Gespräche mit Rolf Hoppe wird es nicht mehr geben. Es waren viele in den 21 Jahren, die wir uns kannten. Und es war uns gegenseitig immer eine Freude, uns in seinem Refugium, einer kleiner Blockhütte in seinem Garten, gegenüber zu sitzen und zu reden oder am Telefon miteinander zu plaudern. So hielten wir zuletzt Kontakt, nachdem er sich aus dem Schauspielerleben zurückgezogen hatte. Am 14. November ist der wunderbare Mensch und hochverehrte Schauspieler von dieser Welt gegangen. Still und leise im Einklang mit sich und den geliebten Menschen, die er zurückließ. „Ich bin ein Harmonisierer, ich will keine Aggressivität“, beschrieb er mir seine Art zu leben. In drei Wochen hätte er seinen 88. Geburtstag gefeiert. Die Kraft reichte nicht mehr bis dahin und weiter. Wie ich es ihm vor einem Jahr noch gewünscht hatte. Er entgegnete mir mit dem ihm eigenen Realitätssinn: „Ach, weißt du, man darf nicht vergessen, dass es doch ein schönes Alter ist, 87 zu sein. Und so lange es so geht, wie es geht, ist es gut. Da arbeite ich auch noch ein bisschen. Und wenn es nicht mehr weitergeht, werde ich es schon merken.“ Er lachte und sagte mit seiner sanften Stimme „Tschüss, danke für den Anruf“.
Zu Ostern telefonierten wir noch einmal. Es klang nicht, als wäre es das letzte Mal. Er freute sich, dass es in seinem Garten wieder zu grünen und zu blühen begann. Jeden Strauch, jeden Apfelbaum, jedes Pflänzchen sind ein Stück von ihm. Er hat sie selbst gepflanzt, im Laufe der Jahre eine Steingartenlandschaft mit seinen Mitbringseln aus aller Herren Länder angelegt. Das Blockhaus mit dem Garten im Schönfelder Hochland bei Dresden war so ein Traum von ihm, den er sich mit 61 Jahren erfüllt hat. „Ein Irrsinn, sich als alter Zausel noch ein solches Haus zu bauen“, erklärte er mir mit einem Schmunzeln und Leuchten in den Augen, als ich ihn 1997 das erste Mal besuchte. Wir wanderten damals durch seine grüne Oase, und er erzählte mir von seiner Kindheit im Harzstädtchen Ellrich, wo er am 6. Dezember 1930 wie ein Nikolausgeschenk für seine Eltern zur Welt kam.
Der Vater besaß eine Bäckerei, die der Sohn übernehmen sollte. So wie der Vater von seinem Vater. Der Gedanke, sein Leben lang Teig zu kneten, war dem Kind aber ein Graus. „In mir steckte schon als kleiner Junge eine große Lust zum Spielen.“ Dennoch lernte er das Handwerk. Rolf Hoppe war acht Jahre als der zweite Weltkrieg in das Leben der Menschen eingriff und es für immer veränderte. „Da, wo ich aufgewachsen bin“, erinnerte er sich. „in Ellrich, war eins der brutalsten Arbeitslager. Dort wurde die V2 hergestellt. Was wirklich passiert ist, wusste ich nicht. Tagtäglich haben die Schornsteine des Krematoriums geraucht. Und nur 500 Meter von meinem Geburtshaus entfernt, im Bürgergarten, war ein KZ. Es ist für mich grauenvoll, wenn ich daran denke.“
Das sind Dinge, die er gern vergessen wollte, es aber nicht konnte. Ellrich war einst eine lebendige Stadt. Der Krieg hatte ihren Menschen das Lachen genommen. Auch ihm selbst. „Ich bin dem Lachen nachgerannt, ich wollte wieder lachen und dass sich die Menschen wieder am Leben erfreuen.“ Darum wollte er Clown werden, aber seine Neigung zum Schauspiel war stärker. „Das Clowneske in mir habe ich behalten. Lachen ist Lebenshilfe, ohne Humor kann der Mensch nicht sein“, sagte er.
Ihn machte es glücklich, wenn die Menschen zu ihm kamen, ihm zuhörten. Jenseits von Bühne und Kamera liebte er es, in der Erde zu buddeln. Er tat es, solange die Kraft dafür noch da war. „Es ist noch so viel Platz in meinem Garten, ich müsste wieder etwas pflanzen“, sinnierte er, wenn ich ihn bei unseren Telefonaten nach seinem Lieblingsort fragte. Leise, fast ein bisschen traurig, erklärte er dann: „Ich genieße es lieber, in der Sonne zu sitzen, dem leisen Rauschen der Bäume zu lauschen.“ Vor zwei Jahren sprachen wir noch darüber, dass ich im Frühling mit ihm zusammen buddele. Mittlerweile umgibt ein dichter Rasenteppich die zwei Birken vor dem Haus. Er nannte sie Josephine und Christine. Es sind die Lebensbäume seiner beiden Töchter.
