Gespräche mit Rolf Hoppe wird es nicht mehr geben. Es waren viele in den 21 Jahren, die wir uns kannten. Und es war uns gegenseitig immer eine Freude, uns in seinem Refugium, einer kleiner Blockhütte in seinem Garten, gegenüber zu sitzen und zu reden oder am Telefon miteinander zu plaudern. So hielten wir zuletzt Kontakt, nachdem er sich aus dem Schauspielerleben zurückgezogen hatte. Am 14. November ist der wunderbare Mensch und hochverehrte Schauspieler von dieser Welt gegangen. Still und leise im Einklang mit sich und den geliebten Menschen, die er zurückließ. „Ich bin ein Harmonisierer, ich will keine Aggressivität“, beschrieb er mir seine Art zu leben. In drei Wochen hätte er seinen 88. Geburtstag gefeiert. Die Kraft reichte nicht mehr bis dahin und weiter. Wie ich es ihm vor einem Jahr noch gewünscht hatte. Er entgegnete mir mit dem ihm eigenen Realitätssinn: „Ach, weißt du, man darf nicht vergessen, dass es doch ein schönes Alter ist, 87 zu sein. Und so lange es so geht, wie es geht, ist es gut. Da arbeite ich auch noch ein bisschen. Und wenn es nicht mehr weitergeht, werde ich es schon merken.“ Er lachte und sagte mit seiner sanften Stimme „Tschüss, danke für den Anruf“.
Zu Ostern telefonierten wir noch einmal. Es klang nicht, als wäre es das letzte Mal. Er freute sich, dass es in seinem Garten wieder zu grünen und zu blühen begann. Jeden Strauch, jeden Apfelbaum, jedes Pflänzchen sind ein Stück von ihm. Er hat sie selbst gepflanzt, im Laufe der Jahre eine Steingartenlandschaft mit seinen Mitbringseln aus aller Herren Länder angelegt. Das Blockhaus mit dem Garten im Schönfelder Hochland bei Dresden war so ein Traum von ihm, den er sich mit 61 Jahren erfüllt hat. „Ein Irrsinn, sich als alter Zausel noch ein solches Haus zu bauen“, erklärte er mir mit einem Schmunzeln und Leuchten in den Augen, als ich ihn 1997 das erste Mal besuchte. Wir wanderten damals durch seine grüne Oase, und er erzählte mir von seiner Kindheit im Harzstädtchen Ellrich, wo er am 6. Dezember 1930 wie ein Nikolausgeschenk für seine Eltern zur Welt kam.
Der Vater besaß eine Bäckerei, die der Sohn übernehmen sollte. So wie der Vater von seinem Vater. Der Gedanke, sein Leben lang Teig zu kneten, war dem Kind aber ein Graus. „In mir steckte schon als kleiner Junge eine große Lust zum Spielen.“ Dennoch lernte er das Handwerk. Rolf Hoppe war acht Jahre als der zweite Weltkrieg in das Leben der Menschen eingriff und es für immer veränderte. „Da, wo ich aufgewachsen bin“, erinnerte er sich. „in Ellrich, war eins der brutalsten Arbeitslager. Dort wurde die V2 hergestellt. Was wirklich passiert ist, wusste ich nicht. Tagtäglich haben die Schornsteine des Krematoriums geraucht. Und nur 500 Meter von meinem Geburtshaus entfernt, im Bürgergarten, war ein KZ. Es ist für mich grauenvoll, wenn ich daran denke.“
Das sind Dinge, die er gern vergessen wollte, es aber nicht konnte. Ellrich war einst eine lebendige Stadt. Der Krieg hatte ihren Menschen das Lachen genommen. Auch ihm selbst. „Ich bin dem Lachen nachgerannt, ich wollte wieder lachen und dass sich die Menschen wieder am Leben erfreuen.“ Darum wollte er Clown werden, aber seine Neigung zum Schauspiel war stärker. „Das Clowneske in mir habe ich behalten. Lachen ist Lebenshilfe, ohne Humor kann der Mensch nicht sein“, sagte er.
Ihn machte es glücklich, wenn die Menschen zu ihm kamen, ihm zuhörten. Jenseits von Bühne und Kamera liebte er es, in der Erde zu buddeln. Er tat es, solange die Kraft dafür noch da war. „Es ist noch so viel Platz in meinem Garten, ich müsste wieder etwas pflanzen“, sinnierte er, wenn ich ihn bei unseren Telefonaten nach seinem Lieblingsort fragte. Leise, fast ein bisschen traurig, erklärte er dann: „Ich genieße es lieber, in der Sonne zu sitzen, dem leisen Rauschen der Bäume zu lauschen.“ Vor zwei Jahren sprachen wir noch darüber, dass ich im Frühling mit ihm zusammen buddele. Mittlerweile umgibt ein dichter Rasenteppich die zwei Birken vor dem Haus. Er nannte sie Josephine und Christine. Es sind die Lebensbäume seiner beiden Töchter.
