Die einen sehen ihn als aufmüpfigen LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ (DDR-TV-Serie 1976), die anderen behalten ihn als „König von St. Pauli“ (ARD-TV-Serie 1997), den menschelnden Besitzer des Striptease-Lokals „Blaue Banane“ auf St. Pauli, in Erinnerung. Zwei Rollen, die Hilmar Thate populär gemacht haben – auf konträre Weise in konträren Gesellschaften. In diesen hinterließ er ebenso nachhaltige Spuren auf dem Theater: in Berlin – Ost und West –, München, Hamburg, Bochum, Wien, Basel… Wenn er auf der Bühne stand, war es wie ein Sog, mit dem er die Zuschauer schier atemlos hielt. Herausragend sein Spiel als „Richard III.“ 1972 am Deutschen Theater oder als Mephisto 1990 in der „Faust“-Inszenierung des Schillertheaters.
Mit Hilmar Thate 2006. Foto: York Maecke
Für mich war Hilmar Thate mehr als nur der brillante Schauspieler. Er war seit 2006, als wir uns für ein Interview trafen und sofort einen Draht zueinander fanden, ein Freund und ein wundervoller Gesprächspartner. Neben dem Ernst der Sache, wenn wir diskutierten über die Belange des Lebens, Politik und was uns bewegte, beim Blick auf die Welt, haben wir viel gelacht. Schon am Mittwoch, es war der 14. September, hat Hilmar Thate dieses Leben verlassen. Er war 85 Jahre alt geworden. Zurück bleiben seine Frau Angelica Domröse sowie seine Söhne Hanno und Sebastian.
Vor dem Kino Babylon mit seiner Frau Angelica 2009 Foto: André Kowalski
Er hat dieses Lebenverlassen – es so zu formulieren, ist legitim. „Unsere Existenz ist ein Kreislauf. Wir haben als kleine Elementarteilchen schon beim sogenannten Urknall existiert. Ich kann mich nicht mit der Erde zufrieden geben“, philosophierte er einmal, als er gerade Stephen Hawkins Buch „Der große Wurf. Die neue Erklärung des Universums“ las.
Ich habe ihn mal gefragt, ob der Tod ihm Angst mache, und er antworte mit Schiller: „Der Körper ist der Attentäter des Geistes. – Und das ist er in der Tat. Es gibt im Tod eine Trennung von Geist und Körper. Der Körper ist hinfällig, wird der Natur überlassen. Der Geist ist nichts Greifbares. Er ist Energie. Energie geht nicht verloren, sie hebt sich auf, verändert sich. Ich habe in diesem Sinn keine Angst.“
Faksimile aus Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“, Lübbe 2006
Es war mir unvorstellbar, dass etwas seinen regen Geist, der so tiefgründige Gedanken hervorbrachte, auslöschen könnte. Es ging ihm schon eine Weile nicht gut, wie ich von Angelica Domröse bei meinen sporadischen Anrufen erfuhr. Als wir Ende Juli telefonierten, erzählte sie: „Er geht nicht mehr ans Telefon, aber ich frage ihn, ob er dich sprechen möchte.“ Er wollte nicht. Und wir hatten oft und lange miteinander telefoniert. „Die Krankheit schlich sich langsam ein, über drei, vier Jahre“, sagte sie.
Mit Manfred Krug 1976 in „Daniel Druskat“, Repro aus „Neulich, als ich noch Kind war“
Und so lange ist auch mein letztes Interview mit ihm her. Damals fragte ich ihn, was ihn in seinem Alter – er war gerade 80 geworden – noch vorwärts treibe. „Das Denken“, antwortete er. „Wenn das vorbei ist, bin ich tot. Im Spiel des Lebens haben wir nicht die Hauptrolle und schon gar nicht für ewig. Aber so lange ich existiere und atmen kann, neugierig bin, habe ich diese heilige Unruhe in mir, weiterzudenken, weiterzudrängen, in Frage zu stellen oder zu verändern. Ich liebe Veränderungen.“
Zeit seines Lebens suchte er nach dem Sinn seines Daseins. „Ich weiß nicht, warum ich hier bin, ich weiß nur, dass es anfängt und wieder aufhört irgendwann. Dazwischen passieren lustige Erlebnisse, schöne Dinge, reizvolle Zustände. Es gibt Spaß und Schmerz. Das, was man Leben nennt.“ Er wollte nie lebend ein Elend ertragen und musste doch machtlos hinnehmen, dass ihn sein Körper verriet. Dass das Denken aufhörte. Angelica Domröse, mit der er 40 Jahre die Höhen und Tiefen ihres gemeinsamen Lebens durchmaß, beschützte ihn, schirmte ihn ab. Sie brachte soviel Kraft auf, wie sie nur konnte, für ein würdiges Dasein in den letzten Monaten.
Beide hatten 1980 die DDR verlassen. Nicht freiwillig. Nach der Unterzeichnung der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 gerieten sie in Konflikte mit dem Staat. Man drängte sie, die Unterschrift zurückzunehmen. Sie taten es nicht. „Wir wurden unserer Existenzgrundlage beraubt, ich bekam keine Rollen mehr. Aber ich bereue meine Unterschrift im Nachhinein nicht eine Sekunde“, stand Hilmar Thate zu der Entscheidung. Es war nicht wegen Biermann, sondern ihr Protest gegen die ideologische Gängelung der Kunst. Hilmar wurde erlaubt, in Basel zu spielen. 1978 am Theatre Nanterrre. Nach der Rückkehr wurde es immer schwieriger für beide Spitzenschauspieler. Ein Angebot vom Schiller-Theater ließ den Gedanken ans Weggehen aufkeimen.
Als George mit Ehefrau Angelica Domröse in der Titelrolle „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Foto: Anneliese Heuer (Repro)
Eine Zerreißsituation, in der sie Rat bei einem guten Freund, dem Schriftsteller Stefan Heym, suchten. „Tut es, ihr gehört auf die Bühne, das ist hier nicht möglich“, riet er ihnen. Hilmar Thate schrieb einen Brief an des Politbüro der SED. „Auf jeden Satz kam es da an. Als ich ihn zur Poststelle des ZK am Hausvogteiplatz brachte, plagte mich eine Beklemmung“, erinnerte er sich, als wir über diese Zeit und ihren Ausreise sprachen. Aber das Angebot, in der DDR wohnen bleiben und dauerhaft im Westen arbeiten, lehnte Hilmar Thate aus moralischen Gründen ab. „Ich komme vom Dorf, mein Vater war Schlosser, ich wollte kein Privilegierter sein.“
1980 siedelten sie nach Westberlin über. „Es gibt keine Rückkehr für euch“, gab ihnen DDR-ChefideologeKurt Hager persönlich mit auf den Weg. „Die Riege der alten Männer an der Spitze der DDR hat mit ihrer kleinbürgerlichen Beschränktheit das Land ruiniert“, war Hilmar Thate überzeugt.
Der zehnjährige Hilmar
Ein neuer Anfang in einer Weltdes Kapitalismus, die eigentlich nicht ihre war. Das Eingewöhnen war schwer, die Arbeit half. Beide hatten Glück. Hilmar Thate wurde am Schillertheater engagiert, brillierte gleich in Peter Zadeks Inszenierung „Jeder stirbt für sich allein“ und zusammen mit Angelica im Schlosspark-Theater als George in Edward Albees († 16.9.2016) Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Sie bauten sich ein neues Leben auf.
Thate hatte über 30 DEFA- und Fernsehfilme in der DDR gedreht, parallel zu seiner Theaterarbeit. 1954 holte Wolfgang Staudte den Schauspieldebütanten vom Cottbuser Theater vor die Kamera für seinen Film „Einmal ist keinmal“. 1958 gelang dem Jungschauspieler, von Helene Weigel ans Berliner Ensemble engagiert zu werden, das er bis 1970 mitgeprägt hat. „Wir traten wie Weltklasseleute auf – und vielleicht waren wir es auch dann und wann“, resümierte er die Zeit und das Theater. Für seine Darstellung des Daniel Druskat bekam er den Nationalpreis der DDR und hat ihn nicht zurückgegeben nach der Wende. Die das taten, waren für ihn Opportunisten. Er hat seine kritische Sicht auf die Gesellschaft auch im Westen behalten und dies auch in seinen Rollen spüren lassen. Er arbeitete unter der Regie von Peter Zadek, Ingmar Bergman und George Tabori, stand für Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Dieter Wedel vor der Kamera. Hilmar Thate war ein leidenschaftlicher Schauspieler, kraftvoll, hochsensibel. „Immer wieder stehe ich vor jeder neuen Rolle wie der Ochs vorm neuen Tor“, beschrieb er seine Arbeit. Er selbst zählte zu seinen schönsten Arbeiten die Rolle des Sportreporters Robert Krohn in Rainer Werner Fassbinders Film „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ an der Seite von Rosel Zech, mit der ihn bis zu ihrem Tod 2011 eine enge Freundschaft verband.
