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Erinnerung an Gisela May – Mit Brecht um die Welt

„Alte Leute konnte ich noch nie leiden, und jetzt bin ich selbst alt…“ Sie hatte das stolze Alter von 92 Jahren, sechs Monaten und einem Tag erreicht, als sie in der dritten Morgenstunde des 2. Dezembers 2016 einschlief. Für immer. Fast fünf Jahrzehnte hat Gisela May weltweit Triumphe gefeiert mit Chansons und Liedern von Bertolt Brecht, Kurt Weill, Hanns Eisler, von Kurt Tucholsky und Erich Kästner. Sie sang Jaques Brel und Mikis Theodorakis. Sie trat in ganz Europa auf, gastierte mehrfach in Australien, den USA. Sie war die Grand Dame des politischen Liedes, gab Konzerte in der Carnegie Hall, brillierte an der Mailänder Scala. Ihr Zuhause aber das Berliner Ensembles. Sie war nach Lotte Lenya – der Frau von Kurt Weill – und Helene Weigel – Brechts Ehefrau – die „Königin des Brecht-Theaters“ wie es BE-Intendant Claus Peymann formulierte. Nun war die Lebensuhr der großen Gisela May abgelaufen.

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Gisela May gibt Autogramme nach ihrem Konzert zur Kurt-Weill-Woche in der Komischen Oper 2013. Foto: Silke Reents 

Ich habe die Künstlerin zweimal zum Interview getroffen. Das erste Mal 2004, zu ihrem 80. Geburtstag. Den feierte sie mit ihrem Kurt-Weill-Programm auf der Bühne. Den Eingangssatz sagte sie vor anderthalb Jahren zu mir. „Trotzdem gehöre ich auf die Bühne!“, fügte sie dann lächelnd hinzu. Einen Moment hatte mich die Festigkeit, mit der sie das von sich gab, sprachlos gemacht. Was war das? Trotz? Trauer? Oder einfach das Fazit ihres 91-jährigen Lebens, dass es für sie nie etwas anderes als den Beruf gab? Den sie nie hätte lassen können, selbst wenn ein Mann sie auf Händen trüge. „Die Bühne ist der Hauptgrund meiner Existenz. Das hat sich so ergeben, aber ich weiß nicht, wo es noch hingeht.“

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Gisela May 2011 in ihrer Wohnung. Foto: Silke Reents  

Wir saßen uns in der Besucherecke eines Pflegeheims gegenüber. Sie hat ihre Selbständigkeit, die eng verbunden war mit der eigenen Wohnung an der Friedrichstraße, aufgeben müssen. Nicht mit Freude, doch mit der Einsicht in die Gebrechlichkeit, die sich eingestellt hatte. „Ich bin nicht in der Lage, die Hürden des Alltags, die Realitäten, die auf mich zukommen, zu meistern. Mein Augenlicht ist so schlecht, dass ich kaum noch etwas erkenne. (Pause) In so etwas möchte man nicht hineingezogen werden, sitzt aber plötzlich mittendrin im eigenen Dilemma. Da haben dann andere ein Mitspracherecht. Aber das ist noch nicht das Ende!“ Freunde waren an ihrer Seite, auf die sich verlassen konnte, die aufpassten, dass ihr nichts geschieht.

Gisela May war nie groß, aber von guter Statur. Nun wirkte sie zerbrechlich. Ihren Humor haben ihr die Umstände nicht nehmen können. „Es ist absolut amüsant. Ja! Weil ich voll da bin, aber doch wiederum zurücktreten muss. Die Unmittelbarkeit, auf die man nicht vorbereitet ist und dann doch vorbereitet wird, die mein Leben darstellt, wird täglich neu gelebt. Ich bin ein Mensch, der in der Gegenwart lebt, in der sich Vergangenheit und Zukunft treffen“, reflektierte sie. Es erstaunte mich, mit welcher Klarheit und philosophischer Tiefe sie mit 91 Jahren ihr Leben erfasste. Intelligent, klug, inspirierend. Sie war immer noch die anspruchsvolle Gesprächspartnerin. Es war ihr immer wichtig, dass ein Zusammentreffen mit anderen Menschen auf intellektueller Ebene ablief. Daran hatte sie Freude, solche Gespräche liebte sie. Das angesprochene Ende – mit dem sie sich nie auseinandergesetzt hat – war ihr „scheißegal“.

Berliner Ensemble, Probe Mutter Courage
Probe für „Mutter Courage und ihre Kinder“ am 17. 9. 1978, zum ersten Mal mit Gisela May unter der Regie von Manfred Wekwerth, Intendant des Berliner Ensembles. Foto: Katja Rehfeld

Wer sie kannte, wird über den Jargon schmunzeln. Berliner Schnauze. Die hatte sie sich angeeignet in den vielen Jahren seit sie 1951 hierher kam, um Brecht zu spielen. Worauf sie aber noch bis 1962 warten musste. Davor lagen zunächst zehn Jahre harter Arbeit am Deutschen Theater, das damals von Wolfgang Langhoff geleitet wurde. Ein grandioser Schauspieler und Regisseur. Die May war eine strenge Arbeiterin, energisch, fordernd, bewundernswert diszipliniert, wenn es darum ging, eine Rolle, ein Lied bühnenreif zu machen. Es ging dabei nie verbissen zu. Freunde und Kollegen liebten ihren Charme, ihren Witz, ihre Wärme. Und ihre Direktheit, mit der sie bei der Arbeit inspirierte, aber ein Interview schon ins Stocken bringen konnte.

s-l300.jpgFür uns, in der DDR aufgewachsene Theater- und Musikbegeisterte, war Gisela May ein Muss. Jeder besaß wenigstens eine Schallplatte von ihr. Ich habe sie 1966 in Brechts „Dreigroschenoper“  im Berliner Ensemble erlebt. Ein Theaterabend, bei dem mir nicht in den Sinn kam, dass mir Gisela May in einem Interview einmal gegenübersitzen und erzählen würde, dass diese Brecht/Weill-Songs sie auf ihren Weg gebracht haben. Ihr Vater, Ferdinand May, war Schriftsteller. Er führte seine Tochter zunächst durch seine Literatur an Brecht heran. Gerade mal zwölf Jahre, dudelte sie die Platten mit Liedern der „Dreigroschenoper“ rauf und runter, trällerte den Mackie-Messer-Song wie einen Schlager. „Ganz besonders aber mochte ich Surabaya-Johnny.“ Sie lauschte damals auch schon Liedern von Ernst Busch, der wegen seiner kommunistischen Gesinnung von den Nazis verfolgt wurde. „Seine Schallplatten gehörten zum kostbaren geheimen Besitz meiner Eltern, nicht ungefährlich im Nazi-Reich.“

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Die Eltern  Käte und Ferdinand May 1942 in Dresden. Foto: privat. Quelle. „Es wechseln die Zeiten