Die starke Kiefer ein Stück weiter hinten im Garten taufte er Friederike. „Sie ist stark wie meine Frau, kein Sturm kann sie brechen“, erklärte er mir. Denn ohne seine Frau hätte es sein Leben so, wie es war, nicht gegeben. „Sie war mein Rückhalt, hat unsere Mädels großgezogen, war für ihre Sorgen und Nöte da, während ich durch die Welt schwirrte.“ Wochenlang hat er für die DEFA-Indianerfilme in der Sowjetunion gedreht, in der Mogolei, in Rumänien. Er war in China und Japan, spielte schon zu DDR-Zeiten sieben Jahre in Salzburg den Mammon im „Jedermann“. „Mein Riekchen“, wie er seine Frau liebevoll rief, „hat sich nie beschwert.“ Es war ihm wichtig, dies zu sagen. Rolf Hoppe hat seine Verantwortung für das Glück seiner Familie immer ernst genommen. Dafür hat er viel gearbeitet. Aber das Spielen war ihm auch eine Lust. Wie einem Kind, das sich daran erfreut, wenn es andere mit seinem Spiel begeistert. „Ich will den Menschen, die mir zuschauen, etwas geben, das ihnen hilft, wenigstens eine kurze Zeit den Druck des Alltags zu vergessen, ein bisschen Kraft für sich ziehen.“
Über 400 Rollen füllte Rolf Hoppe Zeit seines Lebens auf der Bühne und vor der Kamera aus. Prall gefüllte Jahre von der Kindheit im Harzstädtchen Ellrich bis zum vielfach geehrten Schauspieler. Zuerst war es das Puppentheater, das er mit zehn Jahren von seinen Eltern geschenkt bekam und das er vor dem Laden des Vaters aufstellte. Mit einem Freund spielte er Grimms Märchen, später wirkte er im Laienzirkel der Antifa-Jugend mit. Zuvor durfte er seiner Leidenschaft für Pferde nachgehen, indem er nach der Befreiung 1945 als Panje-Kutscher für die sowjetische Kommandantur arbeitete. 1951 begann sein Weg auf die Theaterbühnen der DDR und bald zum Film. Nach der Wende erfüllte er sich noch einen dritten großen Traum: Er kaufte einen Dreiseithof und schuf in Weißig das Hoppesche Hoftheater. „Ich wollte ein Theaterchen, ganz klein, wo das Leben nur eine Stufe ist: das gespielte Leben, das geträumte Leben und das wirkliche Leben im Parkett, das ineinander überfließt.“
1983 drehte Rolf Hoppe unter der Regie von Peter Schamoni „Frühlingssinfonie“. In dem Film geht es um die Liebe zwischen Robert und Clara Schumann. Als ehrgeiziger Vater vereinnahmt er die Tochter (Nastassja Kinski) @DEFA-Stiftung/Sybille U. Werner
Rolf Hoppe überraschte nicht nur die Zuschauer mit der Vielseitigkeit seines schauspielerischen Talents, das von der diffizilen Darstellung des Generals Göring über Künstler, Professoren und Jidden mit ihrem speziellen Humor bis hin zu gutherzigen Märchenfiguren wie den König in „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ oder „Hans Röckle und der Teufel“ reicht. Rolf Hoppe verfügte über die Gabe einer schönen Ironie. Süffisanz mischte sich mit Verletzlichkeit. Er verstand es, das Boshafte im Guten zu verstecken. „Jeder Mensch besitzt diese zwei Seiten“, sage er, „die Gefährlichkeit liegt darin, dass sich das Böse mit Menschlichkeit tarnt.“
Man wusste bei ihm nie so genau, was Hoppe und was Rolle ist. Er war in den kleinsten Auftritten authentisch. Ich fragte ihn einmal, ob er es denn wüsste. Da grinste er mich an. „Nee, das ist ja meine Lebensaufgabe, das herauszukriegen. Ich bin ja immer wieder erstaunt und neugierig, wie der Hoppe sich verhält. Ich lebe aus dem Körper heraus, der immer wieder neu ist.“ Nach seinem oscarprämierten Erfolg in István Szabós „Mephisto“ standen dem damals 51-Jährigen die Türen in Amerika offen. Doch es war keine Option für ihn. „Ich kann nur dort leben und spielen, wo ich mit meiner Sprache und meinen Gefühlen zu Hause bin. Ich versuche immer, den Menschen in einer Rolle zu finden. Ich muss in der Sprache auch denken können“, sagte er. Wie ein Hochstapler habe er sich gefühlt, als er mit Volker Schlöndorff 1998 in Florida auf englisch den Psychokrimi „Palmetto“ gedreht hat.
Rolf Hoppe hat den Tod nie aus seinen Gedanken verdrängt. „Ich habe mich in meinem Beruf immer mit der Frage beschäftigt, wo komme ich her, was will ich hier, wo gehe ich hin? Das ist der Kreislauf des Lebens. Der Tod gehört zum Leben. Woher wissen wir, dass er nicht zum Schönsten im Leben gehört? Nur die Frage wie beantworte ich nicht. Vor solchen Gedanken habe ich Angst.“ In den vergangenen beiden Jahren hat er, der immer unermüdlich unterwegs war, ohne Arbeit nicht sein konnte, sich gestattet, sich alle Zeit für sich, für sein Dasein zu nehmen. „Der Beruf war mein Leben, aber mit dem Alter muss man bescheidener werden. Die Zeit wird wertvoller.“ Und dann fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu: „Ich würde sogar mit den Engeln auf Wolke Sieben ein Theater aufziehen. Zu meiner Freude und der der Leute.“
Schauspieler Rolf Hoppe im Porträt von York Maecke
In unserem Dorf gab es zwar ein Kino, aber zu weit weg von uns Zuhause, als dass ich dem langen weg allein gehen durfte. So wusste ich bis zu meinem zwölften Lebensjahr nichts vom „Singenden, klingenden Bäumchen“. So sah ich den legendären DEFA-Märchenfilm zum ersten Mal im Fernsehen, in der Kindersendung „Zu Besuch bei Prof. Flimmrich“. Wie Millionen andere Mädchen umfing auch mich die Schönheit der Prinzessin. Einmal so ein Kleid tragen… ein Traum.
Im Laufe der Zeit und meines Erwachsenwerdens kamen andere Filme mit Christel Bodenstein dazu: „Revue um Mittenacht“, „Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück“, „Was ihr wollt“oder „Beschreibung eines Sommers“. Eine breite Palette an Rollen. Doch die „Prinzessin“ haftet ihr bis heute an. Ich hatte das Glück – dank meines Berufes – der Schauspielerin und dem Menschen Christel Bodenstein nahezukommen. Aus der Sympathie, die mit unserem ersten Interview 1996 begonnen hat, ist Freundschaft geworden. Am 13. Oktober 2018 feierte Christel Bodenstein ihren 80. Geburtstag. Wir hatten uns vorab zu einer kleinen Zeitreise durch ihr Leben verabredet. Ich besuchte sie und ihren Mann Hasso von Lenski in Borgsdorf, wo sie auf der schmalen Insel zwischen Oranienburger und Oder-Havel-Kanal seit 20 Jahren die Zeit von Mai bis Oktober verbringen.
