben, was ihnen anrüchig erschien, wie das „Rote Rathaus“ oder die marxistische Auffassung vom Tod, zog Christa Kožik ihre Genehmigung für den Abdruck zurück. Diese Verstümmelungen hatten den Sinn der Geschichte entleert. Das konnte sie nicht zulassen und verzichtete auf ziemlich viel (West)-Geld.

Die schwedische Übersetzung des Buches brachte ihr im Oktober 1989 eine Begegnung mit der von ihr verehrten Kinderbuchautorin Astrid Lindgren. „Ich hatte auf dem Sprachkongress der Ostseestaaten in Stockholm einen Vortrag über die DDR-Kinderliteratur gehalten und wurde im Anschluss von Astrid Lindgren eingeladen, sie zu besuchen. Das war eine Sternstunde! Zu einem Gegenbesuch im Kinderbuchverlag kam es nicht mehr. Als ich nach Hause kam, ging mein Land verloren.“ Ich erinnere mich an das Foto, das beide Autorinnen im Haus von Astrid Lindgren zeigt.

VI

Es erschien ihr ab den 1990er Jahren selbstverständlich, sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen, wie sie es immer getan hat, und sich mit neuen Geschichten in die gesamtdeutsche Kinderliteratur einzubringen. „Ich wollte humorvoll, ironisch, phantasievoll und kritisch in die Kinderwelt blicken, die nun eine ganz andere war. In der es plötzlich wichtig wurde, wieviel Geld die Eltern hatten, ob man Markenturnschuhe trug oder einen Markenranzen besaß. Viele Kindern lernten Armut kennen.“ Es ließ sich hoffnungsvoll an, nachdem 1994 ihre Geschichte „Der verzauberte Einbrecher“ erschien und Rolf Losansky 1996 bei der Babelsberger Antaeus Film GmbH den gleichnamigen Kinofilm drehen konnte. „Das war unser letzter Film, obwohl Rolf und ich schöne Projekte angeboten haben“, sagt sie, es klingt resigniert. Sie hatte 1990 ihr Drehbuch für den Kinderfilm „Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ bei der DEFA eingereicht, als die international renommierten Filmstudios bald darauf privatisiert und sie 1991 nach 15 Jahren als festangestellte Filmautorin entlassen wurde. Ihr Drehbuch war für die neuen Eigentümer Makulatur. Christa Kožik hofft leise, dass sich doch noch eine Produktionsgesellschaft dafür findet. Es wäre ein absolut aktueller Film.

Die Autorin und der Kinderfilmregisseur 2013 beim Aussuchen von Fotos ihrer gemeinsamen Filme Quelle: „Abgedreht“-Reihe von Elias Franke

Für die literarische Fortsetzung der Geschichte hat sie bislang auch nur Absagen bekommen. Sie greift darin die fremdenfeindlichen Brandanschläge auf türkische Familien 1992 in Mölln und 1993 Solingen auf, bei denen auch Kinder ums Leben kamen. In dem neuen Buch verlässt ihr Engel die Erde mit verbrannten Flügeln, nachdem er noch ein kleines Kind aus einem Asylbewerberheim gerettet hat. Kein Kinderbuchverlag in diesem Land wollte das drucken. Ein Engel mit verbrannten Flügeln – das könne man den Kindern nicht anbieten. Sie solle doch lieber etwas über Schutzengel schreiben, riet man der renommierten Kinderbuchautorin. Genauso erging es ihr mit ihrer heiter-ironischen Geschichte „Lilli lebt gefährlich“, die von einem Mädchen erzählt, das die Nase voll hat von ihren phlegmatischen Eltern, die im Trainingsanzug vor der Glotze sitzen und saufen. „Diese harten Tatsachen will man in einem Kinderbuch nicht haben. Die sollen schön unter der Decke bleiben.“ Die Arroganz und Ignoranz, die der Ost-Autorin entgegenschlugen, ließen sich schwer aushalten. „Es war so demütigend“, sagt sie, und das hallte nach. „Wenn man immer nur Absagen bekommt, ist das der Tod der Kreativität.“

Den DEFA-Kinderfilm „Moritz in der Litfaßsäule“ schufen Rolf Losansky und Christa Kožik 1982/83. Er ist wie das Buch ungebrochen populär Foto: Jürgen Weyrich

In ihrer schriftstellerischen Aktivität ausgebremst, verdiente sie ihr Geld zwei Jahrzehnte mit Lesereisen. Woche für Woche war sie in einem Radius von Flensburg bis Zürich, von St. Gallen bis Frankfurt/Oder unterwegs. In der Schweiz waren ihre Bücher schon in den 80ern erschienen und sehr beliebt. Sie reiste mit dem Zug und sah auf den Bahnhöfen viel Elend. „Ich spielte mich nervlich und körperlich kaputt. Irgendwann waren die Energien aufgebraucht. Andererseits“, sagt sie, „haben mir die Lesungen mit den Kindern Spaß gemacht. Das war so aufbauend, zu wissen, dass meine Bücher die Zeit überdauern.“

Kinder schreiben ihr Briefe, in denen sie von sich erzählen und wie froh sie sind, dass jemand über kleine Menschen wie sie schreibt, die es nicht immer guthaben, denen die Schule schwerfällt, die „geschieden“ sind. Ich frage, ob ihr die bitteren Erfahrungen den Mut genommen haben, ob sie aufgeben will? Nein, wenn sie wieder Kraft genug hat, nimmt sie einen neuen Anlauf, eine Verlag zu finden. Gerade die Geschichte von Lilli, die viele Kinder in der heutigen Zeit erleben, ist ihr zu wichtig, um es nicht wieder zu versuchen. Sie hofft auf den LeiV Kinderbuchverlag Leipzig, der ihr verbunden ist, Optimistisch sagt sie: „Ich denke, wenn die Welt nicht ausstirbt, wird es immer Kinder mit einer so wunderbaren Phantasie geben, dass wir Erwachsene staunend zusehen.

Eine unvergängliche Liebe – „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“

Nach langem habe ich wieder einmal einen Lieblingsfilm meiner Kindheit gesehen. Im Fernsehen lief das tschechische Märchen „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“. Ein Facebook-Post hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Und ich saß – wohl nicht allein – wie einst versunken vor dem Bildschirm. 217 Herzchen-Likes stehen unter dem Facebookpost, er wurde 15mal geteilt. „Darf ich nicht verpassen.“ „Ja, muss sein“, heißt es in den vielen Kommentaren. Seit seiner Uraufführung am 18. Dezember 1959 wird der tschechoslowakische Märchenfilm alle Jahre wieder in der Weihnachtszeit gespielt. Obwohl ihm Regisseur Martin Frič keine große Bedeutung beimaß, gehört der Film heute zum tschechischen Kulturerbe. In der DDR kam er am 21. Oktober 1960 in die Kinos, lief am 21. Dezember 1961 erstmals im Fernsehen. Die Kinder von damals sind heute Großeltern und haben ihre Liebe für den Film weitergegeben.

Vor zehn Jahren lernte ich „Prinzessin Lada“ und „Prinz Radovan“ in Prag kennen. Wie habe ich als Kind für sie geschwärmt, Szenen nachgespielt, aber im Traum nicht daran gedacht, dass ich ihnen einmal begegnen werde. Und dann, 50 Jahre später, wurde es sogar mehr. Wir schlenderten durch das winterliche Prag und in mir wirbelten die Glückshormone nur so. Marie Kyselková und Josef Zíma, damals 74 und 77 Jahre alt, erzählten von den Dreharbeiten, einem Kuss-Verbot, was sie fühlten… Aber nun alles der Reihe nach.

Ein unbeschreibliches Gefühl. Ich sitze zwischen Prinzessin Lada (marie Kyselková) und Prinz Radovan (Josef Zíma) im Salon des Savoy-Hotels © Boris Trenkel

Der 3. März 2010 war ein kalter Tag. Wir hatten uns im altehrwürdigen Hotel Savoy auf der Prager Kleinseite verabredet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie nervös ich war. Werde ich sie überhaupt erkennen? „Wirst du schon“, beruhigte mich Gabriela Oeburg, die uns als Dolmetscherin half, einander zu verstehen. Und es fügte sich. Schauspieler Josef Zíma trat zuerst in die Lobby. Er wirkte auf mich ebenso freundlich, sympathisch und zugewandt wie Prinz Radovan. „Ist meine Prinzessin schon da?“ fragte er erwartungsfroh. In dem Moment kam sie. Eine kleine Frau mit einem silbergrauem Kurzhaarschnitt und strahlenden Augen. Sie erzählten und lachten, konnten einander nicht sattsehen. Zwei schöne alte Menschen, die eine bewundernswerte Lebenslust ausstrahlten.

Die Schauspielerin nippte an einem Glas Weißwein, vor Josef Zíma stand eine Cola. Im Dezember 20019, zum 50-jährigen Jubiläum der „Prinzessin mit dem goldenen Stern“, hatten sie sich das erste Mal wieder getroffen. Beiden schlug das Herz bis zum Hals, wie sie mir verrieten. „Ich war so neugierig, wie meine Prinzessin aussieht, sie war so schön“, sagte der Schauspieler und fügte mit liebevollen Blick auf Marie Kyselková hinzu: „Sie ist es noch. Ich treffe sie so gern. Sie mich auch, hoffe ich.“ Marie Kyselková bejahte. „Es war sehr, sehr schön, wie heute auch. Die Erinnerungen sind so reich, die man nach so vielen Jahren austauscht. Und niemand hat uns das Küssen verboten!“ lachte sie. „Wir treffen uns jetzt öfter.“ Wieso war Küssen verboten, wollte ich wissen. Mit verschmitztem Blick klärte mich die Schauspielerin auf: „Ich wollte im Film so gern einen Kuss von Pepiček bekommen. Der Regisseur sagte: ,Nicht vor der Kamera. Hinter der Tür kannst du ihn küssen, soviel du willst.’ Am Ende gestattete er uns einen Hochzeitskuss.“

Für Regisseur Martin Frič war damals, 1959, ganz anderes wichtig. Er wollte so dezent wie möglich den ideologischen Auftrag erfüllen: Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Es war die Zeit, in der Ideologie die Kultur beherrscht hat, selbst Märchenfilme. „Im Film lehnt sich das Volk gegen Kazisvět auf. Die ideologische Absicht war nicht vordergründig, aber man merkt die Momente“, sagte Marie Kyselková, die den Film inzwischen mit der Erfahrung gesellschaftlicher Umbrüche in ihrem Land sieht. „Frič hätte sonst die wunderschöne poetische Liebesgeschichte, die der Hauptinhalt ist, nicht verwirklichen können.“

Martin Fričs Geschichte von der Prinzessin Lada, erinnert mich an das Grimmsche Märchen „Allerleirauh“ . Darin flieht die Prinzessin allerdings vor dem Begehren ihres Vaters, sie zur Frau zu wollen. Er hatte seiner Gemahlin am Sterbebett versprechen müssen, erst wieder zu heiraten, wenn er eine Frau fände, die so schön wie sie sei. Nach langem vergeblichen Suchen stellt der König fest, dass nur seine Tochter die Schönheit ihrer Mutter besitzt…

Das Märchen von der „Prinzessin mit dem goldenen Stern“

König Hostivít (František Smolík) bittet seine Tochter, Prinzessin Lada (Marie Kyselková) König Kazisvět (Martin Růžek) zu heiraten © DEFA-Stiftung

Die anmutige und gütige Prinzessin Lada wurde um des lieben Friedens willen von ihrem gebrechlichen Vater dem kriegerischen Nachbarn, König Kazisvět VI. , als Braut versprochen. Doch sie will diesen Unhold nicht heiraten und stellt ihm die unlösbare Aufgabe, drei Kleider nähen zu lassen, das erste aus den morgendlichen Sonnenstrahlen, das zweite aus dem Himmel eines Sommertages und der Stoff des dritten sollte aus der Sanftheit einer Sommernacht gewebt sein. So schön und prächtig die Gewänder auch sind, sie erfüllen nicht Ladas Bedingungen. Sie weist sie zurück. Nun droht Kazisvět ihrem Vater, das Königreich mit Krieg zu überziehen, wenn die Prinzessin nicht in die Hochzeit einwilligt.

Die Amme (Jarmila Kurandová) hilft ihrem Liebling zur Flucht aus dem Schloss. Sie versteckt Ladas Schönheit unter einem Mantel aus Mäusefellen, sodass niemand sie erkennt. © DEFA-Stiftung

Die Amme weiß Rat. Sie gibt Lada ein Cape , das aus Mäusefellen genäht wurde. Die Kapuze verdeckt den goldenen Stern und auch sonst ist nichts mehr von der Schönheit der Prinzessin zu sehen. So unscheinbar gemacht, flieht Lada aus dem Schloss. Sie findet Unterschlupf am Hof des Prinzen Radovan und verdingt sich als Küchenmagd. Doch wie es in einem Märchen kommen muss, verliebt sie sich in den Prinzen. Als ein Ball veranstaltet wird, auf dem er seine zukünftige Gemahlin finden will, schlüpft sie in ein schönes Kleid und geht zum Fest.

Prinz Radovan (Josef Zíma) läuft der unbekannten Schönen in den Garten nach und gesteht ihr seine Liebe © DEFA-Stiftung

Natürlich verliebt sich Radovan in die unbekannte Schöne. In einem berührenden Lied gesteht er ihr seine Liebe und sie tauschen die Ringe, bevor sie sich trennen. Es blieb nicht aus, dass König Kazisvět zu Ohren kam, wo sich Prinzessin Lada aufhält. Er macht sich mit seinem Heer in das Reich des Prinzen auf und verlangt von Radovan, ihm Lada herauszugeben. Doch der weigert sich, da er inzwischen wusste, wer das „Mäusepelzchen“ in seiner Küche ist.

König Kazisvět (František Smolík) fordert von Prinz Radovan die Herausgabe der Prinzessin © DEFA-Stiftung

Schließlich tritt Lada in ihrem Umhang vor den König und sagt, dass sie die Prinzessin sei. Kazisvět empört sich, dass man ihm dieses hässliche „Ding“ als Prinzessin Lada geben will und erklärt, dieses Mäusepelzchen nicht haben zu wollen. Da schlägt Lada die Kapuze ihres Mantels zurück und der funkelnde Stern wird sichtbar. Wütend, so hinters Licht geführt worden zu sein, beginnt Kazisvět einen Kampf mit Prinz Radovan. Keine Frage, dass er von Radovan besiegt und davon gejagt wird.

Alles nimmt ein glückliches Ende. Lada ist dem Koch nicht böse, veleiht ihm sogar einen Orden. © DEFA-Stiftung

Der Hochzeit der Liebenden steht nun nichts mehr im Wege. Bevor es jedoch soweit ist, fällt der Koch vor der Prinzessin auf die Knie und entschuldigt sich, dass er manchmal etwas hart zu ihr war. Lada verzeiht ihm und verleiht ihm die „Mäusepelzchen-Orden“.

Was geschah nun bei den Dreharbeiten?