Sie wuchs in einem politisch links positionierten Elternhaus auf. Das legte bei der 1924 geborenen Gisela den Grundstein für ihre politische Orientierung. In ihren humorvoll, offen und ehrlich erzählten Erinnerungen „Es wechseln die Zeiten“ (Militzke Verlag 2002) erklärte sie im Interview mit Günter Gaus: „Meine Grunderlebnisse sind der Krieg, die Nazi-Zeit, der Verlust meines Bruders, der in diesem Krieg geblieben ist, das Hungern, die Trümmer. Dieses Grauen sitzt so tief in mir und meiner Generation, dass ich das nicht abschütteln kann. Wir wollten eine echte Alternative zu diesem kapitalistischen System, das ja zu Hitler geführt hat. Die Kommunisten waren die einzigen, die gesagt haben: Hitler bedeutet Krieg…“

Für Gisela May gab es nie einen Zweifel, dass sie als Künstlerin auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft hat. Politisches Bewusstsein gehörte für sie zu ihrer Arbeit. Sie vertrat, wie Brecht, eine humanistische Weltsicht. Ob als Diseuse oder Schauspielerin – sie hat von der Bühne herunter versucht, etwas zu vermitteln an Menschlichkeit, an Verständnis. Sie war zu einer führenden künstlerischen Repräsentantin der DDR avanciert. Zu dem Land hat sie immer gestanden, ohne jedoch blind zu sein für seine gravierenden Probleme. Den Zusammenbruch sah sie wie viele andere kommen, als Gorbatschow mit seiner Glasnost-Politik in der Sowjetunion die Führung übernahm. „Die Wende habe ich in keiner Weise als Katastrophe behandelt. Im Gegenteil. Ich habe es ungeheuer befürwortet und sehr genau beobachtet, wie ich da neben einem anderen Menschen her lebe, dessen Haltung in eine besondere Richtung geht und plötzlich von mir geteilt wird.“

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Wolfgang Harich lebte neun Jahre mit Gisela May zusammen. Er starb 1995. Quelle: Alchetron/zeitzeugen-tv.com 

Sie sprach von Wolfgang Harich, Philosoph, Journalist, einer der bedeutendsten und widersprüchlichsten marxistischen Intellektuellen der DDR. Wegen umstürzlerischer Pläne kam er 1956 für acht Jahre ins Zuchthaus. Walter Ulbricht sollte weg, die DDR reformiert werden. Als sie sich das erste Mal begegneten, hatte Gisela May inzwischen ihr Traumziel erreicht. Sie stand auf der Bühne des Berliner Ensembles und spielte Brecht. An jenem Abend Ende 1964 war es „Der Messingkauf“. Ein kurzes sich In-die-Augen-Sehen und es funkte. Ein zufälliges Zusammentreffen Neujahr 1965 wurde der Beginn einer nie langweiligen Partnerschaft. „Es war ein spannendes Abenteuer, in dem wir viel von einander profitierten, uns in jeder Beziehung ergänzten. Mich faszinierte an Harich immer wieder seine Intelligenz, seine immense Bildung, sein Talent, in großen Zusammenhängen zu denken und brillant zu formulieren. Unsere Temperamente stießen hin und wieder kräftig aneinander, und ich besitze ein umfangreiches Schimpfwortregister, das ich auch benutzte…“, beschrieb sie ihre gelegentlichen Disharmonien. Seine Affären beschädigten ihre Liebe. Einander ganz aufgeben mochten sie aber nicht. Es gelang ihnen eine Freundschaft, die bis zu Harichs Tod 1995 anhielt.

Nach der Trennung lebte Gisela May allein und genoss die Vorzüge, ganz egoistisch nur an sich denken zu dürfen. Das Zusammenleben mit Wolfgang Harich war ihr zweiter Versuch einer Langzeitbeziehung gewesen. 1954 hatte sie sich bei einem Betriebsausflug des DEFA-Studios in den 21 Jahre älteren jüdischen Journalisten Georg Honigmann verliebt. Er leitete die DEFA-Kurzfilmabteilung „Das Stacheltier“. Sie gehörte zu den eingeladenen Gast-Schauspielern – von Anfang an hatte sie neben ihrer Theaterarbeit für Film, Funk und Fernsehen gearbeitet. Ihr erster DEFA-Film war 1951 „Das Beil von Wandsbek“ gewesen, 1954 drehte sie „Eine Sommerliebe“.

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Gisela May 1958 mit Georg Honigmann und seiner Tochter Barbara, heute Schriftstellerin. Foto: privat

Gisela May hatte nicht vorgehabt, sich in einer Ehe zu binden. „Ich war mit meinem Beruf verheiratet, der mich sehr in Anspruch nahm. Die Idee, zu heiraten, wäre mir auch bei keinem anderen Mann gekommen.“ Nach zwei Jahren war klar, sie wollten sich nicht mehr trennen. Georg Honigmann ließ sich scheiden. Am 15. Mai 1956 gaben sie sich in Wernigerode, wo Giselas Großeltern lebten, das Jawort. „Wir liebten uns sehr, mir gefiel Georgs jüdischer Witz, seine Melancholie, Verletzbarkeit und Gelassenheit. Mit ihm fast ein Jahrzehnt meines Lebens verbracht zu haben, ist Glück und Gewinn an menschlicher Bereicherung, wofür ich dankbar bin“, erzählte mir Gisela May. Ihr Beruf, der sich zu sehr in das Privatleben eingeschlichen hatte, führte zur Trennung. „Vielleicht wäre so es soweit nicht gekommen, hätte ich nicht zwei fehlgeschlagene Schwangerschaften gehabt … Aber das ist alles so lange her“, resümierte sie im Rückblick.

Der Beruf Schauspielerin, stand für sie bereits fest, als sie Dreizehn war. Die musischen Gene hatte Gisela May von ihrer Mutter Käte, die aus gut bürgerlichem Hause stammte, Klavier spielte, malte und eine große Leidenschaft fürs Theater hegte. Selbst Schauspielerin zu werden, wurde ihr von den Eltern verwehrt. Glück für ihre Tochter Gisela. Die Mutter förderte ihre künstlerischen Ambitionen, eingedenk dessen, was ihr versagt wurde. Unterstützt wurde sie von einem Freund der Familie, dem Lehrer und Musiker Alfred Schmidt-Sas. Er wurde 1943 von den Nazis als Kopf der Widerstandsgruppe „Sas“ hingerichtet.

