Christa Kožik zum 80. Geburtstag: „Ich bin ein Kind der DDR“

Unsere Bekanntschaft begann vor zehn Jahren mit dem DEFA-Kinderfilm Moritz in der Litfaßsäule“. Ich recherchierte damals für einen Beitrag zur Veröffentlichung der DVD in der SUPERillu. Regisseur Rolf Losansky schlug vor, unser Gespräch gemeinsam mit der Autorin Christa Kožik zu führen, zumal sie auch das Szenarium für den 1982/83 entstandenen Film geschrieben hatte. Mit ihren poetisch-phantasievollen Erzählungen über Kinder, die in einer vergangenen Zeit in einem vergangenen Land lebten, hat sie in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur ihren Platz neben so bekannten Kinderbuchautoren wie Benno Pludra, Gerhart Holtz-Baumert, Peter Abraham oder Elizabeth Shaw. Adäquat die Verfilmungen, die zum besten Teil des DEFA-Kinderfilms gehören. Sie wurden in über 30 Länder verkauft.

Regisseur Rolf Losansky († 15. 9. 2016) und Autorin Christa Kožik im Interview mit Bärbel Beuchler im September 2011. Foto: Jürgen Weyrich / SUPERillu

Christa Kožiks Credo ist es, das Leben mit den drei Augen zu sehen, die Kinder haben. „Das dritte, das innere Auge, ist die Phantasie mit der sie im Alltäglichen das Unsichtbare, das Wundersame aller Dinge und in sich selbst entdecken“, erklärt sie. Ein Satz von Karl Marx wurde für ihr Schaffen ganz wichtig. „Er sagte“, zitiert sie, „die Phantasie erhebt sich über die Wirklichkeit, um tiefer einzudringen.“ Wenn Moritz in der Litfaßsäule mit der welterfahrenen Straßenkatze sinniert: „Wenn Erwachsene Weltschmerz haben, gießen sie sich einen auf die Lampe. Aber was machen wir Kinder, wenn wir Weltschmerz haben?“, hat das eine philosophische Dimension. Das geht an die Erwachsenen. Auf dem 4. Internationalen Kinder- und Jugendfilmfestival „Goldener Spatz“ 1985 in Gera erhielt der Film den Sonderpreis „Pädagogisch besonders wertvoll“. Heute steht er bundesweit im Schulfilmprogramm und kommt in Kinoveranstaltungen oft zum Einsatz.

Andij Greissel spielte den kleinen Philipp in Christa Kožiks Debütfilm, der 1976 in die Kinos kam Foto: Herbert Kroiss/DEFA-Stiftung

Christa Kožik zeigt eine Kinderwelt, die Schmerz und Verlust kennt, aber auch Magie. Ihre Geschichten verstehen die Kinder überall auf Welt, weil sie sich in der einen oder anderen Weise darin finden. Ihr Debüt als Drehbuchautorin gab sie 1976 mit dem Film „Philipp der Kleine“. Den Film hat sie zum Abschluss ihres Dramaturgie-Studiums an der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg zusammen mit dem DEFA-Regisseur Herrmann Zschoche realisiert. Er war Teil ihrer Diplomarbeit über das Realfantastische in Kinderfilmen und wurde 1977 auf Filmfestival in Wien ausgezeichnet. „Mich reizte immer die Poesie in den Geschichten für Kinder wie sie Benno Pludra schrieb, bei Christa Kožik auch die märchenhaften Elemente“, sagte mir Herrmann Zschoche in einem Interview. Zschoche bevorzugte das Genre Kinderfilm, „weil dafür die besseren Drehbücher vorlagen“.

Rolf Losansky (M.) mit Walfriede Schmitt als Mutter und Dirk Möller als Moritz bei den Dreharbeiten zu „Moritz in der Litfaßsäule“ 1982 im thüringischen Pösneck Foto: Klaus Zähler/DEFA-Stiftung

Seit Mitte der 60er Jahre tendierten Regisseure wie Rolf Losansky und Herrmann Zschoche dahin, Phantasien ihrer kleinen Protagonisten in deren Wirklichkeit zu integrieren. „Christas Geschichten eigneten sich dafür wunderbar, weil ihre Phantasie aus der Realität kommt“, antwortete Rolf Losansky auf die Frage, was ihn an Christa Kožiks Büchern so anzog. Sie nennt es einen großen Glücksfall, dass sie den begnadeten Kinderfilmregisseur 1973 auf ihrer erster Auslandsdienstreise zum Internationalen Kinder- und Jugendfilmfestival in Gottwaldow kennenlernte. „Mir konnte nichts Besseres passieren, weil Rolf genau meine Wellenlänge hatte. Er besaß diese wundervolle Art mit Kindern umzugehen und begann das Realfantastische als filmisches Mittel zu lieben.“

„Kicki und der König“ erschien 1990 als Christa Kožiks letztes Buch im Kinderbuchverlag Berlin. Ihr märchenhafter kritischer Blick auf die DDR kam aber durch die Abschaffung des Staates nicht mehr in den Verkauf. 2011 legte der Eulenspiegel Kinderbuchverlag den Roman vom König und der wahrheitsriechenden Katze neu auf. Flyer von Paul Eckelt,

Ich bedauere sehr, dass mir ihre Bücher und Filme erst so spät begegnet sind. Zu spät für meine Kinder, nicht zu spät jedoch, meinen Enkelkindern Christa Kožiks Geschichten nahezubringen. Neulich passierte das ganz zufällig. Meine Enkelin Lina übernachtete bei uns. Ich sollte ihr vor dem Schlafen etwas vorlesen. Sie suchte sich Kicki und der König aus. Es war wohl der Einband mit Cleo-Petra Kurzes Katze, die eine goldgeränderte Brille in der Pfote schwingt und sehr allwissend aus ihren verschiedenfarbigen Augen guckt, der die Vierjährige anzog. Ich fing also an zu lesen. Das Kind kuschelte sich ein und lauschte. Ich kam aber immer nur ein paar Zeilen voran. „Warum hilft die Katze dem König? Warum hat sie ein blaues und ein gelbes Auge? Braucht sie darum eine Brille? Warum kann die Katze sprechen?“, bombardierte es mich. Als ich am nächsten Tag weiterlesen wollte, nahm Lina mir das Buch aus Hand, schlug es auf und spann ihre eigene Geschichte.