Die Septembersonne gibt noch einmal ordentlich Feuer. Der Herbst verkleidet sich als Sommer. In einem weißen Leinenanzug steht Christel Bodenstein wartend auf dem grünen Wiesenhügel, der bestückt ist mit jungen Apfel- und Birnenbäumen. Die Kleingartenanlage ist gut gesichert. Ihr Mann muss das eiserne Tor an der Einfahrt aufschließen, damit wir hineinkommen. Es ist eine Weile her, dass ich hier war. Zehn Jahre! „Ans Wasser können wir heute nicht“, sagt Hasso von Lenski. Die Holztreppe auf dem Deich ist morsch geworden, nicht mehr begehbar. Eine neue müsste gebaut werden. „Vielleicht wird’s im nächsten Jahr“, meint der 76-Jährige leichthin. Er hat für uns einen kleinen Tisch und bequeme Gartenstühle vor eine blühende Hecke aus Eibisch und Hibiskus gerückt. „Gibst du mir eine Zigarette“, bittet Christel. Ihr Mann lächelt. Er hat sie parat, ebenso den Aschenbecher. Ich kann mich an kein Gespräch erinnern, bei dem sie nicht geraucht hätte. „Ohne Zigarette geht gar nichts.“ Rau und dunkel ist der Klang ihrer Stimme. Der klare Ton der „Prinzessin“ ist lange Vergangenheit.
Achtzig – ist das der Zeitpunkt, wo einen die Angst ergreift vor dem, was kommen kann? Was macht die Zahl, die einem sagt, dass man alt ist, mit einem? Ich schaue in Christels Gesicht. Es ist kein altes Gesicht. Ich sehe die Runzeln um den Mund, wenn sie spricht und die verschwinden, wenn sie lacht. An den Augenwinkeln bilden sich sanfte Lachfalten, die Nase kräuselt sich lustig. Und ich sehe ihr Strahlen, die leichte Verschmitztheit in ihrem Blick. Und, frage ich sie, wie fühlt es sich an, die letzten Dekaden des Lebens anzutreten? „Es ist furchtbar!“ Sie nimmt einen tiefen Zug aus der Zigarette. „Die 65 und die 70 konnte ich gut aushalten. Aber jetzt begreife ich, dass ich 80 bin, an dem, was ich nicht mehr machen kann. Zwei Harkenstriche im Garten und mein Rücken schreit: Biste verrückt! Wenn ich Unkraut zupfe, bräuchte ich eigentlich rechts und links eine Stütze, damit ich wieder hochkomme. Es wird nicht besser, und davor fürchte ich mich.“
Sie meint das ernst, und dennoch lacht sie dabei. Sie verweigert der Furcht, sie zu beherrschen. Und sollte so ein Moment kommen, denkt sie an ihr Motto: Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen. Das half ihr, ihren Weg zu finden und ihn zu gehen, auf den holprigen Pflastersteinen seelischer Tiefs und auf glatter Bahn, wenn sie glücklich war. „Ich denke ganz viel über mein Leben nach, das immer ein bisserl hektisch war. Und Ärger musste auch verkraftet werden“, beginnt sie zu erzählen. „Am Ende komme ich immer zu dem Schluss: Ich bin ein Glückskind, meine Kindheit in München ausgenommen. Ab dem Punkt, als meine Mutter mit mir im September 1949 nach Leipzig zog, haben sich meine Träume, die ich so hatte, erfüllt.“ Eine lebenswichtige Entscheidung für sie, was sie als Elfjährige nicht ahnte
Ein knappes Jahr vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges kam Christel Bodenstein in der bayerischen Metropole zur Welt. Die Eltern hatten nach ihrer Hochzeit Mitte der 30er Jahre ihre Heimatstadt Erfurt verlassen. Wilhelm Bodenstein bekam als Kaufmann eine Anstellung in einem großen bayerischen Sämereigeschäft. Ein großes Glück in der Zeit der allgemeinen Weltwirtschaftskrise, die von Massenarbeitslosigkeit geprägt war. „Wir lebten in Waldtrudering, in einem kleinen bayerischen Holzhaus mit Rundumlaufbalkon, einem Garten und einem Waschhaus, in dem meine Mutter für andere Leute wusch. Erna Bodenstein hatte den Traum, Pianistin zu werden. Aber die damaligen Zeiten ließen das nicht zu. Vor mir bekam sie meine Schwester Eva und musste uns allein versorgen, als unser Vater an die Front berufen wurde. Ich stand unter der Fuchtel meiner gerade mal ein Jahr älteren Schwester, und das war nicht schön“, erinnert sich die 80jährige. Sie war sieben, als der grauenvolle Krieg mit dem Sieg Alliierten 1945 beendet wurde. „Ich habe noch das Geheul der Sirenen im Ohr, wenn Bomber über München flogen. Meine Mutter rannte dann mit uns Kindern ins Nachbarhaus, das gemauert war und einen Keller hatte, in dem sie Schutz suchten.“
Tief eingeprägt hat sich in das Bewusstsein des Kindes der Hunger, den es aushalten musste. „Als mein Vater aus der Gefangenschaft kam, ist er mit dem Rad über die Dörfer gefahren und tauschte, was wir entbehren konnten, gegen Brot, Milch, Eier und Butter ein. Oder er kolorierte für ihre Familien Fotos gefallener Soldaten. Manchmal kam er auch mit leeren Taschen zurück, und es gab nichts zu Essen.“ Sie hatte immer Hunger. Dieses Gefühl verfolgt sie heute noch, treibt sie manchmal zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett. Dann muss sie essen. Sonst schläft sie nicht wieder ein. Eine Zeit hatten Amerikaner Quartier im Haus bezogen. Sie mochten die aufgeweckte Christel, und sie durfte mit der Milchkanne übriggebliebenes Essen vom Versorgungsstandort holen. „Ich war ganz stolz, meine Familie versorgen zu können.“
Wie so viele Ehen hatte der Krieg auch ihre Eltern entzweit. Sie ließen sich scheiden. Das Gericht sprach dem Vater die Mädchen zu. Die Mutter, ohne Beruf und Arbeit, hatte dem nichts entgegenzusetzen. Ihr Bruder in Leipzig bot ihr an, zu ihm zu kommen. Es gäbe eine freie Stelle bei der Post. Um nichts in der Welt wollte die damals elfjährige Christel bei Vater und Schwester bleiben, die Mutter allein ziehen lassen. „Mein Herz hing so sehr an ihr, dass ich ein so schauderhaftes Theater machte, bis mein Vater zustimmte und ich mit ihr nach Leipzig durfte.“ Die Erinnerung an ihn verbindet sich mit Strenge und Härte. „Er watschte gern. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mich mal liebevoll in den Arm genommen hätte. Was ich von ihm Gutes habe, ist die innere Stärke, Sachen aus dem Boden zu stemmen, zu erreichen, was ich will. Er war auch künstlerisch begabt, malte und bastelte.“
Diese Seite des Vaters schlägt sich in ihrem Hobby nieder, dass sie 1984 für sich entdeckte, als ihr Sohn Mirko einmal Modelliermasse aus dem Trickfilmstudio mit nach Hause brachte, um eine Arbeit zu erledigen. „Ich nahm ein Stück in Hand und dachte: Wie gut sich das anfühlt. Dann begann ich zu kneten und zu formen, noch ungelenk. Aber ich hatte soviel Freude daran, dass es meine liebste Beschäftigung geworden ist.“ Sie vertieft sich dann so sehr in diese Arbeit, dass sie über Stunden alles um sich herum vergisst. Manchmal beschwert sich ihr Mann Hasso: „Kommst du auch mal wieder zurück?“ Aber er weiß, sie braucht dieses Abtauchen. „Es ist Christels Ausgleichgymnastik für ihre Seele“, sagt er.