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Porträt von 1979 

Gisela May erinnerte sich mit warmen Gefühlen an ihn. „Ich war von seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit angezogen. Er förderte meine Neugier auf Literatur, entwickelte mein musikalisches Gehör und lehrte mich, die Natur bewusst zu erleben.“ Auf seine Anregung hin begann sie Tagebuch zu schreiben, eine Gewohnheit, die sie beibehielt. Ein Leben lang die liebste und wichtigste Person blieb für Gisela May ihre Mutter Käte. „Obwohl ich schon mit Siebzehn zu Hause ausgezogen bin, hatten wir eine starke Bindung. Vielleicht, weil wir uns so ähnlich waren. Meine Mutter war ihr ganzes Leben immer greifbar, wenn ich sie brauchte. Ich vermisse sie sehr. Dagegen hilft auch das hohe Alter nicht.“

Nach dem sogenannten Pflichtjahr für Mädchen, das sie im Haushalt einer Nazi-Familie ableistete, studierte Gisela May 1940-42 an der Schauspielschule in Leipzig. Die zwei Jahre vermittelten ihr das Nötigste. Das Handwerk für ihren Traumberuf erlernte sie danach an vielen kleinen Bühnen. „Mich hat niemand entdeckt. Ich habe mich mühsam und langsam voran gearbeitet.“ Ihre erste Rolle spielte sie an einem kleinen Dresdner Privattheater, dann ging es an eine Wanderbühne. Die nächste Etappe war Görlitz, als das letzte Kriegsjahr anbrach. Die Theater wurden geschlossen, die Schauspieler mussten an die Front, die Frauen in Rüstungsbetrieben Granaten drehen oder an der Front im Osten Gräben schippen. „Um die vorrückenden russischen Panzer aufzuhalten. Was für eine Absurdität!“ Gisela kam mit drei tschechischen Musikern, die als Fremdarbeiter den Theaterbetrieb in Görlitz aufrechterhalten hatten, nach Glogau. Bald wurden sie abkommandiert, die verwundeten Soldaten in Lazaretten mit Klein­kunstprogrammen zu unterhalten. Kurz vor Weihnachten 1944 wurde der Ort aufgegeben, die Künstler nach Hause geschickt.

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Der Komponist Hanns Eisler kehrte 1957 aus dem amerikanischen Exil nach Berlin zurück

8. Mai 1945, das Ende des deutschen Faschismus. Nazideutschland war besiegt, der Zweite Weltkrieg mit 70 Millionen Toten endlich vorbei. Ein neues Leben konnte beginnen. Gleich 1946 stand Gisela May wieder auf der Bühne, im neugegründeten Ensemble am Theater ihrer Heimatstadt Leipzig. Ein Jahr später ging sie nach Schwerin. Sie wollte zu Lucie Höflich, einer der berühmtesten deutschen Theaterschauspielerinnen, die am dortigen Staatstheater Direktorin und Regisseurin war.
Lernen am Objekt, also an der Rolle, hieß das für die junge Schauspielerin in den kommenden drei Jahren. Lucie Höflich weihte sie ein in die Geheimnisse ihrer einst unter Max Reinhardts Regie geschulten Darstellungskunst. In vielen kleinen, oft belanglosen Rollen trainierte Gisela May ihr handwerkliches Können, gewann sie Bühnensicherheit.

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2006  Foto: Silke Reents

Nach einem Engagement am Hallenser Landestheater schaffte sie, 27-jährig, 1951 endlich den lang ersehnten Sprung nach Berlin. Nicht, um dort Karriere zu machen. Es zog sie dorthin, weil sie „mit Schauspielern ersten Ranges auf der Bühnen stehen wollte, um geistreiche Dialoge wie Tennisbälle hin und her fliegen zu lassen.“ Aus dem Vorsprechen des Gretchen-Monologs aus „Faust“ ergab sich noch kein Engagement. Regisseur und Intendant Wolfgang Langhoff wollte sie noch im Ensemblespiel sehen und kam nach Halle. Sie spielte die Tatjana in Gorkis Stück „Feinde“ und überzeugte. Langhoff rief ihr nach der Vorstellung im Treppenhaus zu „Kommen Sie nach Berlin“. Zehn Jahre lang übertrug er der begabten Elevin die unterschiedlichsten Aufgaben, gab ihr die Gelegenheit, ihre schauspielerischen Möglichkeiten auszutesten. Sie erinnert sich in ihrem Buch: „Als Regisseur half er mir dabei in einer Weise, die vollständig meinen Intentionen entsprach: durch intellektuelle Klarheit und großes theatralisches Gespür.“
1957 kam es zu einer schicksalhaften Begegnung für die künstlerische Zukunft der damals 33-jährigen Gisela May, die sich als Theaterschauspielerin bereits einen Namen in Berlin gemacht hatte. Es hatte bei den Proben zu „Galilei“ einen ernsthaften Krach zwischen Ernst Busch und Bertolt Brecht gegeben. In dessen Folge Busch das Theater verließ und bei der „Konkurrenz“, dem Deutschen Theater, eine „Tucholsky“– und eine „Brecht“-Matinee veranstaltete. In beiden Programmen bekam Gisela May die Chance, an der Seite des von ihr verehrten Ernst Busch erstmals ihre musikalischen Fähigkeiten zu präsentieren. In einer Vorstellung saß Hanns Eisler im Publikum. Er erkannte ihr besonderes Talent für Chansons und die Möglichkeiten ihrer Stimme, deren Kraft, Vielseitigkeit und Virtuosität. Sie beeindruckte ihn so sehr, dass er nach der Vorstellung zu ihr in die Garderobe ging, sich vorstellte und sagte: „Das sollten Sie weitermachen.“

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1957 mit Ernst Busch am Deutschen Theater in „Die Kleinbürger“. Auszug aus „Es wechseln die Zeiten“ 

Die Arbeit mit ihm führte Gisela May auf den Weg zu der unvergleichlichen Interpretin der Lieder und Chansons von Brecht, Kurt Weill, Hanns Eisler, Ernst Busch. Bald galt sie weltweit als die Grand Dame des politischen Liedes und Chansons. Eisler lehrte sie, dass es bei der Interpretation darauf ankommt, die Grundhaltung eines Liedes zu finden und auf die eigene Persönlichkeit zu übertragen. Dass es auf technische Genauigkeit ankommt, um mit jedem Wort, jedem Ton den Zuhörer zu erreichen. „Ein Publikum, das den Text nicht versteht, kann nicht mitdenken“, sagte er ihr.
In diesem Sinne war vor allem Ernst Busch ihr ein Vorbild. Seine Haltung zum Publikum hat sie immer wieder tief beeindruckt: „Diese produktive Aggressivität, diese Art, in jedem Zuschauer einen Freund zu sehen oder auch einen Feind. Immer im direkten Zwiegespräch mit dem Auditorium.“ Gisela May beherrschte sowohl das gesprochene als auch das gesungene Wort bis zur Perfektion, gepaart mit Geist, Herz und Witz.

Mays Arbeit als Schauspielerin erreichte 1961 eine neue Ebene. Nach einem Gespräch mit Helene Weigel, Prinzipalin des Berliner Ensembles, am Silvesterabend im Künstlerklub „Die Möwe“, wechselte Gisela May an das Brecht-Theater. Endlich konnte sie ihren geliebten Brecht spielen, was damals nur am BE möglich war. Die Weigel, Brechts Witwe, hatte verfügt, dass die Aufführungsrechte seiner Stücke ausschließlich seinem Theater vorbehalten waren. Bei einem Cognac wurde der „Pakt“ angebahnt. In ihrer mütterlichen Art und bestem Wienerisch sagte die Weigel zur May: „Na, da kommst halt mal a bissl vorbei.“ Im Januar unterschrieb Gisela May ihren Vertrag mit dem BE. Aus dem „a bissl“ wurden 30 ungeheuer schöne, anstrengende und erfolgreiche Jahre für die so wandelbare Schauspielerin.