Die starke Kiefer ein Stück weiter hinten im Garten taufte er Friederike. „Sie ist stark wie meine Frau, kein Sturm kann sie brechen“, erklärte er mir. Denn ohne seine Frau hätte es sein Leben so, wie es war, nicht gegeben. „Sie war mein Rückhalt, hat unsere Mädels großgezogen, war für ihre Sorgen und Nöte da, während ich durch die Welt schwirrte.“ Wochenlang hat er für die DEFA-Indianerfilme in der Sowjetunion gedreht, in der Mogolei, in Rumänien. Er war in China und Japan, spielte schon zu DDR-Zeiten sieben Jahre in Salzburg den Mammon im „Jedermann“. „Mein Riekchen“, wie er seine Frau liebevoll rief, „hat sich nie beschwert.“ Es war ihm wichtig, dies zu sagen. Rolf Hoppe hat seine Verantwortung für das Glück seiner Familie immer ernst genommen. Dafür hat er viel gearbeitet. Aber das Spielen war ihm auch eine Lust. Wie einem Kind, das sich daran erfreut, wenn es andere mit seinem Spiel begeistert. „Ich will den Menschen, die mir zuschauen, etwas geben, das ihnen hilft, wenigstens eine kurze Zeit den Druck des Alltags zu vergessen, ein bisschen Kraft für sich ziehen.“
Über 400 Rollen füllte Rolf Hoppe Zeit seines Lebens auf der Bühne und vor der Kamera aus. Prall gefüllte Jahre von der Kindheit im Harzstädtchen Ellrich bis zum vielfach geehrten Schauspieler. Zuerst war es das Puppentheater, das er mit zehn Jahren von seinen Eltern geschenkt bekam und das er vor dem Laden des Vaters aufstellte. Mit einem Freund spielte er Grimms Märchen, später wirkte er im Laienzirkel der Antifa-Jugend mit. Zuvor durfte er seiner Leidenschaft für Pferde nachgehen, indem er nach der Befreiung 1945 als Panje-Kutscher für die sowjetische Kommandantur arbeitete. 1951 begann sein Weg auf die Theaterbühnen der DDR und bald zum Film. Nach der Wende erfüllte er sich noch einen dritten großen Traum: Er kaufte einen Dreiseithof und schuf in Weißig das Hoppesche Hoftheater. „Ich wollte ein Theaterchen, ganz klein, wo das Leben nur eine Stufe ist: das gespielte Leben, das geträumte Leben und das wirkliche Leben im Parkett, das ineinander überfließt.“
1983 drehte Rolf Hoppe unter der Regie von Peter Schamoni „Frühlingssinfonie“. In dem Film geht es um die Liebe zwischen Robert und Clara Schumann. Als ehrgeiziger Vater vereinnahmt er die Tochter (Nastassja Kinski) @DEFA-Stiftung/Sybille U. Werner
Rolf Hoppe überraschte nicht nur die Zuschauer mit der Vielseitigkeit seines schauspielerischen Talents, das von der diffizilen Darstellung des Generals Göring über Künstler, Professoren und Jidden mit ihrem speziellen Humor bis hin zu gutherzigen Märchenfiguren wie den König in „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ oder „Hans Röckle und der Teufel“ reicht. Rolf Hoppe verfügte über die Gabe einer schönen Ironie. Süffisanz mischte sich mit Verletzlichkeit. Er verstand es, das Boshafte im Guten zu verstecken. „Jeder Mensch besitzt diese zwei Seiten“, sage er, „die Gefährlichkeit liegt darin, dass sich das Böse mit Menschlichkeit tarnt.“
Man wusste bei ihm nie so genau, was Hoppe und was Rolle ist. Er war in den kleinsten Auftritten authentisch. Ich fragte ihn einmal, ob er es denn wüsste. Da grinste er mich an. „Nee, das ist ja meine Lebensaufgabe, das herauszukriegen. Ich bin ja immer wieder erstaunt und neugierig, wie der Hoppe sich verhält. Ich lebe aus dem Körper heraus, der immer wieder neu ist.“ Nach seinem oscarprämierten Erfolg in István Szabós „Mephisto“ standen dem damals 51-Jährigen die Türen in Amerika offen. Doch es war keine Option für ihn. „Ich kann nur dort leben und spielen, wo ich mit meiner Sprache und meinen Gefühlen zu Hause bin. Ich versuche immer, den Menschen in einer Rolle zu finden. Ich muss in der Sprache auch denken können“, sagte er. Wie ein Hochstapler habe er sich gefühlt, als er mit Volker Schlöndorff 1998 in Florida auf englisch den Psychokrimi „Palmetto“ gedreht hat.
Rolf Hoppe hat den Tod nie aus seinen Gedanken verdrängt. „Ich habe mich in meinem Beruf immer mit der Frage beschäftigt, wo komme ich her, was will ich hier, wo gehe ich hin? Das ist der Kreislauf des Lebens. Der Tod gehört zum Leben. Woher wissen wir, dass er nicht zum Schönsten im Leben gehört? Nur die Frage wie beantworte ich nicht. Vor solchen Gedanken habe ich Angst.“ In den vergangenen beiden Jahren hat er, der immer unermüdlich unterwegs war, ohne Arbeit nicht sein konnte, sich gestattet, sich alle Zeit für sich, für sein Dasein zu nehmen. „Der Beruf war mein Leben, aber mit dem Alter muss man bescheidener werden. Die Zeit wird wertvoller.“ Und dann fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu: „Ich würde sogar mit den Engeln auf Wolke Sieben ein Theater aufziehen. Zu meiner Freude und der der Leute.“
Schauspieler Rolf Hoppe im Porträt von York Maecke
Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich zwölf. Wie Millionen andere Mädchen umfing auch mich die Schönheit der Prinzessin in dem Märchenfilm „Das singende, klingende Bäumchen“. Einmal so ein Kleid tragen… ein Traum. Im Laufe der Zeit und meines Erwachsenwerdens kamen andere Filme mit Christel Bodenstein dazu: „Revue um Mitternacht“ , „Minna von Barnhelm, „Was ihr wollt“ oder „Beschreibung eines Sommers“. Eine breite Palette an Rollen. Doch die Prinzessin haftet ihr bis heute an. Ich hatte das Glück – dank meines Berufes – der Schauspielerin und dem Menschen Christel Bodenstein nahezukommen. Aus der Sympathie, die mit unserem ersten Interview 1996 begonnen hatte, ist Freundschaft geworden. Am 13. Oktober feierte Christel Bodenstein nun ihren 80. Geburtstag. Wir hatten uns vorab zu einer kleinen Zeitreise durch ihr Leben verabredet. Ich besuchte sie und ihren Mann Hasso von Lenski in Borgsdorf, wo sie auf der schmalen Insel zwischen Oranienburger- und Oder-Havel-Kanal seit 20 Jahren die Zeit von Mai bis Oktober verbringen.
Christel Bodenstein spielte als 19-Jährige die Prinzessin in dem DEFA-Märchenfilm „Das singende, klingende Bäumchen“ Foto: @ Icestorm/DEFA-Stiftung /Kurt Schütt
Die Oktobersonne gibt noch einmal ordentlich Feuer. Der Herbst verkleidet sich als Sommer. In einem weißen Leinenanzug steht Christel Bodenstein wartend auf dem grünen Wiesenhügel, der bestückt ist mit jungen Apfel- und Birnenbäumen. Die Kleingartenanlage ist gut gesichert. Ihr Mann muss das eiserne Tor an der Einfahrt aufschließen, damit wir hineinkommen. Es ist eine Weile her, dass ich hier war. Zehn Jahre! „Ans Wasser können wir heute nicht“, sagt Hasso von Lenski. Die Holztreppe zum Deich hinauf ist morsch geworden, nicht mehr begehbar. Eine neue müsste gebaut werden. „Vielleicht wird’s im nächsten Jahr“, sagt der 76-Jährige leichthin.
Er hat für uns einen kleinen Tisch und bequeme Gartenstühle vor blühenden Eibisch gerückt. „Gibst du mir eine Zigarette“, bittet Christel. Hasso lächelt. Er hat sie parat, ebenso den Aschenbecher. Ich kann mich an kein Gespräch erinnern, bei dem sie nicht geraucht hätte. „Ohne Zigarette geht gar nichts.“ Rau und dunkel ist der Klang ihrer Stimme. Der sanfte klare Ton der „Prinzessin“ ist lange Vergangenheit.