Blick vom Hradschin auf die Karlsbrücke. Zärtlich hält Josef Zíma seine Filmprinzessin Marie Kyselková im Arm © Boris Trenkel

Wir beschlossen, zur Prager Burg hinaufzusteigen. Sie liegt nur ein paar Schritte vom Hotel entfernt. Auf dem Hradschin, hoch über der Stadt, wehte ein kalter Wind. „Ich war extra beim Friseur, nun zerzaust der Wind meine Haare“, sagte Marie und strich die sich aufbäumenden Strähnen aus dem Gesicht. Josef nahm die zierliche Frau in den Arm, drückte und küsste sie. „Wir sind Schauspieler, wir packen das.“ Sie ließ es geschehen. Beide genossenen ihr Beieinandersein. Eine platonische Liebe, die ihre eigenen Beziehungen nie gestört hat. Josef Zíma war schon während der Dreharbeiten mit der Schauspielerin Eva Klepácová verheiratet. „Ein sehr schönes Mädchen. Während der Dreharbeiten erwartete Pepiček sein erstes Kind“, erinnerte sich Marie Kyselková. Sie selbst war damals frisch verheiratet mit dem Schauspieler Petr Hanicineč. „Er war mein Kommilitone. Trotzdem bin ich Marie bis zu Dreharbeiten nie begegnet.“ Was hätte es geändert? Nichts, wie ich erfahren sollte. Es kam zwischen beiden zu keiner Romanze.

Die beiden Schauspieler verbergen ihre Zuneigung zueinander nicht. © Boris Trenkel

„Nein, wirklich nicht. Wir hatten ja auch nicht einmal Zeit, uns richtig kennenzulernen“, erklärte Josef Zíma. Nach Abschluss des Films gingen beide eigenen Wege weiter. Sie haben nie wieder zusammen gearbeitet. Dennoch blieben die gemeinsamen Dreharbeiten nicht ohne Wirkung. Es entwickelte sich ein starkes Gefühl, das über fünf Jahrzehnte anhielt. Für Marie verbindet es sich tief im Herzen mit der romantischen Liebesszene im Schlossgarten. „Sie gab mir eine goldenen Ring, jetzt liegt er in meiner Hand…“

Ich glaube, jedes Mädchenherz schlägt bei dieser Szene für den Prinzen. Marie Kyselková ergeht es nicht anders. „Wir tauschten die Ringe, schworen einander Treue. Das war so romantisch. Wenn ich den Film sehe, ist immer dieser Moment für mich wichtig. Er weckt dieses wunderbare Wohlbefinden. Es war eine so starke Liebe vor der Kamera. Manchmal habe ich Josef vermisst“ , bekannte die 74-Jährige, nachdem so viele Jahre vergangen waren.

Kaum jemand kennt das Geheimnis, das dahinter steckt. Am Abend zuvor hatte Josef Zíma erfahren, dass er Vater einer Tochter geworden ist. „Ich habe eine Party gegeben, viel getrunken und nicht geschlafen. Die Maskenbildner hatten ordentlich zu tun, mich kameratauglich herzurichten“, verriet leicht verschämt.

König Kazisvět (Martin Růžek) kommt nicht in friedlicher Absicht zu Prinz Radovan © DEFA-Stiftung

Die Dreharbeiten hatten es ohnehin in sich. Beim mit König Kazisvět fügte er sich eine schmerzhafte Schnittwunde zu. „Es begann sehr lustig. Mein Kollege Martin Růžek hatte bis dahin nie ein Schwert in der Hand. Also haben wir geübt, ordentlich Action gemacht. Ich sprang hoch, er sollte mit dem Schwert unter meine Füße schlagen. Und man glaubt es nich, er säbelte mir die Sohle vom Schuh wie eine Scheibe Brot! Was für ein Ding!“ Was dann kam, war – wie er sagte – seine eigene Dummheit. „Unser Kampf endet damit, dass Radovan das Schwert seines Gegners Kazisvět über dem Knie zerbricht. Dafür wurde es auf einer Seite angesägt. Ich schlug es mir also mit voller Wucht auf mein Bein und verspürte einen wahnsinnigen Schmerz. Ich hatte das Schwert falsch herum gehalten. Die eingekerbte Seite zeigte nach unten, sie hätte aber nach oben zeigen müssen, damit die Klinge bricht. In Windeseile bildete sich ein Bluterguss, der bald in allen Farben schimmerte.“ Von da an stand immer ein Sanitätswagen am Set.

Die morgendliche Begrüßung der Schauspieler wäre František Smolík fast ins Auge gegangen, als Marie Kyselková sich zu ihm beugt. ©DEFA-Stiftung

Abenteuerliche und gefährliche Momente erlebte auch František Smolík als König Hostevít. Marie Kyselková erzählte, wie sie ihm mit den Spitzen ihrer Krone fast ins Auge gestochen hätte. „Wir kamen aus der Maske und ich wollte ihn begrüßen. Wie man es so macht, beugte ich mich ihm entgegen und hatte nicht im Sinn, dass ich schon die Krone auf dem Kopf hatte. So traf ich mit den Zacken sein Gesicht. Das hätte im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge gehen können.“

Schmerzhafte Erfahrungen musste auch Marie Kyselková selbst machen. Jeden Tag wurde der Schauspielerin der goldene Stern auf die Stirn geklebt und nach dem Dreh wieder abgelöst. „Meine Haut wurde mit der Zeit wund und brannte höllisch. Diese allabendliche Tortur machte mich aggressiv.“ Am Ende behielt sie eine kleine Narbe von dem ätzenden Klebstoff zurück. Nichtsdestotrotz liebt sie den Film und die Erinnerungen an die Dreharbeiten. „Ich gebe zu, dass ich mir wie fast jedes Mädchen gewünscht hatte, einmal eine Prinzessin zu sein. Und sie ging mit der Rolle in Erfüllung. Ich fühlte mich wunderbar darin.“

Der Koch (Stanislav Neumann) versucht der schönen Unbekannten seine Süßigkeiten schmackhaft zu machen © DEFA-Stiftung

Ihre Rolle in dem Märchenfilm „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“verdankte Marie Kysleková dem Umstand, dass die ursprünglich vorgesehene Schauspielerin Miriam Hynková kurz vor Beginn der Dreharbeiten erkrankte. Man wartete ein paar Tage ab, aber die Schauspielerin fühlte sich nicht in der Lage zu spielen und zu tanzen. Für Marie hatte Regisseur Frič eigentlich nur eine kleine Rolle als Prinzessin auf dem Ball vorgesehen. Nach der Absage von Miriam Hynková suchte er in einem Stapel Filmfotos einen Ersatz. Seine Ehfrau entdeckte das zarte Wesen mit den goldblonden Haaren. „So rutschte ich in die Hauptrolle“, erinnert sie sich. Das war ein echter Glückstreffer für den Film. Denn ihrer Anmut und ihrer edelmütigen Auro machte den Streifen sehr zum Erstaunen des Barrandov-Studios zu einem Kinohit, dessen Beliebtheit noch immer anhält.

Prinzessin Lada, der Oberküchenjunge (josef Vinklář) und der Koch (Stanislav Neumann) Quelle: didis screens

Plötzlich war sie nicht mehr die unbekannte Schauspielerin, die nur kleine Rolle und wenig Geld bekam. Das meiste davon schickte sie ihrer Mutter. So war sie erzogen. Die Jungen sorgten für die Alten. Das war ganz selbstverständlich zu jener Zeit. Auch wenn es manchmal schwerfiel. Marie Kyselková fällt eine kleine Episode ein. „Bei den Dreharbeiten hatte ich immer Hunger, und eine Versorung am Set so wie heute gab es nicht.“ Also mopste sie heimlich Brot aus der Film-Schlossküche und aß es auf. Das fehlte dann für die Aufnahmen mit dem Küchenjungen. „Der Requisiteur verzichtete auf seine Frühstücksbuchteln, die er von zu Hause mitgebracht hatte. So war die Szene gerettet“, weiß die Schauspielerin noch.

Marie Kyselková als „Prinzessin mit dem goldenen Stern“ Cover der DVD von ICESTORM

Marie Kyselkovás Lebensweg sah ursprünglich keine Karriere als Schauspielerin vor. Sie studierte an der medizinischen Fakultät in Brno. „Aber ich habe gern gesungen und getanzt. Meine Sehsucht war es, Ballett-Tänzerin zu werden.“ Doch ein kleiner Minderwertigkeitskomplex – wie sie erzählte – ließ sie Abstand davon nehmen, eine Ballettschule zu besuchen. Sie fand, sie hätte zu dicke Beine für einen grazilen Bühnentanz. Ihrer Leidenschaft fürs Tanzen ging sie in ihrer Freizeit unter anderem im Jugendtanzensembles „Radost“ nach. 1954 trat sie beim traditionellen Saison-Ball in Brno bei der Chopin-Polonaise auf. Die Managerin eine Modell-Agentur sah sie dort und holte sie als Mannequin nach Prag. Dort entdeckte sie FilmregisseurJiři Sequens, der gerade so ein Mädchen für seinen Film „Der windige Berg“ (1955) suchte. Dieses Engagement gab den Ausschlag für ihre Entscheidung, Schauspielerin zu werden. „Ich wurde am berühmten Stanislav-Kostka-Neumann-Theater als Darstellerin aufgneommen und spielte dort vier Saisons.“ In dieser Zeit besetzte man sie in den erfolgreichen Filmen „Die Bombe“(1957) und „Sehnsucht“ (1958). Dann kam der Glücksumstand, dass Regisseur Martin Frič ihr die Rolle der schönen Lada übertrug.

Marie Kyselková war 21, als sie sich in den bekannten Schauspieler Petr Hanicineč verliebte (Privatfoto von Marie Kyselková)

Die hübsche Marie Kyselková war auf der Bühne ein blonder Engel. Es dauert nicht lange, dass der attraktive und berühmte Schauspieler Petr Hanicineč ihr den Hof machte und sie sich umgehend in ihn verliebte. „Er war ein großartiger Schauspieler, ein Charmeur, von vielen Frauen umschwärmt.“ Er ließ sich von seiner Frau Štěpánka scheiden und heiratete Marie. Während der Dreharbeiten für den Märchenfilm wurde sie schwanger. „Den wachsenden Bauch versteckten die Kostümbildnerin in engem Kleid.“ Sohn Ondřej kam Anfang 1960 zur Welt. Was sich für sie zuerst so schön angefühlt hatte, wandelte sich bald. „Petr war meine erste Liebe, ich habe gehofft, es würde ein Leben halten. Aber er sah viel zu gut, um treu zu sein“, erzählte sie mir. Nach 15 Jahre reichte sie die Scheidung ein. Der junge Zahnarzt Vladimír Demek hatte sich in die noch immer wunderschöne zwölf Jahre ältere Schauspielerin verliebt.

Mit ihrem Mann Vladimír Demek änderte sich vieles in ihrem Leben. Marie Kyselková war reifer geworden. „Ich habe aus meiner ersten Ehe gelernt, Komplikationen, die es manchmal gibt, an mir vorbeigehen zu lassen. Solchen Sachen wie Untreue passieren, und daran muss man vorbeischauen. Sonst geht eine Bezeihung kaputt.“ , sagte sie. Mit 38 bekam sie ihre Tochter Zofie, mit 42 Alzběta. „Als meine Töchter klein waren, habe ich für sie Prinzessinnenkleider aus Gardinen genäht und Krönchen gebastelt. Das ist eben die ewige Sehnsucht eines Mädchen“, erinnerte sie sich schmunzelnd. Wie die Mutter so die Töchter.

Marie Kyselková ist mit 54 Jahre in Rente gegangen © Boris Trenkel

Nach ihrem Erfolgsfilm „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“ drehte die Schauspielerin nur noch einen Film. In der dreiteiligen Fernseh-Komödie „Drei Männer in einer Hütte“ (1961). Den anspruchsvollen Beruf und das Familienleben zu bewältigen, kostete sie viel Kraft. Deshalb stand sie nur noch selten auf der Bühne. Nachdem ihre beiden Töchter geboren waren, zog sie sich aus dem Beruf zurück. „Ich habe all die Kolleginnen bewundert, die Karriere machten und sich dabei um ihre Familie kümmern konnten. Ich habe den Beruf Mutter gewählt und das ist mir nicht schwergefallen“, resümiert sie im Rückblick. Es war auch eine Zurücktreten vor der Karriere ihres Mannes Petr Hanicineč, einen der gefragtesten tschechischen Schauspieler.

Es war ihr wichtiger, ihren Kindern Geborgenheit zu geben, für sie da zu sein als auf Rollenangebote zu warten. „Meine Kinder haben sehr geschätzt, dass ich zu Hause war, wenn sie aus der Schule kamen.“ Etwas Geld verdiente sie sich in Heimarbeit. Sie fertigte hübsche, kleine Kunstwerke aus Stoff und Filz für kleine Unternehmen. Mit 54 ging Marie Kyseklová in Rente. „Das ist bei uns möglich“, erklärte sie mir. Ihr Sohn war inzwischen 29 Jahre, war aus dem Haus. Es gab keinen Kontakt mehr zwischen ihnen. Als auch die Töchter erwachsen geworden waren, ihre eigenen Wege gingen, fühlte sich die Schauspielerin einsam. Ihr zweiter Mann war gestorben. Sie nahm eine Halbtagsstelle an der Rezeption eines Studentenwohnheims an und arbeitete in der Uni-Bibliothek. Die Kommunikation mit den jungen Leuten tat ihr gut. „Ich wurde wieder gebraucht, das hat mich gücklich gemacht.“ Mit ihrer Gutmütigkeit, die sie wie Prinzessin Lada auszeichnete, fand sie schnell Verbindung zu den Studenten. Wo sie konnte, half sie, nahm ihre Sorgen ernst. Marie Kyselková hat von zu Hause sehr viel Mitgefühl für sozial Schwächere mitbekommen.

Marie Kysekolvá wurde im Familiengrab in Brno beigesetzt Quelle: Wikipedia

Sie erzählte damals, 2010, nicht, warum sie keinen Verbindung mehr zu ihrem Sohn hat. Ich habe es beim Nachrecherchieren in tschechischen Magazinen gelesen. Es war Selbstschutz. Drogen- und Alkoholprobleme hatten ihn ins kriminelle Milieu abgleiten lassen. Sehr eng hingegen blieb das Verhältnis zu ihren Töchtern. In den vergangenen drei Jahren ging es Marie Kyselková gesundheitlich sehr schlecht, sie konnte kaum noch laufen. Ihre Tochter Alzběta und der Schauspieler Ivo Niederle, der im selben Haus wohnte, kümmerten sich um sie. Er fand sie am 21. Januar 2019 morgens tot auf. Als „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“ wird Marie Kyselkova für uns weiterleben.

Die Schauspielerin Eva Klepáčová war mit Josef Zíma über 50 Jahre verheiratet. Sie starb am 18. Juni 2012 © Sorobo/CC BY-SA 3.0

ÜberJosef Zíma habe ich gelesen, dass er sich guter Gesundheit erfreut. Er feierte am 11. Mai seinen 88. Geburtstag. Den achten ohne seine geliebte Frau Eva Klepáčová. Die Schauspielerin war für ihn seine wahre Prinzessin. Sie starb 2012, mit 79 Jahren. Wie er mir erzählte, litt sie seit jungen Jahren an Asthma und musste schließlich ihren Beruf aufgeben.

