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Herrmann Zschoche über Lütt Matten, ungehorsame Nebelschwaden und das Warten auf Wolkenzüge

Vor sechs Jahren habe ich angefangen, hier über DEFA-Filme und ihre Geschichten zu schreiben. Das Erbe, das die vor 75 Jahren, am 17. Mai 1946, gegründete Deutsche Film AG nach ihrem endgültigen Ende am 19. Mai 1992 hinterlässt, umfasst 750 Kinofilme, ebenso viele Animationsfilme sowie 2250 Dokumentar- und Kurzfilme. Dass ein Fünftel der Produktionen dem Kinderfilm vorbehalten war, gehört wohl mit zum großen Verdienst der volkseigenen (VEB) Filmstudios. Für manche der wunderbaren DEFA-Kinderfilme bin ich als 1949er Jahrgang einfach zu früh geboren. Aber ich konnte durch meinen Beruf nachholen, was ich versäumt hatte, zumindest einiges.

Zum Beispiel kam ich so auf die Spur des poesievollen, liebenswerten Films „Lütt Matten und die weiße Muschel“, den Herrmann Zschoche 1963 nach Bennos Pludras gleichnamiger Erzählung gedreht hat. Im Januar 2015 besuchte ich den Regisseur in seinem Haus in Schwenow, um mit ihm über den Film zu sprechen, wie er entstanden ist, und was alles so rund um die Dreharbeiten passiert war. Vor allem interessierte mich, was ihn, einen jungen Regisseur bewog, zum dritten Mal einen Kinderfilm zu drehen. Für seinen Diplomfilm hatte er sich die Bilderbuchgeschichte „Der Märchenschimmel“ von Fred Rodrian ausgesucht. Sein nächster Film war Die Igelfreundschaft“ nach einer Erzählung von Martin Viertel, eine Koproduktion mit den Barrodov-Studios Prag. Drängte es einen als Absolvent der Filmhochschule nicht eher in die Richtung großer Spielfilme für Erwachsene?

Im Januar 2015 besuchte ich den Regisseur Herrmann Zschoche in seinem Haus in Schwenow. Wir sprachen über seinen Film „Lütt Matten und die weiße Muschel“, und er erzählte mir auch ein bisschen von sich © Boris Trenkel

Herrmann Zschoche erklärte mir seine Vorliebe für dieses Genre so: „Als Nachwuchs-Regisseur musstest du dich selbst kümmern, wenn du einen eigenen Film machen wolltest, zu uns kam die Studioleitung nicht mit Angeboten. Ich habe mich immer nach schönen Stoffen umgesehen, und davon gab es die besten für Kinder. Außerdem kam man mit Kinderfilmen besser rein ins Spielfilmstudio, wo sich die ältere Generation der Spielfilmregisseure etabliert hatte – Kurt Maetzig, Günter Reisch, Slatan Dudow, Hermann Beyer und Wolfgang Kohlhaase als Autor. Anders stand man lange vor der Tür.“

Seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“ drehte Herrmann Zschoche 1960 im thüringischen Heldburg. Auf dem Foto erklärt er dem achtjährigen Lutz Bosselmann, was gemacht werden soll © DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Kinderfilmer hatten es auch insofern einfacher, da sie von „Erwachsenfilm-Regisseuren“ eher belächelt denn als Konkurrenz angesehen wurden. Außerdem waren bei der DEFA – und das zählte schon sehr – vier Spielfilmproduktionen im Jahr für Kinder eingeplant. Ihre Herstellung war finanziell abgesichert, ihr Verleih und ihre Verbreitung innerhalb der DDR garantiert, weil sie grundsätzlich gewollt waren. Dieser hohe Stellenwert des Kinderfilms auf der einen Seite und die Betrachtung als etwas „Niedliches“ auf der anderen Seite, gab den Regisseuren und Autoren auch eine große Freiheit. Nämlich in einem konkreten Lebensraum der Kinder größere soziale und gesellschaftliche Konflikte mit zu verhandeln. Besser konnte es sich ein „Frischling“ von der Filmhochschule kaum wünschen.

Erik S. Klein spielte Lütt Mattens Vater. Anders als seine Rollenfigur hatte der Schauspieler viel Verständnis für die Kinderdarsteller, hier die Schlüsselszene mit dem 11jährigen Lutz Bosselmann. An der Kamera sitzt Horst Hardt (r.) Regisseur Herrmann Zschoche wirft einen Blick auf die Einstellung. Den Ton nahmen Joachim Preugschat und Werner Klein auf. © DEFA-Stiftung

Der heute 86-jährige Herrmann Zschoche erinnerte sich in unserem Gespräch, dass der Kinderbuchautor Benno Pludra damals in aller Munde war. Heiner Carow hatte seinen Ost-West-Jugendroman „Sheriff Teddy“ verfilmt, im DEFA-Trickfilmstudio entstand gerade ein Animationsfilm nach seiner Bilderbuchgeschichte „Heiner und seine Hähnchen“.

Heiner pflegt liebevoll seine drei Hähnchen, aber als er einen Regenpfeifer und eine Möwe sieht, sind seine drei Freunde vergessen… Ein bezaubernder Trickfilm von Klaus Georgi ©DEFA-Stiftung/Hans Schöne

Anfang März 1963 erschien Benno Pludras Erzählung „Lütt Matten und die weiße Muschel“. Herrmann Zschoche bekam das Buch in die Hand und hatte seinen neuen Filmstoff gefunden. „Mir gefiel die knappe und gleichsam bildreiche Erzählweise, die wunderbare Chancen für schöne, stimmungsvolle Sujets bot“, sagte er. Wer Benno Pludras Bücher kennt, weiß, dass er nicht mit reißender Action fesselt – was er gekonnt, ihn als Schriftsteller aber gelangweilt hätte. Er erzählte lieber stille Abenteuer in einer feinen, poetischen Sprache. Und so passte das Zusammenspiel von Poesie und Realismus seiner Inselgeschichte von dem Fischerjungen Lütt Matten perfekt in Zschoches Auffassung von Film, die, wie er für sich rekapitulierte, damals wohl von der emotionalen, epischen Machart sowjetischer Filme wie Michail Kalatosows „Wenn die Kraniche ziehen“ beeinflusst war. „Einige DEFA-Regisseure hatten danach den Hang zu gebauten Bildern. Wir von der dokumentaren Fraktion nannten sie Luxusbilder.“ Er selbst gab seinen Akteuren lieber Freiheit zum Spielen, hatte aber immer im Blick, dass die Kamera schöne Aufnahmen machen konnte. Ich denke da an Szenen in seinem Jugendfilm „Sieben Sommersprossen“ nach einem Drehbuch von Christa Kožik. Bei Lütt Matten allerdings, gestand er, „baute“ er sich seine schönen Aufnahmen, indem er auf die Natur wartete.

Jeden Sommer segelte Benno Pludra mit der „Mobby Dick“ vor Hiddensee. Dieses Privatfoto entstand 1960

Herrmann Zschoche hatte sich damals, im März 1963, umgehend an das Szenarium für eine Verfilmung von „Lütt Matten und die weiße Muschel“ gemacht. Die Bäume trieben gerade ihr erstes Grün nach dem Winter aus. Schmunzelnd erzählte er, wie er nach Hiddensee fuhr, um mit Benno Pludra über das Drehbuch zu sprechen. Vom Frühjahr bis zum Herbst verbrachte der Schriftsteller dort oben. Er liebte die Ostsee, den norddeutschen Menschenschlag. Man redete nicht viel, war freundlich, aber nicht überschwänglich, sprach auf den Punkt. Das kam der Mentalität des kleinen zierlichen Mannes sehr entgegen. Auch Benno Pludra ging sparsam mit Worten um, machte lange Denkpausen, so dass ein Gespräch manchmal schon am Ende schien, er aber plötzlich den Faden wieder aufnahm.

Der Schriftsteller Benno Pludra starb im August 2014

Ein Drehbuch mit ihm zu schreiben, war speziell, das hatte Heiner Carow bei der Arbeit an „Sheriff Teddy“ erlebt, das musste auch Herrmann Zschoche erfahren. „Ich kam also in Vitte an und ging erst mal auf die Suche nach Benno, weil er nicht zu Hause war. Aber jeder auf der Insel kannte ihn, und man gab mir den Tipp: Wird wohl am Boot sein. Ich traf ihn beim Abschrubben der Bootswände an. Er drückte mir einen Schleifklotz in die Hand und sagte: ,Hilf mal!‘ Dabei blieb es im Wesentlichen, obwohl ich immer wieder darauf drang, sich das Szenarium anzusehen.“

Die Arbeit an seinem Segelboot war dem Wahlinsulaner aber wichtiger. Er musste ja die Jolle klar machen, um endlich raussegeln zu können. Was er am liebsten tat. Für Benno Pludra war klar: Er hatte sein Buch geschrieben, einen Film daraus zu machen, war nicht seine Sache. Dafür gab es ja Drehbuchschreiber und Regisseure. „Mittag schleppte er mich in seine Stammkneipe, zu Putbrese“, setzte Herrmann Zschoche fort. „Es gab einen Schnaps, dann noch einen, dann Aalsuppe, war ja Vorsaison, in der Urlaubszeit kriegste keinen Aal. So ging das bis zum Nachmittag. Das war Benno!“ Zschoche lachte.

