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Schauspieler Jan Spitzer – Ein Leben lang unangepasst und gelassen

Er hatte verpennt, weil ihn niemand geweckt hat. Jan Spitzer hörte nie allein den Wecker. Das war sein Fluch. Schon immer. Wirklich zu schaffen gemacht hatte ihm das nicht. Nicht einmal, als er sich zum Abitur verspätete. Zu einem Glücksumstand geriet ihm das im Herbst 1967. Er studierte das letzte Jahr an der Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“. An einem Morgen hatte er es mal wieder nicht rechtzeitig aus dem Bett geschafft. Er kam in den Hörsaal, lümmelte sich in Jeans und Lederjacke wie immer desinteressiert in die Bank. Doch etwas war anders als sonst. „Ich wunderte mich, dass alle so aufgekratzt waren“, erinnerte sich Jan Spitzer 45 Jahre später in unserem ersten und einzigen Interview. Die Lederjacke ist mit ihm alt geworden. Er trug sie auch, als wir uns im Sommer 2012 an der Dahme im historischen Café Liebig trafen.

Im Januar 1968 begann Regisseur Egon Günther (r.) mit den Dreharbeiten für den DEFA-Film „Abschied“. Die Hauptrolle, den Bürgersohn Hans Gastl, spielt der damals 20jährige Schauspielstudent Jan Spitzer. Foto: ©DEFA-Stiftung/Peter Dietrich, Wolfgang Ebert, Repro: André Kowalski

Die Unruhe verursachten zwei Herren, die vorn neben dem Dozenten saßen. DEFA-Regisseur Egon Günther und Produktionsleiter Herbert Ehler suchten unter den Studenten nach dem Hauptdarsteller für die Verfilmung von Johannes R. Bechers autobiografischem Roman „Abschied“. Er gehörte in der DDR zur Pflichtlektüre an den Erweiterten Oberschulen. Die Handlung spielt in der Zeit zwischen der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914. Hans Gastl, Sohn des Münchener Oberstaatsanwaltes, rebelliert gegen Verlogenheit, Scheinmoral und vor allem die Weltsicht seines militaristisch eingestellten Vaters. Er will anders sein, als es die gesellschaftlichen Normen seiner Klasse vorgeben, sucht sich Freunde außerhalb seines Standes und lehnt den Krieg ab. Schließlich bricht er als 18jähriger mit seiner Familie und aus seinem bisherigen Leben aus.

„Abschied“ – der Film und seine Folgen

Der Versuch, in der Filmerzählung der Chronologie des Romans zu folgen, funktionierte nicht. Zu schwer, zu langatmig. Dank seiner Erfahrung als Dramaturg und Szenarist fand Regisseur Egon Günther den Ausweg. In Episoden lässt er Hans Gastl in heiter-überlegener, ironisch-distanzierter Sicht auf die eigene konfliktreiche Entwicklung zurückblicken. Dieser Hans Gastl hatte nichts mehr mit der Becherschen Romanfigur, dem Alter Ego des Dichters, zu tun. Günther zeigt die Situation sehr junger Leute, die ihren Weg finden müssen, als sich das wilhelminische Deutschland in einem nationalistischen Kriegstaumel befindet. Gedacht ist der Film für ein ebenso junges Publikum ein halbes Jahrhundert später. „Gastl war ein Aussteigertyp, nonkonformistisch“, beschrieb Jan Spitzer seine Rolle.

Hans Gastl widerstrebt das Leben seiner Familie © DEFA-Stiftung/ Peter Dietrich, Wolfgang Ebert

Nicht, weil er zu spät kam, hatte der 20jährige an jenem Morgen die Aufmerksamkeit des Regisseurs auf sich gezogen. Sein ganzer Habitus entsprach dem Typ, den sich Egon Günther vorstellte. Eine Mischung aus Lässigkeit und Widerspruch, ein bisschen provokant. Von schmaler Statur, mit feinen, jungenhaften Gesichtszügen konnte Jan Spitzer den Vierzehnjährigen wie auch den fast 20jährigen Hans Gastl verkörpern. So genau wusste Jan Spitzer den Grund dafür nicht, dass Egon Günther ihn zu Probeaufnahmen nach Babelsberg bat. Er vermutete, es seien eher seine längeren Haare gewesen.

Im Januar 1968 wurden die Dreharbeiten begonnen und im Mai beendet. Jan Spitzer lieferte ein brillantes Schauspieldebüt ab. „Ich bekam einen Höhenflug durch die Rolle“, gestand er rückblickend. Es war ihm nicht zu verdenken. Man sah ihn überall in der Republik auf großen Plakaten mit der Heidemarie Wenzel, die die Rolle der Prostituierten Fanny spielt, und ihm im Bett. Er war das Gesicht des Films, der noch vor seiner Premiere am 10. Oktober 1968 mit dem „Staatlichen Prädikat Besonders wertvoll“ ausgezeichnet wurde. Erstmalig in der DEFA-Geschichte durfte die Nachricht von der Auszeichnung vorab auf der Plakatwerbung erscheinen. „Wir hatten einen phantastischen Kino-Anlauf mit ausverkauften Vorstellungen in den großen Filmtheatern. 607 000 Besucher in nur sechs Wochen!“ Es war ihm anzumerken, dass er stolz darauf war, diese Rolle bekommen zu haben.

Jan Spitzer traf sich mit mir im Sommer 2012 zum Interview an der Dahme © André Kowalski

Bei allen Bezirkspremieren und Sondervorführungen bekamen die Künstler frenetischen Applaus. Nur im Haus der Offiziere in Strausberg erregte es Unmut bei der hochdekorierten Generalität, dass der jugendliche Held unbekümmert in Jeans auf die Bühne sprang. Jeans oder Nietenhosen, wie man damals noch sagte, waren als „Bekleidungstextil des Klassenfeindes“ unerwünscht, an den Schulen oft gar verboten. Die 60er Jahre waren ein unablässiger Kampf des sozialistischen Systems gegen westliche Einflüsse. Jeans wurden als ideologisches Bekenntnis ihres Trägers gewertet. Ein solches Statussymbol waren sie für Jan Spitzer nicht. Als solches galt ihm seine Lederjacke. „Sie war für mich in der DDR ein Stück Unangepasstheit.“

Jan Spitzer kam am 16. Mai 1947 in Sangerhausen zur Welt. Der Krieg war gerade zwei Jahre vorbei. Die stark zerstörte Stadt im Aufbau begriffen. Der Vater arbeitete in der nahen Kupferschieferzeche, als hier die Förderbänder ab 1951 wieder liefen. Die Eltern hatten bereits zwei Töchter, fast schon junge Mädchen. Der Junge war ein Nachzügler und genoss den Vorzug, besonders umsorgt zu werden. Schon als Kind zeigten sich sein Talent und seine Leidenschaft für Musik. „Ich habe acht Jahre Klavierunterricht genommen, mir das Gitarrespielen beigebracht und kleine Stücke und Lieder komponiert.“ Mit anderen Jungs aus Sangerhausen gründete er 1963 die Amateurband THE SOUNDS. Sie spielten Beatles und Stones hoch und runter, Kinks, Procol Harum… „Rocksongs wurden ganz persönlich genommen, je nach Befindlichkeit.“ Verliebt war er damals in ein Mädchen aus seiner Straße, die später seine Frau und Mutter seiner Töchter Juschka und Johanna–Julia wurde. Beide sind dem Beruf des Vaters gefolgt. Sie wollten es so.