Die Rolle des Prinzen war für Josef Zíma, der zuvor schon in anderen Filmen mitgespielt hatte und auf der Theaterbühne stand, die erste große Filmrolle. „Ich war praktisch ein Anfänger und fühlte mich sehr geehrt, dass ich neben meinen großen Vorbildern und Legenden des tschechischen Films wie František Smolík, Martin Růžek und Stanislav Neumann mitspielen durfte“, erzählte er. Josef Zíma hat an der Theater-Fakultät der Akademie der musischen Künste in Prag Schauspiel studiert und gleichzeitig Gesangsunterricht genommen. Sein erstes Engagement erhielt er 1953 in Benešov bei Prag.

Josef Zíma diente 1955 bis 1957 im Kunstensemble der tschechischen Armee Quelle: Facebook-Josef-Zíma Fan-Club

„Dann kamen zwei Jahre Militärdienst, die ich als Sänger im Armee-Ensemble absolvierte. Anschließend engagierte mich das Prager Satire-Theater ABC “, nennt er im Schnelldurchlauf seine wichtigsten Karrierestationen. Wie Regisseur Martin Frič auf ihn für die Rolle des Prinzen Radovan kam, weiß er nicht mehr. Er erinnere sich nicht, zu einem Vorsprechen gewesen zu sein. Nach Abschluss des Films ging er zurück ans ABC-Theater, trat aber viel im Fernsehen als Sänger, Conférencier und Entertainer auf. „1959 habe ich einen Verkehrsunfall verursacht, dem ein Mensch gestorben ist“ erzählte er. Er war mit den Sängerinnen Juditha Čeřovská und Alena Pánková sowie dem Regisseur Jiří Jungwirth auf dem Weg zu Dreharbeiten. Jiří Jungwirth ist im Krankenhaus verstorben. Schuld daran zu sein, bedrückt Josef Zíma noch immer. Sein Metier war die Rock- und Popmusik. In den späten 60er Jahren gab es für ihn in der Musikszen keinen Platz mehr.

Josef Zíma ist der ungekrönte König der Blaskapelle . Hier bei einem Auftritt am 2. Juni 2020 in Ostrava. Quelle: Facebook-Fan-club

Der tschechische Supraphon-Verlag machte ihm ein Angebot, und Josef Zíma begann sich als Blaskapellen-Sänger zu profilieren. Er trat auf Festivals auf, gewann drei Gold- und eine Platinplatte. Viele Jahre moderierte er im Tschechischen Runfunk eine Show über Blaskapellen. Die Theaterbühne verließ er Anfang der 90er Jahre. „Nach der Wende, die es auch bei uns in Tschechien gab, wurden die Theater reformiert. Mir gefiel die neue Art nicht.“ Ganz ohne die Bühne kann Josef Zíma aber nicht sein. „Das Spielen und Singen würde mir fehlen“, sagt er und tritt noch immer hin und wieder mit seiner Blaskapelle auf.

Die Verwandlung der Carola Huflattich in „Das Schulgespenst“

Das ist sie, Carola Huflattich. Wie sie Peter Abraham 1978 in seinem Kinderbuch „Das Schulgespenst“ erfand und Regisseur Rolf Losansky sie in dem gleichnamigen Film 1985 in Szene setzte. So manche Arnstädter können sich gewiss noch an die aufregenden Dreharbeiten für die ebenso poesievolle wie witzige Rollentausch-Komödie erinnern. Die Geschichte von der vorlauten, um keine Antwort verlegene Viertklässlerin Carola, die mit den alltäglichen Pflichten wie Lernen und Hausaufgaben machen so gar nichts am Hut hat, dafür aber mit jeder Menge Phantasie ausgestattet ist, entsprach ganz Losanskys Intentionen. „Es müssen Verrückte sein, die sich um den Kinderfilm kümmern, sonst macht man Erwachsenen-Film“, sagte er mir in einem unserer vielen Gespräche.

Rolf Losansky  wird 80.
Mein erstes Interview mit  Rolf Losansky hatte ich im Januar 2011. Er führte mich durch seine ehemalige Arbeitsstätte, die DEFA-Studios Babelsberg © York Maecke

Und er war so ein Verrückter. Sich runterneigen, wie Leute in den Kinderwagen gucken, das mochte er nicht. „Ich mache keine Killekille-Filme.  Meine Filme sind so, dass der Sohn den Vater fragt: Warum hast du an der Stelle gelacht?  Und der Vater entgegnet: Und warum hast du an der Stelle gelacht? – Man muss nachfragen, sich hinterher über das Gesehene unterhalten, das ist mir wichtig.“ Rolf Losansky konnte mit Kindern nicht nur phanstastisch umgehen, er wusste auch, was sie an Spaß, Überraschungen, Spannung und Phantastischem auf der Leinwand erwarteten.

Nicole alias Carola 35 Jahre später
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Unverkennbar Carola Huflattich. Nicole Richter, die die Rolle spielte, ist heute 45 Jahre und hat inzwischen selbst zwei Kinder. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet als Grafikdesignerin © Nicole Richter

Es ist erstaunlich, wie wenig sie sich verändert hat. Das Lachen, die Augen – unverkennbar  Carola Huflattich. „Den Namen fand ich lustig.“ Nicole Richter, vor 35 Jahren hieß sie Lichtenheldt, denkt gern an ihre Zeit als Filmkind zurück. Inzwischen hat sie selbst Kinder, zwei Söhne, acht und fünf Jahre alt. Ihren Text hat sie noch immer drauf. „Wenn ich den Film sehe, kann ich noch jedes Wort mitsprechen“, sagte sie, als ich sie 2011 interviewte. Die SUPERillu veröffentlichte damals in ihrer Reihe DEFA-Kultfilme die DVD „Das Schulgespenst“, ich schrieb einen Begleitbeitrag.

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2011 besuchte ich Nicole Richter, damals hieß sie noch Förster, und ließ mir von Dreharbeiten für „Das Schulgespenst“ erzählen © André Kowalski

Vor einigen Wochen fiel mir der Film wieder in die Hände. Ich rief Nicole an, und wir kamen ins Plaudern. Ich habe sie gefragt, ob sie hin und wieder den Film mit ihren  Kindern anschaut oder ob er in der Versenkung verschwunden ist. Sie lacht.  „Das ist ja lustig, dass du jetzt danach fragst. Unsere Nachbarn haben sich den Film gerade erst angesehen, die Kinder sind teilweise schon im Teenageralter. Sie fanden ihn richtig cool.“ Erstaunlich, wo es da doch absolut analog zugeht. Oder ist es gerade das, was sie cool fanden?

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Der Indianer-Blick-Test. Wer zuerst zwinkert, muss die Hausaufgaben des anderen machen. Willi verliert immer © DEFA-Stiftung /Siegrfried Skoluda

Carola und die anderen Kinder leben in der gleichen Welt wie die Kinder heute, nur drei Jahrzehnte früher. Ihre Alltagsrealitäten gleichen sich. Allerdings kamen die Kinder von damals ohne Handy aus – das Wort gab es noch nicht einmal. Tablet, Internet, Computerspiele, Instagram, What’s App  kannten sie nicht, ich genauso wenig. Gefehlt hat das mir und auch meinen Kindern nicht. Hinter unserem Haus gab es ein Biotop, ein Stück Wald, eine Wiese. Da trafen sie sich mit Freunden, dachten sich Spiele aus. Langweilig war ihnen nie. Sie nahmen von sich aus die Welt um sich herum wahr. Niemand musste ihnen erklären, woher Eier und Milch kommen. Noch heute, mehr als 30 Jahre später, erzählen meine Töchter von den vielen kleinen Frösche, die sich zu Tausenden vor ihrem Kindergarten tummelten und quakten. Kinder entfalten eine große Phantasie, wenn sich ihnen das Feld dafür bietet. Das erlebe ich jetzt auch bei meinen vierjährigen Enkeln, die zwar gern auf ihrem Tablet Trickfilme ansehen, aber mit noch mehr Spaß im Garten Feuerkäfer suchen, mit dem Schlauch sprengen und dabei ihre Geschichten spinnen: „Das Feuer ist gelöscht, der Baum gerettet, Feuerwehrchef!“

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Die alte Burgruine ist der Lieblingsplatz von Carola und ihrem Freund Willi (Ricardo Roth). Hier erzählt sie ihm von Buh, dem Gespenst

„Ein Vogel müsste man sein, und über die Dächer fliegen“ , träumt die 10-jährige Carola Huflattich im Film vor sich hin, während sie mit ihrem Freund Willi auf der Mauer einer alten Burg sitzt. Welchem Viertklässler käme so ein Wunsch heute noch in den Sinn, wo es Spieldrohnen gibt, mit denen man sich alles von oben ansehen kann? Technik contra Kinderträume. Rolf Losansky hat mit seinen Filmen stets ein Plädoyer für letzteres abgegeben.

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Dreharbeiten 1985 in der Altstadt von Arnstadt mit Nicole, die hier mit Blüschen und Schleifchen das verwandelte Gespenst spielt. Hinter der Kamera Regisseur Rolf Losansky, rechts Kameramann Helmut Grewald ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda
Die Geschichte:

Carola geht in die 4. Klasse. Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Wozu kämmen? Sie zwirbelt die Haare einfach zu strubbeligen Zöpfen. Statt Rock trägt sie lieber Hosen, in der Schulpause spielt sie mit einer Blechbüchse Fußball, die der Schuldirektorin an den Hintern knallt. Im Unterricht macht sie alles andere, nur nicht zuhören. Darum sind ihre Noten auch nicht die besten. Lernen macht ihr einfach keinen Spaß. Sport gefällt ihr und sich allerhand Unfug ausdenken. Darin ist sie Meister und bringt damit fast jeden Tag ihre Lehrerin zum Seufzen.

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Carola krabbelt durch die Absperrung und schleicht in den Schulkeller © DEFA-Stiftung Siegfried Skodula

Eines Tages passiert etwas schier Unglaubliches. Carola kippelt wie so oft im Unterricht mit dem Stuhl. Sie kippt um und der Stuhl bricht auseinander. Die Lehrerin, Fräulein Prohaska, schickt sie zum Hausmeister, um sich einen neuen Stuhl zu holen. Herr Potter aber ist nicht da. Carola nutzt die Gunst der Stunde und schleicht in den Keller. Sie wollte schon immer mal gucken, was es da alles gibt. Erfreut entdeckt sie einen Fernseher. Dass ein Zettel dranhängt, auf dem „defekt!“ steht, interessiert sie nicht. Sie stellt das Gerät an. Plötzlich kracht es. Staub fliegt ihr um die Ohren. Ihr Schreck hält nicht lange an. Der schummrige Keller beflügelt ihre Phantasie. Carola ruft einen „Weltgespenstertag“ aus.

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Rolf Ludwig als Hausmeister Potter und Walfriede Schmitt als Direktorin  © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Sie ist gerade mit ihren Beschwörungen zugange, als der Hausmeister zurückkommt.  Erbost über Carolas unerlaubten Zutritt, holt er die Lehrerin und die Direktorin herbei. Flux erfindet Carola ein Gespenst, das angeblich im Keller herumgeistert. Weil sie es nicht vorzeigen  kann, behauptet Carola, es sei in ihrer Hosentasche verschwunden.

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Carola hat das Gespenst sichtbar gemacht  Quelle: Youtube

Wieder im Klassenraum, hört sie plötzlich eine Stimme aus der Hosentasche: „Mam, liebste Mam, gib mir eine Gestalt, wünsch dir, dass ich irgendetwas werde, dann bin ich’s.“ Carola wäre nicht Carola, würde sie die Chance nicht erkennen, dass sich damit ja was anstellen ließe. Das Gespenst möchte sichtbar gemacht werden. Also zeichnet Carola ein Bild an die Tafel und Buh, so nennt sie es, wird lebendig und fliegt durch den Raum. Doch als sich Buh in dem Handspiegel sieht, den die Lehrerin auf dem Tisch vergessen hat, ist es traurig. Es wollte niedlich aussehen, mit Zöpfen und Schleifchen und kein Strichmännchen im Nachthemd sein. Das bringt Carola auf eine Idee. Sie schlägt Buh vor, mit ihr die Gestalt zu tauschen.

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Das Gespenst ist glücklich in seiner Rolle als Carola.  Der ahnungslose Willi denkt, er spinnt. Carola ist plötzlich eine Streberin @ DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

 Dann könnte Buh den Wunsch der Mutter erfüllen, und als Carola Röckchen und Bluse tragen, Schleifen im Haar. Sie aber würde als Gespenst machen, wozu sie Lust hat. Über der Stadt herumfliegen, unsichtbar allerlei Schabernack treiben.  Vor allem aber müsste sie nicht mehr lernen, im Unterrricht stillsitzen und aufpassen, brauchte sich von der Mutter keine Vorhaltungen mehr anzuhören. Buh ist sofort einverstanden mit dem Rollentausch. Carola stellt nur eine Bedingung: Sie möchte zu den Sportstunden und den Pausen wieder sie selbst sein. Aber wie soll der Tausch gehen? „Guck in den Spiegel und sag einfach Buh-Huh, dann bin ich du und du ich“, erklärt das Gespenstermädchen. Gesagt, getan. Es klappt. 

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© DEFA-Stiftung/Gertrud Zucker

Voller Freude fliegt Carola als Gespenst durch die Stadt, turnt auf dem Dach herum, wo ihr Vater als Dachdecker arbeitet und ist glücklich. Buh bringt als brave und wissbegierige Carola ihre Mitschüler und Lehrer zum Staunen. Carolas Freund Willi versteht die Welt nicht mehr. Die kumpelhafte Carola, die absolut keine Lust zum Lernen hat und Mathe hasst, die lieber mit ihm herumstromert, ist über Nacht zum Streber geworden, unkameradschaftlich und überheblich. Sogar den Eltern wirft sie vor, sich nicht genug angstrengt zu haben. Sonst wäre die Mutter ja Verkaufsstellenleiterin und nicht bloß Verkäuferin und der Vater hätte eine eigene Dachdeckerfirma. „Mir soll das nicht so gehen, deshalb strenge ich mich an und lerne, statt fernzusehen“, verkündet Buh.

Das geht der echten Carola zu weit. Sie ist wütend auf ihr falsches Ich. Außerdem hat das einsame Herumgeistern seinen Reiz für sie verloren. Sie will in ihren Körper zurück, und in ihrem Bett schlafen, statt im dunklen Schulkeller. Aber Buh denkt nicht daran, sich an die Abmachnung zu halten und in seine alte Gestalt zurückzukehren. Zu sehr gefällt es ihm in der Schule und richtige Eltern zu haben. Darum gibt Buh der Lehrerin den Spiegel zurück.

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Carola hat ihren Freund Willi überzeugt, dass sie im Körper des Gespensts aus dem Keller steckt © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Die echte Carola versucht alles, um dem gerissenen Gespenst beizukommen. Doch dazu braucht sie den Spiegel. Nur ihr Freund Willi kann ihr dazu verhelfen. Den muss sie aber erst einmal überzeugen, dass sie kein Gespenst, sondern die verwandelte Carola ist. Willi kann es nicht fassen, doch er glaubt dem herumfliegenden Geist, denn der kennt den „Indianerblick“. Es ist aber leichter gesagt als getan, den Spiegel zu finden und an sich zu bringen. Als die beiden ihn endlich haben, bedarf es noch einer weiteren List, damit sich das zurückverwandelte Gespenst nicht wieder des Spiegels bemächtigt.