Als Herodot 1949 am Theater Cottbus
Für den Film „Hitlerkantate“ stand Hilmar Thate 2004 das letzte Mal vor der Kamera. Er mochte nicht mehr spielen, was ihm angeboten wurde. Seine unablässige Lust, vor Publikum zu spielen, erfüllte er sich mit Soloauftritten, in denen er Lieder und Texte von Brecht und Weill vortrug oder mit Lesungen aus seiner 2006 erschienenen Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“. Der Dorfjunge, der immer wissen wollte, wie die Welt weitergeht hinter dem Ende von Dölau, hat seine Sehnsucht stillen können. Ob er den Sinn seines Daseins gefunden hat? Jetzt am Ende, wo es aufgehört hat? Als „Sternenasche“, wie er es formulierte, kehrt er zurück in den Kreislauf des Universums.
„Die Zeit ist unerbittlich und läuft immer schneller, merkwürdigerweise. Man muss das akzeptieren. Man kann nicht unentwegt darüber sinnieren, wie viel einem noch bleibt. Das sind die großen Ungewissheiten im Leben.“
So begann mein erstes Interview vor 15 Jahren mit Hilmar Thate. Sein 70. Geburtstag hat uns damals zu einem sehr langen philosophischen Gespräch über das Leben veranlasst, das ihn wie auf einer Achterbahn rauf und runter schickte. Wir redeten darüber, welchen Sinn alles Geschehene gemacht hat. Ich weiß es noch wie heute: Mit meinem PC bin ich zu ihm nach Charlottenburg gefahren, und wir haben die Gedanken sortiert, an Fragen und Antworten gefeilt. Es war uns wichtig, dass es genau wird und einen Humor hat. Es machte großen Spaß. Der zierliche Mann mit der strubbligen Punk-Frisur, die ihm die Natur geschenkt hat, ist ein sehr witziger Mensch. Unter der Überschrift „Ich bin ein Guerillero“ erschien es am 17. April 2001 in der „Morgenpost“.
In seinem Lieblingsitaliener stoßen wir 2006 auf seinen 75. Geburtstag an. Foto: Yorck Maecke
Damals begannen wir uns gut leiden zu können und legten das Fundament Vertrauen für spätere Begegnungen, an deren Ende ein Interview stand. An besonderen Geburtstagen waren sie gesetzt. Nur in diesem Jahr, zu seinem 85., musste die Plauderei, der Rückblick mit neuen Erkenntnissen ausfallen. „Es geht nicht“, sagt Angelica Domröse, die nur knapp zwei Wochen zuvor, am 4. April, ihren 75. Geburtstag beging. „Wir sind nicht auf der Höhe.“ Mehr ist von ihr nicht zu erfahren.
Seit 40 Jahren geht das Paar zusammen durchs Leben. Nicht ohne große Krisen, an denen ihre Beziehung jedoch nicht gescheitert ist. Im Gegenteil. „Wir haben uns geschützt und gestützt. Es ging um mehr als unsere Liebe. Die Ereignisse nach dem Verlassen der DDR haben uns vor eine ganze Problemserie gestellt. Ihre Bewältigung hat uns zu einem großen Bündnis gemacht“, beschreibt es Hilmar Thate. In diesem Bündnis ist es jetzt Angelica Domröse, die ihn, ihre Lebensliebe schützt und stützt. Zuletzt trafen wir uns 2013 zur Premiere der Filmkomödie „Hinterm Horizont, dann links!“ über den Aufstand einer Seniorengruppe mit einer sehr aufmüpfigen Angelica. Er wirkte zerbrechlich, aber es war Freude in seinen Augen.
Angelica Domröse und Hilmar Thate vor dem Kino Babylon zur Preisverleihung der DEFA Stiftung 2008. Foto: André Kowalski
Gespräche mit Hilmar Thate haben mich immer bereichert. Ich profitierte von der Tiefgründigkeit seiner Gedanken, der Weisheit, seiner Suche nach dem Sinn des Daseins der Menschheit seit dem Urknall „Gegen Erdbeben ist kein Kraut gewachsen. Aber was an technischem Unfug gemacht wird, ohne die Risiken zu bedenken, grenzt an Lebensmüdigkeit.“ Thate hat sich und sein künstlerisches Tun stets in Beziehung zur Welt gesetzt. So erlernt bei Brecht am Berliner Ensemble, dem er zehn Jahre angehört hat, und mit dem er um die Welt reiste als Givola in „Arturo Ui“ (1959) oder als Aufidius in „Coriolan“. In der Erinnerung an diese Zeit schwärmt er von Helene Weigel, der Prinzipalin. „Unser Verhältnis entwickelte sich allmählich. Helli war eine Urwienierin, mit Schmäh und Verspieltheit. Sie kochte vorzüglich. Wir spielten zusammen in Mutter Courage, Coriolan, Frau Flinz. Eine grandiose Schauspielerin! Ihre Schützlinge hat sie umsorgt und war außerdem eine Frau mit Geschmack und großem ästhetischen Feingefühl. Das übertrug sich besonders auf uns junge Schauspieler. Angelica, die 1960 kam, hat ihr die Leidenschaft für Antiquitäten zu verdanken.“
Hilmar Thate in„Wahlverwandtschaften“, 1974 Foto: DEFA/Goldmann (Repro aus Thates Autobiografie „Neulich , als ich noch Kind war“)
In den vergangenen sechs Jahrzehnten deutscher Theater- und Filmgeschichte hat Hilmar Thate eine kräftige Spur hinterlassen mit seinen markanten Interpretationen von Gestalten wie Shakespeares „Richard III.“ ( 1972), Galy Gay in Bertolt Brechts „Mann ist Mann“ (1969) oder auch dem LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ (1976, DDR-Fernsehen). Seine letzte Rolle vor der Kamera ist der Komponist Hanns Broch in dem Drama „Hitlerkantate“ (2004), in dem es letztlich um die Frage geht, welche Verantwortung ein Einzelner für den Gang der Geschichte trägt. Welche Rolle dem Künstler in der Gesellschaft zukommt. Für Thate heißt künstlerische Auseinandersetzung, „wach zu sein, neugierig, hirnfähig, das mit zu verarbeiten, was ich erlebe. Doch nicht vordergründig.“
Baby Hilmar 1932, Foto: privat
Thate kam am 17. April 1931 in Dölau zur Welt. Der Vater war Lokomotivbauer und darüber hinaus ein Musenmensch. Er mochte Wagner, Verdi, sang und hatte immer die Sehnsucht, mehr wissen zu wollen. Diesen Drang gab er an seine drei Kinder weiter. Hilmar, der sich sehr früh für Literatur interessierte, entdeckte bald den Reiz des Theaters für sich. „Ich war ein Dörfler und wollte immer die Welt hinter Dölau kennenlernen. Das Theater hatte für mich eine höchste Merkwürdigkeit. Schauspieler waren für mich besondere Menschen. Auf der Straße habe ich ihnen immer hinterher geguckt. Über die Staunerei fühlte ich mich herausgefordert, das auch zu schaffen.“
An der Staatlichen Hochschule für Theater und Musik Halle wurde der Grundstein gelegt. 1949, mit Achtzehn, stand der Dorfjunge in Cottbus auf der Bühne. Der Oberspielleiter Hans Albert Schewe erkannte sein Potenzial und schickte ihn zu Brecht nach Berlin. Diese Begegnung gehört zu den nachhaltigsten Höhepunkten in Thates Leben. „Ich saß in Brechts Wohnung in Weißensee. Er unterhielt sich eine Stunde mit mir, und wir vereinbarten für den nächsten Tag einen Vorsprechtermin. Helene Weigel, die Prinzipalin und hochgeschätzte Schauspielerin, lehnte ihn ab. „Geh, Buberl, lern’, erst ’mal sprechen“, sagte sie ihm. Er sah sich noch Mutter Courage im Theater an und fuhr dann kleinlaut nach Cottbus zurück.