Während Lina erzählte – mehr für sich als für mich – erinnerte ich mich daran, was Christa Kožik bei unserem Gespräch über „Moritz in der Litfaßsäule“ sagte: „Kinder haben eine Schatzkiste im Kopf, mit der sie wunderbare Dinge tun können. Dichten, Musikmachen, tolle Bilder malen. Auf diese schöpferische Kraft, ihre Phantasie, will ich sie aufmerksam machen.“ Wie gut ihr das gelingt, erlebte ich noch einmal vor ein paar Tagen, als Lina sich den Film „Philipp der Kleine“ ansah. Philipps und Trixis kindlich-ernste Unterhaltung über den Tod, als sie den Hamster begruben, brachte Lina auf die Frage, ob sie ihre Uroma vielleicht wieder ausgraben könnte. Ich wollte wissen, warum sie das möchte. „Na, weil ich sie so liebhabe.“ Lina hat die Uroma nie kennengelernt, aber ihr Grab ist auf einem kleinen Friedhof an einem Wald, den sie mit ihren Eltern oft besucht. Und da gefällt es ihr sehr.

„Der verzauberte Einbrecher“,erschien 1994 als Buch, 1996 drehte Rolf Losansky den Film nach dem Drehbuch von Christa Kožik. Szene mit Friedrich (Friedrich Lindner) und dem alten Fischer (Günter Lamprecht) Fotoquelle: Wild Utopia DIF

Für den verträumten Moritz in ihrer Geschichte erfand Christa Kožik die sprechende Straßenkatze, die mit dem Jungen über seine Plagen philosophiert. Im „Verzauberten Einbrecher sagt der alte Fischer zu dem neunjährigen Friedrich: „Du bist nicht zu schwach. Du kannst Geschichten schreiben. Nutze deine Phantasie. Sie hilft dir, stark zu werden. Dann hast du Muskeln im Kopf.“ Das Wunder, das „Philipp dem Kleinen“, der von allen gemobbt wird, widerfährt: Er bekommt eine „Wunderflöte“ geschenkt, lernt sie zu spielen und gewinnt Zutrauen zu sich und plötzlich Anerkennung. Christa Kožiks leise Botschaften kommen leichtfüßig, mit Humor daher. Sie unterhält jedoch nicht mit oberflächlichem Spaß. Es gibt immer eine tiefere Ebene, die auch für die Erwachsenen gedacht sind.

Christa Kožik in ihrem Arbeitszimmer. Linkerhand über dem Schreibtisch ein gerahmtes Foto, das sie im Oktober 1989 in Stockholm mit der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren zeigt. Foto: Heike Niemeier/SUPERillu

Am 1. Januar ist die Schriftstellerin, die Sanftmut ausstrahlt und manchmal melancholisch wirkt, 80 Jahre alt geworden. Als ich sie an ihrem Geburtstag anrief, um zu gratulieren, kamen wir ins Reden. Sie war mit ihrem Mann Christian allein, da wegen der Corona-Pandemie eine Feier mit der großen Patchwork-Familie flachfiel. Sie hat drei Söhne, acht Enkel und eine Urenkelin. Christa Kožik liebt es, ihre Familie um sich zu haben. Der Zustand jetzt macht sie traurig.

Dem Besucher fällt an der Haustür sofort der Aufkleber mit einer Picasso-Friedenstaube auf und das Bekenntnis: Nein zum Krieg

Mir fiel auf, wie wenig ich doch über sie wusste, trotz der langen Zeit, die wir uns kennen. Und ich fragte, ob sie Lust hätte, mir für meinen Blog aus ihrem Leben zu erzählen. Hatte sie. Gern hätte ich sie wieder zu Hause in Babelsberg besucht, mit ihr im Arbeitszimmer gesessen, beim Reden Bilder aus ihren zweimal vierzig Jahren – wie sie ihre Lebenszeit einteilt – angeschaut. Doch das verbot sich. Also beschränkten wir uns aufs Telefonieren in der Woche darauf. Fotos schickte sie mir per Post. Wir sprachen in Fortsetzungen miteinander.

I

Für unser Gespräch hatte sie sich in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen. Ihr Refugium im oberen Stock, in dem sie Ruhe hat zum Schreiben, zum Nachdenken oder Lesen. Ich erinnere mich an den Raum mit unendlich vielen Büchern, Fotos und einem Filmplakat von „Moritz in der Litfaßsäule“ an den Wänden. Zu Beginn erzählt sie, dass sie zu ihrem 80. eigentlich ihre Lebenserinnerungen schreiben wollte. Das angefangene Manuskript läge nun eine ganze Weile schon im Schreibtisch. Auf halber Strecke sei ihr die Luft ausgegangen. Das eigene Leben aufzurollen, all die aufwühlenden Bilder von Toten und Verwundeten heraufzuholen, vom Feuerschein am Himmel, wenn Bomben fielen, dazu fehlte ihr die Kraft. Es ist keine Geschichte, die sie selbst gestalten kann, die nur Spaß macht beim Schreiben.

Die Schriftstellerin und ihr Mann, der Pianist und Musikdozent Christian Kožik, im Juli 2008 Foto: Arwid Lagenpusch

Es sind andere Dinge, die sie jetzt beschäftigen. Ihre ganze Energie braucht Christa Kožik seit Geraumem für ihren Mann. Der Pianist und Musikdozent leidet an einer hochgradigen Spinalkanalstenose. Für ihn da zu sein, ist der 80-Jährigen wichtiger, als dem eigenen Ich nachzuforschen. Sie hat ihre Memoiren zurückgestellt. „Die müssen warten.“ Sie macht eine Pause. „Wir bejammern uns aber nicht. Wir sind im Kopf wach und verschaffen uns gute Momente. Wir ziehen uns etwas Schönes an, lesen viel und tauschen uns aus.“

Goldene Hochzeit 2013 mit den Söhnen Adrian, Sebastian und Dirk (v.l.). Dirk, der Sohn von Christian Kožik, gehört von klein auf zur Familie. Foto: Arwid Lagenpusch