Ein Jux mit Folgen
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Carola ist als Gespenst zu Fräulein Prohaska (Karin Düwel) in die Wohnung geschlüpft, um den Handspiegel zu suchen. Doch die Lehrerin legt sich gerade eine Schönheitsmaske auf und hält den Spiegel fest in der Hand ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Regisseur Rolf Losansky hatte  eine genaue Vorstellung, wie seine Hauptdarstellerin sein sollte. Sie zu finden war ein langes Unterfangen. Er ist quer durch die DDR gereist und hat an Schulen nach seinen Kinderdarstellern gesucht. Fündig wurde er in seiner Heimatstadt Frankfurt (Oder). Nicole  nahm mit Schulfreundinnen heimlich am Vorsprechen teil. „Wir hatten damals die Anzeige in der Zeitung gesehen und sind aus Jux hingegangen“, erinnert sie sich. Ihren Eltern hatte sie nichts erzählt. Und dann gehörte sie zur ersten und dann zur zweiten Auswahl. Die Einladung zum dritten Vorspielen kam per Post.  „Meine Mutter fiel aus allen Wolken, als das Telegramm von der DEFA kam. Was ist denn das hier?“

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Dietmar Richter-Reinick und Barbara Dittus als Vater und Mutter Huflattich, die in dieser Szenen gerade ihre Tochter nicht wiedererkennen. Carola, respektive das Gespenst, hält ihnen vor, dass sie nicht mehr aus ihrem Leben gemacht haben. Der Vater könnte einen Dachdeckerbetrieb haben und die Mutter Verkaufsstellenleiterin sein, wenn sie ehrgeiziger gewesen wären © DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Zwei Mädchen hatte der Regisseur für die Rolle präferiert, weil er sich nicht entscheiden konnte. Beide hatten sich beim Vorspiel gleichermaßen geeignet gezeigt. Zuerst tendierte der Regisseur zu Emmi, einem blonden Mädchen. Sie ähnelte der Schauspielerin Barbara Dittus, die die strenge Mutter spielte.  Er wählte dann jedoch die braunäugige dunkelhaarige Nicole, weil sie vom Typ her besser zu Dietmar Richter-Reinick passte. Der Berliner Fernsehstar spielt Vater Huflattich, der für seine wilde Tochter der allerbeste Kumpel ist. Im Gegensatz zur strengen Mutter, hat er Verständnis, wenn Carola mal wieder schlechte Noten nach Hause bringt.   Die Vater-Tochter-Beziehung nimmt entsprechend Raum im Film ein.

Die Dreharbeiten in Arnstadt

Von September bis Dezember 1985 wurde im thüringischen Arnstadt gedreht.  Für die Kinder war das sehr aufregend. Zum ersten Mal hat Nicole damals in einem Hotel geschlafen. „Ich habe  die Aufmerksamkeit, die wir in dieser Zeit bekamen, sehr genossen. Wir waren drei Geschwister zu Hause und als Älteste musste ich immer ein bisschen zurückstecken“, erzählt sie.  In die Rolle von Carola Huflattich zu schlüpfen, fiel der Elfjährigen nicht schwer.  Von Natur aus brav und schüchtern gefiel es ihr, sich mal frech und rebellisch zu geben.  Das hat mich selbstbewusster gemacht, ich bin offener geworden.“ Ihre „Stunts“ hat sie selbst gemacht. Als sie mit dem Stuhl umkippte, fiel sie freilich nicht auf den harten Boden, sondern in weichen Schaumstoff. Ihr fallen viel lustige Szenen ein. „Als ich im Keller mit dem Gespenst gekämpft habe, war das wie Schattenboxen. Buh war ja nicht real vorhanden, und ich musste mich auf ihn werfen, stolpern, das hat richtigen Spaß gemacht.“ Die Flachfigur wurde später mit einem speziellen Verfahren in den Realfilm hineingebracht.

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Carola soll einen Stuhl aus dem Keller holen. Weil der Hausmeister nicht da ist, setzt sie sich in das Rednerpult an der Treppe. Hierhin verzog sich Nicole in einer Drehpause und schlief ein ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

In einer längeren Drehpause – man muss beim Film viel warten – hatte sich Nicole in das Rednerpult gesetzt, in dem sie sich als Carola vor dem Hausmeister versteckt, und ist eingeschlafen. Typisch Carola, könnte man sagen. „Die Rolle hatte auf mich wohl schon etwas abgefärbt“, lacht Nicole. Als weiter gedreht werden sollte, war die Hauptdarstellerin verschwunden. „Alle haben mich gesucht und nicht gefunden. Das war eine ganz schöne Aufregung. Rolf Losansky machte sich richtig Sorgen. Es hätte ja was passiert sein können. Er hatte die Verantwortung für uns Kinder.“ Trotzdem hat ihr niemand die Leviten gelesen, als sie nach einer Stunde hervorgekrochen kam.

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Kamermann Helmut Grewald (liegend) und Kamera-Assistent Wolfgang Kroffke filmen die Karussellszene ©DEFA-Stiftung/Siegfried Skoluda

Ein gleichermaßen großes Vergnügen waren die Dreharbeiten auch für die Schauspieler. Rolf Losansky hatte mit Rolf Ludwig, Dietmar Richter–Reinick, Barbara Dittus, Walfriede Schmitt, Günter Schubert und Karin Düwel die perfekte Wahl getroffen. Besonders mit Rolf Ludwig und Dietmar Richter-Reinick spielte Nicole gern.  „Sie machten mit uns immer Quatsch, wenn wir auf den nächsten Einsatz warten mussten“, erinnert sie sich. „Kinder sind keine Schauspieler, man muss sich als Erwachsener beim Spielen auf sie einlassen“, sagte Rolf Losansky immer. Wenn die Texte nicht wortwörtlich kamen, aber zur darzustellenden Situation passten, ließ er es zu. Von seinen Schauspielern erwartete er, dass sie das akzeptierten und darauf eingingen. Nicole erinnert sich noch mit Grausen an die Szenen auf dem Rummel, als sie Kettenkarussell fahren mussten. „Uns war hundeübel. Wir sind da wohl 100 Runden gefahren, ehe der Dreh im Kasten war. Dass uns schlecht war, mussten wir nicht spielen.“

Ein unerfüllter Traum

Im Februar 1987 kam der Film in die Kinos. „Es war Wahnsinn, sich als Kind auf der Leinwand zu sehen“, sagt Nicole. Weil ihr das so einen Spaß gemacht hatte, ging sie zum Casting für die Rolle der Anette in dem Kinderfilm „Die Weihnachtsgans Auguste“. „Ich wurde abgelehnt.  Stefanie Stappenbeck  hat damals die Rolle bekommen.“ Bei Rolf Losansky durfte sie noch einmal „Schauspielerin“ sein. Er besetzte Nicole 1988 in seinem Film „Abschiedsdisko“. Acht Jahre später, nach dem Abitur 1993, bewarb sich Nicole an der Schauspielschule. Zu jung, hieß es, sie solle es im nächsten Jahr erneut versuchen. „Ich hatte es vor“, sagt Nicole, „aber ich war nicht hartnäckig genug.“ Die Wartezeit überbrückte sie als Aupair-Mädchen in London. „Ich hatte eine super Familie erwischt. Sie schlug mir vor, einen Grafikkurs zu besuchen. Anschließend habe ich dann drei Jahre Grafikdesign in London studiert.“ Sie bekam dort dann eine Stelle in der weltweit arbeitenden Designagentur Pentagram. Nach 15 Jahren in London kehrte Nicole zurück nach Berlin und arbeitet seitdem in der Berliner Dependance von Pentagram. Sie entwirft Kreditkarten für Kunden in ganz Europa,  Firmenlogos, Plakte, Poster… Viele ihrer Arbeiten kann man im Filmmuseum Potsdam sehen. So schließt sich der Kreis.

Wie das Gespenst das Fliegen lernte

Seit 35 Jahren treibt Das Schulgespenst“ immer noch mit großem Erfolg sein Unwesen und ist inzwischen sowohl im Osten als auch im Westen populär.  Wie mit all seinen Kinderfilmen wurde Rolf Losansky († 2016) in all den Jahren von Schulen und Bibliotheken eingeladen. Die Kinder fanden insbesondere an den Szenen Spaß, in denen das Gespenst agiert. Wie es geschmeidig und wendig über die Dächer der Stadt tanzt, Fußball spielt, durch Schlüssellöcher schlüpft oder sich mit Carola im Keller einen Ringkampf liefert. Das Erstaunen der Kinder groß, wenn Rolf Losansky ihnen erzählte, dass all die lustigen Handlungen der Trickfigur nicht am Computer entstanden sind, sondern von Kameramänner, Filmtechnikern und Animatoren ausgeklügelt und ausgeführt worden sind.

Es waren vor allem Regisseure und Autoren von Kinder- und Märchenfilmen, die nach phantastischen Gestaltungsmöglichkeiten suchten. Als Rolf Losansky mit Peter Abraham das Drehbuch für „Das Schulgespenst“ schrieb, schwebte ihm vor, dass sich das Gespenst wie ein Geist in den Spielszenen bewegt, zugleich aber mit den Darstellern interagiert. Was so leicht aussieht, hat es filmtricktechnisch in sich. Wie schon bei seinen Kinderfilmen „Moritz in der Litfaßsäule“ (1982) und „Ein Schneemann für Afrika“  (1976/77) fand Rolf Losansky in der  DEFA-Trickabteilung begeisterte „Mittäter“.

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Trickabsprache zum DEFA-Film „Der Froschkönig“ 1987. v. l.n. r.: Trickfilmarchitekt Frank Wittstock, Kameramann Wolfgang Braumann, Trickkameramann Erich Günther und Regisseur Walter Beck ©DEFA-Stiftung/Dieter Jaeger
„Der Froschkönig“ wurde von ihnen 1987 zu einer sprechenden und agierenden Animationsfigur gemacht. V. l. Erich Günter, Wolfgang Chevallier, Frank Wittstock und Heiko Ebert Repro/SUPERillu/Jürgen Weyrich

„Mich hat schon immer gereizt, die Möglichkeiten des Animationsfilms mit denen des Realfilms zu kombinieren“, sagt Erich Günther, der Chefkameramann der Trickabteilung, den ich  2010 zusammen mit Trickfilmarchitekt und Modellgestalter Frank Wittstock, Chefanimator Heiko Ebert und Tricktechniker Wolfgang Chevallier bei meinen Recherchen zum DEFA-Märchenfilm „Der Froschkönig“ (1987) kennenlernte.  Sie haben tatsächlich wahre Wunder vollbracht. Sie brachten den Frosch zum Hüpfen und Sprechen, Schere und Nadel im Märchenfilm „Hans Röckle und der Teufel“ 1974 zum Schneidern, die Glühwürmchen in der „Geschichte vom goldenen Taler“ 1983 zum Tanzen und hauchten dem „Schneemann für Afrika“ 1976 Leben  ein.

Für den Film „Das Schulgespenst“ war wiederum ihre außergewöhnliche Kreativität gefordert. „Die Schülerin Carola hat das Gespenst mit Kreide an die Wandtafel gemalt und zum Leben erweckt. Wir entschlossen uns, das Gespenst als eine in sich variable Flachfigur aufzunehmen und direkt ins Negativ einzubelichten“, erzählt Erich Günther. Regisseur Rolf Losansky gefiel die Idee, da sie seinen Vorstellungen entsprach.  Frank Wittstock baute die Figur. Damit die Bewegungen des Gespenstes im Film fließend erschienen, gliederte er die Fläche der Figur schuppenartig in Segmente auf. So konnte sie bei der Animation einzelbildweise in sich verändert und bewegt werden. 

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Darstellung des Aufnahmesystems zum Mitfahren einer deckungsgleichen Schwarzweiß-Bildmatrize. Zeichnung: Erich Günther Quelle: „Wie haben sie’s gemacht?…“Schüren-Verlag GmbH

Die spannende Frage für mich war, wie das Gespenst in die Realszenen hineinkommt. Dafür hatte Erich Günther eine spezielle Technologie entwickelt, die er bereits für die Animation der Glühwürmchen in der „Geschichte vom goldenen Taler“ angewandt hatte. Er kombinierte auf einer Basis zwei Kameras im rechten Winkel zueinander. Die Kamera 1 nahm den Realfilm in Farbe auf. Kamera 2  lief synchron mit und nahm die Szenen über einen halbdurchlässigen Spiegel in schwarzweiß auf. Mit dieser Einrichtung wurden alle Einstellungen auf, in denen das Gespenst agieren sollte. So entstanden zwei deckungsgleiche Filmnegative, von denen Erich Günther zunächst nur das Schwarzweiß-Material – die Bildmatrize – im Kopierwerk entwickeln ließ.  Sie diente Rolf Losansky am Schneidetisch zur Ausmusterung und dem Trickteam später beim Einbelichten des Gespenstes in den Farbfilm zur Animation der Trickfigur. Da für die Bildmatrize über einen Spiegel fotografiert wurde, entstanden seitenverkehrte Bilder. So musste Rolf Losansky das Filmmaterial am Schneidetisch auch seitenverkehrt betrachten.

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Rolf Losansky beendete seine Dreharbeiten in Arnstadt im Dezember 1985. Dann begann die Arbeit der Trickleute. Das vorbelichtete ORWO-Farbmaterial kam unbesehen bis zum Gebrauch in den Kühlschrank. Bei einer Temperatur von 3 Grad Celsius konnte es ein Jahr lagern, ohne farbliche Veränderungen zu erleiden. Erich Günther erinnert sich: „Im Dezember begannen wir damit, die ersten Trickeinstellungen zu kombinieren. Im Sommer 1986 legten wir die letzten zur Abnahme am Schneidetisch vor.“ Die Einbelichtung des Gespenstes beschreibt der Trickspezialist in dem Buch „Wie haben sie’s gemacht…? Babelsberger Kameramänner öffnen ihre Trickkiste“ von Uwe Fleischer und Helge Trimpert (Schüren-Verlag GmbH, 2007). 

„In unserem Trickatelier hatten wir einen Spezialaufbau eingerichtet,  bei dem in eine Kamera das vorbelichtete Farbmaterial eingelegt wurde… Ähnlich wie der Aufnahme haben wir nun anstelle der Kamera 2 in einen Filmprojektor eingesetzt, der es möglich machte, im Einzelbild die Bildmatrize zu projizieren. Über einen halbdurchlässigen Spiegel und einen Umlenkspiegel wurde das Matrizenbild auf die Arbeitsfläche des Animators gebracht. “

Der Ablauf war dann folgender: Das Einrichtungsbild wurde von der schwarzweiß-Bildmatrize – dem Film aus Kamera zwei – projiziert, der Animator führte die Bewegung aus, die Projektion wurde ausgeschaltet, das Arbeitslicht zur Aufhellung des Schulgespenstes eingeschaltet und mit der Kamera ein Bild ausglöst. Für eine Sequenz von 10 Sekunden wurde dieser Vorgang 240mal wiederholt. „Wir hatten zwei Animationsstrecken aufgebaut, sodass wir etwa 20 Sekunden gespielte Szene pro Tag drehen konnten.“
Neun Monate dauerten es, bis der Film endgültig fertig war und am 7. Februar 1987 auf dem 5. Kinderfilmfestival „Goldener Spatz“ seine Premiere gefeiert werden konnte. Die Kinderjury zeichnete Rolf Losansky mit dem Ehrenpreis aus. Im selben Jahr gewann er in auf dem 5. Festival des Kinderfilms in Essen den „Blauen Elefanten“. 