Porträt von 1949. Foto privat
Zweifel nagten, er wollte den Beruf aufgeben. Doch was dann? – Thate ging nach Berlin zurück. Seine Schule wurden das Theater der Freundschaft und das Gorki Theater. „Es war generell in meinem Leben immer eine Angststufe zu überwinden, eine sehr hohe Hürde, um dann loszulegen“ sagte im Interview 60 Jahre später. 1959, zwei Jahre nach Brechts Tod, schaffte er es, die Weigel zu überzeugen, dass er bei ihr spielen kann. Die Zeit am Berliner Ensemble prägte ihn entscheidend. Dennoch verließ er das BE 1970. „Das Theater war in seiner Weltberühmtheit erstarrt und fing an, sich selbst zu zitieren. Meine Hoffnung auf ein Team, einer Denkgemeinsamkeit, auf Übereinstimmung, was Themen betrifft, das hat sich nicht erfüllt. Ich habe mich für die freie Wildbahn entschieden und bin ein Guerillero geblieben.“
Nach einem Intermezzo an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz spielte er ab 1972 am Deutschen Theater, umjubelt als „Richard III“. Wirklich glücklich war er nicht. „Es war kein Haus, das Leute offenherzig aufnahm. Ich wurde nur schwer geduldet“, erinnerte er sich in seinem Rückblick. Aber: „Erfolg und Erfüllung von Sehnsüchten fliegen einem nicht wie gebratene Tauben in den Mund. Es gab mehr Zäsuren, Hochs und Tiefs als ich geahnt habe, mehr Feinde als Freunde. Das gehört zu dem großen Spiel, das da Leben heißt.“
In der DDR feierte Hilmar Thatevor allem auch als Filmschauspieler große Erfolge. Schon 1954 holte Regisseur Wolfgang Staudte den jungen Schauspieler vor die Kamera. „Einmal ist keinmal“ wurde Thates Leinwanddebüt. Er entwickelte sich zu einem erstklassigen Charakterdarsteller und begreift sich als politischer Schauspieler, der seinen Figuren Leidenschaft und Energie verleiht.
Mit Raimond Schelcher in „Das Lied der Matrosen“ 1958 (Repro aus Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“)
Es sind ausnahmslos jene, die sich positionieren, meistens fortschrittlich-revolutionär, idealistisch: 1958 im DEFA-Film „Das Lied der Matrosen“, 1960 in „Professor Mamlock“, 1974 in Goethes „Wahlverwandtschaften“, 1976 den LPG-Vorsitzenden „Daniel Druskat“ im gleichnamigen TV-Fünfteiler. Für diese Rolle wurde er mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Später, im Westen, fasziniert er auch auf der Seite des Bösen. Er verleiht dem Kindermörder im Tatort „Ein mörderisches Märchen“ eine menschliche Gestalt voller Widersprüche wie auch dem Zuhälter in der TV-Serie „Der König von St. Pauli“. Thate ist der Mephisto, nie der Faust. Er sagt dazu: „Mich fasziniert die Kraft, ,die stets das Böse will und stets Gutes schafft’, von der Mehrdeutigkeit, die in diesem Gedanken steckt, mal ganz abgesehen.“
Das Jahr 1976 war auch das Schicksalsjahrfür Hilmar Thate und Angelica Domröse. Im Juli heirateten sie. Das gehört zu den schönen Ereignissen. Die schlimmen folgten, nachdem sie die Petition kritischer DDR-Künstler gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann unterzeichnet hatten. „Es ging uns nicht um die Person. Aber man kann nicht einen rausschmeißen und Tausende nicht rauslassen. Deshalb haben wir das gemacht.“ Man hat sie bedrängt, ihre Unterschrift zurückzunehmen. Die Oberen der DDR wollten das bekannte Schauspielerpaar nicht verlieren. Der Chefideologe Kurt Hager selbst bemühte sich um sie. Als man merkte, dass sie nicht widerrufen würden, kam die Strafe. Die Theater versagten Hilmar Thate Rollen, auch Filmangebote bekam er nicht mehr. Der Fernsehfilm „Fleur Lafontaine“ 1978 war für ihn die letzte Arbeit in der DDR.
1978 in „Fleur Lafontaine“ mit seiner Frau Angelica (Repro aus Thates Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“)
„Es war nicht unser Trachten, die DDR zu verlassen. Weder Angelica noch ich mochten das kapitalorientierte System im Westen. Aber man hatte uns die Existenzgrundlage genommen, und wir wollten uns nicht verbiegen lassen. Wir waren genötigt, eine Entscheidung zu treffen.“ 1980 siedelten sie nach Westberlin über. Das Eingewöhnen war schwer, die Arbeit half. Beide hatten Glück. Hilmar Thate wurde am Schillertheater engagiert, brillierte gleich in „Jeder stirbt für sich allein“, Angelica drehte „Don Quichottes Kinder“. Sie bauten sich ein neues Leben auf. Und sie stehen viel zusammen auf der Bühne. Am Schlosspark-Theater in „Virginia Woolf“ oder in George Taboris Inszenierung „Stalin“ 1988. ein Zwei-Personen-Stück von Gaston Salvatore. Tabori besetzte Angelica Domröse in der Titelrolle, Thate spielte den jüdischen Schauspieler, der als Spielball für den Diktator herhalten muss. Das ungleiche Duell zweier hochintelligenter Männer trieb die Spiellust der Beiden zur Grandiosität. „Diese Arbeit gehört durch den hohen Grad ihrer Ungewöhnlichkeit zu den wertvollsten in meinem Theaterleben“, resümiert Thate in seiner Autobiografie.
Thate arbeitete unter Regie-Größen wie George Tabori, Peter Zadek, Ingmar Bergman unter anderem in Wien und Salzburg. Mit Rainer Werner Fassbinder drehte er „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ und ist den Fernsehzuschauern im Westen als schillernder Bordellbesitzer Rudi Kranzow in Dieter Wedels Fernsehserie „Der König von St. Pauli“ bekannt geworden. 2004 stand er für den Film „Hitlerkantate“ das letzte Mal vor der Kamera. Es lag an den Angeboten. Er mochte sie nicht spielen. Es sind nun mehr seine Soloauftritte mit Liedern und Texten von Brecht und Weill oder Lesungen aus seiner 2006 erschienenen Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“, mit dem er seine Freude an Auftritten vor Publikum stillt.
Die Autobiografie erschien 2006
Zu seinem 80. Geburtstag 2011 habe ich ihn gefragt, was ihn noch vorwärts treibt. Er antwortete: „Das Denken. Wenn das vorbei ist, bin ich tot. Im Spiel des Lebens haben wir nicht die Hauptrolle und schon gar nicht für ewig. Aber so lange ich existiere und atmen kann, neugierig bin, habe ich diese heilige Unruhe in mir, weiterzudenken, weiterzudrängen, in Frage zu stellen oder zu verändern. Ich liebe Veränderungen.“
Thate 2011 zu Fragen seines Lebens
Erstaunt es Sie, so alt zu sein? Ja. Ich habe nie gedacht, dass ich mal diesen Geburtstag erlebe. Ganz lange Zeit war ich immer der Jüngste, jetzt bin ich plötzlich einer der Ältesten. Das ist komisch. Es ist ein gewisser Glückszustand, dass ich mich fühle wie jetzt. Man merkt natürlich, dass die Energie kürzer zu fassen ist, dass man eher ermüdet. Aber man muss sich diesen Zustand an die Brust ziehen und sagen: Sei mein!
Was, wenn’s mal anders wird? Ich möchte nie nicht lebend ein Elend ertragen. Meinem Hausarzt und Freund habe ich gesagt: „Wenn ich in einer dreckigen Situation bin, halt den Schierlingsbecher bereit.“
War der Gang in den Westen nicht eine Befreiung von Zwängen, wenn auch unfreiwillig? Aber ja. Du kannst Leute nicht unentwegt abgrenzen, ohne dass sie dabei Schaden nehmen. Wir müssen die Welt in Gänze wahrnehmen können. Sonst wird man unfähig, mit Realität umzugehen. Das ist in der DDR leider passiert. Ich habe als positiv angenommen, dass ich die Welt sehen konnte, Leute wie Rainer Werner Fassbinder, Rosl Zech und Ingmar Bergman kennenlernte. Andererseits ist die Freiheit hier, auch nicht der letzte Schrei. Wir sind ebenso Zwängen unterworfen. Nur wie die Goldfische in der Flasche merken wir nicht, dass es keine Freiheit ist, sondern eine große Flasche.
Dahinter steckt aber viel Ironie. Ja, natürlich. Sonst hätte ich keine Freunde. Und ich habe wirklich Freunde.
Was würden Sie anders machen, wären Sie noch mal jung? Ich habe neulich erst gedacht, dass ich heute wahrscheinlich nicht mehr in diesen Beruf gehen würde. Theater war immer ein Seismograph für die Befindlichkeit der Gesellschaft. Heute stehen Schauspieler aufgereiht an der Rampe mit einem Fragezeichen über dem Bauch. Und gestellt wird auch nur die Bauchfrage – die keineswegs abendfüllend ist: Wer bin ich? Ohne Beziehung zur Welt, deren Gefährlichkeit, deren sozialen Verwerfungen. Theater ist abgesackt in die Beliebigkeit. Es kommt nicht mehr zu dem, was wir uns leisten konnten – über eine Theorie, ein Modell nachzudenken. Da war übrigens das weltberühmte Berliner Ensemble in der DDR eine Enklave.