So halten es Christa und Christian Kožik seit ihrem Kennenlernen Silvester 1962. Mit einem Lächeln im Gesicht, das man durchs Telefon spürt, erinnert sie sich. Nur wegen Beethovens 9. Sinfonie hatte sie die Einladung des Fotografen Arwid Lagenpusch angenommen, ihn auf die Silvesterfeier seines Freundes Christian zu begleiten. „Als der junge Mann mit dem Fotoapparat um den Hals mich ansprach, stand ich mit einem Koffer voll Briketts auf dem Bassinplatz in Potsdam. Jetzt kann man darüber lachen. Es war eiskalt und tiefer Schnee im Dezember damals, und man brauchte eine Kohlenkarte, um sich Kohlen zu kaufen. Die hatte ich noch nicht, denn ich war erst ein paar Tage zuvor von zu Hause ausgezogen. Deshalb hatte ich mir Kohlen von meiner Mutter aus Stahnsdorf geholt, jedes Brikett feinsäuberlich in Zeitungspapier gewickelt und in einen Koffer gepackt. Arwid trug mir den Koffer bis vors Haus und malte mir den Abend aus. Sein Freund sei Pianist und hätte alles so organisiert, dass wir ab fünf Uhr Nachmitttags gemeinsam Beethovens 9. Sinfonie im Radio anhören würden, dann würde man reden und tanzen. Feierlich Beethovens 9. anhören – da bin ich weich geworden. Ich war kulturversessen.“

Ein Liebesgedicht für ihren Mann, 1976

Es wurde auch der schönste Geburtstag, den sie je erlebt hatte. Der schwarzhaarige Pianist mit den blauen Augen und dem slawischen Nachnamen kam wie sie aus Schlesien. Er ließ den ganzen Abend die Augen nicht von ihr. Sie sprachen über Musik, Literatur und Kunst. „Ich konnte mit ihm über meine Gedichte sprechen und fand zum ersten Mal jemanden, der sich dafür interessierte. Aber er war auch ein Macho“, lacht sie. „hatte ungewöhnliche Ideen, wie die, dass Arwid, der keine Freundin hatte, ein unbekanntes Mädchen mitbringen sollte, das er auf der Straße ansprach. Ja, so war Christian.“ Seine Küsse, die er ihr um Mitternacht schenkte, schlugen wie kleine Blitze bei ihr ein. „Mit meinem 22. Geburtstag begann für mich der zweite, der gute Teil meines Lebens“, sagt sie, an die gemeinsamen 58 Jahre denkend.

Das Paar 1971 Foto: Arwid Lagenpusch

Am 27. Juli 1963 stand sie mit dem sechs Jahre älteren Musiker vor der Standesbeamtin und wurde Christa Kožik. Christian und Christa schien ihr passend. Im Dezember kam ihr Sohn Adrian zur Welt, drei Jahre später Sebastian. 1963 wurde auch das Jahr, in dem sich die kartografische Zeichnerin aufmachte, eine vielgelobte Lyrikerin zu werden. Dass sie bald auch Kinderbücher und Filmszenarien schrieb, ergab sich einfach. Christian Kožik hat viele Gedichte seiner Frau zu Chansons vertont. Die künstlerische Zusammenarbeit mit ihm sei ein ganz wesentlicher Punkt in ihrem Leben, betont Christa Kožik. Das dürfe ich auf keinen Fall vergessen zu schreiben.

Ich höre Christian Kožik von unten heraufrufen, dass Sebastian auf der anderen Leitung sei. Wir vertagten uns. Das war auch gut so, denn ich wollte mit ihr in die Kindheit zurückreisen, wissen, woher die Traurigkeit kommt, die ihr oft im Blick liegt. Man sieht es auf allen Fotos, immer schaut sie gedankenverloren in die Kamera.

Allen fiel das auf, in der Schule, in der Lehre, im Studium. Sie hört noch die ständige Frage: Christa, wo bist du wieder mit deinen Gedanken? „Ich war überempfindlich, habe gelitten und wusste nicht warum“, erzählt sie. „Oft dachte ich an meinen Vater, nach dem ich mich so sehnte und mir wünschte, er käme zu mir, obwohl ich ja wusste, dass er tot ist. Als kleines Mäuschen trug ich sein Foto in der Schulmappe. Das war mit der Zeit so zerknittert, dass man sein schönes Gesicht kaum noch erkennen konnte.“

Es kümmerte damals keinen, wie es einem kleinen Menschen ging, der Bomben, Tod und so viel Schreckliches gesehen hat. „Man war froh, den Krieg überlebt zu haben und schaute nur nach vorn. Psychische Probleme waren kein Thema. Sattwerden und den Alltag bewältigen, darum drehte sich unser Leben in den 40er und 50erJahren. Da gab es nichts Strahlendes“, erinnert sich Christa Kožik.

II

Es ist eine tragische Familiengeschichte, die sich mir bei unserem nächsten Telefonat auftat. Christa Kožik kam im niederschlesischen Liegnitz, dem polnischen Legnica, zur Welt. Der Vater arbeitete als Streckenwärter, ein ruhiger Mann, der nichts von Krieg hielt. Eines Tages kehrte er von der Arbeit nicht heim. Bei einer Gleiskontrolle hatte ihn ein Zug erfasst. Das war im Januar 1943, kurz nach dem zweiten Geburtstag seiner Tochter Christa. Sie erinnert sich nicht, ob die Mutter weinte oder jemand sagte, dass der Vater tot ist. Aber es hat sich in ihr Bewusstsein gegraben, dass er plötzlich weg war, nicht mehr kam, um sie auf den Arm zu nehmen. Das Kind verlor seine Fröhlichkeit. Ein Kinderfoto vom Mai 1943 zeigt die Zweijährige am Grab ihres Vaters. Ein nachdenkliches kleines Mädchen mit traurigem Blick.

Die zweijährige Christa kann noch nicht verstehen, was tot heißt, warum ihr Vater unter der Erde liegt und nicht wiederkommt

Wie groß das Leid ihrer Mutter war, konnte Christa Kožik erst viel später ermessen, nachdem sie erfahren hatte, was die Mutter ertragen musste. Hedwig Schmidt hatte schon den Vater ihrer Tochter Margot verloren, mit dem sie nach einigen Verhältnissen endlich glücklich zu werden schien. Aber 1933 war nicht die Zeit für die Liebe zwischen einem „arischen“ Mädchen und einem Juden. Ihre Beziehung galt als Rassenschande. Das Paar floh nach Görlitz, um unerkannt sein Kind zur Welt zu bringen. Doch jemand verriet sie an die Gestapo. „Meine Mutter kam ein Jahr ins Frauengefängnis Dresden, weil sie sich weigerte zu unterschreiben, dass sie, eine blonde Schönheit, von dem ,Judenschwein‘ vergewaltigt worden ist.“ Die Spur von Margots Vater verliert sich im KZ Buchenwald. Der Wirtin des kleinen Hotels, in dem Hedwig Schmidt im Oktober1934 entbunden hatte, gelang es, das Baby vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Sie gab es in ein Kinderheim, wo es die Mutter nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis 1936 abholte. „Meine Mutter kehrte traumatisiert zu ihren Eltern nach Liegnitz zurück und lernte zum Glück bald meinen Vater kennen“, erzählt Christa Kožik. Der Streckenwärter Schmidt heiratete die junge Frau, der die Leute „Judenhure“ an die Tür geschmiert hatten, und nahm ihre Tochter Margot als sein Kind an. Das war für beide die Rettung.