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Von 1978-1992 zog Gisela May als Mutter Courage ihren Marketenderinnen Karren über die Bühne des Berliner Ensembles. Es war ihre wichtigste und schwierigste Rolle. Foto: Wolfgang Behrendt

14 Jahre zog Gisela May in „Mutter Courage und ihre Kinder“ den Karren der Marketenderin über die Bühne des BE. 1978 hatte Helene Weigel ihre Paraderolle der Courage an Gisela May abgegeben. Ihr Respekt vor der Figur, die mit der Weigel über die Jahrzehnte verschmolzen war, ließ die inzwischen erfahrene Brecht-Schauspielerin beim Proben ungewollt die Weigel kopieren. „Ich erwischte mich dabei, dass ich sogar ihren Wiener Dialekt annahm.“
Sie musste sich befreien, eine eigene Sicht finden. Während Helene Weigel die mütterliche Seite der Courage hervorhob, ging es Gisela May um die Widersprüchlichkeit, die in der Figur der Marketenderin lag. Sie lebte davon, mit ihrem Karren voller Zeug den Tross der Soldaten zu begleiten und begriff nicht, dass es der Krieg war, der ihr die Söhne nahm. Es wurde für Gisela May die liebste und zugleich schwerste Rolle. Sie hat sie mit Charme, Witz und auch Härte geprägt.

Gisela May ließ sich in kein Schubfach stecken. Brecht war zwar die wichtigste, aber nur eine Seite ihrer Arbeit als Schauspielerin und Diseuse. Am Metropol Theater gab sie mit Bravour die Dolly in „Hello, Dolly“, stand in den heiteren Silversterschwänken „Drei reizende Schwestern“ vor der Kamera des Deutschen Fernsehfunks, unterhielt von 1984 bis 1989 als Gastgeberin in der musikalischen Fernsehreihe „Die Pfundgrube“ die Zuschauer. Sie sang auch Lieder junger unbekannter DDR-Poeten, die sie extra vertonen ließ.

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Erinnerungen an ein wundervolles, aufregendes Leben. Militzke Verlag 2002

Ihre Karriere als Diseuse lief parallel zu ihrer Schauspielarbeit am Theater, bei Funk und Fernsehen. Die ersten Angebote für Auslandsgastspiele waren bald nach ihren Auftritten in den beiden Matineen mit Ernst Busch gekommen. Aus Brüssel, Amsterdam und Mailand. Paolo Grassi, Direktor des Piccolo Teatros lud sie zu einem Brecht-Soloabend ein. Nach einem halben Jahr anstrengender Arbeit stand das Programm und wurde ein Riesenerfolg. Das Publikum rief „bis, bis“. Was soviel wie da capo bedeutete, von der Sängerin doch zunächst missverstanden wurde. Sie meinte Biest verstanden zu haben, ihre Dolmetscherin klärte sie auf. Milano war die Startrampe für die nun folgende internationale Karriere, die sie quer durch Europa, die USA und Australien führte. Politischer Höhepunkt ihres ersten Amerika-Gastspiels war ein zusätzliches Brecht-Programm vor den UNO-Delegierten in New York, denn die DDR gehörte damals noch nicht zu den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Sie sang das „Friedenslied“ von Brecht/Eisler, das von einem ergriffenen Auditorium mit demonstrativem Beifall bedacht wurde. „Selten spürte ich eine solche Übereinstimmung zwischen politisch-künstlerischer Absicht und unmittelbarer Wirkung“, erinnert sie sich in ihrem Buch.

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Porträt 1998. Foto Silke Reents

Dann kam 1989 die politische Wende in der DDR, 1990 der Beitritt zur BRD. Und am Berliner Ensemble hatte eine neue Intendanz das Sagen. Wie überall wurde Altes abgekippt. Brecht und seine Philosophie, mit dem Theater eine humanistische Weltsicht zu verbreiten, wollte man nicht mehr. Viele wichtigen Schauspieler wurden entlassen. Innerhalb von fünf Minuten erhielt Gisela May 1992 ihre Kündigung. Nach dem ersten Schock hat sie nach Möglichkeiten gesucht, etwas zu tun. Dachte daran, in ein Krankenhaus zu gehen, die Patienten zu unterhalten. Das kannte sie ja aus ihrer Jugend, als sie in Lazaretten auftrat. Aber es kam ein Rollenangebot von Renaissance-Theater. Sie nahm einen Lehrauftrag an der Franz-Liszt-Musikhochschule Weimar an, wurde im In- und Ausland gefragte Dozentin bei Meisterkursen und Workshops.

1993 kam eine Fernsehanfrage. Man bot ihr eine Rolle in der satirischen ARD-Krimireihe „Adelheid und ihre Mörder“ mit Evelyn Hamann an. Sie sagte zu. Immer offen für Neues, fand sie an dieser „Brotarbeit“, wie sie es formulierte, bald Gefallen. Bis 2003 spielte sie die „Muddi“ der Titelheldin. Dieses wundersame Mutter-Tochter-Gespann lebte vom Witz der beiden Actricen. Die Serie erlangte Kultstatus. Nun wurde Gisela May auch dem westdeutschen Publikum ein Begriff. Von dem bis heute kaum jemand weiß, dass die „Muddi von Adelheid“ fünf Jahrzehnte eine Diseuse und Brecht-Interpretin mit Weltruf war; die über 40 Schallplatten, CDs und Hörbücher aufgenommen hat. Am Ende unseres amüsanten und langen Gesprächs signierte mir Gisela May trotz ihres schlechten Augenlichts ihr Buch.img_6510-2

Hilmar Thate – Ein Guerillero auf der Suche

„Die Zeit ist unerbittlich und läuft immer schneller, merkwürdigerweise. Man muss das akzeptieren. Man kann nicht unentwegt darüber sinnieren, wie viel einem noch bleibt. Das sind die großen Ungewissheiten im Leben.“

So begann mein erstes Interview vor 15 Jahren mit Hilmar Thate. Sein 70. Geburtstag hat uns damals zu einem sehr langen philosophischen Gespräch über das Leben veranlasst, das ihn wie auf einer Achterbahn rauf und runter schickte. Wir redeten darüber, welchen Sinn alles Geschehene gemacht hat. Ich weiß es noch wie heute: Mit meinem PC bin ich zu ihm nach Charlottenburg gefahren, und wir haben die Gedanken sortiert, an Fragen und Antworten gefeilt. Es war uns wichtig, dass es genau wird und einen Humor hat. Es machte großen Spaß. Der zierliche Mann mit der strubbligen Punk-Frisur, die ihm die Natur geschenkt hat, ist ein sehr witziger Mensch. Unter der Überschrift „Ich bin ein Guerillero“ erschien es am 17. April 2001 in der „Morgenpost“.

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In seinem Lieblingsitaliener stoßen wir 2006 auf seinen 75. Geburtstag an. Foto: Yorck Maecke

Damals begannen wir uns gut leiden zu können und legten das Fundament Vertrauen für spätere Begegnungen, an deren Ende ein Interview stand. An besonderen Geburtstagen waren sie gesetzt. Nur in diesem Jahr, zu seinem 85., musste die Plauderei, der Rückblick mit neuen Erkenntnissen ausfallen. „Es geht nicht“, sagt Angelica Domröse, die nur knapp zwei Wochen zuvor, am 4. April, ihren 75. Geburtstag beging. „Wir sind nicht auf der Höhe.“ Mehr ist von ihr nicht zu erfahren.