In „Aloa-hé“ hat Benno Pludra seine Erlebnisse auf dem Segelschulschiff „Padua“ und seinen Untergang mit der „Ditmar Koel“ verarbeitet © B. Beuchler

In der Fischerkneipe Putbrese hatte Benno Pludra beim Snack mit den Alten wohl auch die Legende von der weißen Muschel gehört. So zumindest erinnerte er sich später, als ich ihn fragte, wie er auf die Geschichte kam. „Ich wusste, das könnte eine gute Kindergeschichte werden.“ Benno Pludra hatte einen Riecher dafür, ob sich etwas zu schreiben lohnt oder nicht. Natürlich für Kinder. Für Erwachsene wollte er nie schreiben. Gute Bücher für Kinder seien wichtiger. Eine einzige Ausnahme machte er mit seinem autobiografischen Roman „Aloa-hé“. Den ungewöhnlichen Namen Matten borgte er sich von einem Fischer auf Hiddensee. Lütt Matten klang gut in seinen Ohren und passte zu dem Jungen und der Geschichte, die er im Kopf hatte. Die vom großen Kummer eines Kindes erzählt, dessen Träume und kleine Wünsche vom Vater nicht ernstgenommen werden. Der nicht hält, was er dem Sohn verspricht und ihn damit tief enttäuscht.

Irgendwann an dem Tag oder dem nächsten, als Herrmann Zschoche mit seinem Szenarium oben auf Hiddensee war, hat er es doch noch geschafft, mit dem Kinderbuchautor über das Drehbuch für den Film zu sprechen. Das war ihm wichtig, musste sein. „Ich bin kein Autorenfilmer, der seine Bücher selber schreibt oder die Vorlagen anderer so gründlich umkrempelt, dass man sie nicht mehr erkennt.“ Für Zschoche gilt Werktreue. Nur ein Drehbuch hat er allein geschrieben, für seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“. Bei vielen seiner anderen Filme hat er am Drehbuch mitgewirkt, wie eben bei „Lütt Matten und die weiße Muschel“.

Herrmann Zschoche (M.) erklärt Lutz Bosselmann und Heike Lange eine Szene am Steg © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Der Sommer war noch nicht angebrochen, da bezog der Drehstab aus Babelsberg Quartier auf Hiddensee. 30 Mann, manchmal auch mehr, wurden in Gartenhäusern und Scheunen untergebracht. Die wenigen Hotels blieben den FDGB-Urlaubern vorbehalten. Die Dreharbeiten dauerten bis zum Ende der Saison. Die DEFA zeigte sich immer sehr großzügig bei ihren Kinderfilmproduktionen. Herrmann Zschoche gerät nahezu ins Schwärmen. „Vielleicht lag es daran, dass Prof. Albert Wilkening, der war damals Direktor für Produktion und Technik, auf Hiddensee ein Sommerhaus hatte. Er war jedenfalls sehr interessiert an dem Stoff, und wir verbrachten vier Monate auf der Insel. Das war selbst für DEFA-Verhältnisse eine ungewöhnlich lange Zeit. So konnten wir abwarten, bis sich eine Wolkenbahn genau in die Richtung bewegte, die ich mir für die Aufnahme vorstellte. Wenn sie von links unten nach rechts oben ziehen sollte, wurde das abgewartet. Oder wenn wir eine Möwe brauchten, die von rechts nach links am Himmel segelte. Es lauerte keiner im Rücken, weil der Drehstab anderweitig gebraucht würde, keiner guckte aufs Geld.“

Die Geschichte:

Lütt Matten (Lutz Bosselmann) ist seinem Vater (Erik S. Klein) nachgelaufen. Er hatte ihm doch das Netzzeug für eine Reuse versprochen © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Der Fischerjunge Lütt Matten träumt vom großen Fang. Aale möchte er fischen wie sein Vadding und seine Kollegen von der Produktion. Eine eigene Reuse möchte er haben. Der Vater hat versprochen, ihm Netzzeug und Stangen dafür zu geben. Doch wie schon so oft hat er auch an dem Morgen, wo es sein sollte, keine Zeit für seinen Sohn und dessen Wunsch. Er vertröstet ihn, schickt den Jungen nach Hause. Lütt Matten läuft ihm nach. Schließlich darf er sich im Materialschuppen selber die Sachen zusammensuchen.

Als sein Freund Kaule ihm die Reuse miesmacht, ruft Lütt Matten wütend: „Dann hau doch ab, Stippfischer, mit deiner plumprigen Angel!“ © DEFA-Stiftung/hans-Joachim Zillmer

Mühsam schleppt Lütt Matten Stecken und Netze den langen Weg über die Düne zum Steg. Als sein Freund Kaule Brammig kommt, bittet er ihn, beim Aufstellen der Reuse zu helfen. Doch Kaule lässt ihn im Stich. „Das ist ja nur Spielkram, keine Rüs nicht, was du da machst.“ Lütt Matten ist enttäuscht und wütend. Da kommt Mariken vorbei und bietet ihre Hilfe beim Spannen der Netze an. Zusammen stellen sie die Reuse auf.

Voller Hoffnung, dass seine Reuse gefischt hat, fährt Lütt Matten raus © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Erwartungsfroh guckt Lütt Matten am nächsten Morgen in den Reusenkopf. Doch der ist leer. Auch am nächsten Tag und dem darauf. Es geht kein Fisch rein. Die Kinder im Dorf laufen schon hinter ihm her und singen ein Spottlied auf den „Reusen-Admiral“, und auch die Fischer, die mit vollen Aalkisten heimkommen, lachen. Lütt Matten ärgert sich und zermartert sich den Kopf, warum seine Rüs nicht fischt. „Ach, wenn es doch ein Wunder gäbe. Wenn ich die weiße Muschel hätte, die hier irgendwo liegen soll“, denkt er und sucht den Strand ab. Außer Steinen liegt da nichts, keine Muschel.

Mariken (Heike Lange) und Lütt Matten wollen von Großvadding (Otto Saltzmann) wissen, ob es die weiße Muschel wirklich gegeben hat. Ob es stimmt, was so erzählt wird von dem Seemann John Hagenbrink. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am nächsten Vormittag besucht er Mariken, die vor dem Haus sitzt und in einem alten Buch blättert. Seeschlangen und anderes Meeresgetier sind da abgebildet. „Ist da auch eine Muschel drin? “, fragt Lütt Matten. „Guck mal weiter“, antwortet Marikens Großvadding. Und tatsächlich, da ist eine große weiße Muschel abgebildet. Die Kinder wollen nun wissen, ob es so eine Muschel war, die der Seemann John Hagenbrink von seiner langen Weltreise mitgebracht hat, die den Fisch und das Glück herbeisang. „Soll wohl so sein, genau weiß das keiner. Wer Glück hat, kann sie sehen“, sagt Marikens Großvadding. „Und wo ?, fragt Lütt Matten. „Er soll sie draußen im Bodden versenkt haben. Kann sein, sie liegt am Steilufer, kann sein an der Mole, kann sein im Bodden. Bis jetzt hat sie keiner gesehen“, sagt der Großvater.

Lütt Matten schleicht aus seinem Bett in den Flur und durchstöbert die Seemannskiste seines Urgroßvaters. Er findet eine große weiße Muschel. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Die weiße Muschel lässt Lütt Matten keine Ruhe. Nachts schleicht er aus dem Bett und stöbert in der alten Seekiste seines Urgroßvaters, die keiner geöffnet hat, so lange er denken kann. Unter Seesternen, einer alten Laterne und anderem Krimskrams findet er eine große weiße Muschel, die genauso aussieht wie in Marikens Buch. Wie ein Dieb versteckt er die Muschel unter seinem Pullover und klettert damit aus dem Fenster. Bei der Reuse lässt er sie ins Wasser und flüstert: „Sing mir den Aal herbei, dann darf keiner mehr über mich lachen.“ In seinen Gedanken sieht er sich mit einer Kiste voller Aal im Arm und das ganze Dorf staunt. Doch am nächsten Morgen, als er aufwacht und zur Reuse guckt, ist kein Fisch drin. Und wieder bleibt der Reusensack auch den Tage darauf ist nichts drin. Mariken kann die Traurigkeit ihres Freundes nicht ertragen und setzt unbemerkt eine Plötze ins Netz.