Achtzig – ist das der Zeitpunkt, wo einen Angst ergreift vor dem, was kommen kann? Was macht die Zahl mit einem, die sagt, dass man alt ist? Ich schaue in Christels Gesicht. Es ist kein altes Gesicht. Ich sehe Falten um den Mund, wenn sie spricht. Sie verschwinden, wenn sie lacht, wobei sich dann die Nase lustig kräuselt. Ich sehe ihr Strahlen, die leichte Verschmitztheit in ihrem Blick. Und, frage ich sie, wie fühlt es sich an, die letzten Dekaden des Lebens anzutreten? „Es ist furchtbar!“ Sie nimmt einen tiefen Zug aus der Zigarette. „Die 65 und die 70 konnte ich gut aushalten. Aber jetzt begreife ich, dass ich 80 bin an dem, was ich nicht mehr machen kann. Zwei Harkenstriche im Garten und mein Rücken schreit: Biste verrückt! Wenn ich Unkraut zupfe, bräuchte ich eigentlich rechts und links eine Stütze, damit ich wieder hochkomme. Es wird nicht besser, und davor fürchte ich mich.“
Sie meint das ernstund dennoch lacht sie dabei. Sie verweigert der Furcht, sie zu beherrschen. Und sollte so ein Moment kommen, denkt sie an ihr Motto: Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen. Das half ihr, ihren Weg zu finden und ihn zu gehen, auf den holprigen Pflastersteinen seelischer Tiefs und auf glatter Bahn, wenn sie glücklich war. „Ich denke ganz viel über mein Leben nach, das immer ein bisserl hektisch war. Und Ärger musste auch verkraftet werden“, beginnt sie zu erzählen. „Am Ende komme ich immer zu dem Schluss: Ich bin ein Glückskind, meine Kindheit in München ausgenommen. Ab dem Punkt, als meine Mutter mit mir im September 1949 nach Leipzig zog, haben sich meine Träume erfüllt.“ Der Entschluss der Mutter war auch für die Tochter eine lebenswichtige Entscheidung, was diese als Elfjährige nicht ahnte.
Ein knappes Jahr vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges kam Christel Bodenstein in der Münchener Frauenklinik in der Mozartstraße zur Welt. Die Eltern hatten nach ihrer Hochzeit Mitte der 30er Jahre ihre Heimatstadt Erfurt verlassen. Wilhelm Bodenstein bekam als Kaufmann eine Anstellung in einem großen bayerischen Sämereigeschäft. Ein großes Glück in der Zeit der allgemeinen Weltwirtschaftskrise, die von Massenarbeitslosigkeit geprägt war. „Wir lebten in Waldtrudering in einem kleinen Holzhaus mit Rundumlaufbalkon, einem Garten und einem Waschhaus, in dem meine Mutter für andere Leute wusch. Sie hatte den Traum, Pianistin zu werden. Aber die damaligen Zeiten ließen das nicht zu. Vor mir bekam sie meine Schwester Eva und musste uns allein versorgen, als unser Vater an die Front musste. Ich stand unter der Fuchtel meiner gerade mal ein Jahr älteren Schwester, und das war nicht schön“, erinnert sich die heute 80-Jährige. Sie war sieben, als der grauenvolle Krieg mit dem Sieg Alliierten 1945 beendet wurde. „Ich habe noch das Geheul der Sirenen im Ohr, wenn Bomber über München flogen. Meine Mutter rannte dann mit uns Kindern ins Nachbarhaus, das aus Stein war und einen Keller hatte, in dem wir Schutz suchten.“
„Wir Kriegskinder“ nannte Christel Bodenstein das plastische Bild von sich und ihrer ein Jahr älteren Schwester Eva
Tief eingeprägt hatsich in das Bewusstsein des Kindes der Hunger, den es aushalten musste. „Als mein Vater aus der Gefangenschaft kam, ist er mit dem Rad über die Dörfer gefahren und tauschte, was wir entbehren konnten, gegen Brot, Milch, Eier und Butter ein. Oder er kolorierte Fotos gefallener Soldaten für ihre Familien . Manchmal kam er auch mit leeren Taschen zurück, und es gab nichts zu Essen.“ Sie hatte immer Hunger. Dieses Gefühl verfolgt sie heute noch, treibt sie manchmal zu früh aus dem Schlaf. Dann muss sie essen. Sonst schläft sie nicht wieder ein. Eine Zeit lang hatten Amerikaner Quartier im Haus der Bodensteins in Waldtrudering bezogen. Sie mochten die aufgeweckte Christel, und sie durfte mit der Milchkanne Essen vom Versorgungsstandort der Soldaten holen. „Ich war ganz stolz, meine Familie versorgen zu können.“
Der Krieg hatte die Eltern entzweit. Sie ließen sich scheiden. Das Gericht sprach dem Vater die Mädchen zu. Die Mutter, ohne Beruf und Arbeit, hatte dem nichts entgegenzusetzen. Sie musste weg aus dem Haus, neu anfangen. Ihr Bruder aus Leipzig half, bot ihr an, zu ihm zu kommen. Es gäbe eine freie Stelle bei der Post. Ein Schock für Christel. Um nichts in der Welt wollte sie bei Vater und Schwester bleiben, die Mutter allein ziehen lassen. „Mein Herz hing so sehr an meiner Mutter, dass ich ein schauderhaftes Theater machte, bis mein Vater mich mit nach Leipzig gehen ließ.“ Ihre Erinnerung an ihn verbindet sich mit Strenge und Härte. „Er watschte gern. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mich mal liebevoll in den Arm genommen hätte. Was ich allerdings von ihm Gutes habe ist die innere Stärke, Sachen aus der Erde zu stemmen, zu erreichen, was ich will. Er war auch künstlerisch begabt, malte und bastelte.“
Erna und Wilhelm Bodenstein en miniature von ihrer Tochter Christel modelliert
Diese Seite des Vatersschlägt sich in ihrem Hobby nieder, dass sie 1984 für sich entdeckte, als ihr Sohn Mirko mal Modelliermasse aus dem Trickfilmstudio mit nach Hause brachte, um eine Arbeit zu erledigen. „Ich nahm ein Stück in Hand und es fühlte sich so warm an.“ Sie begann zu kneten und zu formen, noch ungelenk. Doch sie fand soviel Freude daran, dass es ihr zur liebsten Beschäftigung geworden ist, wenn sie nicht arbeitete. „Christel vertieft sich dabei so sehr in ihre Figuren, dass sie über Stunden alles um sich herum vergisst“, sagt Hasso. Manchmal beschwert er sich: „Kommst du auch mal wieder zurück?“ Aber er weiß, sie braucht dieses Abtauchen. Es ist ihre Ausgleichgymnastik für die Seele. Unter diesem Titel stand auch die erste Ausstellung ihrer Bilder und Figuren 1990. Sehr bald hat die Hobbykünstlerin eine große Fertigkeit im Modellieren ihrer Miniaturen entwickelt. Es sind witzige, berührende und fantasievolle Figuren, die sie dem Leben um sich herum entlehnt. Die kleinen Kunstwerke setzt sie in Bilderrahmen. Diese Form plastischer Bilder entstand aus Mangel an Platz in ihrer Berliner Zwei-Zimmer-Wohnung, die inzwischen einer Galerie gleicht. „Ich konnte die vielen Figuren bald nirgends mehr hinstellen.“ Die Künstlerin gibt so gut wie keines ihrer Schöpfungen weg. Verkaufen? Undenkbar. Es zerisse ihr das Herz. „Einige habe ich an besondere Freunde verschenkt. Mit Schmerzen und Freude zugleich“, erzählt sie.