Das war auch der Titel ihrer ersten Ausstellung 1990. Sehr bald hat die Hobbykünstlerin eine große Fertigkeit im Modellieren ihrer Miniaturen entwickelt. Es sind witzige, berührende und fantasievolle Figuren, die sie ihrem Leben entlehnt. Die kleinen Kunstwerke setzt sie in Bilderrahmen. Die Idee entstand aus Mangel an Platz in ihrer Berliner Zwei-Zimmer-Wohnung, die einer Galerie gleicht. Die Künstlerin gibt so gut wie keines ihrer Schöpfungen weg. Verkaufen? Undenkbar. Es würde ihr das Herz zerreißen. „Einige habe ich an besondere Freunde verschenkt. Mit Schmerzen und Freude zugleich“, erzählt sie.
Die Verbindung zu Vater und Schwester ist ein paar Jahre nach dem Umzug abgebrochen. Zweimal verbrachte Christel die Sommerferien aufgrund eines Gerichtsbeschlusses, den Wilhelm Bodenstein erwirkt hatte, in München. „Er holte mich nicht zu sich, weil er mich liebte. Er strafte mich damit, weil ich mit meiner Mutter weggegangen bin. Ich musste die ganzen Ferien bei ihm in der Wäscherei arbeiten. Da habe ich mich dann geweigert, zu ihm zu fahren.“ Christels späterer Versuch, sich mit dem Vater zu versöhnen, scheiterte. „Ich hatte ihm nach so vielen Jahren verziehen und wollte ihm nach Mirkos Geburt mein Baby zeigen. Er lehnte es ab, uns zu sehen. Zu meiner Schwester fand ich nie mehr Kontakt. Um sie tut es mir leid.“
In Leipzig begann für die Elfjährige ein neues, vor allem anderes Leben. Die Stadt gefiel ihr sofort. „Wir kamen spät in der Nacht an. Ich war fasziniert von den vielen Laternen, die wie Sterne leuchteten“, hat Christel noch ihre erste Begegnung mit ihrer neuen Heimat vor Augen. „Kurz vor Gründung der DDR, gerade noch rechtzeitig, hatte sich meine Mutter entschieden, das Angebot ihres Bruders anzunehmen. Ich weiß nicht, was aus mir im Westen geworden wäre. Bestimmt keine Märchenprinzessin“, ist sie sich sicher. Leicht fiel ihr die Eingewöhnung damals nicht. Es gab Verständigungsschwierigkeiten. „Sächsisch war für mich eine Fremdsprache und mein Dialekt für die anderen.“ Vergebens bemühte sich die Tante, ihrer Nichte Sächsisch beizubringen. Im Unterricht wurde zum Glück hochdeutsch gesprochen. Die Schauspielerin erinnert sich gern an ihre Schulzeit. „Das Schönste war für mich, dass es in der großen Pause für jedes Kind ein Brötchen und einen halben Liter Milch gab.“ Mit Begeisterung war sie „Junger Pionier“, trug stolz ihr blaues Halstuch. Die Mutter belächelte das und schlug ihr vor, das Tuch auch zum Nachthemd umzubinden.
Im Leben der Schauspielerin steht Leipzig vor allem aber für die Geburt ihres Traums, Tänzerin zu werden, den sie sich mit großer Zielstrebigkeit erfüllte. Das Plakat von einer jungen französischen Ballerina weckte in ihr den Wunsch, selbst so tanzen zu können. Weil das Geld für privaten Ballettunterricht fehlte, bewarb sich die Zwölfjährige beim Tanz- und Gesangsensemble der „Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“ und wurde genommen. Nach dem Schulabschluss – sie war 14 – machte sie eine dreijährige Ausbildung an der Leipziger Ballettschule, die sie an der Staatlichen Ballettschule in Berlin abschloss. Ihr erstes Engagement bekam sie am Landestheater Halle. In der Operette „Frau Luna“ übernahm sie die Rolle des Mondkrümel.
Christel Bodenstein in ihrer ersten Rolle am Theater Halle. Sie sang und tanzte in der Operette „Frau Luna“ den Mondkrümel Quelle: Screenshot „Lebensläufe“, mdr
Schmunzelnd erinnert sich Christel an den Tag, an dem eine Begegnung am FKK von Ahlbeck ihren Lebensweg ins DEFA-Studio lenkte. Sie ahnte nicht die Schicksalhaftigkeit dieser kuriosen Episode. „Ich hatte vor Beginn meines Engagements in Halle Ferien und wurde von ein paar jungen Schauspielern eingeladen, mit an die Ostsee zu fahren.“ Die 17-Jährige, die noch nie Urlaub gemacht hatte, sagte freudig zu. Vor allem auch, weil ihr Schwarm, der Kapellmeister Olaf Koch mit dabei war. „Mit ihm stolperte ich damals in meine erste Ehe“, flicht sie ein. Mit Einwilligung der Mutter heiratete sie den gutaussehenden, um vieles älteren Kapellmeister aus Leipzig, der sich endlos geschmeichelt gefühlt hat, von so einen hübschen jungen Ding begehrt zu werden. Die Ehe war 1957 vorbei. Sie konnte seine Eifersucht und Gängelei nicht ertragen.