Die Mutter (Johanna Clas) tröstet Lütt Matten, macht ihm Mut. „Das wird schon noch mit der Reuse.“ © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Glücklich rennt Lütt Matten damit nach Hause. Die Muschel hat wohl gewirkt. Aber so richtig glaubt ihm der Vater den Fang nicht. „Lütt Matten, min Jung, das glaube mir nun mal: In deine Reuse geht keine Plötze rein, gar nichts geht da rein“, sagt er. „Und wenn eine Plötze drin war, dann hat sich jemand einen Schabernack gemacht. Hat dir die Plötze reingesetzt. Einfach aus Jux. So und nicht anders, Lütt Matten.“ Lütt Matten entgegnet: „Einfach aus Jux und Schabernack, wie kannst du das wissen, du hast die Rüs ja nicht mal gesehen!“

Er ist den Tränen nahe und läuft zur Düne. Da sitzt er im Gras und will keinen sehen, auch Mariken nicht, die angeschlendert kommt und ihm Blumen schenken will. „Geh weg, ich will deine blumen nicht!“, sagt Lütt Matten unfreundlich. Seine Gedanken kreisen. Und wenn es so ist, und Vadding recht hat, denkt er, war es wohl nicht die richtige Muschel.

Mariken hat es nicht ausgehalten, dass sie Lütt Matten beschwindelt hat. Sie erzählt ihm, dass sie die Plötze in die Reuse gesetzt hat © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am Abend Mariken steht unter seinem Fenster und gesteht, die Plötze ins Netz getan zu haben. Lütt Matten ist wütend auf sie. Er rennt zum Wasser, nimmt das Segelboot des Vaters und fährt raus auf den Bodden. Mariken ahnt, dass das in der Dunkelheit gefährlich werden kann. Doch Lütt Matten hat nur eins im Kopf: Es kann doch sein, dass da draußen die Muschel liegt, die John Hagenbrink versenkt hat. Ein starker Wind kommt auf und treibt das Boot in die Reusen der Fischer. Allein kommt Lütt Matten da nicht raus, so sehr er sich auch anstrengt. Mariken hat inzwischen seinen Vater alarmiert.

Die Dorfbewohner laufen mit Fackeln zum Strand, der Vater fährt mit den Fischern zu den Reusen. Die starken Männer können Lütt Mattens Boot leicht aus den Reusen befreien. Als der Junge dem Vater erzählt, was er draußen auf dem Bodden wollte, entspinnt sich folgender Dialog:
„Die Muschel wolltest du also finden. Ich denke, die gibt es nicht.“
Lütt Matten: „Warum wird es dann erzählt?“
Vater: „Früher haben sich die Leute allerhand Sachen ausgedacht und an Wunder geglaubt, weil es ihnen schlecht ging und sich was wünschten.“
Lütt Matten: „Mir geht auch schlecht.“
Vater: „Aber hast du nicht immer satt zu essen, einen warmen Ofen und Spielzeug?“
Lütt Matten. „Aber die Reuse, alle lachen.“
Vater: „Nun schlaf erst mal. Morgen reden wir über die Rüs.“
Lütt Matten: „Ja, morgen, immer sagst du morgen.“

Lütt Matten holt die nutzlose Muschel aus dem Wasser © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Am nächsten Morgen setzt Lütt Matten die Plötze wieder aus, holt die weiße Muschel aus dem Wasser und baut zusammen mit Mariken die nutzlose Reuse ab. Da kommt der Vater: „Ich wollte mal deine Rüs besehen“, sagt er und dann: „Die Reuse, wenn sie so steht, im flachen Wasser, kann sie nicht fischen. Auch mit der weißen Muschel nicht. Wenn ihr wollt und später bei der Stange bleibt, können wir zusammen eine richtige Reuse im tiefen Wasser bauen.“ Als Lütt Matten zu Kaule und Mariken sagt: „Das hat min Vadding schon so oft versprochen“, geht dem Vater plötzlich ein Licht auf, und er begreift, wie sehr er das Vertrauen seines Sohnes erschüttert hat.

Lütt Mattens Vadding kommt nun doch, um sich die Reuse zu besehen. „So wie sie steht, im flachen Wasser kann sie nicht fischen“, erklärt er den Kindern und verspricht, mit ihnen weiter draußen, im tiefen eine richtige Reuse zu bauen © DEFA-Stiftung/Hans-Joschim Zillmer

Der Film endet für die Kinder glücklich. Lütt Mattens Vater und die Fischer fahren mit ihnen raus auf den Bodden, und sie stellen zusammen eine Reuse auf. Die gehört ihnen ganz allein. Am nächsten Morgen schwimmen 23 Aale im Reusensack. Und ein paar mehr vielleicht schin am nächsten Tag. Und auch der Vater-Sohn-Konflikt hat erledigt. Der Vater hat das Vertrauen seines Sohnes wiedergewonnen und für sich die Erkenntnis, dass er eine Verantwortung dem Sohn gegenüber hat, ihn ernstnehmen muss.

Ein Aufwand, wie ihn Hollywood nicht kennt, wurde für die Szenen betrieben, als Lütt Matten in der Nacht auf der Suche nach der weißen Muschel auf den Bodden rausfährt und sich in den Reusen verfängt. Weil mit den Kindern nur zwei, drei Stunden gearbeitet werden durfte, hat Zschoche die Szenen zuerst am Tag auf Spezialmaterial gedreht. Da war zwar der Himmel dunkel, aber der Horizont blieb immer hell. Das gefiel Wilkening nicht und er bestand darauf, die Szenen noch mal nachts zu drehen. Das Boot des Jungen lag 300 bis 400 Meter weit draußen im Wasser. Für die Beleuchtung, das waren riesige 10 Kw Scheinwerfer, damals gab es noch keine kleinen Einheiten, wurden Flöße gebaut und die Kabel vom Haus durch das Wasser bis zur Reuse gezogen.

Die Dorfkinder hatten ihren Spaß bei den Filmarbeiten. Sie durften in einigen Szenen mitspielen. Hier erzählt ihnen Lütt Matten, dass eine Plötze in seiner Reuse war
Lutz Bosselmann© DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Die Dreharbeiten hatten auch für Inselkinder Abenteuerpotenzial. Sie durften mitspielen, wenn Lütt Matten durchs Dorf lief, und ein Spottlied auf den „Reusen-Admiral“ singen. Durften bei der Suchaktion die Fackeln bei den Nachtaufnahmen halten oder die Schippen mit dem qualmenden Pulver schwenken, das den Nebel erzeugte. Weil da gerade die Sommerferien begonnen hatten, waren auch Benno Pludras Söhne Matthias und Thomas mit ihren beiden Cousins, den Söhnen des Schriftstellers Klaus Beuchler, dabei. „Das Zeug stank wie die Pest. Und weil der Wind die Schwaden oft auf den Bodden trieb und nicht dahin, wo der Kameramann sie brauchte, dauerte der Spaß drei Nächte“, erinnert sich Matthias Pludra. „Und das Ganze für anderthalb Minuten in einem Kinderfilm. Heute unvorstellbar“, meinte mein Mann, als er mir von jenem Sommer auf Hiddensee erzählte.

Blick auf die Heidelandschaft bei Neuendorf. Herrmann Zschoche (r.) mit Horst Hardt © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Ziller

Es wurde alles genutzt, was Hiddensee an Motiven hergab: die flache weite Heidelandschaft mit ihren knorrigen, vom Wind geformten Bäumen bei Neuendorf, die Dünen, auf denen das Gras hochwächst, die Sicht auf den Bodden bei Vitte, die bis zum Horizont reicht, die Wellen, die an die Steine am Strand schlagen, den Flug der Möwen, den Zug der Wolken, die Fischerboote im Hafen, die weißgetünchten Katen der Fischer. Es war vielleicht gewagt. Aber Regisseur wie auch Autor Benno Pludra trauten dem kindlichen Publikum den Zugang zu epischen Bildern und das Erkennen der Schönheit im Detail zu. Das Drehbuch folgt den kargen Dialogen der literarischen Vorlage, die gestalterische Umsetzung ihren poetischen Beschreibungen.

Eine Reuse voller Aale, davon träumt der Fischerjunge Lütt Matten © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Es ist Herrmann Zschoches wohl choreografiertes Spiel der Kinder Lutz Bosselmann und Heike Lange, das den Film so zu Herzen gehen lässt. Dabei gestaltete sich Besetzung der Rolle von Lütt Matten schwierig. „Treppauf, treppab haben wir die Schulen an der Küste abgeklappert. Zuerst haben wir Kaule gefunden, dann Mariken in Rostock. Aber kein Junge hat in die Rolle des Lütt Matten gepasst“, erinnert sich der Regisseur. Ich wusste schon aus meinen vielen Gesprächen mit Kinderfilmregisseur Rolf Losansky (†2016): Kinder müssen passen, Schauspieler können sich reinfinden, Kinder nicht. Herrmann Zschoche hatte wie Losansky ein gutes Gefühl für Kinder und vermochte sie sensibel zu lenken. „Kindern muss man alles sagen, aber man muss sie locker machen, viel loben. Es muss ihnen Spaß machen, das zu spielen, was sie sollen. Sobald Zwang kommt, ist es aus.“

1960 drehte Herrmann Zschoche seinen Diplomfilm „Das Märchenschloß“, Premiere war im Juni 1961. Lutz Bosselmann (hier mit Rosemarie Stein) spielte Peter, einen der drei Brüder, die ausziehen, um ihre Träume zu suchen. © DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer

Für die Besetzung von Lütt Matten fiel ihm zu guter Letzt der kleine Berliner Lutz Bosselmann ein, der in seinem Diplomfilm „Das Märchenschloss“ eine der Hauptrollen gespielt hatte. Ein stilles, knubbeliges Kind, das viel mit sich selber ausmacht, und dem man im Gesicht ablesen konnte, was in ihm vorgeht. Genauso hatte Benno Pludra Lütt Matten in seinem Buch beschrieben.