Der Krieg näherte sich Liegnitz. Wenn sie das Donnern der Geschütze und das Heulen der Flugzeugbomben hörte, versteckte sich die kleine Christa in einem Pappkarton. Ihr Schutzraum, in dem die Angst keinen Platz hatte. „Ich dachte immer: Warum spielen die so böse Spiele, warum machen die Menschen so böse Sachen. Es wuchs ein Misstrauen gegen die Erwachsenen, das ich als Kind immer hegte.“ Im Januar 1945 begann die Evakuierung der deutschen Bevölkerung aus der Kleinstadt. Dem vierjährigen Mädchen prägten sich schlimme Bilder ein, die es nie loswurde. „Kurz vor Frankfurt/Oder wurde unser Zug bombardiert. Ich weiß noch, wie wir rausgestürzt sind, dabei die Hälfte unserer Sachen verloren. Meine Mutter warf sich über uns. Die Bomben krachten nieder, ich hörte Schreie, sah Verwundete im Schnee liegen.

Zu Fuß schleppte sich Hedwig Schmidt mit ihren beiden Töchtern an den Schienen entlang zum Bahnhof. „Ich wunderte mich über die Bretter, die auf dem Bahnsteig herumlagen“, erzählt Christa Kožik. Dann sah sie, dass es Menschen waren, deren gefrorene Leiber man einsammelte und auf einen Güterzug warf. „Dieses krachende Geräusch ging mir so tief unter die Haut, dass ich das als junge Frau noch nicht verkraftet hatte.“ So sind der Tod und die Bilder des Krieges in vielen ihrer Gedichte zugegen, sie in jungen Jahren geschrieben hat.

Als Kind ging ich gern durch die Blumen
und mochte die Spitzen der Saat.
Da lag auf dem Feld in den Gräsern
Ein junger toter Soldat.

Aus einer schlesischen Kleinstadt
war unser Treck gekommen.
Die Thüringer haben schnell noch
ihre Wäsche von der Leine genommen.

Als ich Brennesseln essen mußte,
fragt’ ich Mutter, ob Gott Winterschlaf hält,
wenn statt blinkender Regentropfen
Eisen vom Himmel fällt.

Der Junge, mit dem ich spielte,
der war am Morgen tot,
weil die Bombe das Haus zerstörte.
Und nachts war der Himmel rot.

Da kamen auch manchmal Kolonnen
mit vergittertem Blick und stumm.
Von Weimar her sind sie gekommen,
und manchmal fiel einer um.

Wir spielten gerne mit Scherben,
die in den Trümmern lagen,
und einer alten Standuhr.
Doch die hat nie mehr geschlagen.

Erst als der Krieg zu Ende war,
wurde mein Schlaf ruhig und tief,
und ich brauchte mich nicht mehr zu fürchten,
wenn ich zum Milchholen lief.

Frühe Kindheit nannte sie dieses Gedicht, das ich in ihrem Lyrik-Band „Tausenddritte Nacht“ fand, den sie mir schenkte. Er war 2001 im Märkischen Verlag erschienen.

Ende Februar 1945 endete für den Flüchtlingstreck aus Liegnitz die Reise bei Jena. Es klingt Christa Kožik noch in den Ohren, wie ihre Mutter schrie: „Paradies, Paradies!“ Die Mädchen sahen aus dem Fenster und konnten nichts Paradiesisches entdecken. Sie waren auf dem Bahnhof Paradies, einem Orteil von Jena, angekommen. Die Flüchtlinge wurden auf Lastwagen verfrachtet und auf die Dörfer verteilt. „Wir landeten in Wogau, da gab es 13 Bauernhöfe. Auf unserem Hof war kurz zuvor noch ein Lazarett gewesen.“ Fast symbolisch erscheint heute ein Kinderfoto, das sie im Mai 1945 bei strahlendem Sonnenschein lachend in einer Zinkbadewanne zeigt.

Es waren glückliche Tage, die das Kind auf dem Bauernhof in Wogau erlebte. Christas liebste Spielgefährten waren die Katzen. Diese selbstbewussten Tiere liebt sie auch heute noch.

Im September 1947 kam sie in die Schule. Sie war wissbegierig, lernte sehr schnell und durfte als Fünftklässlerin dem Lehrer helfen und die Kleinen aus der ersten Klasse unterrichten. „Dieses Lernprinzip, dass ältere Schüler ihr Wissen jüngeren vermitteln, habe ich 1979 auch in Kuba erlebt. Da war ich mit einer DEFA-Filmdelegation und meinem Film ,Sieben Sommersprossen’ zu einem Filmfestival“, flicht sie ein. Die Schule machte sie glücklich. Von ihrem Lehrer bekam sie Bücher, die für sie Rettungsboote, Türen und Fenster zur Welt wurden. Sie machten ihre kleine Welt auf dem Dorf groß.

1953 zog Hedwig Schmidt mit ihrer Tochter Christa zum Onkel nach Stahnsdorf bei Potsdam. Ein sterbenskranker, alter Mann, der Platz in seinem Haus hatte, aber nicht mehr allein für sich sorgen konnte. Seine Pflege oblag dem Mädchen. „Ich musste ihn waschen, windeln – von einer schönen Kindheit konnte nicht die Rede sein. Mir blieb keine Zeit für Freundinnen, ich stand deshalb immer abseits.“ Es ging auch nicht anders. Die Mutter fuhr jeden Tag zur ihrer Arbeit als Verkäuferin ins Kaufhaus nach Potsdam. Sie hatte keinen Nerv für die Bedürfnisse ihrer Tochter. Die musste funktionieren. Bücher waren Christas einziges Vergnügen. Trotz allem schaffte sie es, als eine der Besten auf die Erweiterte Oberschule zu kommen. Sie wollte das Abitur machen, studieren. Aber die Mutter verlangte, dass sie zum Lebensunterhalt beiträgt. „Das gnädige Fräulein will wohl was Besseres werden“, rieb sie dem Mädchen unter die Nase. „Der Krieg hatte meine Mutter zerstört. Durch das große Leid ist sie hart und böse geworden, und ich kann es ihr nicht verdenken“, sagt Christa Kožik, „Aber sie als junger Mensch immer zu verstehen, das ging nicht.“ Erst als sie ihr eigenes Leben hatte, eine Familie, konnte sie mit der Mutter ihren Frieden machen.