„Eines Vormittags“, kommt sie auf die Episode zurück, „kam ein Mann mit zwei Windhunden den Strand entlang. Die anderen rannten auf ihn zu, zogen mich mit. Stürmisch begrüßten sie ihn und stellten mich vor. Es war der berühmte DEFA-Regisseur und Direktor der Filmhochschule Prof. Kurt Maetzig. Ein freundlicher Mann, der mich wohlwollend betrachtete und nach einem längeren Gespräch zu Probeaufnahmen nach Babelsberg einlud. Das ist mir nur ein einziges Mal passiert, dass ich splitternackt eine Rolle angeboten bekam.“ Sie musste eine Liebesszene spielen. „Es war schon gewagt, was Prof. Maetzig mir zumutete. Aber ich hatte noch nie Angst vor einer Kamera. Und damals waren die Filmkameras noch Ungetüme!“ Doch mit ihren 17 Jahren und der kindlich-mädchenhaften Erscheinung war sie zu jung für die Figur, die am Ende des Films 70 ist. Die Rolle in Maetzigs Romanverfilmung „Schlösser und Katen“ spielt Karla Runkehl, die mit ihren damals 26 Jahren bereits Anerkennung als Charakterdarstellerin gefunden hatte.
Für die 17jährige Christel Bodenstein interessierten sich zwei andere bekannte DEFA-Regisseure, die ihre Probeaufnahmen gesehen hatten. Bei Slatan Dudow spielte sie eine angehende Kosmetikerin in der Filmkomödie „Der Hauptmann von Köln“, mit dem großartigen Schauspielers Rolf Ludwig in der Hauptrolle. Parallel agierte sie unter der Regie von Helmut Spieß als Magd Traute in dem Märchenfilm „Das tapfere Schneiderlein“ und tanzte dazwischen kleine Rollen am Theater. „In diesem Jahr zwischen 1956 und 1957 spielte sich mein privates Leben hauptsächlich im DEFA-Auto ab, das mich von Halle nach Babelsberg und wieder zurück brachte. Der zauberhafte Kraftfahrer hatte er mir auf dem Rücksitz ein Bett gebaut, damit ich schlafen konnte, und verwöhnte mich mit Obst und belegten Brötchen.“
Sie schwebte wie auf Wolke. Es war der Anfang ihrer DEFA-Zeit, die sie die allerglücklichste in ihrem Leben nennt. Am Ende der Theatersaison verabschiedete sie sich von ihrem Ziel, eine große Ballerina zu werden, und folgte dem Rat ihres Entdeckers Prof. Kurt Maetzig. Sie ging an die Filmhochschule nach Babelsberg, um die Schauspielkunst richtig zu erlernen. Denn auch ein Naturtalent braucht Handwerkszeug, hat sie bei den Dreharbeiten für ihre beiden Filmdebüts erkannt. Doch auch während des Studiums stand sie unentwegt vor der Kamera. Gleich im ersten Studienjahr bekam sie die Rolle, für die sie seither geliebt wird: die stolze Prinzessin Tausendschön im Märchenfilm „Das singende, klingende Bäumchen“. Am 13. Dezember 1957 kam der Film in der DDR in die Kinos, am 14. September begeisterte er auch die Kinder im Westen Deutschlands. In den ersten beiden Erscheinungsjahren hatte er bereits sechs Millionen Zuschauer.
Mit ihrem zweiten Mann, dem Regisseur Konrad Wolf wohnte sie in Babelsberg gegenüber einer Schule. Wenn sie aus der Tür trat, riefen die Kinder „Guten Tag, Prinzessin!“ Mit der plötzlichen Popularität umzugehen, war für die junge Schauspielerin nicht einfach. „Ich musste lernen, zu akzeptieren, dass nicht ich, sondern die Figur gemeint ist.“ Inzwischen ist sie dankbar, für die lange Treue ihrer Fans. Und wenn ein Kind sagt: „Du siehst aber nicht aus wie die Prinzessin“, antwortet sie lachend: „Auch Prinzessinnen werden alt.“
1960 kürten die Leser des Jugendmagazins „Neues Leben“ sie zur beliebtesten Schauspielerin der DDR. Ein Schicksalsjahr, denn auf der DEFA-Filmwoche in Helsinki traf sie Konrad Wolf, Sohn des Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf. Dessen Stück „Professor Mamlock“ verfilmte er gerade, als er Christel Bodenstein kennenlernte und sie sich verliebten. „Koni war ein kräftiger Riese, fast zwei Meter groß, und dabei sehr scheu, eigentlich schüchtern“, beschreibt sie ihn. Finnische Filmleute hatten die DEFA-Kollegen zum Krebsessen eingeladen. Anschließend wurde getanzt.
„Koni nahm mich in den Arm und versuchte, nicht aus dem Takt zu kommen. So begann unsere Beziehung.“ Im September 1961 kam ihr Sohn Mirko zur Welt und ein Jahr später, einen Tag vor Weihnachten 1962, heirateten sie. Eigentlich wollte Christel das nicht. Es waren äußere Zwänge, die sie umstimmten. Unverheiratete bekamen in Hotels kein Doppelzimmer und – das wog schwer – wollte man von offizieller Seite, dass der bekannte Regisseur, der zudem noch Vorsitzender der Gewerkschaft Kunst und Präsident der Akademie der Künste war, kein uneheliches Lotterleben führt. In diesem Punkt war die Partei ganz konservativ, beinahe spießbürgerlich.
Ein leichter Wind streicht über die Blütensträucher. Am Himmel ziehen dunkle Wolken auf. Wird es regnen? „Ich denke nicht“, sagt Christels Mann Hasso von Lenski. Er holt eine neue Flasche Wasser. Christel hat die dritte oder vierte Zigarette beim Wickel, als wir auf ihre 19 Jahre an der Seite von Konrad Wolf zurückblicken. Mit ihrem Mann hat sie nur einen einzigen Film gedreht, weil er es hasste, wenn Regisseure ihre Frauen in die Hauptrollen ihrer Filme holten.