Lütt Matten leidet unter dem Spott der Kinder und der Fischer. Er fragt sich: „Warum fischt die Rüs nicht?“ © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Kameramann Horst Hardt erfasste die Gemütsstimmungen des Jungen in wunderbaren Großaufnahmen. Der Film ist genau besehen ein Kamerafilm. Er lebt sehr von Hardts ausdrucksstarken Aufnahmen, die großartig von Schnittmeisterin Brigitte Krex montiert wurden. So fungiert die Natur der Insel nicht als bloße malerische Kulisse. Sie ist die Lebenswelt des Jungen und korrespondiert in den Bildern mit seinen seelischen Befindlichkeiten. Georg Katzers einfühlsame Musik tut ein Übriges.

Mariken will Lütt Matten trösten. „Guck mal, dann ist es eben ein Spiel mit Rüs.“ Ein solches Ansinnen hat ihm gerade noch gefehlt. © DEFA-Stiftung/Hans-Joachim Zillmer

Dem Regisseur selbst gefällt am besten die Szene mit Mariken und Lütt Matten auf der Wiese, als sie zu ihm sagt: „Lütt Matten hat eine Reuse aufgestellt, obwohl sogar sein bester Freund das unsinnig findet. Und dann fängt er keine Fische damit.“ Und sie fragt: „Na, Lütt Matten, bist du schon an der Reuse gewesen?“ Er antwortet: „Ja, mal eben.“ Mariken: „War wieder nichts drin?“ Lütt Matten schüttelt den Kopf. Er bückt sich ins Gras, damit er Mariken nicht ansehen muss. Seit Tagen kommt sie und fragt, und seit Tagen sagt Lütt Matten: „Nein, nichts, kein Stück. Aber morgen, pass auf, morgen ganz bestimmt.“

Filmplakat 1963

Die Filmpremiere am 26. Januar 1964 im Berliner Kino Kosmos war ein grandioser Erfolg. 1983 lief „Lütt Matten und die weiße Muschel“ im West-Fernsehen. Von Herrmann Zschoche erfuhr ich, dass Lutz Bosselmann 2008, mit 56 Jahren, gestorben ist. Schauspieler ist er nicht geworden. „Mariken“, die heute 64-jährige Heike Lange-Kahl, erinnert sich noch gut, wie sie ausgewählt wurde. „Wir mussten bei den Probeaufnahmen den Satz ,Lütt Matten, din Rüs hät fischt‘, sprechen. Ich konnte das R richtig gut rollen und war mir ganz sicher, dass ich die Rolle bekomme.“ Die Zeit auf Hiddensee verbindet die promovierte Literaturwissenschaftlerin mit dem großen Gefühl von behüteter Freiheit. „Wir waren vier Monate ohne Eltern und erlebten jeden Tag Aufregendes.“ Schauspielerin wollte Heike trotzdem nie werden. Sie zog es zum Eissport. 1975 wurde sie Vize-Weltmeisterin im Eissprint. Ihre Berufung fand sie nach der Wende im Engagement für die „Deutsche Kinder- und Jugendstiftung“.

„Lütt Matten und die weiße Muschel“ wurde einer der schönsten DEFA-Kinderfilme. „Ich war angenehm überrascht“, reflektierte Herrmann Zschoche im Abstand von fünf Jahrzehnten. „Es war mühsam, aber es hat sich gelohnt. Ein sehenswerter Film auch für Erwachsene. Ab und zu staunt man über sich selber.“

Ja, der Film lebt. Er hat den Untergang des Landes, in dem er spielt, und der DEFA überdauert. Die Legende von John Hagenbrinks Wundermuschel, die den Fischern von Hiddensee in ihrer ärgsten Not den Fisch und das Glück herbeisang, ist auf der Insel in Vergessenheit geraten. Wen sie auch gefragt habe, erzählte mir Archivarin Jana Leistner vom Heimatmuseum Hiddensee, keiner hatte je davon gehört. Sie bereitet derzeit eine Sonderausstellung zu Benno Pludra und seiner Geschichte von Lütt Matten und der weißen Muschel“ vor. Ich weiß nicht, wer von den Dorfkindern und Fischern, die 1963 die Dreharbeiten miterlebten, heute noch auf Hiddensee wohnt. Vergessen haben sie dieses Abenteuer sicher nicht und erzählen es vielleicht ihren Enkeln weiter. Und die hätten sicher ihre Freude an dem Film, der ihnen die Welt ihrer Großeltern zeigt.

Heiner Carow & Benno Pludra – Mit Sheriff Teddy fing der „Ärger“ an

„Sheriff Teddy“ – eins meiner liebsten Kinderbücher. Keine Ahnung, wie oft ich es gelesen habe. Wohl sehr oft, denn die Ecken des Einbands sind ziemlich abgestoßen. Es lag 1959 auf meinem Geburtstagstisch. Für meine Eltern wäre es Frevel gewesen, ein Buch wegzuwerfen. So zog Sheriff Teddy“ über all die Zeit immer mit uns um und blieb in meinem Blickfeld. Es war mein erstes Buch von Benno Pludra. Wenn ich mich zurückversetze, spüre ich noch die Faszination, die ich beim Lesen empfand.

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Kalle alias Sheriff Teddy (Gerhard Kuhn, r.) fällt es schwer, sich in der neuen Schule in Ostberlin einzugewöhnen. Er gerät mit seinem Rivalen Andreas (Axel Dietz, l.) aneinander © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Die Geschichte von Kalle alias Sheriff Teddy spielt in der gleichen Zeit, in der auch ich Kind war. Ich wohnte in einem Dorf bei Potsdam, er im geteilten Berlin, wohin ich als Kind nie gekommen bin. Sein Leben verlief so ganz anders als meins. Ich hatte keine Vorstellung, wie es ist, wenn man erst im Westen gewohnt hat, dort zur Schule ging und dann in den Osten kam, wo es ganz anders zuging. Und man zwischen den Fronten hin und her gerissen wird. Benno Pludra lotste mich mit seiner Erzählweise so durch Kalles problembeladene Tage, dass ich mich einfühlen und hineindenken konnte. Mit jeder Buchseite kam ich ihm näher. Meine Welt dehnte sich aus. Das habe ich als Zehnjährige so nicht reflektiert, wohl aber gespürt.IMG_9003
Dass mir das Buch gerade jetzt wieder in den Sinn kam, hat mit der Verleihung des Heiner-Carow-Preises zu tun, zu der ich ins Berliner Kino International eingeladen war. Er wird seit 2013 von der DEFA-Stiftung im Rahmen der Berlinale an einen Spiel-, Dokumentar- oder Essayfilm aus der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ vergeben und ist dem 1997 verstorbenen Regisseur gewidmet. Heiner Carow hat das Profil der DEFA mit Filmen wie „Sie nannten ihn Amigo“ (1958), „Die Russen kommen“ (1968), „Die Legende von Paul und Paula“ (1972), „Ikarus“(1975) entscheidend mit geprägt. Wie in jedem Jahr wurde auch an diesem Abend einer seiner Filme gezeigt. Es war der kaum noch bekannte Kinderfilm „Sheriff Teddy“ aus dem Jahr 1956 nach dem gleichnamigen Buch von Benno Pludra.

Das Buch war damals gerade mit Illustrationen von Hans Baltzer im Kinderbuchverlag Berlin erschienen und hatte sogleich für Furore gesorgt. Benno Pludra und Hans Baltzer gewannen beim Preisausschreiben für Kinder- und Jugendliteratur des Ministeriums für Kultur der DDR dafür gleich mehrere Preise. Etwa zum gleichen Zeitpunkt war der damals 27-jährige Heiner Carow auf der II. Leipziger Woche für Kultur- und Dokumentarfilm für seinen Dokumentarkurzfilm „Martins Tagebuch“ mit der Silbernen Taube, dem Preis des Clubs der Filmschaffenden der DDR, ausgezeichnet worden.

Martins Tagebuch DEFA-Stiftung
Szene aus Heiner Carows Kurzfilm „Martins Tagebuch“, den er mit Kameramann Helmut Bergmann drehte. @ DEFA-Stiftung/ Helmut Bergmannn

Sensibel und genau geht er den Problemen eines Jugendlichen nach, dessen Eltern für seine Träume und Wünsche kein Verständnis haben. Dieser Film zeigte sehr deutlich Heiner Carows Neigung zum Spielfilm. „Martins Tagebuch“ öffnete dem jungen Regisseur, der beim DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme arbeitete, endlich die Tür ins DEFA-Studio für Spielfilme. Mit „Sheriff Teddy“ begann für Heiner Carow ein harter Weg, auf dem er sechzehn der bewegendsten DEFA-Filme schuf.