Eigentlich hätte Jan Spitzer anstatt Schauspieler ebenso gut Musiker werden können. Aber es gab eine Sehnsucht, die die Weiche anderswohin stellte. „Immer, wenn ich in meinem Heimatkino im Zuschauerraum saß, hatte ich mir als kleiner Junge gewünscht, auch einmal oben auf der Leinwand sein.“ Am 13. Oktober 1968 hat sich sein Wunsch erfüllt. Das Filmtheater Sangerhausen lud ihn und das „Abschied“-Filmteam zu einer feierlichen Vorstellung ein. Einer seiner glücklichsten Momente.

Eine Woche nach der 9. Tagung des ZK der SED im November 1968 verschwand der Film jedoch aus den Kinos. Ihm wurde Skeptizismus und Subjektivismus vorgeworfen, nachdem Staats- und Parteichef Walter Ulbricht in seinem Referat mit einem Seitenhieb auf die Kunst aufgewartet hatte: „Das humanistische Erbe ist für uns weder museales Bildungsgut noch Tummelplatz subjektivistischer Auslegungen“, zitierte das Zentralorgan Neues Deutschland am 25. Oktober 1968.

Hans Gastl findet in der Prostituierten Fanny (Heidemarie Wenzel) eine Freundin und Geliebte © DEFA-Stiftung/Peter Dietrich, Wolfgang Ebert

Von allen Seiten wurde nun heftig gegen den Film polemisiert. Organisierte Leserzuschriften im ND verrissen ihn. Vergeblich intervenierte Bechers Witwe Lilly im Kulturministerium und beim SED-Zentralkomitee. Jan Spitzer bekam eine Ausgabe des „Sonntag“ zugeschickt, in dem ein Foto von ihm und Heidemarie Wenzel mit entblößten Brüsten abgedruckt war. Daneben eine Randnotiz von Lotte Ulbricht: „Das soll unser Hans sein?!“ Ein direktes Aufführungsverbot für den Film gab es allerdings nicht. Er durfte auf Anforderung in Filmklubs, Filmkunsttheatern und Sonderveranstaltungen gezeigt werden. Erweiterte Oberschulen nahmen ihn in den Literaturunterricht der Abiturklassen als Ergänzung zu Bechers Roman auf.

Er passte in viele Schubfächer

Mit dem Film setzte ein, was Jan Spitzer so erklärte: Im Grunde genommen sei er ein phlegmatischer Typ, immer auch ein bisschen faul. Ihm sei alles in den Schoß gefallen. So wie die Rolle des Hans Gastl und alle, die danach kamen. „Ich habe mich für eine Rolle nie verbiegen müssen“, reflektierte er als 65-Jähriger.

Jan Spitzer 1968 als Dorfschmied Ruprecht mit Monika Gabriel als Eve in der DEFA-Komödie „Jungfer, sie gefällt mir“ © DEFA-Stiftung/Herbert Krois, Peter Schlaak

Er hatte das Studium gerade abgeschlossen, als ihn Regisseur Günter Reisch für sein turbulentes Spektakel „Jungfer, sie gefällt mir“ als Dorfschmied Ruprecht vor die Kamera holte. In der Adaption von Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ schlägt sich der frischgebackene Schauspielabsolvent wacker neben Wolfgang Kieling – als sein Widersacher Dorfrichter Adam – und Rolf Ludwig als Schreiber Licht. Die Dreharbeiten mit Monika Gabriel als Eve hätten Spaß gemacht, ein filmisches Highlight sei das DEFA-Stück aber nicht geworden, urteilte er im Rückblick.

Jan Spitzer als Leutnant Gerd von Ducherow in der 1969 von Egon Günther gedrehten Romanverfilmung „Junge Frau von 1914“, Erstsendung 17. Januar 1970 Foto: Screenshot © DFF/Erich Gusko

Die Arbeit und die Freundschaft mit Egon Günther haben ihn geprägt, in seinen künstlerischen Ansichten und Ansprüchen, vor allem in seinem politischen Denken – die Grauzonen zwischen dem Schwarz und Weiß zu erkennen, zu wissen, wo man steht und warum. Der „Prager Frühling“ 1968 in der ČSSR hatte auch in der DDR bei vielen Menschen Zweifel und Kritik an der Parteipolitik der SED hervorgerufen. Die Kunst stand unter ideologischer Beobachtung. Zu sehen, wie man dieses Korsett mit künstlerischen Mitteln durchbrechen kann, darin war der DEFA-Regisseur Egon Günther ein Avantgardist, geriet jedoch häufig in Konflikt mit den künstlerisch und politisch Verantwortlichen. Seine Literaturverfilmungen waren jedoch immer ein Erfolg, an dem Jan Spitzer ein weiteres Mal im Sommer 1969 teilhaben durfte. Wenn auch nur in einer kleinen Rolle. Er spielte in Günthers Fernsehfilm „Junge Frau von 1914“, dem zweiten Teil der Arnold-Zweig-Trilogie Der große Krieg der weißen Männer“, den adligen Leutnant von Ducherow.

Single 1970 „Wer bist du“

Nach Abschluss der Filmarbeiten trat Jan Spitzer sein erstes Theaterengagement in Altenburg an, das ihm Freiraum ließ für seine Musik. Er profilierte sich ziemlich erfolgreich als Sänger. Es entstanden Rundfunkaufnahmen wie „Mädchen aus Berlin“ und Wer bist du?“, komponiert von Walter Kubiczek. Mit seinem Song „Ich warte noch“, nahm er am Schlagerwettbewerb 1970 teil. Anlässlich des 20. Jahrestages der Gründung der DDR am 7. Oktober 1969 stand in Altenburg Horst Salomons Lustspiel „Ein Lorbaß“ auf dem Spielplan mit Jan Spitzer in der Titelrolle. Es war seine Idee, das an vielen Theater gern gespielte Gegenwartsstück als Musical auf Bühne zu bringen. Er übernahm Komposition und Arrangement. Was ihm in gewisser Weise später „auf die Füße fallen“ sollte.