Das plastische Bild von ihrem Sohn Mirko, der als Illustrator und Animator arbeitet, zeigt die große Ähnlichkeit mit seinem Vater, dem Regisseur Konrad Wolf (†1982)
Die Verbindung zu Vater und Schwester ist ein paar Jahre nach dem Umzug abgebrochen. Zweimal verbrachte Christel die Sommerferien aufgrund eines Gerichtsbeschlusses, den Wilhelm Bodenstein erwirkt hatte, in München. „Er holte mich nicht zu sich, weil er mich liebte. Er strafte mich damit, weil ich mit meiner Mutter weggegangen bin. Ich musste die ganzen Ferien bei ihm in der Wäscherei arbeiten. Das hielt ich aber nicht lange durch.“ Christels späterer Versuch, sich mit dem Vater zu versöhnen, scheiterte. „Ich hatte ihm nach so vielen Jahren verziehen und wollte ihm nach Mirkos Geburt mein Baby zeigen. Er lehnte ab, uns zu sehen. Zu meiner Schwester fand ich nie mehr Kontakt. Um sie tut es mir leid.“
In Leipzig begann für das Mädchen aus Bayern ein neues, vor allem anderes Leben. Die Stadt gefiel ihr sofort. „Wir kamen spät in der Nacht an. Ich war fasziniert von den vielen Laternen, die wie Sterne leuchteten“, hat Christel noch ihre erste Begegnung mit ihrer neuen Heimat im Sinn. „Kurz vor Gründung der DDR, gerade noch rechtzeitig, hatte sich meine Mutter entschieden, das Angebot ihres Bruders anzunehmen. Ich weiß nicht, was aus mir im Westen geworden wäre. Mit Sicherheit keine Märchenprinzessin“, ist sie sich sicher. Leicht fiel ihr die Eingewöhnung damals nicht.
So sieht sich Christel Bodenstein in ihrer Rolle als Prinzessin Tausendschön
Es gab Verständigungsschwierigkeiten. „Sächsisch war für mich eine Fremdsprache und mein bayerischer Dialekt für die anderen.“ Vergebens bemühte sich die Tante, ihrer Nichte Sächsisch beizubringen. Im Unterricht wurde zum Glück hochdeutsch gesprochen. Die Schauspielerin erinnert sich gern an ihre Schulzeit. „Das Schönste war für mich, dass es in der großen Pause für jedes Kind ein Brötchen und einen viertel Liter Milch gab.“ Als die Pionierorganisation gegründet wurde, war sie mit Feuer und Flamme dabei. „Es überraschte meine Mutter sehr, als ich eines Tages mit weißer Pionierbluse und blauem Halstuch aus der Schule kam. Ich glaube, sie hat meine Begeisterung nicht geteilt.“ Die Mutter belächelte ihre Tochter und schlug ihr vor, das Tuch auch zum Nachthemd umzubinden. Der nächste Schock folgte für die arme Frau auf dem Fuße, als Christel ihr eröffnete, dass sie unbedingt zur Balletschule wollte.
Christel als kleine Ballerina, die roten Spitzenschuhe sind künstlerische Überhöhung.
Leipzig stehtim Leben der Schauspielerin vor allem für ihren großen Traum, Tänzerin zu werden, den sie sich mit großer Zielstrebigkeit auch erfüllte. Auf dem Schulweg war ihr eines Tage ein Plakat von einer jungen französischen Ballerina aufgefallen, die in Leipzig eine Matinee gab. Heiß schoss in dem quirligen Mädchen der Wunsch hoch, so tanzen zu können. Als sie etwas später die russische Primaballerina Galina Ulanowa in dem Ballettfilm „Romeo und Julia“ erlebte, konnte sie nichts mehr davon abbringen, eine große Ballerina werden zu wollen. Die Mutter stöhnte auf, doch sie schneiderte ihrer verrückten Tochter ein schwarzes „Tütü“ aus einem alten Rock und aus einem weißen Kissenbezug ein Oberteil. Stich für Stich nähte sie alles mit der Hand. Nur die teuren Spitzenschuhe konnte sie ihrer Tochter nicht kaufen. Weil am Ende aber doch nicht genug Geld für privaten Ballettunterricht übrig war, musste Christel die Tanzschule bald wieder verlassen. Die Zwölfjährige entdeckte eine andere Möglichkeit. Sie tanzte einer Eignungskommission beim Tanz- und Gesangsensemble der „Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“ vor und wurde aufgenommen. Nach dem Schulabschluss – sie war 14 – absolvierte Christel Bodenstein eine dreijährige Ausbildung an der Leipziger Ballettschule und bekam 1955 ihr erstes – und letztes – Engagement am Landestheater Halle. Denn sie wurde für den Film entdeckt.
Christel Bodenstein als 14-Jährige in der Ballettschule Foto privat
Lebhaft erinnertsich sie an den Tag, an dem eine Begegnung am FKK von Ahlbeck ihren Lebensweg ins DEFA-Studio lenkte. Sie ahnte damals nicht die Schicksalhaftigkeit dieser kuriosen Episode. „Ich hatte vor Beginn meines Engagements in Halle Ferien und wurde von ein paar jungen Schauspielern eingeladen, mit ihnen an die Ostsee zu fahren.“ Die 17-Jährige, die noch nie Urlaub gemacht hatte, sagte freudig zu. Zumal ihre heimliche Liebe, der Kapellmeister des Theaters Olaf Koch, dabei war. Es entspann sich eine Liason. „Wir haben 1956 geheiratet. Eine Ehe ohne Perspektive“, pflicht Christel Bodenstein ein. Eines Vormittags in jenen Sommer 1955, die jungen Leute spielten Ball, kam ein Mann mit zwei Windspielen den Strand entlang. Die Schauspieler rannten auf ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Dann stellten sie ihm die etwas abseits stehende Christel vor. So lernte sie den berühmten DEFA-Regisseur Prof. Kurt Maetzig kennen, der die junge Tänzerin auf den Weg zu einer vielgeliebten Schauspielerin führte. Maetzig war ein freundlicher Herr, der sie wohlwollend betrachtete und – nach einem längeren Gespräch am nächsten Tag – zu Probeaufnahmen nach Babelsberg einlud. Er suchte damals gerade eine Hauptdarstellerin für seinen Film „Schlösser und Katen“. „Dass ich splitternackt eine Rolle angeboten bekam, ist mir nur einziges Mal passiert“, lacht Christel. Bei den Probeaufnahmen musste sie eine Liebesszene spielen. „Ich fand es gewagt, was Prof. Maetzig mir zumutete. Aber ich hatte noch nie Angst vor einer Kamera. Und damals waren das noch Ungetüme“, erzählt sie. Mit ihrer gar zu mädchenhaften Erscheinung passte sie aber nicht in Rolle, denn am Ende des Films war die Figur 70 Jahre alt. Maetzig besetzte die 26jährige Karla Runkehl.