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Kalle hat eine andere Sicht auf die Regierungszeit von Friedrich II als Lehrer Freitag (Günter Simon) © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Meine Erinnerungen an den Film „Sheriff Teddy“ waren schon sehr verblasst. Ich hatte ihn Anfang der 1960er Jahre in der „Flimmerstunde, einer Kindersendung des Deutschen Fernsehfunks, gesehen. Natürlich verknüpfte sich mein Blick auf das Geschehen jetzt mit dem gewachsenen Wissen um die historischen Ereignisse im Berlin der 50er Jahre. Damals kannte ich Berlin nicht, wie gesagt. Inzwischen lebe ich seit 40 Jahren in der Stadt. Ich erkannte die Drehorte um den Rosenthaler Platz herum und die Zionskirche, die Brunnenstraße, den Alex und die Friedrichstraße, die Wollankstraße im Westteil der Stadt, die ich als Kind nie gesehen hatte. So wurde der Film, den ich so spannend fand wie als Kind, für mich auch zur Zeitreise. Wie harmlos liefen doch damals Prügeleien auf dem Schulhof ab. Es ging in einer Auseinandersetzung nicht darum, jemanden „kaltzumachen“. Da gab es noch eine Gewaltschwelle, die nicht überschritten wurde. Wer am Boden lag, wurde nicht noch getreten.

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Zigarettenpause. Heiner Carow und Kameramann Götz Neumann © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Ich habe Heiner Carow im August 1996 kennengelernt. Er war ein großer stattlicher Mann. Voller Ruhe, von einer Freundlichkeit, die eine Unterhaltung leicht macht. Ich durfte ihn in seinem Haus nahe des DEFA-Studios Babelsberg besuchen. Mit offenen Armen lehnte er in der Couch, während er mir aus seinem Leben erzählte, warum er Regisseur geworden war, was ihn antrieb und was ihm diesen Beruf schwer machte. Schon während seiner Schulzeit in Rostock hatte er Stücke geschrieben und inszeniert. Er wollte Regisseur werden. Das war sein erklärtes Ziel. Nach dem Abitur 1949 gründete er ein Jugendtheater. „Wir sind wir über die Dörfer gezogen und haben in Gasthöfen vor den Bauern gespielt“, erzählte er. Bei der ersten Vorstellung in der Aula seiner Schule saß zufällig eine Schauspielerin im Publikum neben seiner Mutter und fragte sie: „Das hat ein Schüler der 12. Klasse gemacht? Der sollte sich mal beim DEFA-Nachwuchsstudio bewerben.“ Davon hatte Heiner Carow geträumt. Er bewarb sich und bestand die Aufnahmeprüfung. „1952 wurde die Schule geschlossen. In meinem Abschlusszeugnis stand, dass ich für den Beruf des Regisseurs ungeeignet sei, allenfalls Dramaturg werden könnte“, verriet er amüsiert.“ Er ließ sich nicht beirren und nahm eine Stelle als Regie-Hilfe im Studio für Populärwissenschaftliche Filme an. „Ich wurde nur einmal als Assistent eingesetzt, dann habe ich eigene Filme gemacht.“

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Regisseur Slatan Dudow 1963 bei Dreharbeiten für „Christine“ @ DEFA-Stiftung/ Herbert Kroiss/Waltraut Pathenheimer

Entscheidend für seinen Entschluss ist eine Begegnung mit dem bulgarischen Filmregisseur Slatan Dudow gewesen, der einige der wichtigsten Nachkriegsfilme der DEFA gedreht hat, wie „Familie Benthin“, Frauenschicksale“, Stärker als die Nacht“ und „Christine“. Carow erinnerte sich: „Ich erlebte Dudow 1950 bei der Premiere seines Films ,Unser täglich Brot‘. Die Besessenheit, mit der er davon sprach, die Kunst dafür zu nutzen, dass es keinen Krieg mehr gibt, dass Gerechtigkeit herrscht, hat mich begeistert. Ich war 15, als man uns kurz vor Kriegsende 1945 noch mit der Panzerfaust in Richtung Berlin schickte. In den Dörfern lagen die Frauen in den Fenstern und schrien: ,Nicht die Kinder, nicht die Kinder‘. Das hat sich mir eingebrannt. Kurz vor Schwerin war dann alles vorbei, der Führer war tot und alles löste sich auf. Die Amerikaner griffen uns auf. Ich bin auf eine merkwürdige Art aus dem Lager gekommen. Jemand hatte mir einen Zettel geschrieben, ich sei kein Soldat.“ Dudows Traum wurde auch Carows Traum. „Ich wollte Filme machen, die die Menschen etwas angehen.“

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Benno Pludra 1955 in seinem Arbeitszimmer in seinem Haus in Berlin-Friedrichshagen. © Horst E. Schulze

Ich nenne es einen schicksalhaften Zufall, dass Benno Pludra und Heiner Carow damals in Leipzig aufeinandertrafen. Sie lagen in ihrem künstlerischen Anliegen auf einer Linie. Jeder reflektierte auf seine Weise die soziale Wirklichkeit im Land und beschrieb, wo sie nicht zu den offiziellen Wunschprojektionen passte. Ihr erstes Zusammentreffen hatte Heiner Carow noch lebhaft in Erinnerung: „Es war sehr lustig. Wir saßen uns während der Leipziger Dokfilm-Woche 1956 im Presseclub gegenüber und ich hatte ihm gesagt, dass ich einen Film aus seinem Buch machen möchte. Benno lehnte in seinem Sessel und schwieg. Ich dachte, er schläft. Plötzlich sagt er: ,Wo wohnst’n du?‘ Ich: ,In Babelsberg.‘ Er: ,O Gott!‘ Ich: Wieso O Gott? Er: ,Ich wohne in Friedrichshagen, genau am anderen Ende. Das war nicht optimal, aber wir haben das Drehbuch zusammen gemacht.“

Am 29. November 1957 hatte „Sheriff Teddy“ in Berlin-Lichtenberg im „Haus der Jungen Pioniere“ Premiere. Die Presse reagierte sehr wohlwollend. Der Film sei unverfälscht und menschlich wahr, schrieb der Theater – und Filmkritiker Christoph Funke am 3. Dezember 1957 im „Morgen“. Er nehme die Kinder ernst, verniedliche und belehre nicht und sei nicht gönnerhaft, lobte die DDR-Filmpublizistin Rosemarie Rehan in ihrem Artikel „Jungenschicksal – heute und gestern“ in der Wochenpost“ am 14. Dezember 1957. Heiner Carow erwies sich in der Arbeit mit den jungen Darstellern als atmosphärisch genau und feinfühlig, ist im „film-dienst“ zu lesen. So entstand ein spannender Kinderfilm, in dem sich das geteilte Berlin im Alltagsleben von Dreizehnjährigen spiegelt.

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Kalle hat die Schnauze voll von seiner neuen Schule und dem Vater, der seine Schmöker zerristen hat, und will zu seinem Bruder Robbi (Hartmut Reck) nach Westberlin. Robbi überredet ihn, ihm bei einem Einbruch zu helfen © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Ein halbes Jahr später hat sich der Wind gedreht. Heiner Carow geriet mit Sheriff Teddy“ in ein politisches Kreuzfeuer. Der Film gehörte zu einer ganzen Reihe Berlin-Filme, die die DEFA damals produzierte – und von denen heute noch gesprochen wird: Alarm im Zirkus“, „Berlin, Ecke Schönhauser“ oder „Die Berliner Romanze“, Arbeiten von Regisseur Gerhard Klein und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase. Sie alle standen auf der Filmkonferenz im Juli 1958 im Fokus der Kritik durch die Kulturfunktionäre der SED. Man wollte wohl besonders den jungen Filmemachern klar machen, wo sie lang zu marschieren haben. „Es war meine erste Konfrontation mit der offiziellen Kulturpolitik. Man warf mir eine revisionistische Sicht vor, so, wie ich das Leben im geteilten Berlin darstelle. Damals war ich noch jung und versuchte lange Zeit zu glauben, dass irgendetwas dran sein muss, wenn so viele alte weise Männer das gleiche sagen“, beschrieb mir Heiner Carow seine damalige Situation.

Er unterwarf sich der Selbstzensur und quälte sich damit zehn Jahre, die er nur durchhielt, wie er mit einer tiefen Dankbarkeit in der Stimme sagte, weil seine Frau Evelyn ihn immer bestärkt hat. Evelyn Carow war eine der bedeutendsten Schnittmeisterinnen der DDR und hat die wichtigsten DEFA-Filme, darunter auch die ihres Mannes, montiert. Seinen Film „Die Russen kommen“ hat sie komplett umschneiden müssen, nachdem die erste Fassung kurz vor der Premiere 1968 verboten wurde.