1966 spielte sie in seinem Film „Der kleine Prinz“ die Titelrolle. Er machte diese Ausnahme, weil er wusste, dass sich Christel diese Rolle insgeheim wünschte. Die Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry war ihre „Bibel“, seit sie das Buch als junges Mädchen bekam. Konrad Wolf schenkte ihr die Rolle 1965 zu ihrem 27. Geburtstag. Wie es dazu kam, erfuhr sie erst über 45 Jahre später von Angel Wagenstein, einem bulgarischen Drehbuchautor und gemeinsamen Freund. Die saßen über dem Drehbuch für den „kleinen Prinzen“, als Konrad Wolf feststellte, dass er vergessen hatte, ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau zu besorgen. Aber es war Wochenende. Schenk ihr doch den kleinen Prinzen, schlug Angel Wagenstein vor. Am nächsten Morgen stand Konrad Wolf mit einem Blumenstrauß vor seiner Frau und fragte: „Möchtest du den kleinen Prinzen spielen? Ich schenke dir die Rolle.“ Da war für sie alles gut. Dennoch ging Christel Bodensteins Traum von einem glücklichen Familienleben am Ende nicht in Erfüllung.
„Wir hatten schöne Zeiten, aber der Alltag lag auf meinen Schultern. Ich drehte, sorgte für unseren Sohn. Ohne die Hilfe meiner Mutter hätte ich das nicht bewältigt. Koni arbeitete sehr viel. Als er 1965 Präsident der Akademie der Künste wurde, blieb noch weniger Zeit für Mirko und mich. Er bemerkte nicht einmal mehr, wie sehr es mir fehlte, seine Liebe zu spüren, wie sehr mir die Zweisamkeit mit ihm fehlte. Ich fühlte mich wie ein Möbelstück, dass einfach da war, wenn er nach Hause kam. Heute merke ich, wie wenig ich von ihm weiß, weil wir uns nie richtig kennenlernen konnten. Das ist eine sehr traurige Erkenntnis“, schließt sie. Ihre Ehe wurde 1978 geschieden.
1977 fand Christel Bodenstein in Hasso von Lenski die Liebe ihres Lebens. Sie wurden unzertrennlich
In dieser Zeit lernte sie im Kreis von Kollegen den Schauspieler und Dramturgen Hasso von Lenksi kennen. Begegnet sind sich zum ersten Mal 1976 in der Kantine der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, ohne zu ahnen, dass sich ihre Weg ein Jahr später wieder kreuzten und von da an gemeinsam verlaufen sollten. „Hasso machte auf mich so einen fröhlichen, jungenhaften Eindruck. Am meisten gefielen mir seine neugierigen frechen Augen. Wie der einen anschaute!“ erinnert sich Christel Bodenstein lachend. Seit 1977 leben sie zusammen sind seit 1992 verheiratet. Bei ihm spürt sie, was Konrad Wolf ihr nicht geben konnte: Wärme, Liebe, Aufmerksamkeit. „Wir haben zusammen harte Zeiten durchgestanden, unser gemeinsames Leben zusammen bei Null angefangen. Seit wir uns kennen, hatte ich nie das Gefühl von Einsamkeit und Alleinsein“, macht sie ihm mit ganz viel Glück in den Augen eine Liebeserklärung. Ihn macht es etwas verlegen. Seine Ehe wurde wie ihre 1979 geschieden. Dass sich trafen und zueinander fanden, war nicht der Grund. Es gab aber den Anstoß, den lange fälligen Schritt zu gehen.
Sie hat das DEFA-Ensemble, dem sie seit Ende ihres Studiums angehört hatte, 1973 verlassen. „Mich reizten die freundlichen, lustigen Mädchen nicht mehr. Ich wäre gern ins ernste Fach gewechselt, doch solche Rollen bot man mir nicht an.“ Die einzige Ausnahme war die FDJ-Sekretärin Grit in dem Gegenwartsfilm „Beschreibung eines Sommers“ an der Seite von Manfred Krug. „Es war das einzige Mal, dass ich einen Regisseur bat, mich zu besetzen.“ Sie bekam die Rolle, nicht zuletzt auch, weil sich Manfred Krug für sie bei Regisseur Ralf Kirsten stark gemacht hat. Mit dem 2016 verstorbenen Schauspieler verband sie eine lange Freundschaft. Sie kamen zur selben Zeit als Scheidungskinder nach Leipzig.
Die Begegnung mit Hasso von Lenski war nicht nur Beginn eines neuen privaten Glücks. Nach drei Jahren, in denen sie als freischaffende Künstlerin zunächst mit kleinen eigenen Liedern auftrat, dann mit dem Feuilletonisten Hans-Georg Stengel unterhaltsame Abende veranstaltete, bekam sie in der vom Friedrichstadtpalast 1976 neu gegründeten Kleinen musikalisch-literarischen Bühne ein festes Engagement. Hasso von Lenski stieß als Regisseur und Dramaturg dazu.
Christel Bodenstein war dankbar für das Engagement, weil sie sich um ihren damals 14jährigen Sohn Mirko kümmern musste. Er brauchte jetzt die Mutter, die Oma packte es nicht mehr. „Hasso und ich haben wunderschöne Abende veranstaltet. Die Ideen für Neues plumpsten nur so aus uns heraus.“ 1989 verlor die Künstlerin nach einem Zerwürfnis mit dem neuen Leiter des Theaters ihr Engagement, und der Dramaturg kündigte. „Es sollte wehtun“, sagt er. Er konnte und wollte die Art und Weise, wie die Leitung mit den Schauspielern umging, nicht hinnehmen. „Ich hätte nicht erwartet, dass er für mich seine Arbeit dort aufgibt“, sagt Christel. Der Friedrichstadtpalast bot ihr an, als Regieassistentin für die „Kleine Revue“ zu arbeiten. Hasso wurde Marketing-Chef im Friedrichstadtpalast. Sie weiß noch gut, wie schmerzvoll es sich anfühlte, als sie das erste Mal von unten auf die Bühne schaute. Aber: Christel schafft alles, was sie will. Es liegt in ihren Genen. Sie fuchste sich ein und verspürte bald das Bedürfnis, eigene Ideen umzusetzen. Als erste eigene Regiearbeit brachte sie den musikalisch-literarischen Abend „Claire“ auf die Bühne, ein Jahr später inszenierte sie mit großem Erfolg die Revue „Sommernachtsnachtsträume“. Als die Kleine Revue 1997 geschlossen wurde, gab Christel Bodenstein den Sprecherkindern Schauspielunterricht und übernahm 1998 einen Teil der Regiearbeit für die Märchenrevue „Hänsel und Gretel“.