Die DEFA-Trickfilmer galten als Perfektionisten. „Der Reiz am klassischen Trick sind die Geheimniss. Man probiert, testet aus, sagt Wolfgang Chevallier. „Mit dem Computer ist heute alles möglich.“

Die wahre Geschichte der DEFA-Komödie „Der Baulöwe“

Seit die SUPERillu 2005 ihre monatliche DVD-Reihe veröffentlicht, habe ich Regisseure und Schauspieler beliebter DEFA-Filme ausgefragt, was sich rund um die Dreharbeiten abgespielt hat, was sie Abenteuerliches erlebt haben. Dabei kam in zehn Jahren viel Überaschendes und Spannendes zutage. So nach und nach werde ich nun die unterhaltsamsten Geschichten aus meinem Archiv hier veröffentlichen. Den Anfang macht die DEFA-Komödie „Der Baulöwe“, die vor 40 Jahren, am 6. Juni 1980, in die Kinos kam und für die Zuschauer ein toller Sommerfilmspaß war. Nicht zuletzt auch, weil Regisseur Georgi Kissimov die Titelrolle mit dem beliebten Komiker Rolf Herrichtin besetzte.

Vom eigenen Häuschen träumte man auch in der DDR. Sich diesen Traum zu erfüllen, barg jedoch manche Tücke. Da ging es kaum ohne das sogenannte  Vitamin B – gute Beziehungen – , und knausirig durfte der Bauherr auch nicht sein. Denn alles, was man so zum Bauen brauchte, gab es meist nur unter der Hand. Hatte man ein Haus finanziell konzipiert, musste man fast noch mal soviel als Schmiermittel auf der hohen Kante haben. Bürokratische Vorschriften stellten einem Bauherrn so manche Hürde  in den Weg.  Die DEFA-Komödie „Der Baulöwe“ ist dafür geradezu ein Lehrstück, liefert sie doch einen ziemlich guten Einblick in den DDR-Alltag.

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Der erfolgreiche Berliner Unterhaltungskünstler Ralf Keul muss innerhalb eines Jahres sein Grundstück an der Ostsee bebauen, sonst wird der Pachtvertrag aufgelöst. Das Glück beschert ihm und seiner Frau Doris einen Lottogewinn von 35.000 Mark. Mutig, aber ohne eine Ahnung, geht er das Unterfangen an.  Natürlich bleibt dem unerfahrenen Bauherrn bleibt nichts erspart. Die Maurer stehlen das Material von anderen Baustellen zusammen, sodass er sie entlassen muss. Beim Versuch, mit seinem Wartburg Zementsäcke zu befördern, bricht der Wagen zusammen. Die Dachdecker, die er unklugerweise vorab bezahlt hat, verschwinden und lassen ein Loch im Dach zurück. Auf halber Strecke geht das Geld aus. Er versäumt Proben für seine Bühnenshow und dann sogar den Auftrittstermin, weil er Ärger mit den Bauleuten hat. Das Theater kündigt ihm daraufhin das Engagement. Seine Frau reicht die Scheidung ein, weil sie in seiner Fanpost, ein Foto findet, das ihn mit einer Blondine am FKK zeigt. Das Fräulein aus dem Baustoffhandel hatte Keul mit dem Versprechen an den Strand gelockt, ihm Badfliesen zu besorgen.  Trotz aller Hindernisse steht das Haus am Ende. Das Gericht weist Doris‘ Scheidungsklage mit der Begründung zurück: Ein Bauherr ohne Erfahrung sei einer höheren Gefährdung ausgesetzt als ein Testpilot, da der wisse, was er fliegt.

So ähnlich ist die Geschichte dem Drehbuchautor Kurt Belicke passiert. Wie sein Filmheld hatte er sich blauäugig in das Unternehmen Hausbau gestürzt und eben diese Erfahrungen gemacht. Mehr als zehn Jahre dauerten die Arbeiten an seinem Ferienhaus, bis es endlich fertig war. Am Ende hatte es nicht einmal einen Schornstein. Belicke nahm‘s mit Humor und münzte seinen Ärger in einen der witzigsten Filme über die Widrigkeiten um, die der reale Sozialismus den Häuslebauern so bescheren konnte. So ein Vorhaben trieb das Problem des Mangels und der Schwarzarbeit auf die Spitze.

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Zu Beginn der Dreharbeiten befand sich Kurt Belickes Haus noch im Rohbau. Schauspieler Rolf Herricht posiert davor auf dem Filmauto, einem alten Opel Rekord, ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

„Als wir während der Sommerfilmtage 1980 mit dem Film auf Premierentour waren, klopften sich die Zuschauer wohlwissend vor Vergnügen auf die Schenkel“, erzählte Annekathrin Bürger, im Film die Gattin des Titelhelden. „Jeder wusste, was es für eine Tragödie sein konnte, sich Stein auf Stein ein Eigenheim zu bauen. Der Film ging damals ganz schön ans Eingemachte. Mit allem, dem Klauen, den Preisen und Unverschämtheiten wie den saufenden Dachdeckern. So etwas war nur als Komödie machbar.“ Die Schauspielerin wusste, wovon sie sprach. Ihr Mann, der Schauspieler und Regisseur Rolf Römer war ein Baulöwe im wahrsten Sinne des Wortes. Mit allen Wassern gewaschen. Er baute Zeit seines Lebens nicht nur an seinem eigenen Haus. Wenn er zu Freunden kam, die ein Haus hatten, setzte er sich ganz still hin und sagte nach einer Weile: „Weeßte, eigentlich fehlt hier ein Kamin.“ Einwände, dass es zu viel Arbeit wäre oder zu teuer, wehrte er ab: „Ach, das mache ich dir.“ Damit fing er sie und begann das Haus umzukrempeln. „Überall, wo er aufschlug, hatte er bauliche Verbesserungsvorschläge“, erinnert sich seine Frau.

Für SUPERillu hatte ich mich mit Annekathrin Bürger 2008 in Ahrenshoop auf die Suche nach dem Haus ohne Schornstein begeben, um das sich das Film-Abenteuer rankt. „Kurt Belicke hatte uns sein Haus für die Dreharbeiten zur Verfügung gestellt. Es war damals immer noch ein Rohbau“, erinnerte sie sich. Während wir in der einstigen Künstlerkolonie nach Belickes Grundstück suchten, streiften wir viele Erinnerungen.

Als Kind verlebte Annekathrin Bürger jeden Sommer mit ihren Eltern und Bruder Olaf in Ahrenshoop. „Wir wohnten bei einer Bekannten, picknickten mit Freunden am Strand und machten mit den Nachbarjungs Fahrten auf alten Zeesen. Es gab keine gepflasterten Straßen, wie heute, aber das Land hier oben hatte Charme und Romantik.“ Deshalb zog es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts viele Kunstmaler im Sommer hierher auf die Halbinsel Fischland. Auch Annekathrin Bürgers Vater Heinz Rammelt suchte hier seine Motive. Am Strand, in den weiten grünen Wiesen. Eine Weite, die seine Tochter heute vermisst.

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Annekathrin Bürger mit Ulrich Thein in ihrer ersten Filmrolle 1956. Bei den Dreharbeiten für „Eine Berliner Romanze“ verliebten sich die Schauspieler ineinander ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Unvergessen bleibt ihr der Sommer 1956. Die damals 19-Jährige hatte ihren ersten Film abgedreht, „Eine Berliner Romanze“ mit Ulrich Thein. „Danach machten wir Urlaub an der Ostsee. Ecke Friedrichson, den später jedes Kind in der DDR als Meister Nadelöhr kannte, hatte das Quartier besorgt, irgendeinen ausgebauten Hühnerstall in Ahrenshoop. Null Komfort, aber das war uns egal. Hauptsache Ostsee. Wir waren den ganzen Tag am Strand, abends saßen wir am Lagerfeuer“, schwärmte sie in Erinnerung daran. Romantik, Charme und Weite sind inzwischen passé. Fast jedes freie Fleckchen wurde bebaut, mit Hotels, Ferienhäusern, Parkplätzen. Keine Idylle mehr zum Malen. Annekathrin Bürger stellt das mit Wehmut fest. „Es begann eigentlich schon Ende der 70er Jahre. Als wir 1978/79 unseren Film drehten, boomte der Bau von Fertigteilhäusern. Sehr zum Ärger der Alteingesessenen mit ihren Reetdach-Häusern. Sie empfanden das als Verschandelung. Heute fragt danach keiner.“

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Das Ehepaar Keul (Annekathrin Bürger als Doris, Rolf Herricht als Ralf) malt sich gerade aus, wie ihr neues Ferienhäuschen aussehen soll ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

„Vielleicht ist ja es die Nostalgie der Außenstehenden, dass wir uns zurücksehnen. Wer hier seine Existenz sichern muss, denkt anders.“ Annekathrin Bürger  erzählt von den Ostsee-Urlauben mit ihrem Mann Rolf Römer. „Ich weiß noch, dass ich in Berlin meinen Trabi-Kombi vollgestopft habe. Man nahm ja alles mit, was man nicht missen wollte. Und wenn wir hier ankamen, habe ich in der Gärtnerei erst mal Arme voll Rosen gekauft und unser Quartier ausgeschmückt.“ Nur essen gehen konnte man in den kleinen Orten kaum. Es fehlte an Kneipen, und die Speisekarten waren nicht jedermanns Geschmack. Man versorgte sich selbst. Das war normal. „Wir haben viel Fisch gegessen, den wir morgens frisch beim Fischer am Hafen holten. Wenn wir uns etwas gönnen wollten, sind wir nach Warnemünde ins Neptun gefahren. Dort gab es verschiedene kleine Restaurants, in denen man kubanisch, finnisch, russisch oder chinesisch essen konnte.“ Beim Abendessen im schicken Hotel Dorint in Wustrow fiel uns auf, dass wir es genießen, die Wahl zu haben.

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Die Schauspielerin Annekatrin Bürger mit ihrem Bruder, dem Dessauer Maler Olaf Rammelt, und seiner Frau, der Bildhauerin Christine Rammelt-Hadelich © xil/Michael Handelmann

So einfach wie gedacht gestaltete sich die Suche nach dem Haus ohne Schornstein nicht. Die Jahre hatten die Erinnerungen getrübt. Wo war die Straße, wie sah das Haus aus? Am nächsten Tag gesellte sich Annekathrins Bruder Olaf Rammelt mit seiner Frau Christine zu uns. Der Maler machte mit seiner Frau Christine in schöner familiärer Tradition in Ahrenshoop Urlaub. „Ich habe das Malzeug dabei, aber noch keinen Strich getan“, verriet er und freute sich über das Treffen. Die Geschwister sind sich sehr nahe. Olaf verbrachte als Jugendlicher oft seine Sommerferien bei der Schwester und ihrem Mann Rolf Römer in der Holländerwindmühle in Wustrow, die einem Freund gehörte. Für den Schauspieler Rolf Römer, der mit Leib und Seele auch (gelernter) Maurer war, ein Mekka. Hier konnte er sich austoben. Er hat Wände verputzt, Annekathrin hat gestrichen. Irgendwann störte es ihn, dass es kein fließend‘ Wasser im Haus gab. Also hat er angefangen, im Urlaub Gräben zu buddeln und Rohre zu verlegen. Freunde und Verwandten, die bei ihnen Unterschlupf suchten, mussten mit ran. Olaf denkt oft an die abenteuerliche Zeit zurück. „Rolf hat uns eingeladen. Ich bin mit meinem Freund auch gern gekommen. Für freie Kost und Logis sind wir ihm zur Hand gegangen. Allerdings kannte Rolf keine Pause. Er vergaß, dass wir Ferien ja hatten. Jedes Mal, wenn ich jetzt nach Ahrenshoop fahre und an der Mühle vorbeikomme, sehe ich uns ackern.“

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Um an Badfliesen zu kommen, lässt sich der arglose Ralf Keul an den FKK locken. Schauspieler Rolf Herricht war die Szene etwas peinlich. Er meinte zu Regisseur Georgi Kissimov: „Meinen Sie, die Menschen wollen einen 52-jährigen Mann nackt am Strand sehen?“ Er behielt bei den Aufnahmen dann eine kleine Badehose an. (Screenshot)

Annekathrin Bürger führt uns auf den „Weg zum Hohen Ufer“. Irgendwo hier muss es gewesen sein, ist sie sich sicher. „Irgendwo hier haben wir die Szenen rund um das Haus gedreht.“ Eine gute Stunde suchen wir die Gegend ab. Ohne Erfolg. Aber keins der reetgedeckten Häuser kommt ihrer Erinnerung nahe. Sie sind entweder zu groß, zu neu oder haben einen Schornstein. Ein Foto mit ihr vor dem Haus sollte die Brücke schlagen. Wir kamen am „Boddenblick“ vorbei, zu DDR-Zeiten ein FDGB-Heim, das nach der Wende zum Hotel umgebaut wurde. Annekathrin Bürger zeigte uns, wo Herbert Köfer sein Haus gehabt hat, wo Gunter Emmerlich mit seiner Familie Urlaub machte.

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Keul erwischt den Maurer (Willi Neuenhagen) mit den geklauten Steinen ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Unsere letzte Hoffnung ist eine ältere Ahrenshooperin, die in ihrem Garten arbeitet. Wir hatten Glück. Sie erinnerte sich an den Trubel, den die Filmleute damals veranstalteten. Auch an Rolf Herricht. „Ja, Belickes Haus steht noch. So ein kleines blaues, nur ein Stück den Weg da runter. Nicht zu übersehen.“ Nach knapp 200 Metern war unser Ziel erreicht. Uns fiel ein Stein vom Herzen. Annekathrin Bürger strahlte: „Ja, das ist es. Das ist die Tür, durch die alle im Film zur Toilette gingen.“ Auch die Fertigteilhäuser auf den Nachbargrundstücken gibt es noch. Versteckt hinter hoch gewachsenen Hecken, mit neuen Fassaden und Reetdächern erkennt die Schauspielerin sie kaum wieder. „Die sind alle während unserer Dreharbeiten entstanden. Man konnte förmlich zuschauen, wie sie wuchsen.“

Wir umrundeten das Objekt unserer Begierde. Niemand war zu sehen, nichts war zu hören. Keiner reagierte auf unser Klopfen. Auf der Terrasse stehen Stühle und ein Tisch. Was tun? Einfach fotografieren? Der Gedanke fühlte sich nicht gut an. Der Besitzer musste gefragt werden. Dann öffnete sich doch die Tür. Annekathrin Bürger erkannte Frau Belicke.  Sie erklärte unser Anliegen, den unangemeldeten Überfall. Die ehemalige Kostümbildnerin des Friedrichstadtpalastes war 2005 von Berlin in ihr einstiges Ferienhaus gezogen. Sie war damals alles andere als erfreut, dass ihr Mann das Haus zum Drehort umfunktionieren ließ. „Ich kam überraschend hier an, und es wimmelte von Menschen. Dixi-Klos gab es nicht, alle benutzten unsere Toilette. Die Sickergrube war im Nu voll. Für einige Szenen mussten immer wieder die Scheiben eingeschmissen werden.“

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Alles für den Film. Nicht nur Scheiben wurden eingeworfen, auch ein Brand wurde inszeniert.  (Screenshot)

Frau Belicke konnte auch so viele Jahre später noch nicht darüber lachen. „Und warum hat das Haus keinen Schornstein? fragte ich. „Der uns damals einen setzten sollte, war beim Materialklau erwischt worden und saß im Knast. Vier Jahre stand das Haus ungedeckt da. Dann hatten wir die Nase voll und das Dach zumachen lassen.“ Ohne Schornstein. So war es nur im Sommer nutzbar. Nach der Wende ließ Kurt Belicke das Haus sanieren und eine Fußbodenheizung einbauen. Unter den Dreharbeiten leidet das Haus aber immer noch. Weil es dem Regisseur nicht hässlich genug war, wurde die Front damals mit brauner Leimfarbe gestrichen. „Daran knabbere ich noch heute“, sagte Frau Belicke. Ich habe die Wand schon zweimal abschleifen lassen, weil beim Überstreichen nichts hält.“ Für uns war es perfekt. Das Blau sieht sehr hübsch aus inmitten des grünen Gartens.