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Gert Krause-Melzer als Günter © DEFA-Stiftung/Jürgen Brauer

Der Film spielt im Frühjahr 1945 in einem Ort an der Ostsee und erzählt vom Schicksal des 15-jährigen Günter, der noch an den Endsieg glaubt. Auf der Jagd nach einem russischen Fremdarbeiter, einem Jungen in seinem Alter, ist er der schnellste und stellt ihn. Der Dorfpolizist erschießt den Jungen. Kurz nachdem sowjetische Soldaten den Ort besetzt haben, verhaften sie Günter wegen Mordes an dem Fremdarbeiter. Er wird in einen Keller gesperrt, verrät aber den wahren Mörder nicht. Doch der Fall wird aufgeklärt. All die Ereignisse stürzen Günter in tiefe Verwirrung und lassen ihn seine Schuld erahnen.

Heiner Carow hat hier eigene Erlebnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit verarbeitet. „Ich wurde als 17-Jähriger wegen illegalen Waffenbesitzes von den Russen ein halbes Jahr in einen Keller eingesperrt und kam damit noch glimpflich davon. Sie hätten mich auch erschießen können.“ Bei der ersten Abnahme im Schneideraum heulten alle. Was für ein liebenswürdiger, wunderschöner Film, hieß es. Ein paar Wochen später kam die Abnahme durch die Hauptabteilung Film des Kulturministeriums und die Aufführung wurde verweigert. Der Film psychologisiere den Faschismus, warf man dem Regisseur vor. „Ich denke, er erinnerte wohl einige Leuten unliebsam daran, dass auch sie sich nicht gefragt haben: Auf welcher Seite stand ich?“, rekapitulierte Carow. Vielleicht hatte auch die Brisanz der Ereignisse im August 1968 eine Rolle gespielt, als Truppen des Warschauer Vertrages zur Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in Prag einmarschiert sind.

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Victor Perewalow als russischer Junge © DEFA-Stiftung/Jürgen Brauer

Der Regisseur änderte den Film komplett. Diese Selbstverstümmelung, wie er es bezeichnete, bereitete ihm schlaflose Nächte. Der Film wurde dennoch vernichtet. „Da begriff ich“, sagte Carow, „dass sie nicht recht haben. Sie haben nicht recht, wenn sie  dich loben, und sie haben nicht recht, wenn sie dich tadeln. Du musst tun, was du für richtig hältst. Slatan Dudow hat irgendwann mal zu mir gesagt: es war ein Fehler, wir haben geschwiegen. Bei uns wurde sehr viel geschwiegen.“ Seine Frau Evelyn hatte jedoch eine Arbeitskopie gesichert und mit nach Hause genommen. So konnte der Film 1987 doch noch ins Kino kommen.

Fast alle Carow-Filme gerieten durch ihre gesellschaftskritische Sicht an den Abgrund zur Versenkung. Voll Bitterkeit sprach er von der Zeit nach seinem Film „Bis daß der Tod euch scheidet“, den er 1978 gedreht hatte. „Mit dieser tragischen Ehegeschichte hatte ich mich zu weit vorgewagt. Der Film wurde zwar nicht verboten, aber ich bekam von der DEFA Jahre keine Aufträge mehr.“ Erst 1986 konnte er mit „So viele Träume“ wieder einen Film fertigstellen. Seine letzten großen DEFA-Arbeiten waren „Coming out“ (1989) und „Die Verfehlung“ (1991). Heiner Carow hatte sich mit 67 Jahren wohl aufgezehrt und verstarb an einem Hirnschlag.

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Benno Pludra und Heiner Carow blieben sich in alle den Jahren verbunden. Als 1965 Pludra Buch „Die Reise nach Sundevit“ erschien, machten sich beide sogleich an das Drehbuch. Am 20. Mai 1966 lief er in den DDR-Kinos an. Für Regie, Kameraführung und Dramaturgie gab es 1967 den Heinrich-Greif-Preis I. Klasse. Erstaunlicherweise, denn der Film hatte es besonders schwer, wie sich Benno Pludra erinnerte.

Der Kinderbuchautor schaffte es in seinen Büchern, geschickt die Forderungen der Kulturverantwortliche zu umschiffen. „Die wollten immer, dass wir positive Bücher über angeblich typische Helden und Kollektive schreiben sollten. Aber das geht doch gar nicht, das kann doch nur eine Farce werden“, mokierte er sich mal auf einem Spaziergang Mitte der 80er Jahre, als ich ihn mit meinem Mann, seinem Neffen, in Nedlitz besucht habe. „Der Gedanke, darf ich oder darf ich nicht, war wahrscheinlich immer Hinterkopf. Daraus entstanden manchmal Ausweichgeschichten“, sagte er, als ich ihn fragte, wie er das gemacht habe, die Zensur zu umgehen. Er sei beim Schreiben immer seiner inneren Stimme gefolgt. Wenn die wieder mal einen Knall hatten, wie er meinte, dann habe er eben etwas nicht so geschrieben, er es eigentlich wollte, um nicht Wasser auf die Mühlen zu geben.

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Tim hat die Abfahrt ins Zeltlager nach Sundevit verpasst, weil er erst noch etwas erledigen musste. Er fährt hinterher und gerät durch Unvorsichtigkeit auf ein Manövergelände © DEFA-Stiftung/Horst Blümel

Es gab natürlich Erfahrungen, die waren schwierig und traurig. „Mit den Filmen, die nach meinen Büchern gedreht wurden, gab es aber immer Ärger. Die Regisseure sind ja alle Füchse“, erklärte er. „Sie erschnuppern das Brisante, worüber man in der Literatur eher drüber weg liest, und bringen es nach vorn. Heiner Carow war ja einer der besten Regisseure der DEFA gewesen und hat ununterbrochen Filme gemacht, die bestimmte Leute auf die Barrikaden getrieben haben.“

Es ging in der Kulturpolitik der DDR seitens der Funktionäre schon sehr kleinkrämerisch, demagogisch zu. Wieviel Unsicherheit im Glauben an die eigene Sache musste sie beherrscht haben, um so zauberhaften, berührenden Filmen wie „Lütt Matten und die weiße Muschel“ und „Insel der Schwäne“, die von Hermann Zschoche verfilmt wurden, vorzuwerfen, sie würden die DDR-Realität verzerren, das Bild von der sozialistischen Gesellschaft beschädigen. Benno Pludra hatte stets im Sinn, dass am Ende Hoffnung für Kinder sein muss. Ihm lag daran, die ihr Denken und Fühlen zu beflügeln. Es war seine große Begabung, so mit der Sprache umgehen zu können, dass man ihr nicht entkommen konnte. Lakonisch, knapp und bedächtig, emotional, eindringlich und unpathetisch verhalten lockte sie ihre Leser hinein in die Welt, von der er erzählte. Lakonisch, knapp und unpathetisch geht auch eine Unterhaltung mit ihm.

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Benno Pludra 2002 auf seinem Grundstück in Nedlitz.  Zum Nachdenken saß er gern hier oder ging mit seinem Hund Olex spazieren © privat

Das Schreiben lag immer schon in ihm drin, erzählte er, und dass er nie Lust gehabt hatte, Bücher für Erwachsene zu machen. Er fühle sich zuständig für die Kinder, weil sich die Eltern – jedenfalls die meisten – für ihre Wünsche und Träume nicht interessieren, ihre Bedrängnisse, Nöte und Sorgen nicht ernst nehmen. Er nahm sie ernst und knüpfte seine phantasievoll-realistischen Alltagsgeschichten, die auch mal Märchen sein konnten, in denen seine jungen Leser Wege aus ihren eigenen Kümmernissen finden konnten. Seine Kritik an den Erwachsenen, an Umständen im real-sozialistischen Alltag, verwob er in schönen Sätzen (seine Worte) mit leisem Humor. Nie guckt einen da ein ideologischer oder politisch-pädagogischer Zeigefinger an. Seine immer spannend geschriebenen Erzählungen stimmen auf unmerkliche Weise ganz von selbst nachdenklich. Das macht sein Schaffen für die Kinder- und Jugendliteratur so bedeutsam.

Benno Pludra hatte von Kind an eine unbändige Sehnsucht nach dem Meer. Das war weit weg von seinem Heimatort Mückenberg in der Niederlausitz, wo er am 1. Oktober 1925 als Sohn eines Metallgussformers zur Welt kam und aufwuchs. Seine Eltern ließen ihn ziehen, als er mit 16 Jahren nach Hamburg ging, um die Seefahrtsschule der Handelsmarine zu besuchen. „Deshalb musste ich nicht Soldat werden und mich womöglich mit Schuld beladen.“ Welches Glück das für ihn war, begriff er erst später.

Im Kriegssommer 1943 begann der nicht gerade groß gewachsene schmale Junge auf dem Segelschulschiff „Padua“ seine Matrosenausbildung. Mit dem Tampen bekam er da die Seetüchtigkeit auf den Hintern gebläut, erinnerte er sich. Sie segelten in der Rigaer Bucht. „Es war uns wie im Frieden. Und wenn du den Krieg nicht spürst, bleibt er dir fern. Wir hatten auch nicht genug Verstand, um zu begreifen, war passiert.“

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Benno Pludra 1958 auf seinem Segelboot „Mobby Dick“ vor der Insel Hiddensee, wohin er jeden Sommer fuhr © privat

1944 heuerte der Jungmatrose Pludra auf dem Erzfrachter Ditmar Koel an. Da rückte der Krieg schon näher. Stets auf der Hut vor Torpedo-Flugzeugen, fuhren sie nur nachts. „Am 7. Dezember 1944 machten wir klar zur Ausfahrt aus der Bucht vor Bergen, als es knallte und das Heck sank“, erzählte er mir im Sommer 2003 in einem Interview für die Zeitschrift SUPERillu. Er wollte sich retten und sprang in Wasser. Der Sog zog ihn unweigerlich nach unten. „Ich dachte: jetzt bist du am Ende. Dann habe ich wieder oben rausgeguckt und jemand hievte mich in ein Rettungsboot.“ Mit dem Bewusstsein überlebt zu haben, kam das Entsetzen. „Das wirst du nicht mehr los“, sagte er.  In diesem Jahr wurden die Haare des 19-Jährigen weiß.