Repro aus der Autobiografie „Neulich, als ich noch Kind war“
Das heutige Theater liegt nicht mehr auf Ihrer Wellenlänge? So ist es. Ich will nicht mehr Theater spielen. Wirkliche Ensemblearbeit gibt es nicht mehr, jeder bewegt sich gegen jeden. Wie in der Gesellschaft. Es müsste eine ganz neue Denkweise einsetzen, um etwas zu verändern. Ich trete gern auf, aber allein. Singe meine Lieder, lese Brecht oder aus meinem eigenen Buch. Das macht mir Spaß. Und es gefällt dem Publikum, das gern Frage- und Antwortspiel treibt
Der gelernte DDR-Bürger hat sich gemeinhin für einen politischen Menschen gehalten. Wir waren vermeintlich politisch. Genau genommen waren wir aber Duckmäuser, haben uns mit einer gewissen niedrigen Anspruchsweise identifiziert. Sonst hätten wir etwas getan. Die DDR und der Westen hatten einiges gemeinsam – das deutsche Kleinbürgertum. Das hat es immer gegeben. Hüben wie drüben.
Der sozialistische Gesellschaft war eine Utopie.
Wir Menschen brauchen Utopien, Träume, Hoffnungen. Die DDR ist ja nicht vom Himmel gefallen. Es war ja ein Ereignis, das historisch entstanden ist. Das wird nie erwähnt. Für mich war das Land lange Zeit ein historisches gesellschaftliches Experiment. Etwas Neues nach dem fürchterlichen Krieg.Ohne Wirtschaftswunder. Durch Verkrustung und Verfilzung mutierte die DDR zu einem kleinbürgerlichen Laubenpiepergebilde. doch der Marxismus ist nach wie vor eine Denkleistung, die nicht einfach in den Wind gehauen werden kann.
Angelica Domröse, 2009. Foto: Jürgen Weyrich
Seit 1976 sind Sie mit Angelica Domröse verheiratet. Eine so lange Ehe ist unter Schauspielern nicht die Norm. Worin liegt Ihr Geheimnis? Wir haben immer wieder entdeckt, dass wir uns doch wichtiger sind, wesentlicher als die Alternativen. Ich habe für mich keinen wesentlicheren Menschen gefunden. Und sie wohl auch nicht.
Sind Sie sich eigentlich sehr ähnlich? Ja, was den künstlerischen und Lebensanspruch betrifft. Und in den Gefühlen liegen wir auf fast gleichem Niveau.
Was unterscheidet Sie? Ich bin radikaler als Angelica. Ich habe erfahren müssen, dass Frauen praktischer sind als Männer, und in dem Sinn auch intelligenter. Sie durchschauen schneller als wir. Männer – nicht alle natürlich – neigen zur Spinnerei.
Halten Sie sich für einen erotischen Mann? Na und ob! Meine Schärfe hat etwas mit der Gegenseite der Medaille zu tun, mit meiner Liebesfähigkeit. Weil ich eigentlich Innigkeit suche. Ich umarme gern, will Neigung spüren. Wenn ich Angelica in den Arm nehme, ist sie glücklich. Wir gehen gern Hand in Hand.
Was brauchen Sie, um glücklich zu sein? Ich vertrage keinen Ärger mehr, keine Reizungen. Ich brauche gute Laune, Spaß. Früher konnte ich sehr böse werden, ich war jähzornig. Das ist einer Grundfreundlichkeit gewichen, weil ich gemerkt habe, dass es mir damit körperlich besser geht. Schlicht und einfach. Der Kreislauf sackt bei mir sofort ab, wenn ich schlechte Laune habe. Das ist für mich ein Maßstab geworden für Lebenshaltung.
Verspüren Sie Angst vor dem Tod? Schiller hat mal gesagt: Der Körper ist der Attentäter des Geistes. Und das ist er in der Tat. Es gibt im Tod eine Trennung von Geist und Körper. Der Körper ist hinfällig, wird der Natur überlassen. Der Geist ist nichts Greifbares. Er ist Energie. Energie geht nicht verloren, sie hebt sich auf, verändert sich. Ich habe in diesem Sinn keine Angst. Schiller hat ja auch poetisiert Freude schöner Götterfunken…
Zwei meiner Lieblingsschauspieler. Walfriede Schmitt und Wolfgang Winkler. Er feiert heute Geburtstag. Sie zieht am 9. März nach. 73 ist der „alte Knabe“ geworden. Und hält sich gut. „Muss ich und will ich auch“, sagt er. Für wen? „Für mich, sonst funktioniert es nicht.“ Dass seine Frau Marina, mit 61 immer noch aktiv als Tanzlehrerin, ihm gewissermaßen ein Ansporn ist, versteht sich von selbst. Und dann mag er auch kein Rentner sein – gleichwohl er es faktisch ja ist.
Porträt von André Kowalski
Loslassen vom Job kann und will Wolfgang Winkler einfach noch nicht. „Wir Schauspieler sind ja verrückt, wir wollen spielen bis zum Umfallen. Ausruhen kann ich mich, wenn ich tot bin“, sagt er mir am Telefon. Und bis dahin – so Gott will – hat er noch eine Menge Zeit. Vor genau einem Jahr hat der ehemalige Hallenser „Polizeiruf 110“-Kommissar – nach 50 Fällen mussten er und sein Partner Jaecki Schwarz den Dienst quittieren – seinen Polizeidienst auf dem Bildschirm wieder aufgenommen. In der ARD-Vorabendserie „Die Rentnercops – Jeder Tag zählt“. Zusammen mit Schauspieler Tilo Prückner ist er als Kommissar a. D. im TV-Dezernat 12 der Kripo Köln-Mühlheim aktiv. Ein aktuelles Thema. Der Polizei fehlt der Nachwuchs. Wie im wahren Leben.
Mit Wolfgang Winkler im Café des Schauspieler Christian Kahrmann in Berlin. Foto: Boris Trenkel
„So eine Figur zu spielen ist ein Geschenk und wirklich ein Glück. Auch für das Selbstwertgefühl. Wenn du Kollegen in deinem Alter siehst, die gerade wieder einen großen Film gemacht haben, kannst du dir sagen: Du hast auch was Neues gemacht. Du bist auch noch präsent. Das hilft schon, die Erfolge der anderen zu ertragen. Ich könnte mich auch zurücklehnen und sagen: Lass die anderen machen. Aber da sitzt so ein kleiner Teufel im Nacken und piekst.“
Im Mai geht es nun weiter mit den humorigen Krimi-Geschichten. „Wir hatten gute Einschaltquoten. Die zwei alten Zausel, die 40 Jahre zusammen gearbeitet und den Erfolg des anderen immer mit Missgunst beobachtet haben und sich auch jetzt nichts schenken, machen den Zuschauern Spaß.“
Eine Krimi-Serie mit Augenzwinkern, die den Schauspieler vergessen lässt, dass Altwerden keinen Spaß macht. „Ich kann mich nicht darauf einlassen, zu sagen, jedes Alter hat seine Schönheiten. Man muss mit den Gegebenheiten des Alters leben, aber schön ist es meistens nicht. Man fängt an zu sagen: Ich bin ja bald 80. Früher hat man sich gern älter gemacht, um ins Kino zu kommen. Jetzt macht man sich älter, um zu hören: Ach, das sieht man Ihnen gar nicht an. Den Satz hört man ja gern. Aber eigentlich ist er auch Mist.“
Aber sich deshalb in Depressionen hineinzusteigern, liegt Wolfgang Winkler fern. Da schiebt schon sein Humor einen Riegel vor. Und die Enkel und sein Freund Jaecki Schwarz. Die beiden sind mindestens einmal im Monat zu heiteren Lesungen mit ihrem Buch „Herbert & Herbert. Bloß gut, dass ich mit dir nicht verheiratet bin“ unterwegs. Zu Ostern sind sie in Lichtenhagen bei Rostock.