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Annekathrin Bürger vor dem Filmhaus. © SUPERillu/Boris Trenkel

 

 

Jutta Wachowiak: „Was ich zu sagen habe, gehört auf die Bühne“

Ich hatte nach langem wieder mal einen Theaterabend erlebt, der mich nicht mit einem unbefriedigenden Gefühl entließ. Ich konnte etwas anfangen mit dem, was mir erzählt wurde. Bei vielen Inszenierungen verstehe ich deren Interpretation nicht mehr. In der Box, der kleinen Bühne des Deutschen Theaters, habe ich mir „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ angesehen. Seit der Premiere im Oktober 2018 sind diese Vorstellungen stets ausverkauft. Ich muss gestehen, dass mich journalistische Neugier getrieben hat, denn es ist über 20 Jahre her, dass ich mit der Schauspielerin gesprochen habe.

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„Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ ist ein Theaterabend von Jutta Wachowiak, Eberhard Petschinka und Rafael Sanchez ©DT/Arno Declair

In ihrem Solo-Abend „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ spielt sie die Wärterin in einem Dinosaurier-Park, den man weder verlassen noch unkontrolliert betreten darf. Zunächst fragt man sich: Was hat der Blockbuster hier zu suchen? Doch schnell erschließt sich eine Parabel auf die DDR. Die Geschichte des Parks vermischt sich mit der Biografie der Schauspielerin. Sie reflektiert die äußeren und inneren Umstände ihres Lebens. Von den Kindertagen angefangen über ihren künstlerischen Werdegang in der DDR, die Zweifel an sich, die Hürden, die Erfolge auf diesem Weg. Sie erzählt von der Hoffnung, als sich der Park öffnet und dem Erlebten danach, wie sie zurückgeworfen wird, nichts mehr so ist wie es war. „Das war eine Zeit, in der ich lebte, als wäre keine Haut auf meiner Seele, so ausgeliefert war ich dem brutalisierten Alltag.“

…und alle heben sich gleichzeitig empor / von ihren Stangen / und flattern hinauf in die Kuppel / als hätten sie das Loch dort oben im Eisengitter / erst jetzt gesehen…“

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„Ich kann jetzt überall hin, nur nach Hause kann ich nicht“,  sinniert Jutta Wachowiak in ihrem Monolog übetr die Folgen des Mauerfalls ©DT/Arno Declair

Wie die Dinosaurier in dem imaginären Park flogen die Menschen aus den geöffneten „Fenstern“ hinaus in die unbekannte Freiheit. Doch die neue Freiheit ließ sich nicht genießen. Als sie zurückkamen, war der Ort noch da, aber das Zuhause weg. Das Zuhause der Schauspielerin war das Deutsche Theater. Es wurde wie alle ehemaligen DDR-Bühnen einer Metamorphose unterzogen, die künstlerische Merkwürdigkeiten hervorbrachten. Intendant Thomas Langhoff konnte die vormalige künstlerische Höhe des Theaters nicht halten. Seine Inszenierungen seien konventionell, brav, gegenwartsfremd wurde ihm vorgeworfen. Jutta Wachowiak sah sein Dilemma, helfen konnte sie ihm nicht. „Die Arbeit mit Langhoff ist immer elektrisierend gewesen, bis seine Regie an Spannung verlor und ihr Magnetfeld plötzlich zusammenbrach.“ Beide kannten sie sich seit 1963 aus ihrer gemeinsamen Schauspielzeit am Hans-Otto-Theater. Unter seiner Regie stand sie in großen Rolle wie „Maria Stuart“ auf der Bühne oder als Rosi in dem dreiteiligen Fernsehfilm „Guten  Morgen, du Schöne“ nach Maxi Wanders Frauenporträts. Nun verstand sie ihn nicht mehr.

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Jutta Wachowiak 1993 als Mutter Wolffen in Thomas Langhoffs Inszenierung „Der Biberpelz“ am Deutschen Theater (Screenshot aus der ZDF-Fernsehaufzeichnung )

Es kamen Frank Castorf, Einar Schleef und Christoph Schlingensief mit ihren experimentellen Inszenierungen (postdramatisches Theater). Jutta Wachowiak tat sich schwer damit. „Maria Stuart“ flog nach zehn erfolgreichen Jahren 1993 vom Spielplan. Danach feierte sie zwar Erfolge als Mutter Wolffen in Gerhart Hauptmanns „Der Biberpelz“ (1993-97), als Frau Fielitz in seiner Fortsetzung „Der rote Hahn“ (1997). Dennoch wuchs ihr Unbehagen. „Ich hatte damals schon begriffen, dass Castorf und Schlingensief große Künstler sind. Mein Leiden hing eher damit zusammen, dass ich es nicht verstand. Und dass das an mir lag.“ Sie bemerkte, wie sie sich verlor, wie sie eine ungewollte Aggressivität entwickelte, mit der sie andere verletzen konnte. Sie stand morgens hinter der Tür und sagte: „So, die Stacheln raus und rein in die feindliche Welt.“ Das war nicht mehr sie.  Sie zog ihre Konsequenz. Als Schutz und um sich Sensibilität und Verletzbarkeit für ihren Beruf zu bewahren, trainierte sie sich „ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Alleinsein an. So bleibt meine Einmischung in das gesellschaftliche Leben nahe an meiner Arbeit.“  Viel später erst kam ihr ins Bewusstsein, wie sie mir sagt, woran das lag, dass sie sich in einer Verfassung befand, in der sie nicht mehr im Einklang mit sich selbst war. „Ich war damals wirklich aus meiner Mitte herausgerückt“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand.

Um die Leerlaufzeiten sinnvoll zu überbrücken, unterrichtete sie bis zu ihrem Weggang 2005 aus Berlin Szenenstudium an der Ernst-Busch-Hochschule für SchauspielkunstDas war eine Sache, die Spaß machte. Ich hatte das Gefühl, ich kann den jungen Leuten etwas verklickern. Dabei war ich selber immer am Ball, denn ich musste mich mit meiner ganzen Sensibilität und Beobachtungsschärfe einbringen.

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Herausragend war Jutta Wachowiaks Verkörperung der alternden Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz in Ralf Kirstens Filmbiografie „Käthe  Kollwitz – Bilder eines Lebens“ ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Als dem Berliner Senat 1996 aus Sparsamkeitsgründen die Idee kam, die „Ernst-Busch“ der Westberliner Hochschule der Künste unterzuordnen, schrieb Jutta Wachowiak einen Protestbrief an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. „Da hätte man einen gut funktionierenden Körper an einen Tropf gehängt. Das wäre das Ende der besten deutschen Ausbildungsstätte für Schauspieler gewesen“, kann sich noch so viele Jahre später darüber empören. Diese Unvernunft wollte sie nicht mittragen und war bereit, ihr Bundesverdienstkreuz, das ihr 1992 für ihr politisches Wirken im Herbst 1989 verliehen worden war, zurückzugeben, falls der Senat bei seinem Vorhaben der bliebe. „Man hat mich mit dem Orden für meine Integrität und Gründlichkeit belohnt. Und ich wollte nicht in Verdacht kommen, mich für Arschlöchigkeit loben zu lassen.

Da Eberhard Diepgen auf das Schreiben der Schauspielerin nicht reagierte, kam es zu einer spektakulären Protestkundgebung. Am 14. März 1996 verlas Jutta Wachowiak vor Hunderten Schauspielern, Studenten und Theaterfreunden im bat, dem Studiotheater der Hochschule, ihren Brief. Am 12. März hatten Schauspielstudenten und prominente Künstler begonnen, sich mit Aufführungen und Lesungen gegen die Schließung ihrer Schule zu wehren. Von überall her kamen Solidaritätsbekundungen. Intendant Jürgen Flimm vom Thalia Theater Hamburg schrieb, Thomas Langhoff vom Deutschen Theater, Birgitta Vallgarda von der Lunds Universität in Malmö. Das Schauspielhaus Zürich unterstrich, dass die „Ernst Busch“ mit ihren Besonderheiten und der anerkannten Qualität ihrer Ausbildung erhalten bleiben muss.

Regisseur Roland Gräf mit Jutta Wachowiak 1981 bei den Dreharbeiten zu  Märkische Forschungen“  nach dem Roman von Günter de Buyn ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Die Rolle der Mahnerin gehört nicht zu denen, die sich Jutta Wachowiak gewünscht hat, noch viel weniger, dass das mit „Henry-Maske-Tamtam“ passierte. „Aber es ging hier nicht anders“, betont sie in unserem zweiten Interview, dass wir 1998 führten. Die Fusion fand nicht statt. Die Ernst-Busch-Hochschule hat ihre Eigenständigkeit behalten, auch dank des Einsatzes der prominenten Schauspielerin. Der Orden, den sie nur an jenem Abend am Revers trug, liegt wieder im Schrank.

„Ich bin keine Intellektuelle“, sagt Jutta Wachowiak. „Ich fühlte mich denjenigen nahe, die ihren Brigadeausflug ins Theater machten. Darüber stellte sich zwischen uns eine Art konspiratives Einverständnis her.“ Im Herbst 1989 schloss sie sich ihrem Publikum an, engagierte sich dafür, dass sich in der DDR etwas ändert. „Ich konnte den „Zynismus und die Scheinheiligkeit im Umgang mit den Menschen nicht mehr ertragen. Da lag der Scheißhaufen mitten im Wohnzimmer, und die haben ein Spitzendeckchen drübergelegt. Und wehe dem, der sagte, es stinkt.“ Das hat sie geärgert an der DDR, dass die „feinen Herren aus Wandlitz in ihren Limousinen mit zugezogenen Gardinen zur Arbeit fuhren.“ – und auch wieder zurück. „Die wollten nicht sehen, was wirklich los ist. Trotzdem bin ich wahnsinnig froh, dass ich 40 Jahre auf unserer Seite zugebracht habe. Und den Rest sehe ich zu, dass ich meine Aufrichtigkeit und Integrität verteidige gegen andersgeartete Gefährdungen.

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Jutta Wachowiak nimmt das Theater als moralische Anstalt ernst. Es geht um eine gerechte Ordnung, um eine Gesellschaft der Freien, die moralisch handeln. Darum ging sie 1989 auf die Straße ©DT/Arno Declair

Den Aufbruch 1989 fand sie wunderbar: „Da flog noch mal der Kalk aus den Arterien, es kam Wind in die Bude.“ Jutta Wachowiak stand am 4. November 1989 mit in der ersten Reihe, als Theaterleute, Schriftsteller, Kunst- und Kulturschaffende am Berliner Alexanderplatz für Veränderungen im Staat protestierten. „Wir hatten keinen Umsturz im Sinn. Die Gesellschaft, den Staat umbauen, weiterbauen, darum ging es. Wir wollten die Möglichkeiten der öffentlichen Kritik und freien Meinungsäußerung einklagen, forderten eine andere Medienpolitik“, benennt sie das Anliegen von damals noch einmal.

Sie wurde Mitglied im Zeitweiligen Untersuchungsausschuss mit, der Licht in die gewalttätigen übergriffe der Polizei am 7., 8. und 9. Oktober an Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg bringen wollte. Die Erinnerung daran lässt sie in Rage geraten. Es war grässlich. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass so viele Leute sagten: Ich war’s nichts. Da habe sie viel dazu gelernt, konstatierte sie später.

Jutta Wachowiak als Käthe Kollwitz ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Wie sie den monatelangen Spagat durchgehalten hat, vermag sie nicht zu sagen. Tagsüber las sie Gedächtnisprotokolle, die ihr schlaflose Nächte bereiteten, führte Podiumsdiskussionen, abends stand sie als „Maria Stuart“ auf der Bühne des Deutschen Theaters. „Es ging schon an die Substanz. Vielleicht war es naiv, anzunehmen, wir könnten uns einmischen“, sann sie in unserem Gespräch nach. „Aber es ging um unsere Zukunft. Da konnte ich nicht einfach aufhören. Ich habe dafür eine moralische Verantwortung empfunden.“ Mulmig bis ins tiefste Innere wurde ihr, als am 9. November die Mauer fiel. „Da wusste ich, jetzt ist es vorbei mit Umbauen und Weiterbauen. Die Erfahrung aber war nicht umsonst“, denkt sie heute.

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Ich bin hier das Relikt“ , sagt sie ins Publikum ©DT/Arno Declair

Jutta Wachowiak leistet sich keine Larmoyance, keine Nostalgie im Blick auf ihr Leben, derer man ja schnell verdächtig wird heute. „Die Gesellschaft ist eine andere geworden, ich bin anders geworden. Ideologisch geprägte Verhaltensweisen wie Disziplin, Anpassung und Notwendigkeit sind jetzt ganz individuell bezogen. Haben einzig mit dem zu tun, was mich und meine Kinder angeht. Das habe ich zu akzeptieren gelernt.
Die Mutter hatte die Tochter gewarnt, als die aufmachte, Schauspielerin zu werden: „Kind, das ist ein sehr harter Beruf.“ Das bezweifelte die damals 17-Jährige nicht. Aber leicht wollte sie es auch nicht haben „Ich war immer jemand, der es ganz gerne schwer hat. Es muss natürlich auszuhalten bleiben“, erklärt Jutta Wachowiak sechs Jahrzehnte später. Die Zeiten dazwischen haben ihr viel abverlangt.

An die Grenzen des Aushaltbaren kam sie, nachdem Thomas Langhoff seinen Platz als Intendant des Deutschen Theaters räumen und der Solinger Bernd Wilms die Macht übernahm. Er verkörpert den Typ „Wessi“, der von der Warte des Siegers auf die Menschen im Osten guckt. Das hat Jutta Wachowiak sehr schnell zu spüren bekommen. Nach 30 Jahren am Deutschen Theater musste sich die Schauspielerin, die aus den Spielplänen nicht wegzudenken war, fragen lassen: „Wer sind Sie denn?“ So tief verletzt hatte sie noch niemand. Die Ausgrenzung begann. Wilm hat fast das gesamte Ost-Ensemble ausgetauscht. Nur die Unkündbaren wie Jutta Wachowiak gab es noch. Die Kollegen aus dem Westen blieben ihr fremd.