Ende der 80er  Jahre lernte Benno Pludra auf einem Freundschaftstreffen der norwegischen Widerstandsbewegung auf den Shetlandinseln den Mann kennen, der 1944 die „Ditmar Koel“ torpediert hatte. „Er erzählte mir von seinen Schuldgefühlen. Es hat ihn sein Leben lang beschäftigt, dass er junge deutsche Seeleute, die keine Soldaten waren, in den Tod geschickt hat. Ich versuchte, ihm das auszureden. Ich sagte: es war Krieg, wir hatten da nichts zu suchen. Wir trennten uns als Freunde. Das sind so Begegnungen, die ein ganzes Buch auslösen können“, erklärte der damals 78-Jährige. Benno Pludra hat das Buch geschrieben. Das Schicksal des Leichtmatrosen Daniel Bloom, der mit Segelschulschiff „Pandora“ untergeht, ist seine Geschichte. „Aloa-héist Pludras einziger Roman der für Erwachsene.

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In „Aloa-hé“ hat Benno Pludra seine Erlebnisse auf dem Segelschulschiff „Padua“ und seinen Untergang mit der „Ditmar Koel“ verarbeitet

Nach dem Krieg ging Benno Pludra zurück zu seinen Eltern, die inzwischen nach Großenhain in Sachsen umgezogen waren. Es gab keine Schiffe mehr, auf denen er hätte anheuern können. Aber Lehrer brauchte die Stadt. Er bewarb sich und schickte ihn für acht Monate zu einem Neulehrer-Kurs nach Riesa. Das gefiel ihm ganz gut. Der Praxis fühlte er sich der 20-Jährige am Ende nicht gewachsen. Den schnatternden Haufen kleiner Mädchen gab er nach zwei Tage wieder ab. „Die hatten sich immer was zu erzählen, das war mir zu anstrengend. Und mit den zehn- und elfjährigen Jungs, die ich dann bekam, gab es andere Probleme. Es war ja eine harte Zeit, unmittelbar nach dem Krieg.“ Jeden Morgen, wenn er zu seiner Arbeit in die Schule ging, hämmerte der Satz in seinem Kopf: Das hältst du nicht aus. Nicht dein ganzes Leben. Er gab auf, fand aber später, dass ihm die Zeit als Lehrer sehr von Nutzen war.

Mittlerweile 21 Jahre, machte er an der Arbeiter- und Bauernfakultät sein Abitur nach und studierte Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte, erst in Halle, dann Berlin. Nebenher arbeitete er als Reporter für die Märkische Volksstimme. Nach einer Reportage aus dem Oderbruch schrieb er seine erste Erzählung Ein Mädchen, fünf Jungen und ein Traktor“. Im Sommer darauf schickte ihn der Chefredakteur der Schulpost, Gerhard Holtz-Baumert – von ihm stammen die beliebten Geschichten über den Pechvogel Alfons Zitterbacke – ins Pionierlager an den Hölzernen See. „Ich sollte mich da mal umsehen und dann was schreiben“, erzählte Benno Pludra ein halbes Jahrhundert später. Er wohnte mit einer Gruppe Jungs in einem Zelt und das habe ihm gut gefallen. „Da ging es noch lockerer zu als in den Ferienlagern später.“

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Benno Pludra 1953 mit Sohn Thomas © privat

Dann hörte er von dem Aufruf für neue Kinderbücher. „Ich dachte: Da schreibst du was.“ Er hatte inzwischen Frau und Kind, die er versorgen musste. Mit dem einjährigen Thomas, seinem ersten Sohn auf dem Schoß, tippte er die Ferienlagergeschichte „Die Jungen von Zelt 13“ in die Maschine, die 1952 mit dem 1. Preis für Kinder- und Jugenliteratur ausgezeichnet wurde. Benno Pludra: „Zuerst sollte ich keinen Preis kriegen. Die was zu sagen hatten, fanden: so sind unsere Kinder nicht. Aber ich habe sie so gesehen. Anständige Kerle im Grunde, die sich bloß bestimmte Freiheiten genommen haben.“

Im noch jungen Kinderbuchverlag, er war am 1. Juli 1949 gegründet worden, ermunterte man ihn: Komm schreib, schreib! Und er schrieb weiter neben seiner Arbeit als Redakteur bei der Rundfunkzeitung, zu der er gewechselt war. Ab 1952 war er freischaffender Schriftsteller.

Das Meer hat Benno Pludra nie losgelassen. In vielen seiner Geschichten spielt es mit. „Bootsmann auf der Scholle“, „Tambari“, „Lütt Matten und die weiße Muschel“, „Die Reise nach Sundevit“ erzählen von der Sehnsucht nach dem Unergründlichen, der Schönheit und den Gefahren. Jeden Sommer verbrachte der Dichter mit seiner Familie auf Hiddensee, segelte mit seinem Boot „Mobby Dick“ im Bodden. Manchmal durften auch seine beiden Jungen Thomas und Matthias mit.

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In fünf Jahrzehnten Jahren dichtete, erfand und schrieb Benno Pludra ein stattliches Oeuvre von fast 50 feinsinnigen, spannenden und poetischen Erzählungen und Romanen für Kinder und Jugendliche, auch Verse für die ganz Kleinen, mit einer Gesamtauflage von mehr als 5 Millionen Exemplaren. „Kinder brauchen Literatur, die gut und stark macht, in der der Humor nicht fehlt, sie sollen nachdenken, aber auch lachen“, so das Credo eines der erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautoren, dem er auch nach der Wende treugeblieben ist. All seine Bücher waren ihm wichtig. Manche waren wichtiger, andere haben die Zeit nicht überdauert. Vor fünf Jahren, am 27. August 2014, verstarb Benno Pludra nach langer Krankheit.

 

„Sheriff Teddy“ – Der Film

Der 13-jährige Kalle Becker lebt in Westberlin. Als sein Vater seine Arbeit verliert, zieht die Familie in den Osten. Herr Becker ist Heizer. Das System ist ihm gleichgültig, bot ihm aber eine sichere Arbeit, Einkommen und Wohnung. Berlin ist zwar eine geteilte Stadt, aber mit offener Grenze. Man setzt sich in die S-Bahn und fährt vom Alexanderplatz im Osten zum Gesundbrunnen im Westen. Kalle fällt es schwer, sich in dem neuen Umfeld einzugewöhnen. Am Gesundbrunnen hatte er seine Clique, die Teddy-Bande, und er war der Chef, Sheriff Teddy, sein Vorbild aus einem der Schmöker, die er zu Dutzenden verschlingt.

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Kalle verhökert auf dem Schulhof seine alten Schmöker.© DEFA-Stiftung/ Eberhard Daßdorf

Die Schmöker sind im Osten verboten, aber auch hier heißbegehrter Lesestoff bei Kalles neuen Klassenkameraden. Als er die Heftchen auf dem Schulhof verhökert, kommt er in die Bredouille. Er gerät mit Andreas, den er als Kontrahenten ausmacht, aneinander. Die Schlägerei hat Folgen. Kalles Vater, ein jähzorniger Mann, zwingt ihn die Schmöker zu zerreißen. Andreas trägt Kalle die Prügelei nicht nach, doch der will sich rächen und aktiviert die Teddy- Bande.

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Andreas soll in eine Falle gelockt werden © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Sie wollen Andreas in für eine Nacht in einer Ruine festhalten und ihn dann mit herausgeschnittenem Hosenboden wieder freilassen. Was für eine Schmach! Der Plan missglückt. Kalle kann Andreas nicht in die Falle locken. Damit ist er bei der Teddy-Bande unten durch. Die beiden Kontrahenten beginnen sich anzufreunden.

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Kalle findet, dass Andreas gar nicht so übel ist © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Andreas hat ein Fahrrad und schlägt Kalle vor, ihm auch eins zusammenzubauen. Auf der Suche nach den Teilen schwärmt Andreas von einem Tacho, den er für sein Rad gern gehabt hätte.