Zwei andere bekannte DEFA-Regisseure, die ihre Probeaufnahmen gesehen hatten, interessierten sich für die 17-Jährige. Slatan Dudow besetzte sie in seiner Filmkomödie „Der Hauptmann von Köln“ als Partnerin des namhaften Theaterschauspielers Rolf Ludwig. Parallel drehte sie unter der Regie von Helmut Spieß den Märchenfilm „Das tapfere Schneiderlein“und tanzte außerdem noch ihre Rollen am Landestheater Halle. „In dem Jahr 1956/1957 spielte sich mein privates Leben hauptsächlich im DEFA-Auto ab, das mich zwischen Halle und Babelsberg hin und her brachte. Der Kraftfahrer hatte er mir auf dem Rücksitz ein Bett gebaut, damit ich schlafen konnte. Er sorgte sich wie ein Vater und verwöhnte mich mit Obst und belegten Brötchen. Ich schwebte wie auf Wolken.“ Es war der Beginn ihrer DEFA-Zeit, von der sie heute sagt, dass es die glücklichste in ihrem Leben war. Im Sommer 1957, am Ende der Theatersaison, verabschiedete sich Christel Bodenstein von der Bühne und ihrem Traum, eine große Ballerina zu werden. Es war auch das Ende ihrer Ehe mit Olaf Koch. Sie folgte dem Rat ihres Entdeckers Kurt Maetzig und besuchte die Filmhochschule in Babelsberg. Auch ein Naturtalent braucht Handwerkszeug, hat sie bei den Dreharbeiten für ihre beiden Filmdebüts erkannt. Doch auch während des Studiums stand sie oft vor der Kamera. Gleich im ersten Studienjahr bekam sie die Rolle, für die sie seit 61 Jahren geliebt wird: die Prinzessin in dem Märchenfilm „Das singende, klingende Bäumchen“.
Mit viele Liebe zum Detail schuf Christel die Figuren für das Memory-Spiel „Das singende, klingende Bäumchen“
Am 13. Dezember 1957erlebte der Film seine Premiere in den Kinos der DDR, ab dem 14. September 1958 zog er die Kinder im Westen Deutschlands in seinen Bann. In den ersten beiden Jahren hatte er bereits sechs Millionen Zuschauer. Christel Bodenstein wohnte damals in Babelsberg gegenüber einer Schule. Wenn sie aus der Tür trat oder das Fenster öffnete, riefen ihr die Kinder zu: „Guten Tag, Prinzessin“. Mit dieser plötzlichen Popularität umzugehen, war für die junge Schauspielerin nicht einfach. „Ich musste lernen, zu akzeptieren, dass nicht ich, sondern die Figur gemeint ist.“ 1960 kürten die Leser des Jugendmagazins „Neues Leben“ sie zur beliebtesten Schauspielerin der DDR. Inzwischen ist sie dankbar für die Liebe ihrer Fans, die sie als Mütter und Großmütter weitergeben. Und wenn ein Kind sagt: „Du siehst aber nicht aus wie die Prinzessin“, antwortet sie lachend: „Auch Prinzessinnen werden alt.“
Der Erfolg des Films führte sie wortwörtlich in die Arme des Regisseurs Konrad Wolf. 1960 wurde „Das singende klingende Bäumchen“auf der DEFA-Filmwoche in Helsinki gezeigt und sie war als Hauptdarstellerin dabei. Zum Kreis der DEFA-Delegation gehörte ebenfalls der Regisseur Konrad Wolf, Sohn des international hoch geachteten Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf („Cyankali“, „Prof. Mamlock“). Zum Abschluss des Festivals hatten finnische Filmleute die DEFA-Kollegen zu einem gemütlichen Beisammensein eingeladen. Ein Abend, an dem sich Christel Bodensteins Leben für die nächsten 18 Jahre entschied. „Wir aßen Krebse, anschließend wurde getanzt. Koni war ein Riese von zwei Metern, trotzdem sehr scheu, sogar schüchtern. Ich mochte ihn sofort“, erzählt sie. Er fragte, ob sie mit ihm tanze wolle. Natürlich wollte sie. Er nahm sie in den Arm. Sie schaute zu ihm hoch und redete unentwegt, bis er sie bat, aufzuhören, er müsse die Takte zählen. Im September 1961 kam Sohn Mirko zur Welt und ein Jahr später, einen Tag vor Weihnachten 1962, wurde geheiratet. Eigentlich wollten sie das nicht. Es waren äußere Zwänge, die das bestimmten. Unverheiratete bekamen in Hotels kein Doppelzimmer und – das wog schwer – wollte man von offizieller Seite, dass der bekannte Regisseur, der zudem Vorsitzender der Gewerkschaft Kunst und Präsident der Akademie der Künste war, kein uneheliches Lotterleben führt. In diesem Punkt war die Partei ganz konservativ, geradezu spießbürgerlich.
Ein leichter Windstreicht über die Blütensträucher. Am Himmel ziehen dunkle Wolken auf. Wird es regnen? „Ich denke nicht“, sagt Hasso. Er holt eine neue Flasche Wasser. Christel hat die dritte oder vierte Zigarette beim Wickel, als wir auf ihre 18 Jahre an der Seite von Konrad Wolf zurückblicken. Mit ihrem Mann hat sie nur einen einzigen Film gedreht, weil er es hasste, wenn Regisseure ihre Frauen in die Hauptrollen holten. Nur einmal wich er von seinem Prinzip ab.
Der kleine Prinz mit seiner Rose. Figur by Christel Bodenstein
1966 gab er seiner Frau in seinem Film „Der kleine Prinz“ die Titelrolle. Er machte diese Ausnahme, weil er wusste, wie sehr sich Christel Bodenstein diese Rolle insgeheim wünschte. Die Erzählung von Antoine de Saint- Exupéry war ihre „Bibel“ seit sie das Buch als junges Mädchen bekam. Er schenkte ihr die Rolle zum Geburtstag. „Es war Wochenende und hatte er vergessen, ein Geschenk zu besorgen. Das habe ich erst vor sechs Jahren von unserem gemeinsamen Freund Angel Wagenstein erfahren“, erzählt sie. „Die beiden hatten zusammen an dem Film gearbeitet.“ Sie mochte es damals nicht glauben, als ihr Mann sie damit diesem Geschenk überraschte, weil sie wusste, wie genau Konrad Wolf über Besetzungen nachdachte, er sich für einen Schauspieler entschied. „Als ich nachfragte, sagte er, er sei überzeugt, dass ich das kann. Es wurde eine sehr schöne Arbeit mit großartigen DDR-Schauspielern.“ Nur dauerte es 50 Jahre bis der Film aus dem Archiv endlich in die Kinos kam. Er war nicht unter die politischen Räder gekommen. Er durfte nicht gezeigt werden, weil das DDR-Fernsehen vor der Produktion 1966 vergessen hatte, sich bei Antione de Saint-Exépurys Buchverlag Editions Gallimard die Verfilmungsrechte zu sichern.“ 2015 waren die Autorenrechte abgelaufen und der Film für Aufführungen frei.