Als sie 60 geworden war, fand sie, es sei an der Zeit, in die Ausruhphase des Lebens zu gehen. Das gestaltete sich jedoch nur als Rahmen, um ausschließlich das zu tun, was ihr Spaß macht. Acht Jahre lud sie danach zu Talkshows mit ehemaligen Kollegen ins „Café Nass“ in Berlin-Johannisthal ein. 2006 veröffentlichte sie ein Bildertagbuch aus ihrem Leben „Einmal Prinzessin, immer Prinzessin“, mit dem sie seither auf Lesereise geht. Begleitet von ihrem Mann Hasso, der die passenden Bilder auf eine Leinwand projizierte. Für Christel war immer das Schönste, mit ihm zusammenzuarbeiten. Gemeinsam entwickelten sie mit ihrem Sohn Mirko das Märchenspiel „Das singende, klingende Bäumchen“.
Sie schuf die Figuren, nach denen der Trickfilmzeichner und Illustrator die Bilder zeichnete. Natürlich hat Christel Bodenstein auch noch Träume. Einer erfüllte sich, als der Film „Der kleine Prinz“ nach 50 Jahre aus dem Archiv endlich in die Kinos kam. Er war nicht unter die politischen Räder gekommen. Er durfte nicht gezeigt werden, weil das DDR-Fernsehen vor der Produktion 1966 vergessen hatte, sich bei Saint-Exépurys Buchverlag Éditions Gallimard die Verfilmungsrechte zu sichern.
Es war ein schöner Tag mit „Prinzessin“ Christel Bodenstein @Nikola
Übers Erzählen ist es später Nachmittag geworden. Das Spiel der dunklen Wolken hat die Sonne verdeckt. Der Himmel hat etwas Mystisches. Christel und Hasso begleiten uns zum Auto. Er muss das Tor wieder aufschließen. Noch ein paar letzte Fotos an der Schaukel, die sich im Wind bewegt. Ich entdecke noch Blüten an den Apfelbäumchen. Das passiert, wenn der Sommer lang und warm ist.
Seit dem Tod ihres Mannes Hilmar Thate vor zwei Jahren ist es still um Angelica Domröse geworden. Am 4. April feierte die Schauspielerin ihren 77. Geburtstag. Die „Berliner Pflanze“ gehört zu den auserwählten Größen des deutschsprachigen Films der letzten hundert Jahre, die einen Stern auf dem „Boulevard der Stars“ am Potsdamer Platz bekommen haben. Ihre Karriere begann vor 60 Jahren mit der DEFA-Liebeskomödie „Verwirrung der Liebe“.
Mancher mag für sie für divenhaft, kapriziös halten, was Ausdruck ihres Anspruchs ist, den sie sich im Laufe ihres Lebens erarbeitet hat. Hartnäckig, unbeirrbar. „Ich bin in der Banalität groß geworden, aber ich hatte immer eine tiefe Abscheu dagegen.“ Sie wollte weg aus diesem Milieu. Studieren, Filme machen. Mit 14 Jahren schon hatte sie diese ganz feste Lebensvorstellung. Heute kann jeder sehen, dass sie sich ihre Träume erfüllt hat. Auf dem Berliner „Boulevard der Stars“ glänzt ein goldener Stern mit ihrem Namen, neben anderen Filmgrößen wie Marlene Dietrich, Hildegard Knef, Romy Schneider, Hanna Schygulla, Billy Wilder, Rainer Werner Fassbinder. Nicht zuletzt wegen solcher Filme wie dem DEFA-Kultstreifen „Die Legende von Paul und Paula“ oder „Die zweite Haut“ und „Hanna von acht bis acht“ sowie ihrer herausragenden Theaterleistungen. Sie spielte am Berliner Ensemble die Hure Betty in der „Dreigroschenoper“ und die Näherin Babette in Brechts Parabelstück „Die Tage der Pariser Commune“. 1966 wurde Angelica Domröse in der DDR zur „Besten Schauspielerin des Jahres“ gewählt. Im selben Jahr wechselte die damals 25-Jährige zu Benno Besson an die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz und wurde als „Cleopatra“ und „Die schöne Helena“ gefeiert. In einer Inszenierung von George Tabori brillierte sie 1987 als „Stalin“ und 2001 mit ihrem Mann Hilmar Thate im Theater am Kurfürstendamm in „Josef und Maria“.
Sie war gerade mal 17 Jahre, als sie bei Slatan Dudow in ihrer ersten Filmrolle vor der Kamera stand und noch heute bezaubert sie als Siegi in der DEFA-Liebeskomödie „Verwirrung der Liebe“ mit einer Mischung aus unschuldiger Naivität und verführerischem Sexappeal. In einem Interview mit mir blickte Angelica Domröse noch einmal hinter die Kulissen von damals.
Welche Erinnerungen haben Sie noch an jenen Mai 1958? Er war aufregend. Ich hatte in der „Berliner Zeitung“ eine Annonce entdeckt, mit der die DEFA für eine Hauptrolle in einem heiteren Spielfilm eine natürliche, fröhliche 16- bis 20-Jährige suchte, Größe ca. 1,60. Für mich war klar: Die meinen mich!
Wie Sie dachten 1500 Mädchen… Natürlich, solche Annoncen erschienen ja nicht jeden Tag. Das war etwas Besonderes. Am Tag der Vorstellungsgespräche saßen Hunderte Mädchen in der S-Bahn zum Griebnitzsee. Wie eine Schar Gänse sind wir den Weg zum DEFA-Studio geflattert.