Seit 40 Jahren geht das Paar zusammen durchs Leben. Nicht ohne große Krisen, an denen ihre Beziehung jedoch nicht gescheitert ist. Im Gegenteil. „Wir haben uns geschützt und gestützt. Es ging um mehr als unsere Liebe. Die Ereignisse nach dem Verlassen der DDR haben uns vor eine ganze Problemserie gestellt. Ihre Bewältigung hat uns zu einem großen Bündnis gemacht“, beschreibt es Hilmar Thate. In diesem Bündnis ist es jetzt Angelica Domröse, die ihn, ihre  Lebensliebe schützt und stützt. Zuletzt trafen wir uns 2013 zur Premiere der Filmkomödie „Hinterm Horizont, dann links!“ über den Aufstand einer Seniorengruppe mit einer sehr aufmüpfigen Angelica. Er wirkte zerbrechlich, aber es war Freude in seinen Augen.

8. Preisverleihung der DEFA Stiftung
Angelica Domröse und Hilmar Thate vor dem Kino Babylon zur Preisverleihung der DEFA Stiftung 2008. Foto: André Kowalski

Gespräche mit Hilmar Thate haben mich immer bereichert. Ich profitierte von der Tiefgründigkeit seiner Gedanken, der Weisheit, seiner Suche nach dem Sinn des Daseins der Menschheit seit dem Urknall „Gegen Erdbeben ist kein Kraut gewachsen. Aber was an technischem Unfug gemacht wird, ohne die Risiken zu bedenken, grenzt an Lebensmüdigkeit.“ Thate hat sich und sein künstlerisches Tun stets in Beziehung zur Welt gesetzt. So erlernt bei Brecht am Berliner Ensemble, dem er zehn Jahre angehört hat, und mit dem er um die Welt reiste als Givola in „Arturo Ui“ (1959) oder als Aufidius in „Coriolan“. In der Erinnerung an diese Zeit schwärmt er von Helene Weigel, der Prinzipalin. „Unser Verhältnis entwickelte sich allmählich. Helli war eine Urwienierin, mit Schmäh und Verspieltheit. Sie kochte vorzüglich. Wir spielten zusammen in Mutter Courage, Coriolan, Frau Flinz. Eine grandiose Schauspielerin! Ihre Schützlinge hat sie umsorgt und war außerdem eine Frau mit Geschmack und großem ästhetischen Feingefühl. Das übertrug sich besonders auf uns junge Schauspieler. Angelica, die 1960 kam, hat ihr die Leidenschaft für Antiquitäten zu verdanken.“

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Hilmar Thate in„Wahlverwandtschaften“, 1974 Foto:  DEFA/Goldmann (Repro aus Thates Autobiografie „Neulich , als ich noch Kind war“)

In den vergangenen sechs Jahrzehnten deutscher Theater- und Filmgeschichte hat Hilmar Thate eine kräftige Spur hinterlassen mit seinen markanten Interpretationen  von Gestalten wie Shakespeares „Richard III.“ ( 1972),  Galy Gay in Bertolt Brechts „Mann ist Mann“ (1969) oder auch dem LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ (1976, DDR-Fernsehen). Seine letzte Rolle vor der Kamera ist der Komponist Hanns Broch in dem Drama „Hitlerkantate“ (2004), in dem es letztlich um die Frage geht, welche Verantwortung ein Einzelner für den Gang der Geschichte trägt. Welche Rolle dem Künstler in der Gesellschaft zukommt. Für Thate heißt künstlerische Auseinandersetzung, „wach zu sein, neugierig, hirnfähig, das mit zu verarbeiten, was ich erlebe. Doch nicht vordergründig.“

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Baby Hilmar 1932, Foto: privat

Thate kam am 17. April 1931 in Dölau zur Welt. Der Vater war Lokomotivbauer und darüber hinaus ein Musenmensch. Er mochte Wagner, Verdi, sang und hatte immer die Sehnsucht, mehr wissen zu wollen. Diesen Drang gab er an seine drei Kinder weiter. Hilmar, der sich sehr früh für Literatur interessierte, entdeckte bald den Reiz des Theaters für sich. „Ich war ein Dörfler und wollte immer die Welt hinter Dölau kennenlernen. Das Theater hatte für mich eine höchste Merkwürdigkeit. Schauspieler waren für mich besondere Menschen. Auf der Straße habe ich ihnen immer hinterher geguckt. Über die Staunerei fühlte ich mich herausgefordert, das auch zu schaffen.“

An der Staatlichen Hochschule für Theater und Musik Halle wurde der Grundstein gelegt. 1949, mit Achtzehn, stand der Dorfjunge in Cottbus auf der Bühne. Der Oberspielleiter Hans Albert Schewe erkannte sein Potenzial und schickte ihn zu Brecht nach Berlin. Diese Begegnung gehört zu den nachhaltigsten Höhepunkten in Thates Leben. „Ich saß in Brechts Wohnung in Weißensee. Er unterhielt sich eine Stunde mit mir, und wir vereinbarten für den nächsten Tag einen Vorsprechtermin. Helene Weigel, die Prinzipalin und hochgeschätzte Schauspielerin, lehnte ihn ab. „Geh, Buberl, lern’, erst ’mal sprechen“, sagte sie ihm. Er sah sich noch Mutter Courage im Theater an und fuhr dann kleinlaut nach Cottbus zurück.

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Porträt von 1949. Foto privat

Zweifel nagten, er wollte den Beruf aufgeben. Doch was dann? – Thate ging nach Berlin zurück. Seine Schule wurden das Theater der Freundschaft und das Gorki Theater. „Es war generell in meinem Leben immer eine Angststufe zu überwinden, eine sehr hohe Hürde, um dann loszulegen“ sagte im Interview 60 Jahre später. 1959, zwei Jahre nach Brechts Tod, schaffte er es, die Weigel zu überzeugen, dass er bei ihr spielen kann. Die Zeit am Berliner Ensemble prägte ihn entscheidend. Dennoch verließ er das BE 1970. „Das Theater war in seiner Weltberühmtheit erstarrt und fing an, sich selbst zu zitieren. Meine Hoffnung auf ein Team, einer Denkgemeinsamkeit, auf Übereinstimmung, was Themen betrifft, das hat sich nicht erfüllt. Ich habe mich für die freie Wildbahn entschieden und bin ein Guerillero geblieben.“

Nach einem Intermezzo an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz spielte er ab 1972 am Deutschen Theater, umjubelt als „Richard III“. Wirklich glücklich war er nicht. „Es war kein Haus, das Leute offenherzig aufnahm. Ich wurde nur schwer geduldet“, erinnerte er sich in seinem Rückblick. Aber: „Erfolg und Erfüllung von Sehnsüchten fliegen einem nicht wie gebratene Tauben in den Mund. Es gab mehr Zäsuren, Hochs und Tiefs als ich geahnt habe, mehr Feinde als Freunde. Das gehört zu dem großen Spiel, das da Leben heißt.“

In der DDR feierte Hilmar Thate vor allem auch als Filmschauspieler große Erfolge. Schon 1954 holte Regisseur Wolfgang Staudte den jungen Schauspieler vor die Kamera. „Einmal ist keinmal“  wurde Thates Leinwanddebüt. Er entwickelte sich zu einem erstklassigen Charakterdarsteller und begreift sich als politischer Schauspieler, der seinen Figuren Leidenschaft und Energie verleiht.