Fotograf Nikola bei der Arbeit
Das Resümee ihrer Ehe mit dem Regisseur fällt nicht so begeistert aus. „Wir hatten schöne Zeiten, aber der Alltag lag auf meinen Schultern. Ich drehte, kümmerte mich um unseren Sohn. Ohne die Hilfe meiner Mutter hätte ich das nicht bewältigt.“ Ihr Traum von einem Familienleben, wie sie es sich gewünscht hatte, löste sich in Luft auf. 1978 ließen sie sich scheiden. Für Konrad Wolf – er drehte 14 der wichtigsten DEFA-Filme – war die Arbeit immer wichtiger als seine Familie.
Von 1955 bis 1980 schuf Konrad Wolf 14 Filme, die die DEFA-Stiftung als DVD-Box herausbrachte
Es gab wenig Zeit für ihre seelischen Tiefs, die sich aus zunehmend unbefriedigenden Rollen ergaben, ihre Sehnsucht nach Zweisamkeit und für den gemeinsamen Sohn. „Ich glaube, Koni bemerkte nicht einmal mehr, wie sehr es mir fehlte, seine Liebe zu spüren. Ich fühlte mich wie ein Möbelstück, das einfach da war, wenn er nach Hause kam. Heute stelle ich fest, wie wenig ich von ihm weiß. Wir konnten uns ja nie richtig kennenlernen. Das ist eine sehr traurige Erkenntnis.“ Der
Mit Hasso von Lenskilebt Christel Bodenstein seit 41 Jahren zusammen, 26 davon sind sie verheiratet. Bei ihm spürt sie, was Konrad Wolf ihr nicht zu geben vermochte: Wärme, Liebe, Aufmerksamkeit. „Wir haben unser gemeinsames Leben bei Null angefangen. Das waren oft harte Zeiten, die wir zusammen durchstanden. Wir schliefen bei Freunden im Wohnwagen, bis wir unsere Wohnung, in der wir heute noch leben, im Plänterwald bekamen“, erinnern sich beide. Für Christel ist Hasso das ganz große Glück. „Seit wir uns kennen, hatte ich nie mehr das Gefühl von Einsamkeit und Alleinsein“, macht sie ihrem Mann eine Liebeserklärung. Begegnet sind sich die beiden Schauspieler 1976 in der Kantine der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, ohne zu ahnen, dass sich ihre Weg 1977 wieder kreuzten und von da an gemeinsam verlaufen sollten. „Hasso machte auf mich so einen fröhlichen, jungenhaften Eindruck. Am meisten gefielen mir seine neugierigen frechen Augen. Wie der einen anschaute!“ erinnert sich seine Frau lachend.
Sie hat das DEFA-Ensemble, dem sie seit Ende ihres Studiums angehört hatte, 1973 verlassen. „Mich reizten die Rollen der freundlichen, lustigen Mädchen nicht mehr. Ich wäre gern ins ernste Fach gewechselt, doch solche Rollen bot man mir nicht an.“ Die einzige Ausnahme war 1962 die FDJ-Sekretärin Grit in dem Gegenwartsfilm „Beschreibung eines Sommers“ an der Seite von Manfred Krug. Für diese Rolle hatte Christel Bodenstein gekämpft. „Es war das einzige Mal, dass ich einen Regisseur bat, mich zu besetzen.“ Sie bekam die Rolle, nicht zuletzt auch, weil sich Manfred Krug für sie bei Regisseur Ralf Kirsten stark gemacht hat. Mit dem 2016 verstorbenen Schauspieler verband sie eine lange Freundschaft. „Wir kamen zur selben Zeit als Scheidungskinder nach Leipzig. Manfred hat mich immer beschützt.“
Drei Jahre war Christel Bodenstein als freischaffende Künstlerin zunächst mit eigenen Liedern aufgetreten, dann mit dem Feuilletonisten Hans-Georg Stengel zusammen, der seine Texte auf die Bühne bringen wollte. Sie gewannen zwei Goldmedaillen der Unterhaltungskunst und waren in der ganzen Republik unterwegs. Die Sache hatte nur den Haken, dass Christel Bodenstein in dieser Zeit ihren Sohn Mirko allein lassen musste. Diesem Problem entsprang Idee, ein Kleinkunst-Theater in Berlin zu gründen. Es wurde ein langer, beschwerlicher Weg bis dahin. Doch schließlich eröffnete 1978 unter dem Dach des Friedrichstadtpalastes die Kleine Bühne DAS EI. Christel stand in dem Eröffnungstück „Was soll das Theater“ als Clown auf der Bühne, Hasso von Lenski führte Regie.
Christel Bodenstein als Clown in dem Stück „Was soll das Theater“
„Bei den Proben haben Hasso und ich uns wiedergetroffen, und es ging mitten ins Herz“, erzählt Christel. „Wir haben wunderschöne Abende veranstaltet. Ich habe gern dort gespielt. Doch ich brauche Harmonie für meine Arbeit. Ich hasse Ungerechtigkeiten, Spannungen, Verlogenheit und Boshaftigkeit, die leider irgendwann die Atmosphäre vergiftet haben.“ 1989 verließ sie ihr kleines Theater schweren Herzens, die Situation war für sie unerträglich geworden. Hasso, der Dramaturg und Leiter der Kleinen Bühne DAS EI war, ging mit ihr. „Ich hätte nicht erwartet, dass er für mich seine Arbeit dort aufgibt“, sagt Christel.
Im Friedrichstadtpalast fanden beide eine neue berufliche Heimat. Christel wurde als Regieassistentin für die „Kleine Revue“ engagiert. Sie weiß noch gut, wie schmerzvoll es sich anfühlte, nicht mehr als Schaupielerin auf der Bühne zu stehen, sondern von unten hinauf zu schauen und ein ganz anderes Metier zu bedienen. „Mein Zustand war nicht der beste. Ich musste das verarbeiten und gleichzeitig mit dem Neuen umgehen lernen.“ Aber: Christel schafft alles, was sie will. Sie verspürte bald das Bedürfnis, ihre Ideen für Inszenierungen selbst umzusetzen. Als erste eigene Regiearbeit brachte sie den musikalisch-literarischen Abend „Claire“ auf die Bühne, ein Jahr später feierte sie mit der Revue „Sommernachtsträume“ einen großen Erfolg. Die Wende 1989 setzte noch einmal Fragezeichen für die Zukunft. Was wird aus unseren Träumen? Mit unseren Idealen? Was fangen wie an mit unserem Weltbild? Als die Kleine Revue 1997 geschlossen wurde, gab Christel Bodenstein den Sprecherkindern des Friedrichstadtpalastes Schauspielunterricht und übernahm 1998 einen Teil der Regiearbeit für die Märchenrevue „Hänsel und Gretel“.