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1979 drehte Roland Gräf mit ihr die Liebesgeschichte „P.S“. Die Bewährungshelferin Margot (Jutta Wachowiak)  verliebt sich in den 18-jährigen Peter (Andrej Pieczinski) ©DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

„Sie stellen sich mal schön hinten an“, hieß es. „Ich war ja staatserhaltend! Habe Auszeichnungen bekommen. Das wurde mir angekreidet.“ Man ließ keine Gelegenheit aus, ihr klar zu machen, dass man sie für eine zwangsweise übernommen Altlast hielt. Die Bitternis von damals klingt an, als sie davon erzählt. Doch dann macht sich Empörung Luft. „Es gibt kein Gefühl dafür, dass wir da auch gerne gelebt haben. Dass wir uns gerieben haben oder dass wir Reglementierungen unerträglich fanden. Man stellt keine Fragen, aber weiß, wie es geht. Ein ganzes Land mit seinen sämtlichen Erinnerungen wird bis heute denunziert. Fähigkeiten, Leistungen, Ideen und Wissen werden ignoriert. Das ist entwürdigend, schmerzhaft und unnötig“, möchte ich die Schauspielerin hier aus dem Programmheft für ihren Abend Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ zitieren.

Man überging sie bei der Besetzung neuer Stücke. Manchen Tag setzte sie sich nachmittags ins Kino und sah sich Blockbuster wie „Blade Runner“ an. Sie wollte, dass die hämmernden Gedanken in ihrem Kopf aufhören: Bin ich wirklich nur auf Scheiße reingefallen? Haben wir wirklich nur Sklavensprache gesprochen? Habe ich mit meiner Kunst den Staat gestützt? Ihr Selbstbewusstsein war am Boden. Mit ihrem Soloabend „Iphigenie auf Tauris“ versuchte sie, sich zu lokalisieren. „Ich musste mich fragen, welche Spielregeln ich akzeptieren kann und welche nicht.“ Sie konnte und wollte die Demütigungen an dem Theater, das nicht mehr ihres war, nicht mehr ertragen.Am Ende der Spielzeit 2004/2005 zog einen schmerzlichen Schlussstrich unter 35 Jahre ihres künstlerischen Lebens am Deutschen Theater. Es war das einzig Richtige, das sie tun konnte. Sie musste da weg, weil sie nicht mehr spielen konnte.

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In dem Fernsehfilm „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (Josef Karlík) 1968 lernte die 27-jährige  Schauspielerin, dass sie rustikale Kraft und Lebenserfahrung der Partisanin Babka über eine ganz karge Grundhaltung ausdrücken kann Foto: Screenshot/ DDR-F, Günter Eisinger

Sie veließ die Gefilde, in denen man sie kannte,  ihre Leistung als der Schauspielerin schätzte, und folgte Anselm Weber, der als Gast am DT inszeniert hatte, auf dessen Angebot hin nach Essen. Weber übernahm als Intendant das dortige Schauspielhaus und baute mit jungen Leuten ein neues Ensemble auf. Rafael Sanchez, den sie auch schon vom DT kannte, Roger Vontobel, David Bösch. Die erfahrene Schauspielerin wollte ihre Erfahrungen weitergeben und mutierte selbst zur Lernenden. „Ich wollte ihre Art, Theater zu machen, verstehen.“ Sie bemerkte, dass die Jungen die emotionalen Verquickungen genau wie sie sehen. „Sie finden dafür aber ganz andere Bilder und meinen es nicht so angriffig, wie ich dachte.“ Sie ließ sich auf sie ein. „Plötzlich war mein Zugang zu ihren Inszenierungen viel größer“, konstatierte sie schon bald.

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Der 40jährige Karl (Dieter Mann) steckt in der Midlife- Crisis. Er verliebt sich in eine Jüngere und eröffnet seiner Frau Elisabeth (Jutta Wachowiak) nach vielen Ehejahren, sie nie geliebt zu haben.  Das gesellschaftskritische Filmdrama „Glück im Hinterhaus“ (1980 von Hermann Zschoche gedreht) ist eine Adaption von Günter de Bruyns Roman „Buridans Esel“ ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

In Essen, wo sie niemand kannte, keiner je DEFA-Filme geguckt hat, gelang es Jutta Wachowiak aus ihrem seelischen Tief, ihrer emotionalen Talsohle herauszukommen. „Ich fühlte mich in der Stadt keinen Moment fremd.“ Die Stadt, die Menschen und das Leben hatten etwas Vertrautes, es kam ein bisschen DDR-Gefühl hoch – ein gutes.  Sie blieb bis Anselm Weber ans Schauspielhaus Bochum wechselte und kehrte 2009 nach Berlin zurück. Sie traf Thomas Langhoff wieder, der sich national wie international als Regisseur etabliert hatte, und spielte am Berliner Ensemble in seiner Inszenierung „Donã Rosita oder die Sprache der Blumen.“ Ihr Neubeginn auf einer Berliner Theaterbühne. Das Deutsche Theater betrat sie erst 2012 wieder, als Rafael Sanchez sie in William Shakespeares Tragödie „Coriolanus“ besetzte. „Früher hätte ich auch keinen Schritt in das Haus setzen können, partout nicht“, sagt Jutta Wachowiak. Dass sie nun wieder öfter auf ihrer einstigen Hausbühne steht, bedeutet der Schauspielerin sehr viel.

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Jutta Wachowiak 1995 bei meinem Besuch in ihrem Sommerparadies ©Boris Trenkel

Für mein Interview 1995 besuchte ich sie in ihrem Sommerparadies auf der Potsdamer Halbinsel Hermannswerder. Ein winziges Stück Idylle, direkt am Templiner See. Wir saßen am Steg, an dem ein Paddelboot vertäut war. Wochenlang kann sie allein sein im Garten. Hier kann sie stricken, lesen, schwimmen, sich sonnen… Wenn die Aprikosen reif sind, lädt sie Freunde zum Knödelessen ein. „Ick muss mir Abwechslung verschaffen können, wann ick will. Sonst kriege ick die Motten.“ Die Parzelle, auf der sie sich ein Haus gebaut hat, ist auch ihr Schlupfloch, wo Trubel und Chaos des Alltags draußen bleiben.

Der Drang nach Abwechslung führte Jutta Wachowiak in den Schauspielerberuf. „Ich mochte Theater und bin in jede neue Aufführung gegangen.“ Als es daran ging, dass sie in der Schule einen Berufswunsch äußern sollte, hatte sie keine Vorstellung. „Ich war vierzehn, extrem winzig, gerademal 1,42 Meter und zart. Das ist jetzt vielleicht zum Lachen, wenn man mich anguckt.“ Sie lässt den Blick an sich heruntergleiten und hat dabei ein schönes Strahlen im Gesicht.

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Jutta Wachowiak 1980 ©DEFA-Stiftung/Nobert Kuhröber

Jutta Wachowiak hatte eine gescheite Mutter, eine echte Berlinerin, die fest im Leben stand. Im Kriegsjahr 1944 war sie mit ihren beiden Töchtern wie Tausende Berliner Mütter aus der Stadt in die deutschen Ostgebiete im heutigen Polen evakuiert worden. Nach Kriegsende kehrte sie in den Prenzlauer Berg zurück. Aus Angst vor den Russen ging die Mutter mit den kleinen Mädchen sie zu Fuß, lehnte freundliche Aufforderungen, sie mitzunehmen ab. Doch als die Kinder nicht mehr konnten, stieg sie doch auf die Ladefläche eines Wagens. Und die kleine Jutta schrie und schrie, bis es nicht mehr auszuhalten war. Da stieg der Offizier aus dem Wagen, ging  zu einem Garten und riss einen Stachelbeerstrauch heraus. Und Jutta pickte bis Berlin die Beeren ab und stopfte sie in den Mund. Ruhe war nun. Sie kamen in ihre Wohnung in der Wichertstraße, die noch war, wie sie verlassen hatten.

Die Mutter sagte ihrer feinnervigen und durch eine Lymphdrüsen-Tuberkulose im Wachstum zurückgebliebenen Tochter nun als es an die Berufswahl ging: „Pass auf, da lernste erst mal Steno und Maschine. Da kann man immer was mit anfangen. Dann sehen wir weiter.“ Also lernte das Mädchen Stenotypistin und war mit sechzehn Sekretärin beim Stadtbezirk Prenzlauer Berg. „Meine kleine Mama raste ins Büro, um mich und meine Schwester durchzukriegen. Sie war eine ganz ungewöhnliche Frau, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommend, mit einer ungewöhnlichen Toleranz versehen, so lebhaftem Interesse an ernsthaften Vorgängen zwischen den Menschen. Das hat sie mir alles mitgegeben.“ Die Mutter war im Jahr vor unserem Interview gestorben.

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Günter Linke fotografierte die Schauspielerin 1969  für ein Autogrammfoto ©FMP/Günter Linke

Es dauerte nicht lange, da fing die frischgebackene Sekretärin an,  ihr Büro andauernd umzuräumen, legte die Briefe mal hier hin, mal dort hin, damit die Handgriffe nicht immer die gleichen waren. „Ich merkte, ich bin nicht ausgelastet oder verkehrt an dem Platz.“ Nach einem Jahr suchte sich sie eine Anstellung bei der Notenbank. „Ganz bewusst da, weil ich wusste, die haben eine Laienspielgruppe.“ Nach der Arbeit im Büro stand sie auf der Bühne und empfand sich da am richtigen Platz. Wohlwollend beobachtet von ihrem Chef, Herrn Todtmann, der später Karriere im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe in Moskau machte. Jutta Wachowiak erinnert sich gern an ihn: „Er war ein feiner Herr mit romantisch gebildetem Hintergrund. Wir hatten lange Kontakt. Es war gut, sich mit so jemandem zu unterhalten, man kam über den eigenen Horizont hinaus.“ Herr Todtmann war es, der sie zur Schauspielschule schickte. „Fräulein Jutta“, sagte er, „hier können Sie nicht bleiben. Sie müssen zum Theater.“ Sie bekam von ihm zum Einstudieren Komödien von Curt Götz, die sie überhaupt nicht kannte, weil das kein Theater in Ostberlin gespielt hat.

Ihr Vorspiel an der Schauspielschule in Schöneweide endete im Fiasko. Sie sei unbegabt. „Wenn man fünf Stunden warten muss und dann nicht mehr kann, weil sich da eine Sensibilität verrät, die irgendwann von Nutzen ist, wenn man sie durch Professionalität mit Kraft versieht, ist das kein Zeichen für Unbegabtheit, sondern für das Gegenteil.“ So sieht es die erfahrene Schauspielerin heute. Und so sah das damals auch die wohl bekannteste Berliner Dozentin für Schauspiel Doris Thalmer, der Schauspieler wie Christian Grashof, Franziska Troegner, Dieter Mann und Katharina Thalbach ihr handwerkliches Können verdanken. Doris Thalmer schickte die 17jährige Jutta zur Filmhochschule Babelsberg und sagte ihr, sie müsse sich gleich vorstellen, weil man da nur bis achtzehn immatrikuliert. An der Schauspielschule suche man ohnehin handfeste, proletarische Frauentypen. Ein solcher war die zarte, fummelige Jutta ja nun nicht.

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Jutta Wachowiak und Christian Grashof 2019 nach ihrer Fontane-Lesung ©Andrea Doberenz

Das Studium in Babelsberg gefiel ihr. An der Filmhochschule konnte man ihrer Fummeligkeit umgehen. 1963 dann das erste Engagement am Hans-Otto-Theater Potsdam. Fünf Jahre blieb sie und hatte ordentlich Lehrgeld zu zahlen. „Ich war noch so hingebungsvoll, hatte eine übertriebene Anerkennung für alles, was die anderen sagten, dass ich anfing zu zweifeln, ob ich richtig bin in dem Beruf.“ Diese Selbstzweifel behinderten sie in ihrem Spiel, wenngleich sie auch Erfolg hatte als Eliza in „Pygmalion“, ihre erste größere Rolle. „Ich konnte mich nicht öffnen. Es war mir klimatisch nicht möglich, zu der Form aufzulaufen, die ich zu dem Zeitpunkt sogar schon hätte haben können“, schätzte die Schauspielerin im Rückblick ein.

Sie wechselte 1968 an die Karl-Marx-Städter Bühne. „Ich wollte erfahren, ob ich den Beruf durchhalte.“ Plötzlich hatte sie den Raum und die Atmosphäre, die sie brauchte. Sie spielte ohne Hemmungen, setzte ihre emotionale Kraft, ihre Phantasie und ihr erlerntes Können ein. An der Seite von Christian Grashof spielte sie die Luise in „Kabale und Liebe“. Es war eine unerwartet starke Darstellung, auch für Jutta Wachowiak selbst. „Ich besann mich wieder, warum ich den Beruf ergriffen habe und dass ich mir selbst der wichtigste Zensor bin.“ Sie legte sich ihre Messlatte selbst, und wenn es in ihren Augen „nüscht war“, hat es sie doch weitergebracht. 1970 holte der grandiose Schauspieler und Regisseur Prof. Wolfgang Heinz das kongeniale Paar Wachowiak/Grashof ans Deutsche Theater nach Berlin.

Es war ein Start mit Hindernissen. Jutta Wachowiak kam mit der brüskierenden Arroganz des Intendanten Hanns Anselm Perten nicht klar. Die Gelegenheit war günstig, sich erst einmal auszuklinken. Sie hatte gerade den Nachrichtensprecher Klaus Ackermann geheiratet und zu ihm gesagt: „Komm wir machen ein Kind“. Tochter Anja kam im November 1971 zur Welt, ein halbes Jahr später kehrte die junge Mutter ans Theater zurück. Schon sehr erwartet von Prof. Wolfgang Heinz. Er wollte mit ihr Tschechows „Onkel Wanja“ inszenieren. Perten war wieder weg.

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2012 inszenierte Rafael Sanchez Shakespeares „Coriolanus“ und besetzte Jutta Wachowiak als Cominius und Konsul ©DT/Arno Declair

Die Arbeit mit Wolfgang Heinz bescherte Jutta Wachowiak eine wichtige Erfahrung. Ehrfurcht und Demut vor diesem klugen Mann, diesem einfühlsamen Schauspieler und Regisseur, hatten sie anfangs in den Proben gelähmt. Sie wusste, in Prof. Heinz hat sie jemanden, der steht wie ein Fels. Ein gediegener, gewachsener. Wenn der sagte: Nein, Kindele, dann wollte er sie nicht schikanieren. Er wollte, dass die Sache gut wird. „Ich ging auf der Bühne in die Knie, wenn er von seinem Sitz im Saal etwas sagte. Ich ertrug es nicht, dass ich oben stand und er saß unten. Aber irgendwann im Leben gibt es einen Punkt, wo es anfängt, dass man die qualvollen Strecken auch genießen muss, damit sie Folgen haben.