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Mit Raimond Schelcher in „Das Lied der Matrosen“ 1958 (Repro aus Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“)

Es sind ausnahmslos jene, die sich  positionieren, meistens fortschrittlich-revolutionär, idealistisch: 1958 im DEFA-Film „Das Lied der Matrosen“, 1960 in „Professor Mamlock“, 1974 in Goethes „Wahlverwandtschaften“, 1976 den LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ im gleichnamigen TV-Fünfteiler. Für diese Rolle wurde er mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Später, im Westen, fasziniert er auch auf der Seite des Bösen. Er verleiht dem Kindermörder im Tatort „Ein mörderisches Märchen“ eine menschliche Gestalt voller Widersprüche wie auch dem Zuhälter in der TV-Serie „Der König von St. Pauli“. Thate ist der Mephisto, nie der Faust. Er sagt dazu: „Mich fasziniert die Kraft, ,die stets das Böse will und stets Gutes schafft’, von der Mehrdeutigkeit, die in diesem Gedanken steckt, mal ganz abgesehen.“

Das Jahr 1976 war auch das Schicksalsjahr für Hilmar Thate und Angelica Domröse. Im Juli heirateten sie. Das gehört zu den schönen Ereignissen. Die schlimmen folgten, nachdem sie die Petition kritischer DDR-Künstler gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann unterzeichnet hatten. „Es ging uns nicht um die Person. Aber man kann nicht einen rausschmeißen und Tausende nicht rauslassen. Deshalb haben wir das gemacht.“ Man hat sie bedrängt, ihre Unterschrift zurückzunehmen. Die Oberen der DDR wollten das bekannte Schauspielerpaar nicht verlieren. Der Chefideologe Kurt Hager selbst bemühte sich um sie. Als man merkte, dass sie nicht widerrufen würden, kam die Strafe. Die Theater versagten Hilmar Thate Rollen, auch Filmangebote bekam er nicht mehr. Der Fernsehfilm „Fleur Lafontaine“ 1978 war für ihn die letzte Arbeit in der DDR.

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1978 in „Fleur Lafontaine“ mit seiner Frau Angelica (Repro aus  Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“)

„Es war nicht unser Trachten, die DDR zu verlassen. Weder Angelica noch ich mochten das kapitalorientierte System im Westen. Aber man hatte uns die Existenzgrundlage genommen, und wir wollten uns nicht verbiegen lassen. Wir waren genötigt, eine Entscheidung zu treffen.“ 1980 siedelten sie nach Westberlin über. Das Eingewöhnen war schwer, die Arbeit half. Beide hatten Glück. Hilmar Thate wurde am Schillertheater engagiert, brillierte gleich in „Jeder stirbt für sich allein“, Angelica drehte „Don Quichottes Kinder“. Sie bauten sich ein neues Leben auf. Und sie stehen viel zusammen auf der Bühne. Am Schlosspark-Theater in „Virginia Woolf“ oder in George Taboris Inszenierung „Stalin“ 1988. ein Zwei-Personen-Stück von Gaston Salvatore. Tabori besetzte Angelica Domröse in der Titelrolle, Thate spielte den jüdischen Schauspieler, der als Spielball für den Diktator herhalten muss. Das ungleiche Duell zweier hochintelligenter Männer trieb die Spiellust der Beiden zur Grandiosität. „Diese Arbeit gehört durch den hohen Grad ihrer Ungewöhnlichkeit zu den wertvollsten in meinem Theaterleben“, resümiert Thate in seiner Autobiografie.

Thate arbeitete unter Regie-Größen wie George Tabori, Peter Zadek, Ingmar Bergman unter anderem in Wien und Salzburg. Mit Rainer Werner Fassbinder drehte er „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ und ist den Fernsehzuschauern im Westen als schillernder Bordellbesitzer Rudi Kranzow in Dieter Wedels Fernsehserie „Der König von St. Pauli“ bekannt geworden. 2004 stand er für den Film „Hitlerkantate“ das letzte Mal vor der Kamera. Es lag an den Angeboten. Er mochte sie nicht spielen. Es sind nun mehr seine Soloauftritte mit Liedern und Texten von Brecht und Weill oder Lesungen aus seiner 2006 erschienenen Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“, mit dem er seine Freude an Auftritten vor Publikum stillt.

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Die Autobiografie erschien 2006

Zu seinem 80. Geburtstag  2011 habe ich ihn gefragt, was ihn noch vorwärts treibt. Er antwortete: „Das Denken. Wenn das vorbei ist, bin ich tot. Im Spiel des Lebens haben wir nicht die Hauptrolle und schon gar nicht für ewig. Aber so lange ich existiere und atmen kann, neugierig bin, habe ich diese heilige Unruhe in mir, weiterzudenken, weiterzudrängen, in Frage zu stellen oder zu verändern. Ich liebe Veränderungen.

Thate 2011 zu Fragen seines Lebens

Erstaunt es Sie, so alt zu sein?
Ja. Ich habe nie gedacht, dass ich mal diesen Geburtstag erlebe. Ganz lange Zeit war ich immer der Jüngste, jetzt bin ich plötzlich einer der Ältesten. Das ist komisch. Es ist ein gewisser Glückszustand, dass ich mich fühle wie jetzt. Man merkt natürlich, dass die Energie kürzer zu fassen ist, dass man eher ermüdet. Aber man muss sich diesen Zustand an die Brust ziehen und sagen: Sei mein!

Was, wenn’s mal anders wird?
Ich möchte nie nicht lebend ein Elend ertragen. Meinem Hausarzt und Freund habe ich gesagt: „Wenn ich in einer dreckigen Situation bin, halt den Schierlingsbecher bereit.“

War der Gang in den Westen nicht eine Befreiung von Zwängen, wenn auch unfreiwillig?
Aber ja. Du kannst Leute nicht unentwegt abgrenzen, ohne dass sie dabei Schaden nehmen. Wir müssen die Welt in Gänze wahrnehmen können. Sonst wird man unfähig, mit Realität umzugehen. Das ist in der DDR leider passiert. Ich habe als positiv angenommen, dass ich die Welt sehen konnte, Leute wie Rainer Werner Fassbinder, Rosl Zech und Ingmar Bergman kennenlernte. Andererseits ist die Freiheit hier, auch nicht der letzte Schrei. Wir sind ebenso Zwängen unterworfen. Nur wie die Goldfische in der Flasche merken wir nicht, dass es keine Freiheit ist, sondern eine große Flasche.

Dahinter steckt aber viel Ironie.
Ja, natürlich. Sonst hätte ich keine Freunde. Und ich habe wirklich Freunde.