An ihrem 60. Geburtstag fand Christel Bodenstein, es ist an der Zeit, in die Ausruhphase des Lebens zu treten. Tatsächlich gestaltete sich das jedoch nur als Rahmen, um ausschließlich das zu tun, was ihr Spaß macht. Acht Jahre lud sie zu Talkshows mit ehemaligen DEFA-Kollegen ins „Café Nass“ nach Berlin-Johannisthal ein. 2006 veröffentlichte sie ein Bildertagebuch aus ihrem Leben „Einmal Prinzessin, immer Prinzessin“, mit dem sie seither auf Lesereise geht. Begleitet von ihrem Mann Hasso, der zu ihren Geschichten die Bilder auf eine Leinwand projiziert. Immer ein unterhaltsamer Abend für das Publikum.
Mit ihrem Mann zusammenzuarbeiten ist für Christel das Schönste. Gemeinsam entwickelte sie 2012 mit ihm und ihrem Sohn Mirko das Memory-Spiel „Das singende, klingende Bäumchen“ für die ganze Familie. Mirko, der als Illustrator und Trickfilmzeichner arbeitet, schuf nach ihren Figuren die Zeichnungen, Hasso war für das Marketing und die Logistik zuständig.
Der Spaß für große und kleine Märchenfans ist bei der DEFA-Stiftung erhältlich
Ich frage Christel Bodenstein, ob es Träume gibt, die sich noch nicht erfüllt haben. „Ja, natürlich gibt es die“, sagt sie. „Als Filmschauspielerin ist es mir nicht nicht gelungen, ins ernste Fach einzusteigen. Es wäre traumhaft“, verrät sie mit einem Sehnsuchtsseufzer, „jetzt, im hohen Alter, noch einmal eine Charakterrolle zu spielen.“ Es geschehen immer wieder Wunder. Warum nicht auch in diesem Fall.
Übers Erzählen ist es später Nachmittag geworden. Das Spiel der dunklen Wolken hat die Sonne verdeckt. Der Himmel gibt sich mystisch. Christel und Hasso begleiten uns zum Auto. Er muss das Tor wieder aufschließen. Noch ein paar letzte Fotos an der Schaukel, die sich im Wind bewegt. Ich entdecke noch Blüten an den Apfelbäumchen. Das passiert, wenn der Sommer lang und warm ist.
Seit dem Tod ihres Mannes Hilmar Thate vor zwei Jahren ist es still um Angelica Domröse geworden. Am 4. April feierte die Schauspielerin ihren 77. Geburtstag. Die „Berliner Pflanze“ gehört zu den auserwählten Größen des deutschsprachigen Films der letzten hundert Jahre, die einen Stern auf dem „Boulevard der Stars“ am Potsdamer Platz bekommen haben. Ihre Karriere begann vor 60 Jahren mit der DEFA-Liebeskomödie „Verwirrung der Liebe“.
Mancher mag für sie für divenhaft, kapriziös halten, was Ausdruck ihres Anspruchs ist, den sie sich im Laufe ihres Lebens erarbeitet hat. Hartnäckig, unbeirrbar. „Ich bin in der Banalität groß geworden, aber ich hatte immer eine tiefe Abscheu dagegen.“ Sie wollte weg aus diesem Milieu. Studieren, Filme machen. Mit 14 Jahren schon hatte sie diese ganz feste Lebensvorstellung. Heute kann jeder sehen, dass sie sich ihre Träume erfüllt hat. Auf dem Berliner „Boulevard der Stars“ glänzt ein goldener Stern mit ihrem Namen, neben anderen Filmgrößen wie Marlene Dietrich, Hildegard Knef, Romy Schneider, Hanna Schygulla, Billy Wilder, Rainer Werner Fassbinder. Nicht zuletzt wegen solcher Filme wie dem DEFA-Kultstreifen „Die Legende von Paul und Paula“ oder „Die zweite Haut“ und „Hanna von acht bis acht“ sowie ihrer herausragenden Theaterleistungen. Sie spielte am Berliner Ensemble die Hure Betty in der „Dreigroschenoper“ und die Näherin Babette in Brechts Parabelstück „Die Tage der Pariser Commune“. 1966 wurde Angelica Domröse in der DDR zur „Besten Schauspielerin des Jahres“ gewählt. Im selben Jahr wechselte die damals 25-Jährige zu Benno Besson an die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz und wurde als „Cleopatra“ und „Die schöne Helena“ gefeiert. In einer Inszenierung von George Tabori brillierte sie 1987 als „Stalin“ und 2001 mit ihrem Mann Hilmar Thate im Theater am Kurfürstendamm in „Josef und Maria“.
Sie war gerade mal 17 Jahre, als sie bei Slatan Dudow in ihrer ersten Filmrolle vor der Kamera stand und noch heute bezaubert sie als Siegi in der DEFA-Liebeskomödie „Verwirrung der Liebe“ mit einer Mischung aus unschuldiger Naivität und verführerischem Sexappeal. In einem Interview mit mir blickte Angelica Domröse noch einmal hinter die Kulissen von damals.
Welche Erinnerungen haben Sie noch an jenen Mai 1958? Er war aufregend. Ich hatte in der „Berliner Zeitung“ eine Annonce entdeckt, mit der die DEFA für eine Hauptrolle in einem heiteren Spielfilm eine natürliche, fröhliche 16- bis 20-Jährige suchte, Größe ca. 1,60. Für mich war klar: Die meinen mich!
Wie Sie dachten 1500 Mädchen… Natürlich, solche Annoncen erschienen ja nicht jeden Tag. Das war etwas Besonderes. Am Tag der Vorstellungsgespräche saßen Hunderte Mädchen in der S-Bahn zum Griebnitzsee. Wie eine Schar Gänse sind wir den Weg zum DEFA-Studio geflattert.
Und wie hat diese Schar versucht, den Regisseur zu beeindrucken? Wir haben alle unsere Vorzüge hervorgehoben (lacht). Hatten die Taille ganz eng geschnürt, Petticoats unterm Rock, enge Pullis, die langen Haare offen oder als Pferdeschwanz. Ja, und dann saßen wir da und warteten. Regisseur Slatan Dudow hat mit jedem Mädchen gesprochen.
Wie war Ihr erster Eindruck vom Studio?
Das war alles gigantisch für mich und neu. Respekteinflößend. Und es hat mich angezogen. Aber es ist alles mehr über den Bauch gegangen als über den Intellekt. Ich war ein Kinofreak, sah auch gern Theaterstücke. Aber es hatte mich eigentlich nie interessiert, wie das zustande kommt. Schmerzliche Erfahrung habe ich erst beim Drehen gemacht.
Was ist passiert?
Szenen, die wir oft geprobt haben, sind mir beim Drehen dann sehr schwer gefallen. Da gab es einen Tag, an dem ich anfing zu weinen. Mich hat plötzlich die Stille im Atelier gestört, als es hieß: Kamera läuft, Ton ab. Ich hörte mich selbst. Alles war auf mich fokussiert. Das hat mir Angst eingejagt. Dudow hat dann alle aus dem Atelier geschickt und mich ausheulen lassen. Es war für mich mit einem Mal ganz schwer, auf die Rolle zu kommen. Später habe ich das beim Theater öfter erlebt, dass ich nach der xten Vorstellung vollkommen neben der Rolle lag. Und das ist die Schwierigkeit in unserem Beruf: die Abrufbarkeit des Handwerklichen, die Genauigkeit beim Spiel und gleichzeitig muss es wie gerade geboren wirken.