Nach seinem 18monatigen Wehrdienst bei der NVA in Leipzig ist er im November 1971 ans Landestheater Halle gewechselt. Inzwischen mit seiner Jugendliebe aus Sangerhausen verheiratet und Vater der zweijährigen Juschka, hatten sie in Halle eine Wohnung bekommen. Regisseur Horst Schönemann inszenierte 1972 Ulrich Plenzdorfs Die Leiden des jungen W.. Jan Spitzer hätte gern die Titelrolle gehabt. Sein Pech: Horst Schönemann hatte von seinem Erfolg als Komponist und Sänger gehört und wollte von ihm lieber die Bühnenmusik. Die Figur des aufsässigen 17jährigen Ausreißers Edgar Wibeau, der seine Lehre abbricht, einer unglücklichen Liebe verfällt und am Ende tödlich verunfallt, bekam Reiner Straube.

Für die Rolle des Edgar Wibeau in der Hallenser Theateraufführung „Die neuen Leiden des jungen W.“ war Spitzers Ausstrahlung zu westlich elitär, er wirkte nicht proletarisch © Tassilo Leher

Tatsächlich ging Jan Spitzer die Rolle jedoch verlustig, die genau seins gewesen wäre, weil ihm das Proletarische fehle, er wirke zu westlich elitär, klärte ihn die Dramaturgin auf. Er musste lächeln, als er das erzählte. Es wäre für ihn kein Akt gewesen, beides zu tun, zu spielen und die Musik für das Stück zu schreiben. Neidlos habe er damals anerkannt, dass Reiner Straube die Figur perfekt spielte, urwüchsig, komisch. Eigentlich, meinte er in unserem Gespräch, sei das ein Filmthema gewesen, die Geschichte aber für die DDR zu provokativ, zu gesellschaftskritisch. Dass in der Republik über den Umgang mit jungen Menschen, die sich die Freiheit nehmen, anders leben zu wollen, sich nicht in das soziale Gefüge einzupassen, heiß diskutiert wurde, ließ sich nicht verhindern. 1976 wurde Plenzdorfs Drehbuch in der BRD verfilmt.

Einmal noch schrieb Jan Spitzer für ein Bühnenstück die Musik. Er war 1973 mit Regisseur Christoph Schroth ans Staatstheater Schwerin gegangen. Sie planten, „Romeo und Julia“ richtig groß aufzuziehen, mit ihm als Mercuzio. Das daraus nichts wurde, bedauerte der Schauspieler schon. Doch eine „Riesenrolle“ in der Verfilmung von Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland“ zu spielen, war ein größerer Reiz. Mit ätzender Schärfe beschreibt Mann den Berliner Kulturbetrieb und die dekadente Schickeria der 1890er Jahre.

Erwin Geschonneck in der Rolle des Bankiers Türckheimer und Jan Spitzer als talentfreier Provinzliterat Andreas Zumsee 1974 in der Fernsehverfilmung von Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland“ © DDR-Fernsehen/Helmut Bergmann, Repro: André Kowalski

Der mittellose und wenig talentierte Provinzliterat Andreas Zumsee findet durch Beziehungen und Glück im Salon des reichen Bankiers James Louis Türkheimer sein Schlaraffenland. Protegiert und finanziell von dessen Ehefrau unterstützt, steigt er in der Gesellschaft hoch auf und wird am Ende von ihr zu Fall gebracht. Eine Figur, die von Jan Spitzer in ihrer Selbstüberschätzung, Arroganz und Eitelkeit überzeugend gezeichnet wird. An seiner Seite Marylu Poolmann, Katharina Thalbach, Erwin Geschonneck und Jaecki Schwarz. Der Preis dafür, dass ihn das Theater für den Film freigab, war eine Bühnenmusik für Romeo und Julia“. Er hat sie im Zug von Schwerin nach Berlin komponiert und die Lieder eingesungen. Stolz erzählte er mir, dass er nach so vielen Jahren manchmal noch Anfragen für diese Musik bekommt, aber leider die Bänder nicht mehr habe.

So sehr es ihm auch Spaß machte, zu komponieren und zu singen, ab Mitte der 70er Jahre konzentrierte sich Jan Spitzer auf die Schauspielerei. Er passte mit seiner Wandelbarkeit in viele Schubladen. Besonders wohl hat er sich in der Abteilung Kinderfilm und Märchen gefühlt. „Die Drehbücher hatten eine hohe Qualität, sprachlich und szenaristisch. Was man heute selten findet“, bedauerte er.

Der kleine Philipp (Andij Greissel) wünscht sich eine Flöte. Der Vater (Jan Spitzer) geht mit ihm in eine Musikalienhandlung. Der Verkäufer schenkt ihm ein ganz besonderes Instrument. © DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Der bekannte Kinderfilmregisseur Rolf Losansky besetzte ihn 1975 in seinem zauberhaften Kinderfilm „Philipp, der Kleine“, nach der Erzählung von Christa Kožik. Warmherzig und zärtlich spielt Jan Spitzer den alleinerziehenden Vater, der als Lokomotivführer arbeitet und seinen Sohn nachts oft allein lassen muss. Eine Situation, in die sich der mittlerweile zweifache Vater gut hineinversetzen konnte. Tochter Johanna-Julia hatte gerade das Licht der Welt erblickt. Der 28jährige liebte seine Kinder sehr. Doch wie der Lokomotivführer war er für sie häufig ein abwesender Vater.

140 Vorstellungen gab er in der frivolen Show „Ständig unanständig“ in der Kleinen Revue des Friedrichstadpalastes als Ovid, hier mit und Hildegard Alex als Venus

Der Beruf habe sein Privatleben oft torpediert, erzählt er. Die Ehe hielt den häufigen Trennungen nicht stand. „Wir haben uns getrennt, es tat weh.“ Nach dem ersten Schmerz empfand er die Zeit des Ungebundenseins schön. „Da kam das Gefühl des wieder Freisein auf, man hat alles neu empfunden.“ Auch seine zweite Beziehung ging auseinander. Er kam 1983 von viermonatigen Dreharbeiten für die Verfilmung von Anna Seghers Erzählung „Überfahrt“ in Brasilien und Argentinien zurück, als ihn kurz darauf seine Lebensgefährtin verließ. Sie war sehr jung, hatte andere Lebensziele als er. „Sie wollte unbedingt in den Westen, ich nicht. Sie hat geheiratet und ist kurz vor der Wende mit ihrem Mann und unserer Tochter ausgereist.“ Die 1980 geborene Emma hat wie ihre Halbgeschwister das Schauspielergen ihres Vater geerbt. Sie spielte als Teenager in einigen Filmen mit. Inzwischen lebt sie in Spanien und arbeitet als Übersetzerin.