Was würden Sie anders machen, wären Sie noch mal jung?
Ich habe neulich erst gedacht, dass ich heute wahrscheinlich nicht mehr in diesen Beruf gehen würde. Theater war immer ein Seismograph für die Befindlichkeit der Gesellschaft. Heute stehen Schauspieler aufgereiht an der Rampe mit einem Fragezeichen über dem Bauch. Und gestellt wird auch nur die Bauchfrage – die keineswegs abendfüllend ist: Wer bin ich? Ohne Beziehung zur Welt, deren Gefährlichkeit, deren sozialen Verwerfungen. Theater ist abgesackt in die Beliebigkeit. Es kommt nicht mehr zu dem, was wir uns leisten konnten – über eine Theorie, ein Modell nachzudenken. Da war übrigens das weltberühmte Berliner Ensemble in der DDR eine Enklave.

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Repro aus der Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“

Das heutige Theater liegt nicht mehr auf Ihrer Wellenlänge?
So ist es. Ich will nicht mehr Theater spielen. Wirkliche Ensemblearbeit gibt es nicht mehr, jeder bewegt sich gegen jeden. Wie in der Gesellschaft. Es müsste eine ganz neue Denkweise einsetzen, um etwas zu verändern. Ich trete gern auf, aber allein. Singe meine Lieder, lese Brecht oder aus meinem eigenen Buch. Das macht mir Spaß. Und es gefällt dem Publikum, das gern Frage- und Antwortspiel treibt

Der gelernte DDR-Bürger hat sich gemeinhin für einen politischen Menschen gehalten.
Wir waren vermeintlich politisch. Genau genommen waren wir aber Duckmäuser, haben uns mit einer gewissen niedrigen Anspruchsweise identifiziert. Sonst hätten wir etwas getan. Die DDR und der Westen hatten einiges gemeinsam – das deutsche Kleinbürgertum. Das hat es immer gegeben. Hüben wie drüben.

Der sozialistische Gesellschaft war eine Utopie. 
Wir Menschen brauchen Utopien, Träume, Hoffnungen. Die DDR ist ja nicht vom Himmel gefallen. Es war ja ein Ereignis, das historisch entstanden ist. Das wird nie erwähnt. Für mich war das Land lange Zeit ein historisches gesellschaftliches Experiment. Etwas Neues nach dem fürchterlichen Krieg.Ohne Wirtschaftswunder. Durch Verkrustung und Verfilzung mutierte die DDR zu einem kleinbürgerlichen Laubenpiepergebilde. doch der Marxismus ist nach wie vor eine Denkleistung, die nicht einfach in den Wind gehauen werden kann.

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Angelica Domröse, 2009. Foto: Jürgen Weyrich

Seit 1976 sind Sie mit Angelica Domröse verheiratet. Eine so lange Ehe ist unter Schauspielern nicht die Norm. Worin liegt Ihr Geheimnis?
Wir haben immer wieder entdeckt, dass wir uns doch wichtiger sind, wesentlicher als die Alternativen. Ich habe für mich keinen wesentlicheren Menschen gefunden. Und sie wohl auch nicht.

Sind Sie sich eigentlich sehr ähnlich?
Ja, was den künstlerischen und Lebensanspruch betrifft. Und in den Gefühlen liegen wir auf fast gleichem Niveau.

Was unterscheidet Sie?
Ich bin radikaler als Angelica. Ich habe erfahren müssen, dass Frauen praktischer sind als Männer, und in dem Sinn auch intelligenter. Sie durchschauen schneller als wir. Männer – nicht alle natürlich – neigen zur Spinnerei.

Halten Sie sich für einen erotischen Mann?
Na und ob! Meine Schärfe hat etwas mit der Gegenseite der Medaille zu tun, mit meiner Liebesfähigkeit. Weil ich eigentlich Innigkeit suche. Ich umarme gern, will Neigung spüren. Wenn ich Angelica in den Arm nehme, ist sie glücklich. Wir gehen gern Hand in Hand.

Was brauchen Sie, um glücklich zu sein?
Ich vertrage keinen Ärger mehr, keine Reizungen. Ich brauche gute Laune, Spaß. Früher konnte ich sehr böse werden, ich war jähzornig. Das ist einer Grundfreundlichkeit gewichen, weil ich gemerkt habe, dass es mir damit körperlich besser geht. Schlicht und einfach. Der Kreislauf sackt bei mir sofort ab, wenn ich schlechte Laune habe. Das ist für mich ein Maßstab geworden für Lebenshaltung.

Verspüren Sie Angst vor dem Tod?
Schiller hat mal gesagt: Der Körper ist der Attentäter des Geistes. Und das ist er in der Tat. Es gibt im Tod eine Trennung von Geist und Körper. Der Körper ist hinfällig, wird der Natur überlassen. Der Geist ist nichts Greifbares. Er ist Energie. Energie geht nicht verloren, sie hebt sich auf, verändert sich. Ich habe in diesem Sinn keine Angst. Schiller hat ja auch poetisiert Freude schöner Götterfunken…

 

 

Von Brecht bis C. U. Wiesner – zum Tod von Stefan Lisewski

Es macht traurig. Schauspieler Stefan Lisewski ist tot. Er starb am 26. Februar im Alter von 82 Jahren. Unerwartet für alle. Ich habe ihn weniger auf der Bühne des Berliner Ensembles erlebt, wo er in nahezu allen Brecht-Stücken Hauptrollen spielte, als vielmehr in zahlreichen DEFA- und Fernsehfilmen. Rothaarig, sportliche 1,90 Meter hochgewachsen und mit einer einprägsamen, ausdrucksstarken Stimme, war er ein besonderer Typ. Überzeugend in seinen künstlerischen Darstellungen und von Kollegen, insbesondere Filmpartnerinnen, zudem wegen seiner humorvollen Art, seiner Jungenhaftigkeit besonders gemocht. „Mit ihm zu drehen war stets ein Vergnügen“, erinnerte sich Annekathrin Bürger in einem unserer vielen Interviews. In den Erinnerungen an ihren ersten Film „Verwirrung der Liebe“ (1959) verriet mir Angelica Domröse, dass ihr Stefan Lisewski imponiert habe. „Er hat am BE gespielt!“

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Stefan Lisewski 2009 beim Filmtreff in Quedlinburg c/o Hans-Jürgen Furcht

Da, wo sie hin wollte, gehörte Lisewski von 1957 an zu den wichtigsten Schauspielern. Mit der Übernahme der Intendanz des BE durch Claus Peymann 1999 schied er – inzwischen 65 Jahre – aus dem Ensemble aus. Doch er blieb dem Theater bis zu seinem Tod verbunden. Mehr als 500 Mal hat er als Mackie Messer in der „Dreigroschenoper“ das Publikum im Theater am Schiffbauerdamm und bei Auslandsgastspielen wie in Griechenland und Italien begeistert. Man sah den Charakterdarsteller in „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Die Gewehre der Frau Carrar“, in „Das Leben des Galiliei“, „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ oder im „ Kaukasischen Kreidekreis“. Noch am 21. Februar verkörperte er den Dogsborough in Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Weit mehr als 300 Mal stand er in dieser Rolle in der Inszenierung von Heiner Müller seit der Premiere 1995 auf der Bühne.