Aus „Tausendunddritte Nacht“, Märkischer Verlag Wilhelmshorst 2001

Damals aber,1957, fügte sich die 16-Jährige sich. Sie verließ nach der 10. Klasse die Schule, lernte kartographische Zeichnerin und begann am Staatlichen Geologischen Institut in Berlin zu arbeiten. Was wie eine zerplatzte Zukunft aussah, wandelte sich zum Guten. Sie war im Brennpunkt der Künste. Täglich kam das junge Mädchen am Antiquariat neben dem Dorotheenstädtischen Friedhof vorbei, kaufte sich für ein paar Pfennige Bücher, vor allem Gedichte von Friedrich Hölderlin, Charles Baudelaire, Annette von Droste-Hülshoff, Edith Södergau, Else Lasker-Schüler… „Sie gaben mir Trost. Ich schleppte ja diese ganze Traurigkeit meiner Kindheit mit mir herum und habe mich nie wohlgefühlt.“ Irgendwann verspürte sie den inneren Drang, ihr Seelenleben selbst in Gedichten auszudrücken.

III

Dann kam das Jahr 1963, in dem sich für Christa Kožik die Ereignisse überstürzten. Sie hatte nicht nur ihren Mann kennengelernt, geheiratet und ihren ersten Sohn geboren. Die 22-Jährige folgte einem Aufruf der FDJ an junge Leute, für den 1. Potsdamer Lyrik-Abend Gedichte einzusenden und wurde mit ihren Wintergedichten eingeladen. Amüsiert erinnert sie sich an ihren Auftritt am 22. Februar im Potsdamer Klubhaus „Walter Junker“. Die Platzanweiserin am Eingang wies sie ab, es sei alles voll. Sie könne ja draußen stehen bleiben, es würde alles übertragen. „Naiv wie ich war, dachte ich: wenn die das sagt und bin weggegangen. Dann klopfte aber mein preußisches Pflichtbewusstsein. Was ist, wenn man da drinnen auf mich wartet? Also bin ich zurück, nahm meinen ganzen Mut zusammen und entgegnete: Ich soll doch hier lesen! Mit einem Aufatmen: Ach, Sie sind das, die noch fehlt, schubste mich die Frau vom Einlass in letzter Minute auf die Bühne.“

Da stand sie nun, zierlich und schüchtern in ihrem weitausgestellten Kleid – damals trug man Petticoats – mit Hochsteckfrisur und Wespentaille, ein bescheidenes Mäuschen wie auf einem Tablett, und dachte: Jetzt bist du in der Falle. Hier kommst du nicht weg. Doch tapfer trug sie ihre Gedichte vor.

Christa Kožik am 22. Februar 1963 auf dem 1. Potsdamer Lyrik-Abend im Klubhaus „Walter Junker“. Im Hinteregrund der bekannte Arbeiterschriftseller Hans Marchwitza Foto: privat

Es geschah ein Wunder: keine Buhrufe, kein betretenes Schweigen, wovor sie so große Angst gehabt hatte. Das Publikum war begeistert, klatschte laut . Am nächsten Tag zitierte die Bezirkszeitung „Märkische Volksstimme“ die bekannte Lyrikerin Gisela Steineckert: „Christa Schmidt, die kleine Schüchterne mit ihren Wintergedichten war für mich das Talent des Abends.“ Daneben ein Gedicht und ein Foto der „Försterin mit dem lyrischen Talent“, wie darunter stand. „Ich hatte nach dem Mauerbau meine Stelle in Berlin aufgegeben und ans Forstinstitut gewechselt. Försterin war mein Dienstgrad“, erklärt mir Christa Kožik. An jenem Abend öffneten sich für sie erneut Türen, die ihre Welt größer machten. Diesmal in der Realität.

Die Karriere begann ihren Lauf zu nehmen. Die junge Poetin wurde zum 2. Lyrik-Abend im Berliner Filmtheater Kosmos eingeladen, auf dem sie Schriftsteller Volker Braun, Kurt Bartel, Sarah und Rainer Kirsch, Jens Gerlach und viele andere prominente DDR-Künstler kennenlernte. Eine Freundschaft verband sie bald mit dem Schriftsteller Willi Meinck, dessen Abenteuerroman „Die seltsame Reise des Marco Polo“ zu den beliebtesten Jugendbüchern in der DDR gehörte. „Er war für mich ein geistiger Vater und Vaterersatz“, beschreibt sie ihn. Ein großes Erlebnis wurde für sie 1983 ihre gemeinsame Literaturreise nach Sri Lanka. Ein beidseitiger Kulturaustausch, der seit der Anerkennung der DDR regelmäßig stattfand. Ihre Reiseeindrücke fasste sie in Gedichte. „Das war Pflicht. Am Ende musste man etwas schreiben.“ Sie rezitiert ein paar Zeilen aus ihrem Gedicht „Nacht in Kandy“:

Immer fällt er aus heiterem Himmel,
der Regen fällt plötzlich ein in diese
blütenschwere Verschwendung des Gartens,
so wie der Tag hier in die Nacht fällt
ohne den dämmernden Übergang.
Doch schon nach wenigen Minuten versiegt er, und
er zieht dunkle Stille ein…

Nur der Coha schreit plötzlich auf,
undim Tal der Könige schläft die
Vergangenheit,wie vorzeiten sirren
Zikadenb, ein geheimer nächtlicher Chor
wispert die Lebens- und Todeslieder vom
allzuraschen Blühn und Vergehn
und vom selig ersehnten NICHTS

Eine besondere Episode, die ihr einfällt, war die Einladung zu Lotte Ulbrichts 60. Geburtstag am 19. April 1963. Die Frau des DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht und Vorsitzende des Demokratischen Frauenbundes Deutschland (DFD) hatte im „Neuen Deutschland“ Christa Kožiks Verse „Ihr Mädchen von 17 und älter“ gelesen und wollte die junge Dichterin kennenlernen und lud sie ein. „Ich selber fand das Gedicht nicht so toll. Aber ich hatte wohl den Nerv der Zeit getroffen. Da sind so Zeilen drin wie: Es ist unsere Zeit, die euch streichelt, sie gibt euch den festen Blick… Ihr habt die Zeit überrundet, seid kein Gefühlsdepot. Das Glück wird euch nicht mehr gestundet, Ihr nehmt es euch täglich en gros…“ spricht sie in den Telefonhörer und lässt mich wie schon so oft über ihr gutes Gedächtnis staunen.