Jan Spitzer spielt den ältesten Sohn des Siedlers John Ruster (Kurt Böwe ), der mit seiner Familie 1756 in Nordamerika Indianerland besiedelt. Im Wald von Eiche-Golm mussten die beiden echte Rodungsarbeiten durchführen Foto: Screenshot © DEFA-Stiftung/Otto Hanisch

In Jan Spitzers Filmbiographie finden sich nur wenige Nebenrollen. Wenn ihm das Drehbuch gefiel, nahm sie gern an. Der Grund unseres Treffens damals im Juli 2012 war Kinderfilm Blauvogel“, die Geschichte des neunjährigen Sohnes weißer Siedler 1756 in Nordamerika, der von Irokesen geraubt wird. Neben Kurt Böwe, Jutta Hoffmann, Marina Krogull spielt er den ältesten Sohn der Familie. Die DEFA hatte ihn für diese Rolle aus dem Sommerurlaub in Kühlungsborn geholt. „Das war eine echte Überraschung. Ich habe dieses Buch als Kind geliebt und mich sehr gefreut, dass Ulrich Weiß mir diese Rolle gegeben hat.“ Schmunzelnd erzählt er von den Rodungsarbeiten zu Beginn des Films. „Kurt Böwe und ich haben ziemlich große Flächen wirklich gepflügt und im Wald von Eiche-Golm Bäume gefällt, so wie man es damals gemacht hat. Ulrich Weiß war sehr auf Authentizität bedacht“.

Der größte Teil des Abenteuerfilms entstand in Rumänien. „Man fuhr über eine Stunde in die Berge. Das war eine kurvenreiche Strecke. Der Fahrer fuhr wie ein Kamikaze. Ich habe noch nie so geschwitzt bei einer Autofahrt“, lässt er die Szenen noch einmal Revue passieren. Die Bedingungen im Land waren kompliziert und die Kontrollen an den Grenzen streng. Fast wären vielen Meter Negativmaterial, das Jan Spitzer beim Rückflug im Gepäck hatte, vom Zoll vernichtet worden. „Trotz eines offiziellen Begleitschreibens wollte man meinen Koffer durchleuchten“, erzählt er. Es konnte verhindert werden. Der Film machte Furore bei internationalen Kinderfilmfestivals.

Schäfer Konrad will um die Prinzessin freien und löst mit Hilfe seiner Zauberflöte alle Aufgaben, die sie stellt ©MDR/DRA/Klaus Mühlstein

Ein wunderschöner Märchenfilm ist „Der Hasenhüter“, den Ursula Schmenger mit Jan Spitzer 1976 drehte. Sein Schäfer Konrad ist ein gewitzter, fröhlicher Bursche, der erkennt, dass Reichtum nicht das Erstrebenswerte im Leben ist. Auch in Wolfgang Hübners Adaption des Grimmschen Märchens „Gevatter Tod“ ist seine Figur, der Medicus Jörg, ein Sympathieträger. Man ist bei ihm, wenn er den Tod überlistet und das Leben eines kleinen Jungen rettet. Doch er lässt sich verführen, fällt seiner Selbstüberschätzung anheim.

Jan Spitzer als intelligenter, sich aber selbst überschätzender Medicus Jörg 1980 im Märchenfilm „Gevatter Tod“ Foto: screenshot ©DEFA-Stiftung/Karl-Ernst Sasse

Das Märchen erzählt, wie ein armer Bauer in der Zeit der Pest einen Paten für sein 13. Kind sucht. Er nimmt den Tod, weil er ihm gerecht erscheint. Er sei zu allen gleich, begründet es der Vater, der zuvor Gott und Teufel abgelehnt hatte. Der Tod öffnet dem Sohn die Türen zum Studium der Medizin an italienischen Universitäten. Als er dem Bürgermeister, der an der Pest erkrankt ist, vor dem Tod rettet, indem er seinen Paten überlistet, steigt er auf in die Bürgerschaft. Er wird selbstgefällig und hintergeht den Tod ein weiteres Mal, obwohl ihn dieser gewarnt hat. Arroganz und schließlich die Verzweiflung, dass er damit dem kleinen Jungen das Leben genommen hat, zeigt Jan Spitzer subtil. Gegen das Klischee vom klapperdürren Sensenmann besetzte Regisseur Wolfgang Hübner diese Rolle mit dem freundlich daherkommenden lebensprallen Dieter Franke. Das Märchen scheint mir eher für Erwachsene gedacht denn für Kinder, sowohl von der mittelalterlichen anmutenden Sprache her als auch dem tiefen philosophischen Hintergrund.

Jan Spitzer als Rittmeister von Rosen mit der polnischen Schauspielerin Marzena Trybała als Gräfin Cosel, die einflussreiche Mätresse August des Starken, in dem 1987 entstandenen zweiten Teil des sechsteiligen Fernsehfilms „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ © DDR-F/Siegfried Skoluda, Wolfgang Kroffke, Repro: André Kowalski

Immer waren es Filme großartiger DEFA-Regisseure, die Jan Spitzers Karriere befördert haben. Wie Hans-Joachim Kasprziks dreiteiliger Fernsehfilm „Abschied vom Frieden“ . Offensichtlich hinterließ der jnunge Schauspieler in seiner Nebenrolle einen Eindruck, der ihm zehn Jahre später in Kasprziks sechsteiligem Fernsehroman „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ die Rolle des attraktiven Rittmeisters von Rosen einbrachte. Mit seiner Hilfe versucht Gräfin Cosel letztmalig aus ihrer Haft auf Burg Stolpen zu fliehen. Die Filme wurden sogenannte Straßenfeger.

Autor und Regisseur Fritz Bornemann übertrug Jan Spitzer die Hauptrolle in dem bereits erwähnten Fernsehfilm „Überfahrt nach Anna Seghers gleichnamiger Erzählung, der 1983/84 in einer Koproduktion des DDR-Fernsehens mit Kuba entstand. Es ist die Geschichte des Erfurters Ernst Triebel, der zu unterschiedlichen Zeiten drei Seereisen von Deutschland nach Brasilien unternommen hat. Eine interessante Aufgabe für Jan Spitzer, der sich hier vom 14jährigen bis zum 50jährigen wandelt.