„Buddha bei die Fische“ – Das Team will einen heiter-nachdenklichen Film übers Altwerden drehen
Was ihm jetzt nocham Herzen liegt, ist die Verwirklichung eines Drehbuches, das ein junger Kollege geschrieben hat, Jörg Gahr. „Eine wichtige Geschichte, die sich ums Zurechtkommen mit dem Altwerden dreht. Dafür haben wir – Marie Gruber, Andreas Schmidt-Schaller, Ernst Georg Schwill und ich – einen Trailer gedreht, um das Geld für die Produktion zusammen zu bekommen. Dass sich eine Produktionsfirma oder ein TV-Sender findet, der dafür Geld gibt, das wünsche ich mir.“ Ich drücke die Daumen.
Wie geht ein Indianerhäuptling seinen 75. Geburtstag an? Keine Ahnung. Vielleicht mit einem großen PowWow. Unser Lieblingshäuptling Gojko Mitic, der alte DEFA-Chefindianer a. D., Held unserer Kindertage und Jugend, reitet als Graf Hans Georg von Arnim über die Odertal-Freilichtbühne in Schwedt. „Die Verschwörung von Chorin“heißt das Fantasiespektakel. Jetzt ist er in der Endphase der Proben und hat nur Zeit für ein kurzes Telefongespräch. „Am 12. ist die Premiere, danach wird ein bisschen gefeiert, und wenn die Turmuhr Zwölf schlägt, stoßen wir auf meinen Geburtstag an. Das war’s.“
Er hat Feiern noch nie gemocht, schon gar nicht an Geburtstagen. Eine Ausnahme waren die Kindergeburtstage seiner Tochter Natalie, die inzwischen 22 Jahre und eine hübsche junge Frau ist. Sie wird natürlich bei der Premiere ihres Vaters in der Zuschauerarena sitzen und ihm die Daumen drücken, dass es ein Erfolg wird. Aber ist das überhaupt eine Frage? Die Uckermärkischen Bühnen jedenfalls haben daran keinen Zweifel. Sie setzen auf die Beliebtheit und Popularität von „Tokei-ihto“, „Ulzana“ & Co.
Schmuck sieht eraus in seinem Kostüm. Sein grauer Schopf ist unter einer Perücke mit langen dunklen Locken verschwunden. Ein „Musketier“-Bart ziert sein Gesicht. Irgendwie erinnert er mich an D’Artagnan, den er 1980 in Thale spielte. „Als ich mich bei den Proben das erste Mal mit Kostüm und Maske im Spiegel sah, war ich echt verblüfft“, sagt er. „Da guckte mich ein 40-Jähriger an“, lacht er. Das Temperament, die Sportlichkeit hat er allemal. Und wie 75 sieht er ohnehin nicht aus.
Eigentlich wollte erdiesen Sommer nicht auf der Bühne stehen, sondern sich ein bisschen um sich und seinen Garten kümmern, sein Häuschen genießen, das er sich 2011 gebaut hat. Mit Fußbodenheizung, großen Fenstern, den Blick auf Garten und Dahme. Das war immer sein Traum gewesen. Nun ja… Gojko ist jemand, der nicht nein sagen kann. Und so nahm er die Rolle an, als man ihn bat, dem Theater mit seiner Anwesenheit auf der Bühne ein bisschen unter die Arme zu greifen. „Und es war insofern verlockend: Die Zeit ist überschaubar und ich bin nicht so weit weg von zu Hause.“
Tja, und wenn in Schwedt der letzte Beifall verklungen ist, wird auch nichts damit, die Seele baumeln zu lassen. „Winnetou“ hat ihn wieder eingeholt. Der österreichische Regisseur Philipp Stölzl („Der Medicus“) verfilmt für RTL drei der Karl-May-Geschichten neu, mit Wotan Wilke Möhring als Old Shatterhand. Gojko Mitic wird die Rolle des Indianers Tangoa übernehmen. Er hat gerade den Vertrag unterschrieben. „Es ist eine negative Figur“, sagt er. „Tangoa hat sich mit den Weißen verbündet und ist dem Alkohol verfallen. Am Ende wird er aber doch mit seinen roten Brüdern kämpfen.“ Was sonst, ein bisschen Gut muss schon sein, wenn Gojko am Werke ist.
Gojko als Häuptling Wakadeh (r.) mit Pierre Brice als Winnetou und Stewart Granger als Old Shatterhand in „Unter Geiern“ (1964, F/BRD). Foto: privat
Einer der Produzentenist Rialto Film, und es scheint nicht abwegig, dass von hier der Anstoß kam, eine der Indianer-Rollen mit Gojko Mitic zu besetzen. Denn gleich nach „Lanzelot“ ging es für den Sportstudenten als Komparse in italienischen Abenteuerfilmen weiter – „Römische Mädchen“, „Die Sieben von Theben“ und „Venezianische Katakomben“.
1963 bekamder damals 23-jährige Student seine erste Rolle als Indianerhäuptling in der deutsch-italienischen Koproduktion „Old Shatterhand“ mit Lex Barker in der Titelrolle und Pierre Brice als Winnetou. „Sein Tod hat mich getroffen, obwohl wir uns nur wenig kannten“, sagt Gojko. „Ich habe in Jugoslawien drei Filme mit ihm als Winnetou gedreht, nach Old Shatterhand noch Winnetou II und Unter Geiern. Als ich dann 1992 sein Nachfolger in Bad Segeberg wurde, habe ich einmal unter seiner Regie gespielt. Er inszenierte 1999 bei den Karl-May-Spielen Halbblut. Es ist traurig, dass er mit gerade 86 Jahren an einer Lungenentzündung starb.“
Der Tod fragt nicht, ob er gelegen kommt. Aber Gojko tut alles, um ihn sich lange vom Leib zu halten. Tägliches Schwimmen in der Dahme, wenn er Frühling beginnt, Rudern und Radfahren gehören immer noch zu seinem Tagesablauf, wenn er nicht gerade unterwegs ist. Wie jetzt. Die Dreharbeiten für die neuen Winnetou-Filme, die Ende des Sommers beginnen sollen, führen Gojko an die alten Schauplätze in Kroatien zurück. Eine Rückkehr zu den Wurzeln in seiner Heimat Serbien, die er 1968 verlassen hat.
„Die Entscheidung fällte damals eigentlich das Publikum in der DDR“, sagt er. „Es hat mich nach „Die Söhne der Großen Bärin“ und „Chingachgook – Die große Schlange“ so gefeiert und ins Herz geschlossen, da konnte ich nicht mehr zurück.“ Und außerdem war schon der nächste Film bei der DEFA auf ihn programmiert, „Spur des Falken“.Das ging so weiter, die DEFA drehte mit ihm insgesamt 134 im Hinstorff Verlag Indianerfilme in den folgenden Jahren. „Seitdem ist Berlin sein Zuhause. „Ich fühle schon nach drei Tage Heimweh hierher, wenn ich weg bin. Aber Serbien wird immer mein Heimat bleiben“, sagt er.
Es war in Gojkos Lebensplan eigentlich nicht vorgesehen, dass Schauspieler zu werden. Er hat in Belgrad ein Sportstudium absolviert und das Diplom zu Sportpädagogen gemacht. „Als Komparse während meiner Studienzeit habe ich die Schauspielerei als Hobby betrachtet, um ein paar Dinare zu verdienen. Ernst wurde es, als mich DEFA-Produzent Hans Mahlich als Tokei-ihto besetzt hat.“
Gespräch mit Chemnitzer Schülern nach dem Film „Der lange Ritt zur Schule“. Neben Gojko sitzen Schauspieler Günter Schubert und Regisseur Rolf Losansky
Den Häuptlingen folgten viele andere Rollen und Gelegenheiten, sich in zahlreichen Fernsehproduktionen als Charakterdarsteller zu profilieren. Regisseur Rudi Kurz gab ihm 1972 im Mehrteiler „Das Geheimnis der Anden“ eine Hauptrolle, dann in „Visa für Ocantros“.
Noch während der Dreharbeiten sagte er dem Bergtheater Thale für die Rolle des „Spartacus“ zu. Er bestand die Feuerprobe auf dem Theaterboden glanzvoll und feierte in den Jahren darauf weitere Erfolge als „Diener zweier Herren“ und als D‘Artagnan ind „Die drei Musketiere“. An der Seite von Inge Keller, der Grande Dame der Schauspielkunst, überzeugte er als korrupter Höfling in der Literaturverfilmung „Die Liebe und die Königin“. Mit Agnes Kraus bringt er in der Komödie „Alma schafft alle“ seine komische Seite zum Klingen. Und er spielte gern in Kinderfilmen mit. Regisseur Rolf Losansky besetzte ihn oft, so in „Der lange Ritt zur Schule“. Wieder mal mit Rolf Hoppe als Cowboy. Die beiden Männer verbindet seit „Spur des Falken“ eine herzliche Freundschaft.