Und dann kam dieser Punkt. Sie blieb stehen und führte den Dialog in aufrechter Haltung. Genau das hatte Wolfgang Heinz provozieren wollen. Sie redeten auf Augenhöhe. „Er wollte nicht, dass man in die Knie geht. Er wollte sich auch reiben.“ Auf diese Weise haben sie dann viele Jahre gearbeitet. Die Schauspielerin litt, als er nicht mehr so gegenhalten konnte mit wachsendem Alter. Sie zog für sich die Konsequenz. „Ich versuchte, zu ihm zu halten, dachte: jetzt ist dir eben eine Verantwortung zugewachsen, jetzt haste das mit aufzufangen. Das ist mir nicht immer gelungen.“

Hermann Beyer und Jutta Wachowiak als Ehepaar Pötsch 1981 in Roland Gräfs Literaturverfil- mung Märkische Forschungennach dem Roman von Günter de Bruyn ©DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer

Neben der Bühne hat Jutta Wachowiak seit ihrem Studium eine Parallelwelt vor der Kamera. Die DDR war klein, DEFA und Fernsehen hatten zwar eigene Ensemble, aber man griff gern auf Theaterschauspieler zurück. Sie brachten ihre Bühnenerfahrungen mit ein und hatten auf der anderen Seite selbst mehr Abwechslung in den Rollen. So funktionierte das 40 Jahre lang wunderbar.

Thomas Langhoff, der ab 1971 auch als Regisseur Fernsehfilme drehte, besetzte Jutta Wachowiak 1976 mit der Hauptrolle in seinem Frauendrama „Die Forelle“. Ihre erste große Filmrolle und ein Durchbruch vor der Kamera. Sie spielt eine junge Frau, die durch einen Unfall ihren Mann verliert. Allein mit zwei Kindern sehnt sich bald nach einem neuen Partner. Die Schauspielerin erspürt Leiden, Verlustschmerz, Sehnsucht, Hoffnung und Zweifel ihrer Figur mit einer seltenen Gefühlstiefe und Empfindsamkeit.

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Jutta Wachowiak und Erwin Berner 1977 in Thomas Langhoffs Fernsehspiel „Befragung  – Anna O.“ ©Waltraut Denger, Quelle: FFdabei 16/1977

Im Jahr darauf drehte Thomas Langhoff mit ihr das Fernsehspiel „Befragung – Anna O“, in dem es um eine Vierzigjährige geht, die lange von ihrem Mann getrennt war. Auf sich gestellt, hat sie sich zu einer starken, selbstbewussten Persönlichkeit emanzipiert. Jutta Wachowiak verlieh dieser Frau große Souveränität. Es entwickelten sich spannende und dramatische Spielszenen.

Der Regisseur holte seine Protagonistin immer wieder in Rollen vor die Kamera, in denen sie ihre spielerischen Facetten ausloten konnte. Er entlockte ihr in seinen eigenwilligen Adaptionen klassischer Sujets wie „Stine“ (1979) und „Stella“ (1982 die ihr gegebenen Fähigkeiten. 1980 entstand der sensible, warmherzige und auch heitere Fernsehfilm „Muhme Mehle“, nach einer Erzählung von Ruth Werner. Er spielt Anfang der 40er Jahre und ist eine Geschichte von der Freundschaft der unpolitischen Muhme (Käte Reichel) und der kommunistischen Funkerin Mirjam (Jutta Wachowiak), die abgelegen in den Schweizer Bergen leben.

„Die Verlobte” DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer
So akzeptierte es Jutta Wachowiak, das Standfoto machen zu lassen ©DEFA-Stiftung/Waltraud Pathenheimer

Ihre ergreifende Verkörperung der Widerstandskämpferin Hella Lindau im DEFA-Film „Die Verlobte“ dürften allen, die sie gesehen haben, unvergessen bleiben. Sie wurde dafür 1980 mit dem Nationalpreis I. Klasse der DDR ausgezeichnet. Auf dem XXII. Internationalen Filmfestival in Karlový Váry folgte im selben Jahr der Grand Prix. Die Filmfotografin Waltraud Pathenheimer erinnerte sich in einem Gespräch mit mir, wie schwer es war, eine bestimmte Szene nachzustellen. „Jutta Wachowiak weigerte sich, für das Standfoto nach dem Abdrehen noch einmal tief in die Szene einzutauchen. Es waren die ersten Einstellungen in der Wäscherei. Wir drehten auf einem Dachboden. Hella Lindau öffnet ein vernageltes Fenster und wird von dem Licht geblendet. Das wollte Jutta Wachowiak nicht wiederholen, weil es sie emotional sehr angespannt hatte.“ Die Fotografin suchte nach Lösungen, um die Schauspielerin zur Mitarbeit zu bewegen. Am Ende entstand eine bewegende Aufnahme.

Meine Filmbegegnungen mit Jutta Wachowiak begannen mit der DEFA-Komödie „Auf der Sonnenseite“. Sie studierte damals gerade im ersten Jahr an der Filmhochschule, als Regisseur Ralf Kirsten sie für einen Miniauftritt als Sängerin vor die Kamera holte. Wirklich erinnern kann ich mich an die Szene nicht. Dafür aber an den DEFA-Krimi „Die Glatzkopfbande“.

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Ende August 1961. Der ehemalige Fremdenlegionär King (Thomas Weisgerber, r.) treibt mit einer Band Rowdys (Rolf Römer als Jolle, l.) sein Unwesen in der DDR ©DEFA-Stiftung/Alexander Schittko

Er spielt wenige Tage nach dem Mauerbau am 13. August 1961 und erzählt von einer randalierenden Gang im Ostseebad Bansin. Aus Frust und Langeweile scheren sich die Jungs die Schädel kahl, knattern auf Motorrädern umher, pfuschen bei ihrer Arbeit und belästigen die Urlauber auf Usedom. Klar ist das ein Fall für den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei…
Für Jutta Wachowiak seien die Dreharbeiten 1962 ihre „erste grauenhafte Bekanntschaft mit dem Medium“ gewesen, erzählte mir die heute 79-Jährige. Als Kind hatte sie Lymphdrüsen-Tuberkulose und von dieser Krankheit eine schwarze Stelle im Schneidezahn zurückbehalten. Regisseur Richard Groschopp schickte sie zum Zahnarzt. „Der stülpte mir eine Plastekrone drüber, damit ich immer schön lächeln konnte. Mehr machte ich auch nicht, sonst wäre mir das Ding aus dem Mund gefallen.“

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Jutta Wachowiak spielte nur eine kleine Rolle als Marianne Pohl in dem ersten Actionfilm der DEFA, aber sie war nachhaltig ©DEFA-Stiftung/Alexander Schittko

Mit eingefrorenem Lächeln stakste sie so ungelenk durchs Bild, dass es sogar die bekannte und scharfzüngige Filmkritikerin Renate Holland-Moritz vom Satiremagazin „Eulenspiegel“ einer Erwähnung wert befand: Auffallend, die umwerfend miserable agierende Elevin Jutta Wachowiak… Heulend wollte sie sich von der Filmhochschule exmatrikulieren lassen, so blamabel fand sie sich. Aber was hatte sie ihrer Mutter gesagt: „Ich will ja auch nicht leicht haben.“ Nein, da musste sie durch! Viel zu nah war sie ihrem Traumberuf schon gekommen. Und die ihre Lehrer fanden eher den Film schlecht als sie.

Als ich Jutta Wachowiak 1995 kennenlernte, hatte sie gerade an der Seite von Harald Juhnke in der deutsch-österreichischen Adaption des Fallada-Romans „Der Trinker“ vor der Kamera gestanden. Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf hatte Hans Falladas tragische Geschichte des Unternehmer Erwin Sommer in die Zeit nach der Wende verlegt. Unaufdringlich-präzise ist Jutta Wachowiaks Darstellung der Ehefrau Magda Sommer. Über die Rolle hatte sie sich wahnsinnig gefreut. Es war das erste Mal, dass die damals 53-Jährige nach Jahren wieder vor der Kamera stand. Ihren letzten Film, „Scheusal“ (1990) hatte sie noch für das DDR-Fernsehen gedreht.

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Jutta Wachowiak und Harald Juhnke in „Der Trinker“ Quelle: DW-Kultur-Berlin

6,8 Millionen Zuschauer verzeichnete die ARD bei der Ausstrahlung des „Trinkers“ am 6. Dezember 1995. Was für die Schauspielerin wie ein Comeback in große Fernsehrollen aussah, erfüllte sich nicht. „Ich bekam sehr schöne Briefe von Leuten – die mir was wert sind – aber keine neuen Angebote“, erinnerte sie in unserem Interview drei Jahre später. Natürlich hatte sie darauf gehofft, doch festzuklammern hatte sie sich abgewöhnt. „Dieser Industriezweig, der heute Schauspieler verwertet, hat mich danach so wenig beachtet wie vorher.“

Der Markt war durch den Zulauf an DDR-Schauspielern nach Wende übervoll. Die Filmproduzenten und Casting Agenturen wussten auch kaum etwas anzufangen mit dem Namen Wachowiak, kannten ihn nicht mal. Dem Warten im Abseits begegnete die vormals sehr gefragte Schauspielerin mit Nüchternheit. „Es macht nicht glücklich, aber ich leide darunter nicht. Das Leben von Frauen zwischen 50 und 65 interessiert keinen, deshalb gibt es auch kaum gute Rollen für uns. Die Zeiten großer Filme, wie wir sie bei der DEFA und im DDR Fernsehen gedreht haben, sind ohnehin vorbei.“

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Jutta Wachowiak (M.) 1986  in dem DEFA-Film „Das Haus am Fluss“ von Roland Gräf. Die Fischersfrau Voß lebt mit ihren beiden Töchtern, der und Schwiegertochter und dem Schwiegersohn Jupp an einem großen Strom. Es ist das Jahr 1942 und der Krieg zieht auch hier ein ©DEFA-Stiftung/Dietram Kleist

Diese Vielseitigkeit anspruchsvoller Rollen vermisst sie. Eine ihrer intensiven Figuren war zum Beispiel die Hebamme Christine in Heiner Carows Mutter-Tochter-Film So viele Träume“ aus dem Jahr 1985. Im gleichen Jahr stand sie bei Roland Gräf in der tragischen Kriegsgeschichte „Das Haus am Fluss“ vor der Kamera. Jutta Wachowiak hält nicht viele Rollen, in denen sie in den Jahren nach der Wende vor der Kamera gestanden hat, für erwähnenswert. Da waren 1995 kleine, feine in der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ und „Nikolaikirche“. 1996 spielte sie in dem 12-minütigen Kurzfilm „Fremde Heimat“ von Damir Lukacevic eine der drei Frauen, deren Schicksal er erzählt. Der Film gewann den Bundesfilmpreis in Gold.

Die Zeit in Essen gehörte der Bühne und ihrer seelischen Genesung. Hier kam sie iirgendwann wieder bei sich an. „Es ist mir tatsächlich gelungen, wieder gesund zu werden. Das war ein mühsamer und sehr schwerer Weg“, schrieb sie mir in einer Mail. Sechs Jahre hatte sie keine Filmrollen angenommen. Zuletzt agierte sie 2004 in der TV-Biografie über die Schriftstellerin Brigitte Reimann als deren Mutter. Erst nach ihrer Rückkehr 2009 nach Berlin und auf die Bühne, kehrte die Schauspielerin  in einer kleinen Gastrolle in dem sozialkritischen ARD-Gesellschaftsdrama „Wohin mit Vater“ auch auf den Bildschirm zurück. Sie wollte wieder dabei sein. Es folgten Parts in der ZDF-Krimi-Reihe „Bella Block“ und der Beziehungskomödie Nach all den Jahren“.

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Sie knacken den 30-Millionen-Jackpot (v.l.):  das schwule Paar Otto (Ulrich Pleitgen) und Jacob (Joachim Bliese), die gutmütige Rosi (Ursula Karusseit), das liebesmüde Ehepaar Günter (Dieter Mann) und Karin (Jutta Wachowiak) und der alternde Lebemann Conrad (Michael Gwisdek) Altepflegerin Ursula (Marie Gruber, M.) sorgt sich um die sechs ©ARD Degeto/Arvid Uhlig

Zu ihren schönsten Rollen der letzten Jahre  gehört die lebensfrohe, rüstige Karin in der ARD-Tragikomödie „Die letzten Millionen“, die mit ihrem griesgrämigen Mann Günter in einem Seniorenheim wohnt. Der wird gespielt von ihrem großartigen Kollegen Dieter Mann vom Deutschen Theater, 1984-1991 Intendant des Hauses. Mit ihm spielte sie auch in Thomas Langhoffs Inszenierung Der Biberpelz“ auf der Bühne. „Die letzten Millionen“  sind eine wundervolle Ensemblearbeit herausragender Schauspieler, zu denen noch Ursula Karusseit, Marie Gruber, Swetlana Schönfeld, Michael Gwisdek, Ulrich Pleitgen, und Joachim Bliese gehören.

Jutta Wachowiak hat es geschafft, wieder dabei zu sein. Ihre kleine Rolle als lebenserfahrene Oma in dem Drama „Hanne“ war ein Highlight für mich. Zwei Hauptrollen im „Prag Krimi: Der kalte Tod“ und im „Polizeiruf 110: Mörderische Dorfgemeinschaft“ lassen auf mehr hoffen. Jutta Wachowiak steht im 80. Lebensjahr. Ich habe sie damals, vor 25 Jahren, gefragt, was sie sich für die kommende Zeit noch wünscht. Die Antwort: „Eine Rolle in einem richtig schönen Menschenfilm, wo zugegeben wird, dass das Leben wunderbar und erbarmungslos ist. Und eine schöne alte Frau möchte ich sein, äußerlich und innerlich.“ Letzteres hat sich aus meiner Sicht schon erfüllt. An der Sache mit dem Film könnten die Drehbuchschreiber noch arbeiten. Da ist noch Luft nach oben.

Wintersonnenwende
Zu Hochform lief Jutta Wachowiak 2015/16 als Corinna in Roland Schimmelpfennigs „Wintersonnenwende“ auf. Das Stück zeichnet ein genaues Bild der gegenwärtigen Mitte der Gesellschaft und kratzt dabei an der Wunde des schlimmsten Kapitels deutscher Geschichte. ©DT/Arno Declair

Ein Gedanke sei noch gesagt: Der Solo-Abend „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ ist mehr als eine Selbstreflexion der Schauspielerin über ihr Leben. Dabei sein heißt für sie, die zurückgewonnene Kraft nutzen, um sich unser Leben nicht immer von den erzählen zu lassen, die nicht dabei waren. „Für mich ist die Inszenierung auch ein Versuch, die offizielle Geschichtsschreibung ein wenig gerade zur rücken“, heißt es im Programmheft. Deshalb erzählt sie ihr Leben auch auf westdeutschen Bühnen wie Köln und Braunschweg.  Mag sein, dass es nicht allen Zuschauern gelingt, die Zusammenhänge bis ins Letzte zu erfassen – dafür muss man sich auskennen mit der DDR. Aber jeder Abend endet für die Schauspielerin mit dem wundervollen Gefühl, dass das Publikum ihr zugehört hat, sie zu verstanden hat. Dass sie es mit ihrer Botschaft erreicht hat.

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