Jan Spitzer als Ernst Triebel nach dessen zweiter Reise mit Heidrun Welskop als seine Ehefrau Hertha © DDR-F, Repro: André Kowalski

Als Schuljunge flüchtet Triebel 1938 mit seinen Eltern in das südamerikanische Land, kehrt 1946 in die „Ostzone“ nach Deutschland zurück und begleitet 1951 als Portugiesisch-Dolmetscher einen Leipziger Wissenschaftler zu einer Ausstellung nach São Paulo. Die dritte Reise führt ihn in den 70er Jahren als promovierten Tropenmediziner nach Brasilien. Das Bindeglied für die Reisen ist Triebels Suche nach seiner Jugendliebe Maria Luisa. „Wir waren vier Monate mit einem Frachter der DSR unterwegs, mussten für die Dreharbeiten in Brasilien und Argentien auch an Land gehen“, erinnerte sich Jan Spitzer. Was er dort erlebt hat, hinterließ bei dem damals 37jährigen beklemmende Eindrücke.

Jan Spitzer als Friedrich Engels und Jürgen Reuter als Marx 1978 in der TV-Serie „Marx- und Engels – Stationen ihres Lebens“ © Waltraut Denger/FF.dabei

Es ist eine lange Liste der Filme, in denen Jan Spitzer bis zum Ende der DDR spielte. Nicht vergessen sei hier „Bürgschaft für ein Jahr“, der Fernsehmehrteiler „Broddi“ und die TV-Serie Marx und Engels –Stationen ihres Lebens“. Eine neue Weiche stellte die Wende für seine berufliche Laufbahn. Er verlegte sich aufs Synchronisieren. „Ich habe die Schauspielerei gern gemacht, aber es kamen keine Rollenangebote mehr mit künstlerischen Anspruch. Er drehte Episodenrollen in den Serien Klinik am Alex“, Für alle Fälle Stefanie“ und 2011 bei Bernd Böhlich einen letzten guten Film, Niemand ist eine Insel“ mit Iris Berben. Auf eine Alterskarriere vor der Kamera hat er 2012 nicht mehr gehofft. Das sah er ganz realistisch.

Karriere machte er nach der Wende als Synchronsprecher. Eine Arbeit, die auch wieder Ruhe in sein bis dahin unstetes Leben brachte. Er hatte Zeit für seine neue Familie. Im Sommer 1980 hatte er im Berliner Künstlerklub „Die Möwe“ die 23jährige Schauspielerin Elke Winter kennengelernt. Anfangs waren es Zufälle, die sie sich immer wieder mal begegnen ließen. Beide waren damals noch verheiratet. Dann gingen die Ehen auseinander. Aus den Zufällen wurden Absichten. „Wir haben Ende der 80er Jahre geheiratet“, erzählt sie mir in unserem Gespräch wenige Tage nach dem Tod ihres Mannes. Diese Liebe machte den Schauspieler glücklich.

Elke Winter-Spitzer 1986 als Lissi Eisermann im Polizieruf 110: Parkplatzliebe“ © DFF

1990, er war inzwischen 43 Jahre, wurde Jan Spitzer noch einmal Vater. 1996 hörte seine Frau als Schauspielerin auf. „Es war eine schwierige Zeit für diesen Beruf, vor allem für Frauen ab Vierzig. Ich brauchte Regelmäßigkeit und habe als Theaterpädagogin am Schiller-Gymnasium Potsdam darstellendes Spiel unterrichtet.“ Die letzten Lebensmonate des Schauspielers haben ihr viel abgefordert. Als sie im Juli das Rentenalter erreichte, gab sie ihre Arbeit auf. „Jan brauchte mich rund um die Uhr.“ Ihr gemeinsamer Sohn Maximilian folgte dem Weg des Vaters. Schon als Zehnjähriger sprach er seine ersten Synchronrollen, absolvierte dann aber nach dem Abitur nicht die Schauspielschule, sondern machte an der Medienakademie AG Berlin seinen Bachelor für angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaft. Der heute 32jährige arbeitet unter anderem als Journalist, ist hauptsächlich aber als Synchronsprecher tätig . Wenn man ihn hört klingt er wie sein Vater.

Jan Spitzer mit Kathrin Saß 1981 in dem DEFA-Film „Bürgschaft für ein Jahr“@DEFA-Stiftung/Waltraud Patheneimer

Wie diese hohe Kunst funktioniert, hat Jan Spitzer bei DEFA-Synchron Take für Take erlernt. Bald galt er in der DDR und später im Westen als einer der besten Synchronsprecher. „Die Kollegen aus dem Westen waren tolerant, sie erkannten an, dass ich das Metier beherrsche.“ Ehrfurcht beschlich ihn, als er das erste Mal mit den bekannten Synchronsprechern Arnold Marquis, die Stimme von John Wayne, Kirk Douglas und Robert Mitchum, und Michael Chevalier, die Stimme von Charles Bronson und Omar Sharif, zusammen vor dem Mikrofon stand.

Er holte alles Potenzial aus seiner enorm vielseitigen Stimme heraus. „Ich habe von Rechtsanwälten, feinsinnigen Typen über die übelsten Ganoven bis hin zum sprechenden Klodeckel in einem Comic schon alles gespielt“, umschrieb er seine Rollenprofile. Anfang der 1990er gab amerikanischen und britischen Kollegen wie Michael Rudder in „Krieg der Welten“, Robert O’Reilly in „Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert“ oder Tim Curry in der Zeichentrickserie „Mighty Ducks – Das Powerteam“ seine Stimme.

Am 23.März 2021 gab Jan Spitzer der Sprecheragentur „Die Media Paten“ ein Interview zu seiner Karriere als Synchronsprecher. Es war sein letzter Auftritt. Am 4. Novmeber 2022 ist er einer schweren Krankheit erlegen Foto: Screenshot/Die Media Paten

Chris Cooper („American Beauty“, „Die Bourne Identity“), Ted Levine und Robert Foxworth sind ebenfalls mit seiner Stimme bei uns zu hören. Geradezu geschwärmt hatte Jan Spitzer von den Zeichentrickserien, in denen er den bekannten kanadischen Sprecher Maurice LaMarche synchronisieren durfte. „Alles dreht sich um zwei Labormäuse, den etwas einfach gestrickten Pinky (LaMarche/Spitzer) und den großköpfigen, mit Intelligenz versehenen Brain, die versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Sich hier an LaMarche zu messen, hat mir unglaublichen Spaß gemacht“, erinnerte sich Jan Spitzer und gab eine stimmliche Kostprobe.

Von 1999 an hat er in allen deutschen Synchronfassungen die Rollen des amerikanischen Schauspielers J. K. Simmons übernommen. Filme wie das Sportdrama „Aus Liebe zum Spiel“ (1999) mit Kevin Costner, der Tragikomödie „Up in the air(2009) mit George Clooney, der britische Thriller Schneemann“ (2017) mit Michael Fassbender oder der Action-Thriller 21 Bridges“ (2020) stehen in den Wiederholungsprogrammen des deutschen Fernsehens. Die Kriminal-Serie Goliath und die Science-Fiction-Fantasy-Komödie „Ghostbusters: Legacy waren 2021 Jan Spitzers letzten Synchronarbeiten als J. K. Simmons.