Nach dem Fall der Mauer startete er mit kleinen Rollen wie in „Der Kinoerzähler“. Der Durchbruch kam für Gojko 1995 mit der Hauptrolle neben Gudrun Landgrebe im ARD-Film „Herberge für einen Frühling“. Inzwischen sind reichlich neue Rollen dazugekommen. Als Killer in den TV-Krimireihen „Der Solist“, „SOKO Leipzig“,„SOKO Wien“, im Kinofilm „Esperanza“und der SAT.1-Prduktion „In einem wilden Land“. Kürzlich sah man ihn in der ARD-Serie „In aller Freundschaft“. Nach seinem Erfolg als „Sorbas“ pflegt er nun auch wieder sein musikalisches Talent wieder. Spielt Gitarre, wie einst als Student in Belgrad, und arbeitet an einem musikalischen Programm. Auftritte, Lesungen – es nimmt kein Ende. „Und das ist auch gut so“, sagt Gojko. Man darf sich im Alter nicht auf die Bärenhaut legen, dann ist das Leben bald vorbei.“ Na, dann bleib noch lange gesund, Gojko!
Peter Reusse – gibt es den noch? Aber sicher! Er ist quicklebendig und ungeheuer produktiv – als Schriftsteller, Maler, Bildhauer. Allerdings hat er sich vor Jahren weggemacht aus der Großstadt Berlin, als nach der Einheit der Kampf um den Altbau in der Geschwister-Scholl-Straße 4 gegen die Investoren nicht zu gewinnen war und die Straße zur Baustelle wurde. Zu Hause ist er seitdem am Kolberg in Heidesee, der höchsten Erhebung im Landkreis Dahme-Spree. Da besuchte ich ihn kürzlich, um den Leser von SUPERillu zu erzählen, was so hinter der Kamera bei den Dreharbeiten der DEFA-Films „Ein irrer Duft von frischem Heu“ passiert ist. Kann man in Heft 24 lesen, die DVD erscheint in der Kultkino-Reihe mit Heft 25, am 11. Juni. Peter Reusse kam das recht. „Es gibt da so Gerüchte“, sagt er bei der Terminabsprache am Telefon, „ich hätte mich hier draußen vergraben. So ein Quatsch!“ Na, dann räumen wir die Gerüchte doch einfach aus.
Eigentlich sieht er aus wie er immer aussah. Kleine blitzende Augen im inzwischen leicht durchfurchten Gesicht, die lockigen Haare – in schönem Schneeweiß – unter einem Hut versteckt. Peter Reusse hat etwas Jungenhaftes, das sich scheinbar nicht verliert. Egal wie alt er wird. Die Zeitung taz stilisierte den in der DDR sehr bekannten Schauspieler zum „James Dean des Ostens“. Das half ihm allerdings, im neuen Land gut besetzt zu werden.
Aber es ist schon komisch: Reusse kam wie der Hollywoodschauspieler im Februar zur Welt, nur zehn Jahre später, 1941. Dean starb 1955 mit 24 Jahren bei einem Autounfall. Er fuhr gegen einen Baum. Wie er im Alter von Reusse ausgesehen hätte? Vermutlich so jungenhaft und zerknautscht wie er.
Die Begrüßung am Tor zum grünen Paradies der Reusses mit hohen Bäumen, Sträuchern, Blumen, Keramiken ist herzlich. Umarmung gleich über den Zaun, auch mit Ehefrau Sigrid Göhler. Wir kennen uns lange, haben uns aber auch lange nicht gesehen. Und dann kommt Lotte angerannt, ein Mischling mit Beagle-Anteil aus Spanien. Verrückt nach Streicheleinheiten und freigebig mit Hundeküsschen.
Sigrid Göhlers rechter Arm steckt in einer Bandage, fest installiert am Körper. Sie ist auf die Schulter gestürzt, dabei sind Sehnen gerissen, erfahre ich. Die Operation war gerade. Es schmerzt. Peter Reusse umsorgt seine Frau. Die zwei feierten kürzlich ihre Goldene Hochzeit, haben zwei Kinder und vier Enkel. Auch Hündin Lotte nimmt Rücksicht, ist brav. „Den ganzen Sommer muss ich mit dem Ding rumlaufen, das wird nicht lustig“, stöhnt ihr Frauchen. „Na ja…“
Die Schauspielerin war die erste Frau im der DDR-Kriminalfilmreihe „Polizeiruf 110“, zuvor „Blaulicht“. Als Leutnant Arndt ermittelte sie des öfteren gegen ihren Mann. Peter Reusse wurde beim DDR-Fernsehen gern als Typ besetzt, der nicht ganz astrein ist. „Wir amüsieren uns inzwischen, wenn wir zufällig im Fernsehen mal alte Filme sehen und sie mich verhaftet“, sagt er, als wir auf seine Schauspieler-Vergangenheit zu sprechen kommen, die 1961 mit der DEFA-Komödie „Das Rabauken-Kabarett“ begann. Da war er Student an der Filmhochschule Babelsberg. 80 Filme sind es bis 1993 geworden. Eine Unmenge „Polizeirufe 110“, aber auch großartige Filme wie „Die Abenteuer des Werner Holt“ (1964), „Heimkehr in ein fremdes Land“ (1976) oder die Literaturverfilmung „Zwischen Pankow und Zehlendorf“ (1991) nach Rita Kuczynskis Roman „Wenn ich kein Vogel wär“.
Die meisten Filmrollen nach der Wende hatten jedoch wenig mit dem zu tun, was er als Schauspieler von sich erwartete. „Sie waren belanglos“, sagt er. Auch wenn er mit Iris Berben, Nadja Tiller, Gaby Dohm (sie bekam 1992 von ihm ihren ersten richtigen Filmkuss) und Charles Aznavour gedreht hat.
Der Absturz 1993 kam für den Schauspieler unvermittelt wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er traf ihn, als er eine wirklich gute Rolle hatte, die Proben gut liefen, er den Regisseur mochte, die Arbeit Spaß gemacht hat. Am 22. März 1993, drei Jahre nach der Einheit, bei einer simplen Durchlaufprobe zu Eugene O’Neils Stück „Der Eismann kommt“ erlitt er auf der Bühne des Deutschen Theaters einen Gedächtnisverlust. Ein klassisches Burnout, das hieß damals nur nicht so.
Peter Reusse und Lotte beim Kuscheln. Sie ist der dritte Hunde der Familie @ Nikola Kuzmanic
Drei Monate Therapie in der Bonhoeffer-Nervenklinik, Suche nach Antworten, warum ihm das passiert ist. Peter Reusse will heute nicht mehr über diese Lebenskrise reden. Ohne seine Frau hätte er die Zeit vermutlich nicht überlebt. Der Gedanke an sie, die ihn immer gestützt hat, bewahrte ihn davor, sich aus dem Leben zu bringen. In seinem Buch „Der Eismann geht“ (Fischer Taschenbuch Verlag, 1996) hat er alles aufgeschrieben, sein Schicksal reflektiert. Eine Bühne oder ein Filmset hat er seit damals nicht mehr betreten.
Während seiner Therapie schrieb Peter Reusse Tagebuch. Daraus entstand 1996 sein Buch „Der Eismann geht“
Nach der Therapie nahm er einen neuen Lebensanlauf, in dem er nun seine anderen Talente, die er immer so nebenher als Hobby pflegte, in seinen beruflichen Mittelpunkt zu rückte. Das Malen zum Beispiel. Es war sein „Feierabendbier“ nach den Vorstellungen am Deutschen Theater, an dem er 30 Jahre engagiert war. „Ich habe keine Humpen gestemmt mit den Kollegen, sondern bin nach Hause und habe mich an die Staffelei gesetzt oder Skizzen gemacht, um mich runter zu trudeln.“ In seiner Freizeit hat er Keramiken modelliert.
Er hätte auch Maler werden können, Bildhauer, eine Zulassung zum Studium an der Kunsthochschule Weißensee hatte er. Aber er war auch an der Filmhochschule angenommen worden. Und warum ging er dorthin? Es waren die lukrativeren Aussichten, rumzukommen in der Welt. Das wollte er immer.
Zum Wichtigsten Lebenselement ist das Schreiben geworden. „Ich habe immer schon geschrieben, seit meiner Schulzeit“, sagt Reusse. Er schrieb Geschichten, Artikel, Reiseberichte für Zeitungen, Theaterstücke, Künstlerporträts. „Unter Pseudonym“, sagte er. Sogar die Partei (SED) beschäftigte sich wegen eines Artikels mit ihm bzw. Sascha Rüss wie er sich nannte. Seine Geschichte „Knock Out“, die im Jugendmagazin „Neues Leben“ erschienen war, hatte für den Geschmack der Funktionäre zu viele Anglismen. Heute fällt aus dem Rahmen, wer keine benutzt.