Ursprünglich war das Theater, die Schauspielerei nicht Lisewskis Lebensziel. Geboren am 6. Juli 1933 im polnischen Tczew (Dirschau), war er, elfjährig, mit seiner Familie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wie viele deutsche Umsiedler aus Pommern in Schwerin gelandet. Als Statist am Theater frönte er schon als Schüler seiner Leidenschaft fürs Schauspielen. Als ernsthaften Beruf für sich sah er das aber nicht. Er wollte Hütteningenieur werden und bewarb sich nach dem Abitur an der Bergakademie Freiberg. Doch die Lust zum Spielen war stärker, und so sprach er an der Berliner Schauspielschule vor – und wurde abgelehnt. Er ging als Praktikant ins Schwermaschinen-Kombinat Magdeburg und arbeitete dort am Schmelzofen.

Die Bühne lockte den damals 20-Jährigen jedoch sehr. Immer wieder übernahm er am Theater der Stadt Komparsenrollen und startete 1955 einen neuen Versuch an der Berliner Schauspielschule. Es klappte. Sein zweieinhalbjähriges Studium schloss er 1957 während der Dreharbeiten zu seinem ersten Film, „Das Lied der Matrosen“, ab und erlangte anschließend ein Engagement am Berliner Brecht-Ensemble. Er hat noch mit Helene Weigel und Ernst Busch zusammen gearbeitet und war sehr dankbar für die großartige Zeit, die ihn über die Grenze der DDR hinaus in die ganze Welt geführt hat, wie er in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag sagte.

Ich weiß nicht mehr, in welchem Film ich Stefan Lisewski zum ersten Mal gesehen habe. Es könnte „Das Lied der Matrosen“, der Musikfilm „Eine Hand voll Noten“ oder „Maibowle“ gewesen sein. Mittags, in einer der Halbzwei-Uhr-Testsendungen des DDR-Fernsehens in den 60er Jahren. Vielleicht war es auch „Die Jagd nach dem Stiefel“, ein Kinderfilm von Konrad Petzold, oder „Chronik eines Mordes“.

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Jedenfalls hat er sich mir eingeprägt. Sein Gesicht, seine Stimme, die ich sofort im Ohr habe, wenn ich den Namen höre oder lese. Auch Szenen, wie die mit Hildegard Alex beim Versuch zusammen in eine Badewanne zu steigen. Was praktisch ein Ding der Unmöglichkeit war, denn der Einsneunzig-Mann passte ja allein schon kaum hinein. „Wir hatten viel Spaß beim Probieren, wie das gehen soll“, erzählte mir Hilde Alex, als ich ihr meine Erinnerung einmal schilderte. Ich glaube, die Fernseh-Reihe hieß „Rund um die Uhr“. Das Komödiantische war die andere Seite des Charakterdarstellers, die populäre, die ihn beim Publikum so beliebt machte.

In den 70er und 80er Jahren hat der Schauspieler das Filmen zugunsten des Theaters zurückgefahren und sich mehr oder weniger auf Rollen in Kinderfilmen beschränkt. Diese Arbeit machte dem zweifachen Vater und Großvater sehr viel Freude. Regisseur Günter Meyer fand in dem Hünen die ideale Besetzung für den Riesen Otto in seiner Fernsehserie „Spuk unterm Riesenrad“, Drehbuch „Eulenspiegel“-Autor C. U. Wiesner.

Spuk unterm Riesenrad
Die Autorin mit Stefan Lisewski (M) im August 2013 im Treptower Park sowie mit Regisseur Günter Meyer (r.) und den Filmkindern Katrin Raukopf (2.v.r.) und Henning Lehmbäcker. c/o Boris Trenkel

Ihr verdanke ich, dass ich Stefan Lisewski im August 2013 persönlich kennenlernen durfte. Natürlich im Treptower Park unterm Riesenrad. Sein voller roter Haarschopf war ergraut, und es ging dem Schauspieler auch nicht gut. Er kämpfte mit Atemnot, aber seinen Humor hatte er nicht verloren. An den Film hatte er glänzende Erinnerungen. „Der ist losgegangen wie eine Rakete. Und geht es noch. Als ich jetzt längere Zeit im Krankenhaus war, haben mich die Schwestern kurz vor der OP gefragt: „Sind Sie nicht der Riese?“ – Erwachsene Leute, die damals Kinder waren. Es war ja auch eine tolle Geschichte dadurch, dass die uralten Märchenfiguren mit dem prallen Leben der DDR konfrontiert wurden. Daraus ergab sich wundervoll Satirisches. Wenn man älter wird und mal Revue passieren lässt, was man so gemacht hat, gehört das mit zu den schönsten Arbeits- und Urlaubserlebnissen, die ich hatte. Wir haben im Harz gedreht, auf der Burg Falkenstein. Wir haben an der Rappbodetalsperre gewohnt. Das war toll. Und wenn wir nachts gedreht haben, sind wir früh zu einem Bauern gefahren und haben warme Milch getrunken.“

Es war so einiges passiert bei den Dreharbeiten, das ihm im Nachhinein ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte. „Auf dem Hexentanzplatz sollte ich auf ein fahrendes Auto springen. Das hat meinen sportlichen Ehrgeiz angestachelt. Aber es real zu versuchen, wäre dann doch zu gefährlich gewesen. Deshalb wurde es am Schneidetisch geschickt zusammenmontiert.“ Für die Anfangsszenen, in denen der Riese groß ist, hatte Stefan Lisewski bei einem Artisten Stelzen laufen gelernt. „Günter Meyer fand mich mit meinen 1,88 noch zu klein als Riese. Ich musste auf einen Stuhl steigen, damit er sehen konnte, wie das mit Stelzen sein würde.“

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Die Geister in der Spree. Szene aus der Serie „Spuk unterm Riesenrad“

Dass er bei der Flucht der Geister mit Boot auf der Spree einen Moment Todesangst hatte, ist auch so eine Geschichte. In der Hektik, die Szene noch vor Sonnenuntergang „in den Kasten“ zu kriegen, hatte niemand an die Eisengewichte in dem Ruderboot gedacht, die als Lastenausgleich für die Schauspieler, insbesondere den schweren Stefan Lisewski, in den Bug gelegt worden waren. Als das im Film nicht zu sehende Motorboot den Geisterkahn am Schlepptau in Bewegung setzte, neigte sich plötzlich der Bug des Ruderboots gen Wasser, immer tiefer, bis es schließlich versank – und mit ihm die Geister. „Ich hatte einen schweren Schafspelz an, der sich voll Wasser sog. Katja Paryla, die Hexe, und Siegfried Seibt, Rumpi, konnten ja schwimmen in ihren Sachen, ich nicht. Da war mir schon komisch, bis ich merkte, ich habe Boden unter den Füßen. Wir standen auf einer Sandbank mitten in der Spree.“ Mit seinem trockenen Witz würzte er als Hausmeister den „Spuk im Hochhaus“ und wirkte als Graf Bärenfels auch in der Serie „Spuk von draußen“ mit.

Für das Berliner Ensemble werden die Inszenierungen mit Stefan Lisewski wichtige Abschnitte in der Geschichte des Theaters sein. In seinen großen wie kleinen Filmrollen wird er lebendig bleiben, sich den vielleicht auch nachfolgenden Generationen einprägen.