In den 30 Jahren als Synchronsprecher gab Jan Spitzer 2387 Rollenfiguren mit seiner Stimme Charakter und Emotionen. Am 4. November 2022 ist der Schauspieler nach längerer Krankheit verstorben.

Jutta Hoffmann – Es begann mit Peterchens Mondfahrt

Zwei Jubiläen fallen in diesem Jahr zusammen, und das ist ein schöner Zufall. Vor 70 Jahren, am 17. Mai 1946, wurde in Potsdam-Babelsberg die DEFA gegründet. Fünf Jahre zuvor, am 3. März 1941, kam in einem Dorf bei Halle ein Mädchen zur Welt, das einmal zu den bekanntesten Gesichtern der Deutschen Film-AG gehören sollte, die Schauspielerin Jutta Hoffmann. Sie wurde jetzt 75. Auf ihrem Weg liegen Filme mit Ewigkeitswert wie „Kleiner Mann – was nun?“ (1967), „Junge Frau von 1914“ (1970), „Anlauf“ (1971), „Der Dritte“ (1972), „Die Schlüssel“ (1974) und „Lotte in Weimar“ (1975). Und auch solche, die der kulturpolitischen Zensur nach dem 11. Plenum der ZK der SED 1965 zum Opfer fielen: „Karla“ und „Denk‚ bloß nicht, ich heule“, die erst 1990 zur Aufführung kamen.

Jutta Hoffmann 3D komplett
Zum 75. Geburtstag der Schauspielerin gab Icestorm Entertainment eine DVD-Edition mit vier ihrer besten Filme heraus (19,99€) 

Einem Millionen Publikum im Westen wurde Jutta Hoffmann als duldsame und zugleich aufmüpfige Ostverwandte des Westberliners Motzki in der gleichnamigen Fernsehserie bekannt, die sich satirisch mit den deutsch-deutschen Befindlichkeiten kurz nach der Wende auseinandersetzt. Die Nation rieb sich daran. Jutta Hoffmann stritt für die Serie. Ein Blick ins Drehbuch genügte ihr, um es „wunderbar“ zu finden, weil es um etwas ging, das hinter der Fassade steckte. Lebenshaltungen. In einem Interview mit dem Journalisten Arno Luik sagte sie 1993: „Ich finde Motzki optimal. Da muss man schon genau schon genau hingucken, nicht einfach im Sessel hocken und das alles auf sich kippen lassen. Und wenn man sich darauf einlässt, amüsiert man sich. Sie erfahren etwas über Leute, die nicht in so Nobelheimen wie Sie herumsausen. Und ich dachte auch, dass ich ein bisschen was für die DDR-Leute machen müsste. Für Leute, die wieder in den Arsch gekniffen sind.“

Karla_1 A_Jutta Hoffmann und Klaus-Peter Pleßow_Foto Franz-Eberhard Daßdorf_DEFA-Stiftung
Jutta Hoffmann als Karla mit Klaus-Peter Pleßow. c/o DEFA-Stiftung, Franz-Eberhard Daßdorf

Jutta Hoffmanns Haltung zur Kunst ist politisch. Leute, die sich mit der Wirklichkeit abmühen, interessieren sie. Und das nicht nur vor der Kamera. Denn auch sie ist eine, die sich abgemüht hat, mit ihrer Arbeit etwas zu bewegen. Da geht sie konform mit ihren Figuren. Mit der jungen Lehrerin Karla etwa, die geradlinig ist, ohne Anpassung und Betrug ihr Leben meistern will. Die ihren Schüler sagt: „Vorausgesetzt, es hat einer eine eigene Ansicht und plappert nicht nur nach, dann ist es hier und heute geradezu verwerflich, mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten. Alles andere ist feige, wenn nicht Heuchelei.“

Im Film kommt eine Zeit der Anpassung. Karla gibt dem Druck der Schulbehörde nach. Es ist bequem, aber die Selbstverleugnung hält nicht an. Am Ende findet sie wieder zu sich selbst zurück. Jutta Hoffmann ist nicht unterdrückbar. Regisseur Egon Günther sagte 1971, nachdem er seinen zweiten Film, „Anlauf“, mit ihr gemacht hat: „In sieben von zehn Fällen gelingt es nicht, ihr ein X für ein U vorzumachen. Sie muss wissen, was sie tut. Mindestens muss, wenn die Regie Ziele verheimlicht, das kommt vor, ihr der Nutzen des Verheimlichens klar sein. Falsche Autoritätsansprüche durch Texte oder Anweisungen der Regie weist sie zurück, verbal oder durch entsprechendes Spiel auf Proben. Das ist ungeheuer wertvoll für das gegenseitige Vertrauen in der weiteren Arbeit.“

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Die DEFA verdankt dieser besonderen Partnerschaft ebenso besondere Filme. Die Zusammenarbeit mit Egon Günther hatte für Jutta Hofmann immer etwas Spielerisches. Er habe sie nie zu etwas gezwungen, was ihr fremd war. Sie vielmehr bestärkt, ihren Intentionen zu folgen, sich auf eine Rolle einzulassen und aus ihr herauszutreten, ins Private. Sie hat ihr Spiel gern unterbrochen, indem sie in die Kamera lachte oder einfach nichts tat.  Etwas, womit sie den Zuschauer zu sich heranzieht, fasziniert. „Wir hatten versucht, einen gemeinsamen Ton zu finden und uns auf diesen Ton einzustimmen. Irgendetwas, das zusammen klingt“, zitiert Ralf Schenk die Schauspielerin in seiner Vorbemerkung für das Buch „Jutta Hoffmann Schauspielerin“ (Schriftenreihe der DEFA-Stiftung, Verlag Das Neue Berlin, 2011). Für Egon Günther war die Arbeit mit Jutta Hoffmann immer „ein Hochgenuss“. Sie konnte spontan in eine Situation hineingehen und frei spielen.

Alles, was sie vor der Kamera tut, erscheint dem Zuschauer wahr, als würde es in dem Augenblick geschehen. Für den Film „Die Schlüssel“ gab es kein ausformuliertes Drehbuch. Viele Dialoge entstanden erst beim Drehen. Es war die hohe Kunst der Improvisation der Schauspieler Jutta Hoffmann und Jaecki Schwarz. Diese tragische Liebesgeschichte ist der beste Film, den die DEFA gemacht hat, meint die Hauptdarstellerin heute. Leider kam das DDR-Publikum kaum in den Genuss, ihn zu sehen.  Die polnische Vertretung in der DDR – der Film spielt in Krakau – hatte interveniert. Er würde nur Dreckecken zeigen, die Wirklichkeit verzerren. Also verschwand er nach nur wenigen Vorführungen aus dem Filmangebot der Kinos, wurde auch nicht im Fernsehen gezeigt und erhielt Export-Verbot. Die Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Bruderland sollte nicht belastet werden.