Nach dem „Eismann“ erschienen im selben Jahr seine ironisch-satirischen Ost-West-Geschichten unter dem Titel „Hier und drüben und drunter“. Von da an veröffentlichte er fast jedes Jahr ein Buch. Sehr amüsant zu lesen sind seine Schauspieler-Anekdoten „Da capo für eine Leiche“, poetisch „Indian Summer“. Aktuell steht seine satirische Wendegeschichte „Bürzel – oder Steh auf im Land Sibebe“ in den Buchläden. Sie erzählt von einem Gemüsehändler aus dem Prenzlauer Berg, der ein Buch geschrieben hat und mit seinem Trabi in die noch alten Bundesländer fährt, um es zum Verlag zu bringen. Durch eine Verwechselung landet er bei Helmut Kohl. Der muss gerade über einen Millionenkredit für die Noch-DDR entscheiden. Und Bürzel hat plötzlich die Chance, den zu bewilligen.
Peter Reusse ist zufrieden, nein, glücklich geworden mit dem neuen Leben. Er muss sich nicht mehr in fremde Hände begeben, um eine Sinnerfüllung in seinem Tun zu finden. Er braucht nicht mehr auf gute Rollen zu warten, gute Regisseure. Die Hast, die Aufregung, die sein Schauspielerleben bestimmten, ist einer inneren Ruhe gewichen. Er hat seinen Lebensmittelpunkt gefunden, so sagt man wohl. Und das nicht zuletzt, weil er mit seiner Mine eine starke Frau an seiner Seite hat. Vor 50 Jahren haben sie sich versprochen: „Du bist min, ich bin din.“ Und das lebenslänglich, wie er in seinem Buch „Der Eismann geht“ schreibt.
Vieles, was früher war, hat er als Erinnerungsstücke in einer Laube im Garten. Auf dem Weg dahin kommen wir an einem Männerkopf aus Keramik auf einem Baumstumpf vorbei. Reusse grinst. „Das ist der Schuster des Zaren, dem gehörte das Haus mal.“ Ob er wirklich so aussah? „Keine Ahnung“, sagt Reusse, „auf jeden Fall hatte er einen Kosakenschnauzer.“
In der Hütte sausen meine Augen hin und her. Überall hängt was. Ein Steckbrief, ein Bauarbeiterhelm, Filmfotos, eine Eintrittskarte zu einem Joe-Cocker-Konzert, Zeitungsausschnitte, Szenenfotos vom Theater. Bilder und Zeichnungen, die er gemalt hat, Skizzen. Eine Staffelei ist auch da. Neben einem alten Ohrensessel. Ich mit meinen 1,75 m musste beim Eintreten den Kopf einziehen. „Das ist mein Atelier, und die hier“, er nimmt eine olle Schiffermütze vom Haken. „mein Lebensretter.“ Dieses Utensil, sprich Requisit, trug er, als ihm bei den Dreharbeiten für die Rudi-Strahl-Komödie „Ein irrer Duft von frischem Heu“ 1977 ein Eisenhaken aus drei Meter Höhe mitten auf den Schädel knallte. „Die Mütze verteilte die Fallkraft. Sonst wäre ich tot gewesen, sagte mir der Arzt damals.“ Er lacht, ich muss tief Luft holen. Wir verlassen das Refugium und streifen durch den Garten. Nikola Kuzmanic, der Fotograf, braucht noch ein paar Motive.
Fotograf Nikola Kuzmanic mit Peter Reusse im Disput
Wer Peter Reusse heute sehen will, muss nachts durch die Programme von RBB und MDR zappen, da laufen immer noch mal Filme mit ihm. Leibhaftig trifft ihn auf Veranstaltungen, in denen er zusammen mit seiner Frau aus seinen Büchern liest. Eigentlich erzählen sie die Geschichten und Anekdoten wie Hörspiele. Denn in beide sind ja von Hause aus Schauspieler. Dieses Erbgut haben sie übrigens gut angelegt in ihrem Sohn Sebastian und Enkelin Linn Reusse, Kind ihrer Tochter Bettina.
Er ist einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler und für mich ein ganz besonderer Mensch. In wenigen Tagen, genauer, am 6. Dezember, feiert Rolf Hoppe seinen 85. Geburtstag. Die Geschichten über sein Leben hat er in zwei Büchern erzählt – und einiges davon mir, seit wir uns 1997 für ein Porträt kennengelernt haben. Seitdem telefonieren wir so zwei-, dreimal im Jahr oder auch öfter. Es sind stets vergnügliche Plaudereien, bei denen hin und wieder eine Verabredung herauskommt. Wie im Mai, weil man sich gern wieder sieht.
Mein Hausbesuch bei diesem Mimen – bei ihm ist diese Formulierung nicht zu hoch gegriffen – führte zu einer ganz besonderen Titelgeschichte in der SUPERillu (Heft 23/15). Denn zum ersten Mal war seine Frau Friederike dabei. Zur großen Freude ihres Mannes. Nachdem sie sich aber zunächst wie immer konsequent geweigert hatte, „in einem Artikel zu erscheinen“. Sie habe da nichts verloren. Punkt. Wohl aber doch, so sieht das Rolf Hoppe. Doch dazu später noch mehr.
Kurz nach meinem Besuch in seinem Domizil in Weißig war Rolf Hoppe mit dem Deutschen Schauspielerpreis geehrt worden. Nicht für eine Rolle, sondern für sein Lebenswerk, für 60 Jahre darstellerisches Schaffen. Weit über 400 Rollen prägte er auf der Bühne, vor der Kamera oder in Hörspielen, jede eine Zäsur.
Das Porträt von Rolf Hoppe fotografierte York Maecke
Der Deutsche Schauspielerpreis wurde 2012 ins Leben gerufen. Eine Anerkennung von Schauspielern für Schauspieler. Im letzten Jahr wurde Senta Berger mit diesem Preis geehrt, die beiden Jahre zuvor Götz George und Katharina Thalbach. Rolf Hoppe empfindet es als große Ehre, ihn bekommen zu haben. „Du kennst mich ja. Ich bin in solchen Sachen ein Fluchttier, wie meine Frau. Aber da bin ich hingegangen, weil ich mich sehr gefreut habe über diese Anerkennung. Dass Menschen an einen denken, denen man mit seiner Arbeit Freude gebracht hat, ist das eine. Aber dass es Kollegen sind, die meine Arbeit würdigen, macht mich froh. Man wird ja schnell vergessen, wenn man alt und nicht mehr so präsent ist.“ Eine bittere Wahrheit für viele andere, nicht für den Mimen mit dem weißen Bart, der so gern lacht und Späße beim Gespräch macht. Der sich vor fast 70 Jahren die Kindheit in die Tasche gesteckt hat.
Nicht mehr präsent! Davon kann bei ihm wirklich nicht die Rede sein. Erst im Sommer stand er für den Kinofilm „Die Blumen von gestern“ vor der Kamera. Hoppe spielt einen Historiker, dessen Spezialgebiet der Holocaust ist. Im letzten Jahr hat er in Irland für den ZDF-Zweiteiler „Pfeiler der Macht“ gedreht und davor den Fernsehfilm „Ohne dich“. Es sind inzwischen die Rollen der Alten, Weisen, Intellektuellen, Juden, Familienoberhäupter mit geheimnisvollen Punkten im Leben, die den fast 85-Jährigen noch ein-, zweimal im Jahr vor die Kamera locken. „Es ist alles nicht mehr so ideal. Das ganze Drumherum bis ich vor der Kamera stehe ist anstrengender geworden“, sagt er. „Aber es ist schön, dass man mich Alten noch will.“ Inzwischen begleitet Enkel Oscar seinen Großvater bei den Produktionen. „Dann bin ich nicht so allein und habe jemanden, der weiß, wann ich wo sein muss.“
Frau Hoppe schaut zu, wie York Maecke ihren Mann fotografiert
Schauspieler mit der Gabeeines Rolf Hoppe sind selten. Regisseur István Szabó, in dessen Film „Mephisto“ er als Nazi-General Göring 1981 international berühmt wurde – trotzdem mag er die Rolle nicht besonders – sagte über ihn: „Er ist der Mann fürs Ambivalente. Hoppe kann mächtig und zugleich zerbrechlich wirken. Das Böse verbirgt sich bei ihm hinter verführerischer Leutseligkeit, scheinbar Gutem. Das Heuchlerische und Intrigante, das Doppelbödige hinter Liebenswürdigkeit, scheinbarer Ehrlichkeit.“
Hoppe hat einen klaren Anspruch an den Beruf. Für ihn bedeutet Schauspieler zu sein, Geschichten erzählen, Menschen in ihrem Widerspruch zeigen. „Wenn einer dumm wirkt, muss er einen hellen Geist haben. Wenn einer dick ist, muss er agil sein“. Populärstes Paradebeispiel ist der Indianerhasser Bashan im DEFA-Film „Spur des Falken“, in dem der schwergewichtige Hoppe mit seiner Wendigkeit beim Reiten selbst Gojko Mitic verblüffte. Die hohe Kunst des Schauspielers zeigte sich in seiner Rolle als Präfekt in „Mario und der Zauberer“ unter der Regie von Klaus Maria Brandauer. Dessen Worte: „Dieser Hoppe ist genial. Er beherrscht die Szene ohne etwas zu sagen. Nur mit seinen Blicken, seinen Gesten.“ Seine Körpersprache, seine Mimik und vor allem seine Stimme mit den unendlich vielen Modulationen sind Hoppes Kapital, in dem das Geheimnis seines Erfolgs liegt.