Weil sie so schüchtern war, wollte sie da eigentlich nicht hin. Die Einladung abzulehnen, hätte sie aber nicht anständig gefunden. Von ihrer Mutter wurde sie erzogen, Respekt und Anstand zu wahren. Also schrieb sie ihr Gedicht in schöner Handschrift auf und überreichte es Lotte Ulbricht in einer Mappe. Die viel Kleinere legte dem schüchternen Mädchen die Hand auf die Schulter und fragte: „Sag mal, Christa, wie bist du denn darauf gekommen?“ An ihre Antwort kann sie sich heute nicht mehr erinnern. Aber daran, dass die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ das gefilmt hat. „Es war mir unangenehm, mich im Kino zu sehen. Andererseits war ich stolz, dass meine Poesie so gelobt wurde und ich damit Anerkennung und Mut fürs Weiterschreiben hatte.

Auszug aus dem Gedichtband „Tausendunddritte Nacht“. Erstmals erschienen diese und andere Gedichte 1980 von Christa Kožik in der der Lyrik-Reihe „Poesiealbum“ im Heft 158 mit Illustrationen von Ruth Mossner

Der Schriftsteller Franz Fabian, der ihre Wintergedichte für den 1. Potsdamer Lyrik-Abend ausgewählt, holte die begabte Nachwuchspoetin in den „Zirkel schreibender Arbeiter“ des RAW Potsdam. Namhafte Autoren wie Brigitte Reimann, Christa und Gerhard Wolf und Heiner Müller leiteten diese Literaturzirkel, die nach der „Bitterfelder Konferenz“ 1959 überall im Land entstanden. Man diskutierte über Theater, Bücher und lernte, selbst zu schreiben. „Das machte mir nach der Arbeit riesigen Spaß. Und es war für mich ein wunderbarer literarischer Kindergarten“, sagt Christa Kožik heute. Sie habe da die Grundlagen des schriftstellerischen Handwerks erlernt. Ihre Begabung lag auf der Hand, und man delegierte sie in die „Arbeitsgemeinschaft junger Autoren“ des Schriftstellerverbandes Potsdam. „Ich habe irgendwie immer das Glück gehabt, gute Menschen zu finden, die klug waren, die mich geleitet haben“, rekapituliert sie.

Nach der Geburt ihrer Söhne war sie fünf Jahre zu Hause. „Ich habe viel geschrieben in dieser Zeit, und das war ganz wichtig für mich.“ Gedichte, Erzählungen und vor allem Kindergeschichten entstanden, für die sie bei ihren Jungs „nassauerte“. „Bis zu ihrem 14. Lebensjahr habe ich Tagebücher über sie geschrieben und bewundert, was sie an Phantasie hatten. Was die alles rausgehauen haben!“, erinnert sie sich lachend. Ihr Sohn Adrian gab den Anstoß für das Buch „Moritz in der Litfaßsäule“, das seine Mutter 1979 schrieb. An seinem zweiten Schultag war der Sechsjährige ausgebüxt. Als die Eltern ihn spielend im Park fanden und fragten, warum er weggelaufen sei, antwortete der kleine Kerl nur: „Es hat mir nicht gefallen. “ Der Schlüsselsatz in der Geschichte von Moritz.

IV

Im Schreiben fand Christa Kožik ihre schöpferische Kraft, die sie stark machte, sich dem zu stellen, was dem Kind und der jungen Frau die Unbeschwertheit genommen hatte. Vielleicht resultiert daraus das Bedürfnis, sich in ihren Geschichten vor allem Kindern zuzuwenden, die sich allein, unverstanden fühlen, die am Rande stehen und Zuspruch brauchen, um sich nicht unterkriegen zu lassen von den Realitäten, die sich vor ihnen aufzutürmen scheinen.

1970 drehte der DEFA-Regisseur Kurt Weiler nach ihrem Szenarium den Kurzfilm „Der Löwe Balthasar“ für die Reihe „Basteln für Kinder“ Foto: Erich Günther/DEFA-Stiftung

1969 ergab sich für die zweifache Mutter die Chance, als Assistentin im DEFA-Kurzfilmstudio zu arbeiten. Ihre Jungs waren aus dem Gröbsten raus, konnten in den Betriebskindergarten. Wieder ein Schritt weiter auf dem Parkett, auf dem sie ihr Talent entfalten konnte. In der Abteilung für Kinderkurzfilme entwickelte sie Szenarien für Trickfilme und kleine Spielfilme. Dass sie mehr konnte, wurde schnell erkannt, und das Studio delegierte sie zum Dramaturgie-Studium an die Filmhochschule. Das absolvierte sie neben der Arbeit in einem Frauensonderstudium, einer staatlichen Fördermaßnahme neben vielen anderen, die es berufstätigen Müttern ermöglichten, sich ihre Wünsche nach höherer Bildung und Qualifikation zu erfüllen.

Mit der Gründung der DDR hatte im Osten Deutschlands das Jahrhundert der Frauen begonnen, ihre Emanzipation und Bildung in jeder Weise zu fördern, wurde eine gesellschaftliche Hauptaufgabe. „Ich hatte das Glück, zu den Frauen der Nachkriegsgeneration zu gehören, denen die Gleichberechtigung selbstverständlich und wie auf die Haut gewachsen war. Doch diese Selbstverständlichkeit im Familienalltag auszuleben, ließ sich trotz guter Gesetze für uns Frauen nicht so einfach umsetzen.“ Sie konnte da aus eigener Erfahrung schöpfen, musste sie doch Haushalt, Kinder, Arbeit und Studium allein schmeißen. Ihr Mann Christian lebte das althergebrachte Rollenbild. „Dieses Los teilte ich mit Millionen anderer Mütter. Aber man entwickelt ja als junger Mensch ungeheure Kräfte, um sein Ziel zu erreichen. Diese Förderung und zum Lernen und zur Bildung genötigt zu sein, hat mir so gutgetan. Ich war eingebettet und konnte mein Talent entwickeln.“ Dafür brauchte es keine Forderungen nach Quoten und Paritäten, keine Verkrüppelung der Sprache mit Gendersternchen & Co. „Wir Frauen hatten zum Selbstbewusstsein gefunden und fühlten uns keineswegs durch den Gebrauch des generischen Maskulinums diskriminiert.“