Für die Zeitungen waren Sie die Favoritin. „Junge Welt“ und „Filmspiegel“ schrieben über Sie. Warum hat sich Slatan Dudow für Sie entschieden? Er hat es mir später mal gesagt. Ich hatte die unschuldige Naivität und Natürlichkeit, die er sich für die Rolle der Siegi vorgestellt hatte. Es ist eben etwas anderes, wenn eine 17-Jährige vor der Kamera steht, die noch nie gedreht hat, als wenn es eine 25-jährige Schauspielerin ist. Und dass ich die Rolle bekam, verdanke ich auch Annekathrin Bürger. Sie spielte die Kunststudentin Sonja, deren Freund sie beim Fasching mit Siegi verwechselt. Das ist ja der Ausgangpunkt der Geschichte. Und ich hatte die gleiche Statur wie sie.
Wurde Slatan Dudow nicht ungeduldig, wenn Sie beim Drehen nicht auf die Rolle kamen?
Nein, überhaupt nicht. Er hat auf mich geachtet wie auf ein rohes Ei. Ich habe ihm wirklich viel zu verdanken. Wenn er sich nicht bei der Filmhochschule für mich verwendet hätte, wer weiß, ob sie mich überhaupt genommen hätten.
Sie standen mit renommierten DDR-Schauspielern – außer Annekathrin Bürger waren das Ulrich Thein, Stefan Lisewski, Willi Schrade und Marianne Wünscher – vor der Kamera. Hatten Sie keine Hemmungen? Meine Idole waren Weltstars aus französischen und amerikanischen Filmen. Die Schauspieler, mit denen ich in dem Film spielte, kannte ich gar nicht. Ich sage das ohne Arroganz. Mich hat bis dahin künstlerisch niemand geleitet. Dudow war der Erste, dann war es die Schauspielschule. Danach lernte ich am Berliner Ensemble und bei Benno Besson in seiner großen Zeit an der Berliner Volksbühne was Qualität und was Mist ist.
Wie reagierte Ihre Mutter darauf, dass Sie ausgewählt wurden? Sie hat Sekt gekauft und mit mir und dem Produzenten angestoßen. Sie musste ja den Vertrag unterschreiben, da ich minderjährig war. Ich weiß noch, wie ihre Hand gezittert hat…
Warum wollten Sie eigentlich Schauspielerin werden? Das Kino spielte in meiner Kindheit und Jugend eine enorme Rolle. Ich bin fast jeden Tag ins Kino gerannt, habe mir auch Filme zehnmal angesehen. Das war meine Lebensschule, so wie die Straße. Ich war eine Asphaltassel, bin in den Berliner Trümmern großgeworden. Als ich klein war, habe ich bei einem traurigen Filmende immer gedacht: Wenn du morgen ins Kino gehst, ist der Schluss besser. Und ich war ganz traurig, dass es wieder wie vorher ausging. Mit vierzehn, fünfzehn hatte ich dann schon eine feste Vorstellung von meinem Leben. Ich wollte raus aus dem Milieu, in dem ich lebte, studieren. In den 50ern war das etwas Besonderes, Student zu sein.
Wie haben Sie denn gelebt? Meine Mutter verkaufte Fahrkarten am S-Bahnhof Nordbahnhof, mein Stiefvater war Eisenbahner. Es war für mich nicht schön zu Hause. Ich wollte auf Leute mit anderen Interessen treffen. So kam es auch.
Sie waren Sachbearbeiterin beim Deutschen Innen- und Außenhandel. Und plötzlich standen Sie – gerade mal 17 – vor einer Filmkamera. Wie war das, als Sie für „Verwirrung der Liebe“ an der Ostsee die Nacktszene gedreht haben? Ich hatte da keine Hemmungen. Die Kamera war weit weg. Damit hatte Dudow mir die Scheu genommen. Ihm schwebte bei der Szene, als ich aus dem Wasser steige, Botticellis „Geburt der Venus“ vor. Nun hatte ich damals keine Ahnung, wie die aussah noch wer Botticelli war.
Wo wurde gedreht? An einem FKK-Strand an der Ostsee. Wir waren angezogen, die Urlauber nackt. Das ging natürlich nicht. Wenn wir drehen wollen, hat der Produktionsassistent durchs Megaphon gerufen: Alles anziehen! Die Statisten, die meisten waren Urlauber, stöhnten. Nach dem Dreh hieß es dann: Sie dürfen sich wieder ausziehen! Das war absurd. Wie surrealistische Malerei. Einige Szenen wurden im Studio gedreht, weil am Strand nicht das richtige Licht war. Dafür wurde tonnenweise Ostseesand ins Studio nach Babelsberg gebracht.
Nach diesem Film ging es für Sie Schlag auf Schlag weiter?
Ich bin in eine Zeit geraten, in der das Fernsehen explodiert ist. Mit Filmen wie „Papas neue Freundin“ und „Vielgeliebtes Sternchen“ entstand auch eine große Popularität.
Mit Erwin Geschonneck drehten Sie 1966 „Ein Lord am Alexanderplatz“.
Ich habe den Film wegen des Geldes gemacht. Am Theater, ich war damals am Berliner Enselmble, verdiente man nicht viel. Obwohl es die Weigel nicht gern sah – Film war für sie Afterkunst – wollte ich drehen. Das war mein Spielbein. Mein Standbein war das Theater. Immer. Mit Geschonneck zu spielen war ein großes Vergnügen. Ich hatte gehört, was für tolle Rollen er am BE gehabt hatte. Man bekommt – auch wenn man so jung ist schon mit – wer Gewicht hat. Privat war er sehr lustig. Geschonneck hatte stets Stullenpakete mit, Kaffee in einer Thermosflasche – und einen Klappstuhl. Darüber habe ich immer lachen müssen. Heute verstehe ich ihn. Eh‘ du fragst: Wo kann ich mich mal hinsetzen, sorgst du besser selbst für dich.
Sie wurden bejubelt und hoch geehrt. Was letztlich auch an Ihre Substanz ging.
Ja, kein Erfolg ohne Misserfog. Keine Lust ohne Schmerz. Ich weiß, dass mir der Beruf sehr viel gegeben hat. Durch ihn habe ich zur Literatur, zur Malerei, zur Architektur gefunden. Ich habe Menschen getroffen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Habe Länder gesehen, in die ich vielleicht nie gekommen wäre. Es ist ein ganz wunderbarer Beruf, und ich bin dem außergewöhnlichen Dudow dankbar, dass er mir das Tor dahin aufgemacht hat. Aber man muss auch mal loslassen können und mit der Biologie gehen. Mit über 70 ist doch klar, dass der größte Teil der Lebenszeit, in dem man gearbeitet und geliebt hat, mal oben, mal unten war, hinter einem liegt. Der Rest ist sehr kostbar. Ich nutze ihn nur noch für mich.