Rolf Hoppe will mit seinem Spiel aufklären, nicht dogmatisch, sondern auf eine unterhaltende Weise, die zugleich den Ernst erkennen lässt. Er macht das auf so wunderbare Weise, dass selbst die Kinder es verstehen. Für sie hat er besonders gern gedreht. Zu seinen liebsten Rollen gehören für ihn der verschlagene und der gute König in dem Kinderfilm „Lorenz im Land der Lügner“ und der wundersame Schneider „Meister Röckle“.
Der Dresdner FilmkritikerKarl Knietzsch fand in einem Gespräch mit Hoppe für die DDR-Kinozeitschrift „Filmspiegel“ ein treffsicheres Bild. „Rolf, wenn du’n Pferd geworden wärst (Hoppe mag Pferde), dann außen ‘n Kaltblüter, aber innen todsicher ‘n Vollblut!“ Diese besondere Fähigkeit ist es, die diesen leisen, fast schüchtern wirkenden Mann so besonders und für Regisseure immer wieder anziehend macht. „Ich suche in einer Figur das, was sie menschlich macht. Frage, wovon versteht sie was, wovor hat sie Angst. Egal, wie groß oder klein eine Rolle ist. Bei den kleinen ist am schwersten, macht aber am meisten Spaß“, erzählt er mir. Das ist sein Credo.
Hoppe ist ein Weltstar, auch wenn er sich als solchen nicht empfindet. Er ist nicht der Typ, der nach vorn prescht ins Rampen- oder Scheinwerferlicht. Keiner, der immer das Sagen haben will. Mit solchen Leuten kommt er schwer zurecht. „Wenn ich merke, da hat einer das Bedürfnis an der Spitze zu sein, bin ich ganz still und lasse ihn. Henry Hübchen ist so einer – über den darf ich das sagen, der weiß es.“ Sie haben zusammen für die Krimi-Reihe „Commissario Laurenti“ in Triest gedreht. Hübchen in der Titelrolle, Hoppe spielte den alten Doktor Galvano. Eine Rolle, wie für ihn gemacht. Und er genoss es, durch die Straßen der geschichtsträchtigen norditalienischen Hafenstadt an der Grenz zu Slowenien und Österreich zu spazieren.
Rolf Hoppe, der am Nikolaustag 1930 im Harzstädtchen Ellrich das Licht erblickte, hat nie etwas anderes gewollt, als Schauspieler zu sein. Seit er als Kind ein Puppentheater geschenkt bekam und den Spaß am Spielen, Verwandeln entdeckte. Und – dass man den Menschen damit, wenn auch nur für kurze Zeit, ein Lachen geben kann. Der Krieg hatte es den Menschen genommen. Diesem Traum ist er nachgegangen. So intensiv, dass er 1950 im Märchenstück „Die Prinzessin und der Schweinehirt“ mit Fieber auftritt und nach mehreren Vorstellungen die Stimme verliert. „ Lähmung der Stimmlippen, weil ich mich überschrien hatte. Ich wusste nicht damit umzugehen. Das war die schlimmste Zeit, die ich erlebt habe.“
Die Bühne war passé, aber er gab nicht auf, arbeitete als Tierpfleger im Zirkus Aeros, und fand in Halle einen Professor für Logopädie. Er lernte wieder sprechen. Statt Zigaretten zu rauchen, empfahl ihm Prof. Wizzak, es mit der Pfeife zu probieren, die schade der Stimme nicht. „Ich war baff“, sagt Hoppe. Die Pfeife wurde ihm zum unabkömmlichen Requisit.
1946 stand er zum ersten Mal auf einer Bühne, in der Titelrolle von Friedrich Wolfs Stück „Prof. Mamlock“ im Laientheater in Ellrich. Es wurde für ihn ein Riesenerfolg. Sein erster. Von da an stand für ihn fest, dass er die Schauspielerei ernsthaft, als Beruf, betreiben will. Nach zwei Ablehnungen für eine Schauspielausbildung in Weimar und Halle studierte er 1949/50 an der Schauspielschule des Theaters Erfurt. Das ist ein ganz Besessener, der zerrupft sich für eine Rolle – hieß es unter den Studenten. Rolf Hoppe ist ein Perfektionist. Es muss stimmen, was er spielt. So ließ er sich nicht davon abbringen, in der Operette „Feuerwerk“ mit den zur Rolle gehörenden Clownslatschen 2,50 Meter über dem Boden auf einem Drahtseil zu balancieren. Er schaffte das bis zur Generalprobe. Da stürzte er ab und landete mit Prellungen und Platzwunden im Geraer Krankenhaus.
Das war 1960. Ein Aufenthalt mit Folgen. Die drei Jahre jüngere OP-Schwester Friederike fand Gefallen an ihm und er an ihr. Von da an wird sie ihn durchs Leben begleiten, seine Träume mittragen, in denen es auch zwei Kinder gibt. Mit großer Zärtlichkeit erzählt er von seinen Töchtern Josephine und Christine, die in seine Fußstapfen getreten sind. Christine hat die große Präsenz ihres Vaters, wenn sie am Dresdner Staatsschauspiel auf der Bühne steht. „Das Mädel spielt die ganz großen Rollen, mit großer Wirkung.“ In seiner Stimme schwingt unbändiger Stolz mit.
Für Rolf Hoppe waren Träume nie Schäume. Was im Leben nicht ging – und das war wenig, denn sogar der Traum vom eigenen Hof-Theater erfüllte sich 2005 – erspielte er sich. Vor allem in seinen Filmrollen. Da ritt der Pferdenarr in den Indianerfilmen durch den Wilden Westen. Er war Gaukler, Artist, König, Lokführer. Doch das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn ihm seine Frau Friederike nicht den Alltag abgenommen hätte. Dafür hat sie ihren Beruf aufgegeben. „Wir sind seit 55 Jahren zusammen, nie konnte ich sie auch nur zu einem Foto für die Zeitung überreden, dabei gehört sie doch zu meinem Leben. Ohne sie wäre ich manchmal hilflos gewesen“, gesteht er. Es machte ihn traurig.
Dann passierte das große Wunder. Während Fotograf York Maecke nach meinem Gespräch Aufnahmen von Hoppe machte, erzählte mir seine Frau Friederike von ihrem Leben an der Seite des Workaholics. Ja, das war Rolf Hoppe. Um so mehr genoss die Familie die Zeit mit ihm, die Ferien in Ungarn, als Szabó ihn für seinen Film gewinnen wollte. Seine Frau und die beiden Töchter Josephine und Christine begleiteten ihn nach Salzburg, wo er sieben Jahre den Mammon im „Jedermann“ spielte.
Die kleine, resoluteFrau ließ ihn seinen Beruf ausleben, der ihn glücklich macht. „Dass ich Rolf kennenlernte, war die Erfüllung einer unbestimmten Sehnsucht. Ich wollte einen Mann, der einen besonderen Beruf hatte. Aber ich wusste nicht, was für einen.“ Als Rolf wieder gesund war damals, ging sie zu ihm ins Theater und bat ihn, ihr zwei Karten zu besorgen. „Ich war hin und weg von seiner Eleganz und habe mich in ihn verliebt.“ Es war eine glückliche Fügung. Zum Abschied unseres Besuches fragte mich Rolf Hoppe noch: „Wie hast du das nur angestellt, dass sie dir so viel erzählt. Sie weiß doch, dass du Journalistin bist. Und dass sie sich auch noch fotografieren ließ! Ich bin so glücklich darüber.“
Das muss man nicht kommentieren.
PS: Wer Lust auf einen Besuch in Rolf Hoppes Hof-Theater hat, hier findet er Spielplan und Adresse.