Christa Kožik hat mehr erreicht, als sie sich je vorgestellt hat. Nach dem Abschluss ihres Studiums 1976 an der Babelsberger Filmhochschule hat sie 1977 noch ein Jahr am Literaturinstitut Leipzig drangehängt. Ihre Abschlussarbeit wurde das Kinderbuch „Moritz in der Litfaßsäule“, das sich seit seinem Erscheinen 1980 ungebrochener Beliebtheit erfreut. Der LeiV Kinderbuchverlag Leipzig hat es jetzt anlässlich ihres 80. Geburtstags als Neuauflage zusammen mit dem „Verzauberten Einbrecher“, „Ein Schneemann für Afrika“ und Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ in sein Lesebuch-Programm aufgenommen.

Ihr literarisches und filmisches Schaffen ist ein poetischer und ungeschönter Zeitzeuge einer Gesellschaft, die 40 Jahre lang das Beste für die Menschen anstrebte, aber an sich zerbrach. „Ich fühlte mich in der untergegangenen sozialistischen Gesellschaft privilegiert. Dafür brauchte ich kein Parteibuch. Es ging mehr in der DDR, als man uns heute weismachen will.“ Der Mensch sei ihr wichtig, nicht eine Weltanschauung, die nie ideologisch wertfrei ist. Ihre Sicht auf die Welt ist eine marxistische. „Ich weiß, wo meine Wurzeln sind“, sagt sie. „Meine Mutter hat mir eingetrichtert, das nie zu vergessen. Ihre Rede war: Wir sind arme Leute und der Staat tut etwas für die Armen, auch wenn er nicht vollkommen ist. Das war mir immer plausibel durch Erlebnisse, die ich hatte, und Menschen, die ich kennenlernte. Ich bin mit meinem ganzen Lebenslauf ein Kind der DDR.“

In der Zeit intensivster Kreativität und mit der Anerkennung, die ihr lange versagt geblieben waren, legte sich ihre Traurigkeit. „Ich habe sehr in der Gegenwart und nach vorn gelebt“, sagt sie. Mit 38 Jahren erhielt sie den „Nationalpreis für Kunst und Literatur“ der DDR. Eine Auszeichnung auf die sie stolz ist. Im selben Jahr reichte sie ihr Szenarium für einen biografischen Film über Friedrich Hölderlin ein. Eine Herzenssache, die der Liebe zu seinen Gedichten entsprang, die sie mit 16 Jahren regelrecht verschlungen hatte. „Seine Sprache war wie Opium für mich, beim Lesen kam ich in so einen wohltuenden Rausch und konnte alles Bedrückende vergessen“, verrät sie. Weil die DEFA auch marktwirtschaftlich denken musste und der Film Addio, piccola mia“ über das Leben von Georg Büchner gerade gefloppt war, musste sich Christa Kožik fünf Jahre in Geduld üben. 1984 durfte Herrmann Zschoche, der sich für die Regie beworben hatte, „Hälfte des Lebens drehen, mit Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann in den Hauptrollen.

Nadja Klier, die die Gritta spielte, ist heute Fotografin Foto: Waltraut Pathenheinmer/DEFA-Stiftung

In der Zwischenzeit schrieb sie die Drehbücher für ihren Kinderfilm „Trompeten-Anton“, den Märchenfilm „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“ nach dem Kinderbuch von Gisela und Bettina von Arnim, sowie den weniger bekannten Spielfilm „Grüne Hochzeit“. Wochenlang hat sie sich über die Engelslehre in der Gegenwart und Geschichte belesen und schließlich ihr wohl schönstes Kinderbuch „Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ zu Papier gebracht. Diese Gewissenhaftigkeit, mit der sie das Thema anging, ist eine Eigenart von ihr. „Ich musste es ganz genau wissen, um so zu schreiben, dass ich nicht anecke, weil ich ja manches ironisch betrachte. Das einzuordnen fällt manchen schwer.“ Dass sie von der Kirche gelobt und zu Lesungen eingeladen wurde, hat sie dann doch erstaunt.

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Dann kam die Wende 1989 und der Westen übernahm die Regentschaft über den Osten Deutschlands. Es wurde alles ausgelöscht, was nur im Entferntesten an den sozialistischen Staat erinnern könnte. Und das waren vor allem Bücher. „Sie fielen der großen Säuberung von DDR-Literatur zum Opfer. Zu Hunderttausenden wurden sie aus den Lagern direkt auf die Müllhalden geworfen.“ Christa Kožik bedient sich bewusst der Vokabeln, die an ungute Zeiten der jüngeren Geschichte erinnern. „Wir DDR-Autoren waren plötzlich heimatlos. Der Kinderbuchverlag kam in westdeutsche Hände. Es gab kein Interesse an unserer Mitarbeit“, sagt sie.

Manche hat das bitter gemacht. Christa Kožik wollte nicht verbittern. Sie holte sich die Rechte ihrer Bücher zurück und fand andere Verlage. Ihr Katzenroman „Kicki und der König“, der 1990 auf dem Müll statt in den Buchläden landete, erschien 1991 beim Hochverlag Stuttgart. Auch von ihren anderen Kinderbüchern „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“, „Ein Schneemann für Afrika“, „Moritz in der Litfaßsäule“ und dem „Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ erschienen ab Mitte der 90er Jahre Neuauflagen. Auf die Frage eines westdeutschen Journalisten, wie es denn sein konnte, dass so ein subversives Buch in der ideologisch atheistisch ausgeprägten DDR durch die Zensur kam, antwortete sie: „Wenn man nur hartnäckig genug war, hat man alles durchgebracht. Heute“, weiß sie aus Erfahrung, „nützt alle Hartnäckigkeit nichts, wenn ein Entscheider meint, es gäbe keinen Markt für das Thema, oder wenn er es aus ideologischen Gründen ablehnt. Da bist du raus.“

Natürlich war es ein Tabubruch, in einem DDR-Kinderbuch einen Engel agieren zu lassen. Doch Christa Kožik erzählt die sieben biblischen Geschichten ganz irdisch. „Ich bin nicht religiös“, sagt sie. „Es geht in der Begegnung von Lilli und dem Engel, den sie mit in die Schule nimmt, um Wertschätzung, um die Toleranz anderer Auffassungen.“ Etwas, das sie sich für die jetzige Zeit, in der sich die Gesellschaft durch intolerantes und identitäres Verhalten aufspaltet, sehr wünscht. „Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ erschien 1983 in 20tausender Auflage im Kinderbuchverlag Berlin und war bald vergriffen. Der westdeutsche Arena Verlag Würzburg wollte es 1985 nachdrucken. Nachdem die Lektoren aber alles gestrichen haben, was ihnen anrüchig erschien, wie das „Rote Rathaus“ oder die marxistische Auffassung vom Tod, zog Christa Kožik ihre Genehmigung für den Abdruck zurück. Diese Verstümmelungen hatten den Sinn der Geschichte entleert. Das konnte sie nicht zulassen und verzichtete auf ziemlich viel (West)-Geld.