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Kalle klaut den Tacho aus dem Lehrmittelschrank der Schule. © DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

Kalle will dem neuen Freund eine Freude machen und ihm den Geschwindigkeitsmesser von seinem Taschengeld kaufen. Weil das nicht reicht, stiehlt er den Tacho aus dem Lehrmittelschrank der Schule. Es wird bemerkt. „Du bist ein Dieb, das hätte ich nicht von dir gedacht“, wendet sich Andreas enttäuscht von ihm ab. Auch die anderen aus der Klasse lassen ihn stehen. In seiner Verzweiflung sucht Kalle Hilfe bei seinem großen Bruder Robi, der im Westen von krummen Geschäften lebt, und lässt sich in dessen kriminelle Machenschaften hineinziehen: Wenn er Robbi und dessen Kumpanen hilft, aus einem Ostberliner Lager Fotoapparate zu stehlen, wird er ihm das Geld für den Tacho zu geben.

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Andreas hat die Polizei gerufen. Bis die kommt, halten die Jungs die Verbrecher fest @ DEFA-Stiftung/Eberhard Daßdorf

 Kalle ist dabei nicht wohl, aber sagt zu. Im richtigen Moment sind Andreas und die andern und verhindern den Coup. Zum ersten Mal spürt Kalle, der abgemusterte Bandenchef Sheriff Teddy, was echte Freundschaft ist.

„Tambari“ – Eine seltene Freundschaft

Das Filmmuseums Potsdam hat für sein Mai-Programm mit „Tambari“ einen der schönsten DEFA-Kinderfilme ausgegraben.  Er entstand 1977 unter der Regie von Ulrich Weiß nach Benno Pludras gleichnamigem Roman. Der  Schwarzweißfilm erzählt die Geschichte von der kurzen Freundschaft eines Jungen und eines alten Mannes und dessen Kutter „Tambari“.

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Fuhrmann Kaßbaum (Kurt Böwe) trank gern einen über den Durst. Die Kinder finden ihn auf der „Tambari“ ©DEFA-Stiftung/Norbert Kuhröber

Inhalt
Eigentlich haben alle gedacht, er wäre schon längst tot. Doch nach 50 Jahren kehrt Luden Dassow in sein Heimatdorf Koselin an der Ostsee zurück.  Um die ganze Welt ist er mit seinem Zeesenboot „Tambari“ gesegelt. Ablehnung schlägt ihm entgegen. Nur der junge Jan Töller, Sohn des Fuhrmanns Heinrich, freundet sich mit dem alten Seebären an, begleitet ihn zum Fischen und lässt sich von ihm von seinen Abenteuern erzählen. Gemeinsam verbringen sie viel Zeit auf der kleinen „Tambari“ , die Luden nach einer Insel im Pazifischen Ozean benannt hat.  In dem strengen Meerwinter stirbt der alte Freund. Kurz vor seinem Tod hatte er seinen geliebten Zweimaster den Fischern vermacht, unter der Bedingung, dass sie das Boot nie verkaufen. Sie haben kein Interesse daran und lassen die „Tambari“ verrotten.  Die Fischer plagen Sorgen, haben sie doch ein schlechtes Fangjahr, ein Sturm zerstörte ihre Reusen. Trotz des Spotts der Großen macht Jan mit einigen Freunden das Boot wieder seeflott. Hilfe bekommen sie von Fuhrmann Kaßbaum. Doch dann steht Ärger ins Haus. Die Fischer wollen nach einer erneuten Fangpleite die „Tambari“ zu Geld machen… 

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Die Fischer mögen den alten Weltumsegler Luden Dassow (Erwin Geschonneck) nicht ©DEFA-Stiftung/ Norbert Kuhröber

Poetisch und doch dokumentarisch genau beschreibt  Regisseur Ulrich Weiß die Gefühlswelt des Jungen und das raue Leben im Fischerdorf.  „Tambari“ ist sein Spielfilmdebüt.  Ihm zur Seite standen der großartige Erwin Geschonneck als Luden Dassow und Kurt Böwe als gutmütiger Fuhrmann Kaßbaum.
Gedreht wurde unter anderem in Kamminke und der dortigen Bar Kellerberg, in der die Anfangs- und Endszenen des Films in der Fischerkneipe entstanden, am Schwielowsee, auf Rügen und in Greifswald. „Tambari“ erlebte am 8. Juli 1977 auf der Freilichtbühne des Zentralen Pionierlagers „Alexander Matrossow“ bei Bad Saarow seine Premiere. Die Instrumentalstücke im Film werden von Uschi Brüning und Annerose Dubé stimmlich untermalt.

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Jan (Frank Reichelt) und sein Vater Heinrich Töller (Hans-Peter Reinicke) sehen die kaputten Reusen ©DEFA-Stiftung /Norbert Kuhröber

Tambari
läuft am 5. Mai, um 19:00 Uhr
Regie: Ulrich Weiß.
Darsteller:  Erwin Geschonneck, Frank Reichelt, Hans-Peter Reinicke, Barbara Dittus
Ort:
Kino des Filmmuseums Potsdam,
Breite Str. 1a (Marstall)
14467 Potsdam
Kartenreservierung
Tel.: 0331-27181-12, 
ticket@filmmuseum-potsdam.de

Der Kinderbuchautor Benno Pludra, der 2014 mit 88 Jahren in Potsdam verstarb, liebte diese Geschichte ganz besonders. Auch er sehnte sich als Kind nach fernen Ländern, er liebte das Meer. Fast alle seine Erzählungen und Romane spielen daher an der Küste, erzählen von Abenteuern auf dem Meer, von der Seefahrt und Fernweh. Kinder werden zu Entdeckern. Seinen Traum von der See wollte er sich als Seemann erfüllen. Mit 17 Jahren ging er zur Handelsmarine, besuchte die Seemannsschule und absolvierte auf dem Segelschulschiff Padua als Schiffsjunge eine Matrosenausbildung. Das war mitten im II. Weltkrieg.

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Benno Pludra im Dezember 2002 in einem Interview mit Bärbel Beuchler: „Die Padua war eine Viermastbark, das größte Segelschiff der Reederei Ferdinand Laeiß in Hamburg. Wir lagen den ganzen Winter vor Stettin, um die Sicherheitsmelder gegen Minen einzubauen. Dann wurden wir im Mai 1943 von einem Dampfer nach Riga geschleppt. Das ist doch Wahnsinn, dachte ich damals. Es tobte ja schon die letzte große Schlacht am Kursker Bogen. Wir hatten Angst, von den Russen beschossen zu werden. Aber es kam nur ab und zu mal ein Flieger. Wir segelten in der Bucht als wäre Frieden.“

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Benno Pludra signiert seine Bücher auf dem Basar der Journalisten auf dem Berliner Alexanderplatz

Nach seiner Matrosenprüfung musterte er im Sommer 1944 von der Padua ab und heuerte auf einem Frachter an, der „Ditmar Koel“. Mit großem Geleitzug von 10 bis 15 Schiffen liefen sie nach Norwegen aus.  Benno Pludra: „Wir lagen in der Buch von Bordo. Ich stand an Deck, sah so auf die Berge und dachte : Was spritzt denn da im Wasser so. Dann sah ich die Flugzeuge über die Berge kommen, die mit ihren Bordkanonen schossen. Die Spritzer waren Einschläge. Wir nahmen das erst gar nicht für voll, schossen  zurück. Dabei starben zwei unserer Leute.“ Am 7. Dezember 1944 wurde die „Ditmar Koel“, beladen mit Erz, bei Longerok von einem Torpedo getroffen, den norwegischen Widerstandskämpfer abgeschossen hatten. Benno Pludra: „Es knallte, als ob jemand mit einem Knüppel auf Blech hat. Im selben Moment war Achtern schon unter Wasser“, erinnerte sich Benno Pludra. „Wir ließen das Rettungsboot zu Wasser, aber Angst und Panik waren so groß, dass die Ersten schon drin saßen, als das Boot an einer Seite noch am Seil hing und das Schiff noch eigene Fahrt hatte. Ich stieg wieder aus, mein Freund Fiete kam nach. Als wir auf dem Heck standen, bäumte sich der Dampfer auf und sank. Ich sackte unter Wasser und hatte kein Empfinden, ob das es warm oder kalt war. In dem Gefühl, du gehst tot, du wirst ersaufen, dachte ich: Jetzt kriegen die anderen das ,Absaufpäckchen‘ mit Schnaps, Zigaretten, Seife, Zahnbürste. Aber ich hatte keine Angst, dass ich sterbe. Und mit einem Mal mal guckte ich oben raus, sah das Rettungsboot und Fiete ein Stück weiter im Wasser. In dem Moment, als ich erleichtert dachte: Nun kann nichts mehr passieren, ging ich wieder unter, kam hoch, ging wieder unter, bis uns die anderen ins Boot zogen.“

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Benno Pludra 1960 auf seinem Segelboot „Mobby Dick“ ©privat

Angst und Entsetzen kamen dem damals 19-Jährigen erst im Nachhinein. Damals begannen seine Haare weiß zu werden.  Viele Jahre später erzählt seine Erlebnisse in dem spannenden Roman „Aloa-hé“.
Seine Liebe zur See ist immer geblieben. Jeden Sommer verbrachte er später, schon Schriftsteller und Vater zweier Söhne, auf der Insel Hiddensee und fuhr mit seinem Boot hinaus auf die Ostsee. „Ohne das Meer wäre ich ein halber Mensch gewesen“, sagte er.

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