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Jutta Hoffmann 1970 als Lenore in Egon Günthers Film „Junge Frau von 1914“ (Aus: „Jutta Hoffmann Schauspielerin“)

Der Regisseur und die Schauspielerin waren sich 1969 auf dem DEFA-Gelände begegnet. Die gerade 28-Jährige hatte bereits eine gewisse Bekanntheit erreicht durch ihre Arbeit am Maxim Gorki Theater („Frau Jenny Treibel“), Fernseh-Inszenierungen („Der tolle Tag“) und Frank Vogels Film „Julia lebt“ (DEFA 1963). Sie kannte Egon Günthers Film „Abschied“ und war hoch glücklich, als er ihr die weibliche Hauptrolle in seinem Film „Junge Frau von 1914“ nach dem Roman von Arnold Zweig anbot. Die zierliche Jutta Hoffmann, die ihm gerade bis zur Schulter reichte und dabei so viel Kraft in sich hatte, „so viel Ausdruck, leidenschaftliches Temperament und Zartheit des Gefühls mit sauberer sprachlicher Gestaltung verbindet“, war perfekt für die Rolle der Studentin und Bankierstochter Lenore, die sich mit den Umständen ihrer Zeit, dem beginnenden Ersten Weltkrieg, auseinandersetzt. Soldaten, eigentlich Brüder, töten sich, und Keiner hat Keinem etwas getan. Wie beiläufig fallen die Worte, während sich Lenore ihre Stiefel anzieht, um zu ihrem Hilfsdienst für heimkehrende Schwerverletzte zu gehen. Dass es diese Szene so gibt, hat die Schauspielerin durchgesetzt. Ursprünglich sollte nur das Interieur im Bild sein. Doch Jutta Hoffmann wollte diesen „schönen und wichtigen Text“ spielen.

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„Karla“ wurde u. a. am Schwielowsee gedreht. c/o DEFA-Stiftung, Franz-Eberhard Daßdorf

Die Tochter eines Buchhalters in den Buna-Werken hatte nie etwas anderes werden wollen als Schauspielerin. Als das Hallenser Thalia-Theater 1946 wiedereröffnet wurde, ging sie oft mit den Eltern in die Vorstellungen. Sie sah „Peterchens Mondfahrt“ mit Heinz Rosenthal, einem Freund der Familie. Vor ihr taten sich Türen zu einer unbekannten Welt auf. Ihre ersten Bühnenerfahrungen machte sie im Laienspielzirkel. Mit Achtzehn bestand sie die Begabtenprüfung an der Theaterhochschule Leipzig, wurde trotzdem nicht immatrikuliert. Das Kontingent für Nicht-Arbeiterkinder war für dieses Jahr ausgeschöpft. So kam sie 1959 an die Filmhochschule Babelsberg.

Im Kopf die Vorstellung von einem Theater wie es Brecht auffasste, war sie von der Schauspiel-Lehre an der Hochschule enttäuscht. Ein Jahr studierte sie zusammen mit den später ebenfalls bekannten DDR-Schauspielern Sigrid Göhler, Peter Reusse, Klaus Gehrke, Günter Junghans. Sie brach das Studium ab, nachdem sie im Dezember 1960 ihr überdurchschnittliches Talent am Maxim Gorki Theater in dem Stück „Und das am Heiligabend“  gezeigt und die Leitung des Hauses  ihr angeboten hatte, als Elevin zu bleiben. Den Beruf von der Pike auf lernen, ja, das hörte sich gut für sie an. Mit der großartigen Marga Legal spielte sie 1961 „Rummelplatz“ und drehte im selben Jahr ihren ersten DEFA-Film, die Komödie „Das Rabauken-Kabarett“ unter der Regie von Werner W. Wallroth. Selbstkritisch stellte sie dabei fest, dass ihr zur wirklichen Schauspielerin noch Technik und Handwerkszeug fehlten. „Ich konnte Szenen in der Wiederholung nicht wie beim ersten Mal spielen. Ich hatte nur mich und mein bisschen Talent. Ich musste spielen lernen“, erinnert sie sich.

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Jutta Hoffmann mit Horst Jonischkan 1961 in ihrem ersten DEFA-Film „Das Rabauken-Kabarett“. c/o DEFA-Stiftung, Josef Borst

Sie hat es gelernt. Bei namhaften Filmregisseuren der DEFA wie Herrmann Zschoche, mit dem sie 1964 „Engel im Fegefeuer“ und ein Jahr später „Karla“ gedreht hat. Er wurde auch ihr erster Ehemann. Ihre gemeinsame Tochter Catharina kam 1962 zur Welt. Sie macht Musik für Kinder und ist als „Hexe Knickebein“ sehr beliebt. Regisseur Hans-Joachim Kasprzik besetzte Jutta Hoffmann 1966 mit der Rolle des Lämmchen in seiner Literaturverfilmung von Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun?“. In diesem Film hat sie mich ungemein fasziniert. Sanft, fast scheu wirkend, entwickelt Lämmchen unter der „Hand“ von Jutta Hoffmann eine große Kraft. Bei ihrer Überlegung, wie die Figur spielen könnte, stellte sie sich ihre Mutter als junge Frau vor. Ihre Auffassung sei ideologisch falsch, wurde ihr vom  damaligen Fernsehchef Heinz Adameck vorgeworfen. Lämmchen sei Proletarierin, keine Kleinbürgerin. Die 25-Jährige widersprach verhement. Lämmchen sei dabei ihre Klasse zu verlassen, um mit dem Verkäufer Pinneberg, dem Mann mit dem weißen Kragen, zu leben. So wie Fallada das Mädchen sah, so wollte sie es spielen. Wenn das nicht passen würde, müsse man sie umbesetzen. Was nicht geschah.