Die schwedische Übersetzung des Buches brachte ihr im Oktober 1989 eine Begegnung mit der von ihr verehrten Kinderbuchautorin Astrid Lindgren. „Ich hatte auf dem Sprachkongress der Ostseestaaten in Stockholm einen Vortrag über die DDR-Kinderliteratur gehalten und wurde im Anschluss von Astrid Lindgren eingeladen, sie zu besuchen. Das war eine Sternstunde! Zu einem Gegenbesuch im Kinderbuchverlag kam es nicht mehr. Als ich nach Hause kam, ging mein Land verloren.“ Ich erinnere mich an das Foto, das beide Autorinnen im Haus von Astrid Lindgren zeigt.

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Es erschien ihr ab den 1990er Jahren selbstverständlich, sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen, wie sie es immer getan hat, und sich mit neuen Geschichten in die gesamtdeutsche Kinderliteratur einzubringen. „Ich wollte humorvoll, ironisch, phantasievoll und kritisch in die Kinderwelt blicken, die nun eine ganz andere war. In der es plötzlich wichtig wurde, wieviel Geld die Eltern hatten, ob man Markenturnschuhe trug oder einen Markenranzen besaß. Viele Kindern lernten Armut kennen.“ Es ließ sich hoffnungsvoll an, nachdem 1994 ihre Geschichte „Der verzauberte Einbrecher“ erschien und Rolf Losansky 1996 bei der Babelsberger Antaeus Film GmbH den gleichnamigen Kinofilm drehen konnte. „Das war unser letzter Film, obwohl Rolf und ich schöne Projekte angeboten haben“, sagt sie, es klingt resigniert. Sie hatte 1990 ihr Drehbuch für den Kinderfilm „Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ bei der DEFA eingereicht, als die international renommierten Filmstudios bald darauf privatisiert und sie 1991 nach 15 Jahren als festangestellte Filmautorin entlassen wurde. Ihr Drehbuch war für die neuen Eigentümer Makulatur. Christa Kožik hofft leise, dass sich doch noch eine Produktionsgesellschaft dafür findet. Es wäre ein absolut aktueller Film.

Die Autorin und der Kinderfilmregisseur 2013 beim Aussuchen von Fotos ihrer gemeinsamen Filme Quelle: „Abgedreht“-Reihe von Elias Franke

Für die literarische Fortsetzung der Geschichte hat sie bislang auch nur Absagen bekommen. Sie greift darin die fremdenfeindlichen Brandanschläge auf türkische Familien 1992 in Mölln und 1993 Solingen auf, bei denen auch Kinder ums Leben kamen. In dem neuen Buch verlässt ihr Engel die Erde mit verbrannten Flügeln, nachdem er noch ein kleines Kind aus einem Asylbewerberheim gerettet hat. Kein Kinderbuchverlag in diesem Land wollte das drucken. Ein Engel mit verbrannten Flügeln – das könne man den Kindern nicht anbieten. Sie solle doch lieber etwas über Schutzengel schreiben, riet man der renommierten Kinderbuchautorin. Genauso erging es ihr mit ihrer heiter-ironischen Geschichte „Lilli lebt gefährlich“, die von einem Mädchen erzählt, das die Nase voll hat von ihren phlegmatischen Eltern, die im Trainingsanzug vor der Glotze sitzen und saufen. „Diese harten Tatsachen will man in einem Kinderbuch nicht haben. Die sollen schön unter der Decke bleiben.“ Die Arroganz und Ignoranz, die der Ost-Autorin entgegenschlugen, ließen sich schwer aushalten. „Es war so demütigend“, sagt sie, und das hallte nach. „Wenn man immer nur Absagen bekommt, ist das der Tod der Kreativität.“

Den DEFA-Kinderfilm „Moritz in der Litfaßsäule“ schufen Rolf Losansky und Christa Kožik 1982/83. Er ist wie das Buch ungebrochen populär Foto: Jürgen Weyrich

In ihrer schriftstellerischen Aktivität ausgebremst, verdiente sie ihr Geld zwei Jahrzehnte mit Lesereisen. Woche für Woche war sie in einem Radius von Flensburg bis Zürich, von St. Gallen bis Frankfurt/Oder unterwegs. In der Schweiz waren ihre Bücher schon in den 80ern erschienen und sehr beliebt. Sie reiste mit dem Zug und sah auf den Bahnhöfen viel Elend. „Ich spielte mich nervlich und körperlich kaputt. Irgendwann waren die Energien aufgebraucht. Andererseits“, sagt sie, „haben mir die Lesungen mit den Kindern Spaß gemacht. Das war so aufbauend, zu wissen, dass meine Bücher die Zeit überdauern.“

Kinder schreiben ihr Briefe, in denen sie von sich erzählen und wie froh sie sind, dass jemand über kleine Menschen wie sie schreibt, die es nicht immer guthaben, denen die Schule schwerfällt, die „geschieden“ sind. Ich frage, ob ihr die bitteren Erfahrungen den Mut genommen haben, ob sie aufgeben will? Nein, wenn sie wieder Kraft genug hat, nimmt sie einen neuen Anlauf, eine Verlag zu finden. Gerade die Geschichte von Lilli, die viele Kinder in der heutigen Zeit erleben, ist ihr zu wichtig, um es nicht wieder zu versuchen. Sie hofft auf den LeiV Kinderbuchverlag Leipzig, der ihr verbunden ist, Optimistisch sagt sie: „Ich denke, wenn die Welt nicht ausstirbt, wird es immer Kinder mit einer so wunderbaren Phantasie geben, dass wir Erwachsene staunend zusehen.

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