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Mit Regisseur Egon Günther 1972 bei Dreharbeiten für „Der Dritte“. c/o DEFA-Stiftung, Heinz Wenzel

Ihre größten Fortschritte und Erfolge als Schauspielerin erreichte Jutta Hoffmann in der Zusammenarbeit mit Regisseur Egon Günther. Für ihre Rolle in „Der Dritte“ erhielt sie auf der Biennale in Venedig den Darstellerpreis „Venezia Critici“, auf dem Filmfest in Karlovy Vary den Hauptpreis als beste Schauspielerin. Zwei  Filme unter der Regie von Frank Beyer, an denen sie in Hauptrollen mitwirkt, liefen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Fernsehfilm „Geschlossene Gesellschaft“, Drehbuch Klaus Poche, wurde im „Schutze der Dunkelheit“ spät abends gesendet. Er gibt Bilder wider, die für einen DDR-Gegenwartsfilm ungewöhnlich sind, weil sie die Seelenlandschaft der Leute transparent machen. Das war suspekt. Die Filmkomödie „Das Versteck“, Szenen einer Ehe, wurde 1977 zugelassen, aber erst 1978 in ausgewählten Kinos gezeigt, weil Manfred Krug in den Westen ausgereist war. 1979 stand die inzwischen berühmte Hoffmann für den Film „Blauvogel“ das letzte Mal bei der DEFA vor der Kamera.

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Die Facetten der Schauspielerin Jutta Hoffmann zu erfassen, erscheint fast unmöglich. Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase formuliert es 2011 so: „Ich habe Jutta Hoffmann in großen Rollen gesehen, die aus besonderen Momenten gemacht waren. Ein Blick, ein Gang, ein so oder so gesprochener Satz, ein Lachen, ein Schweigen. Ihr Gesicht und das Entstehen eines Gefühls. Sie spielt eine Handlung, keine Meinung, und das Publikum kann entdecken, was die Fantasie ihm erlaubt. Das halte ich bei der Schauspielerei für die Kunst.“

Als immerfort Lernende sah sich Jutta Hoffmann vor allem auch auf der Bühne – am Maxim Gorki Theater, am Deutschen Theater, am Berliner Ensemble. Da waren es namhafte Regisseure wie Fritz Bornemann, Albert Hetterle, Manfred Wekwerth, Luc Bondy und Thomas Langhoff, die ihre Begabungen herausfordern. Besonders geprägt habe sie die Arbeit mit Einar Schleef. Seine Inszenierung von August Strindbergs selbstmörderisch endender Liebesgeschichte mit Jutta Hoffmann in der Titelrolle entließ ein aufgestörtes, erstauntes, sprachloses, befremdet reagierendes Berliner Publikum. Jutta Hoffmanns aufgewühltes, verzweifeltes bis anmutiges Spiel gipfelte am Schluss in einer Flucht über die Stuhlreihen an den Köpfen der Zuschauer vorbei. Nach wenigen Aufführungen wurde das Stück verboten.

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Für ihre Rolle als „Yerma“ 1984 an den Münchner Kammerspielen wurde Jutta Hoffmann von „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gekürt. (Aus: „Jutta Hoffmann Schauspielerin“)

1982 erhielt  Jutta Hoffmann eine Arbeitserlaubnis für die Salzburger Festspiele, wenig später wurde sie an den Münchner Kammerspielen engagiert. Ab 1985 folgte ein fünfjähriges Engagement in Hamburg am Schauspielhaus. Sie zog dorthin, behielt jedoch ihren DDR-Pass, weil sie den anderen nicht wollte. Die DDR ist ihr immer Heimat geblieben. Dennoch war es ein Abschied und das Zurechtkommen mit der anderen Welt, in der man sie wenig bis gar nicht kannte, nicht eben leicht. Jutta Hoffmann brachte eine andere, nicht gewohnte Art des Spielens auf die West-Bühnen. Körperliches Erzählen nennt es der Münchner Dramaturg Michael Eberth. „Ihre Figuren sind ein Feuerwerk von Erfindungen und auch von Vitalität. Sie ist das Perfekteste, was jemals gesehen habe.“ 1984 wählte die Zeitschrift Theater heute sie zur Schauspielerin des Jahres. Vor allem die Arbeit mit Peter Zadek machte sie beim westdeutschen Theaterpublikum bekannt. 20011 erhielt sie einen Stern auf dem Boulevard der Stars in Berlin.

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DVD-Box mit den verbotenen Filme der DEFA , herausgegeben von Icestorm Entertainment

1992 bis 2006 lehrte Jutta Hoffmann als Professorin für Darstellende Kunst an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Nachwuchs liegt ihr bis heute am Herzen. Zuvor hatte sie schon in Berlin und Wien als Dozentin angehende Schauspieler auf ihren Weg gebracht. In einem Interview wollte ich wissen, was sie daran reizt. „Erst mal etwas ganz Egoistisches: Ich kann mich mit meinem Beruf beschäftigen. Und dann: Gemeinsam mit den Studenten herauszufinden, was ihre Anlagen sind, das Besondere. Ihnen zu vermitteln, ihren Anlagen zu folgen und sich halten.“
1999 übernahm sie für vier Folgen im Brandenburger „Polizeiruf 110“ die Rolle der Hauptkommissarin Wanda Rosenbaum. Die Figur hat sie zusammen mit Drehbuchautor Stefan Kolditz erfunden. „Wir hatten uns überlegt, die Fälle mit Wandas Geschichte zu verknüpfen. Und mit vier Sujets war alles über sie, also mich, gesagt“, erzählte sie mir. Mit ihrem zweiten Mann, dem österreichischen Schauspieler Nikolaus Haenel und dem gemeinsamen Sohn Valentin ist sie 2005 zurück in den Osten gezogen, nach Potsdam. Sie begann auch fürs Radio zu arbeiten, nahm Hörspiele und Hörbücher auf. „Es macht Spaß, ist aber auch anstrengend. Ich muss vorher unheimlich üben“, sagt sie.

Goldene Henne 2006
Anlässlich des 60. Geburtstages der DEFA wurden die DEFA-Stars Jutta Hoffmann, Gojko Mitič und Winfried Glatzeder 2006 mit der Goldenen Henne, dem größten deutschen Publikumspreis geehrt

Die Filmarbeit bleibt nach der ihrem Weggang aus der DDR im Westen und auch nach der Wende nahezu auf der Strecke. 1997 kommt der Film „Bandits“ in die Kinos. Über 700.000 CDs mit den Filmsongs wurden verkauft. 2003 stand Jutta Hoffmann mit ihrer ehemaligen Schülerin Marie Bäumer vor der Kamera, als deren Mutter in dem Beziehungsdrama „Der alte Affe Angst“. Was sie „ganz witzig“ fand. Im letzten Jahr drehte sie für den ARD-Film „Ein Teil von uns“, dessen Ausstrahlung im Herbst man nicht verpassen sollte. Ein Mutter-Tochter-Drama, in dem Jutta Hoffmann die psychisch kranke Mutter spielt. Die Alkoholikerin ist, die auf der Straße lebt und sich von niemandem bevormunden lässt. Eine Figur, die einmal mehr Jutta Hoffmanns große Schauspielkunst zeigt. Und sie wird uns wie in all ihren Filmen ein Abbild unserer Welt vorführen.

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