Und wie hat diese Schar versucht, den Regisseur zu beeindrucken? Wir haben alle unsere Vorzüge hervorgehoben (lacht). Hatten die Taille ganz eng geschnürt, Petticoats unterm Rock, enge Pullis, die langen Haare offen oder als Pferdeschwanz. Ja, und dann saßen wir da und warteten. Regisseur Slatan Dudow hat mit jedem Mädchen gesprochen.
Wie war Ihr erster Eindruck vom Studio?
Das war alles gigantisch für mich und neu. Respekteinflößend. Und es hat mich angezogen. Aber es ist alles mehr über den Bauch gegangen als über den Intellekt. Ich war ein Kinofreak, sah auch gern Theaterstücke. Aber es hatte mich eigentlich nie interessiert, wie das zustande kommt. Schmerzliche Erfahrung habe ich erst beim Drehen gemacht.
Was ist passiert?
Szenen, die wir oft geprobt haben, sind mir beim Drehen dann sehr schwer gefallen. Da gab es einen Tag, an dem ich anfing zu weinen. Mich hat plötzlich die Stille im Atelier gestört, als es hieß: Kamera läuft, Ton ab. Ich hörte mich selbst. Alles war auf mich fokussiert. Das hat mir Angst eingejagt. Dudow hat dann alle aus dem Atelier geschickt und mich ausheulen lassen. Es war für mich mit einem Mal ganz schwer, auf die Rolle zu kommen. Später habe ich das beim Theater öfter erlebt, dass ich nach der xten Vorstellung vollkommen neben der Rolle lag. Und das ist die Schwierigkeit in unserem Beruf: die Abrufbarkeit des Handwerklichen, die Genauigkeit beim Spiel und gleichzeitig muss es wie gerade geboren wirken.
Für die Zeitungen waren Sie die Favoritin. „Junge Welt“ und „Filmspiegel“ schrieben über Sie. Warum hat sich Slatan Dudow für Sie entschieden? Er hat es mir später mal gesagt. Ich hatte die unschuldige Naivität und Natürlichkeit, die er sich für die Rolle der Siegi vorgestellt hatte. Es ist eben etwas anderes, wenn eine 17-Jährige vor der Kamera steht, die noch nie gedreht hat, als wenn es eine 25-jährige Schauspielerin ist. Und dass ich die Rolle bekam, verdanke ich auch Annekathrin Bürger. Sie spielte die Kunststudentin Sonja, deren Freund sie beim Fasching mit Siegi verwechselt. Das ist ja der Ausgangpunkt der Geschichte. Und ich hatte die gleiche Statur wie sie.
Wurde Slatan Dudow nicht ungeduldig, wenn Sie beim Drehen nicht auf die Rolle kamen?
Nein, überhaupt nicht. Er hat auf mich geachtet wie auf ein rohes Ei. Ich habe ihm wirklich viel zu verdanken. Wenn er sich nicht bei der Filmhochschule für mich verwendet hätte, wer weiß, ob sie mich überhaupt genommen hätten.
Sie standen mit renommierten DDR-Schauspielern – außer Annekathrin Bürger waren das Ulrich Thein, Stefan Lisewski, Willi Schrade und Marianne Wünscher – vor der Kamera. Hatten Sie keine Hemmungen? Meine Idole waren Weltstars aus französischen und amerikanischen Filmen. Die Schauspieler, mit denen ich in dem Film spielte, kannte ich gar nicht. Ich sage das ohne Arroganz. Mich hat bis dahin künstlerisch niemand geleitet. Dudow war der Erste, dann war es die Schauspielschule. Danach lernte ich am Berliner Ensemble und bei Benno Besson in seiner großen Zeit an der Berliner Volksbühne was Qualität und was Mist ist.
Wie reagierte Ihre Mutter darauf, dass Sie ausgewählt wurden? Sie hat Sekt gekauft und mit mir und dem Produzenten angestoßen. Sie musste ja den Vertrag unterschreiben, da ich minderjährig war. Ich weiß noch, wie ihre Hand gezittert hat…
Warum wollten Sie eigentlich Schauspielerin werden? Das Kino spielte in meiner Kindheit und Jugend eine enorme Rolle. Ich bin fast jeden Tag ins Kino gerannt, habe mir auch Filme zehnmal angesehen. Das war meine Lebensschule, so wie die Straße. Ich war eine Asphaltassel, bin in den Berliner Trümmern großgeworden. Als ich klein war, habe ich bei einem traurigen Filmende immer gedacht: Wenn du morgen ins Kino gehst, ist der Schluss besser. Und ich war ganz traurig, dass es wieder wie vorher ausging. Mit vierzehn, fünfzehn hatte ich dann schon eine feste Vorstellung von meinem Leben. Ich wollte raus aus dem Milieu, in dem ich lebte, studieren. In den 50ern war das etwas Besonderes, Student zu sein.
Wie haben Sie denn gelebt? Meine Mutter verkaufte Fahrkarten am S-Bahnhof Nordbahnhof, mein Stiefvater war Eisenbahner. Es war für mich nicht schön zu Hause. Ich wollte auf Leute mit anderen Interessen treffen. So kam es auch.
Sie waren Sachbearbeiterin beim Deutschen Innen- und Außenhandel. Und plötzlich standen Sie – gerade mal 17 – vor einer Filmkamera. Wie war das, als Sie für „Verwirrung der Liebe“ an der Ostsee die Nacktszene gedreht haben? Ich hatte da keine Hemmungen. Die Kamera war weit weg. Damit hatte Dudow mir die Scheu genommen. Ihm schwebte bei der Szene, als ich aus dem Wasser steige, Botticellis „Geburt der Venus“ vor. Nun hatte ich damals keine Ahnung, wie die aussah noch wer Botticelli war.
Wo wurde gedreht? An einem FKK-Strand an der Ostsee. Wir waren angezogen, die Urlauber nackt. Das ging natürlich nicht. Wenn wir drehen wollen, hat der Produktionsassistent durchs Megaphon gerufen: Alles anziehen! Die Statisten, die meisten waren Urlauber, stöhnten. Nach dem Dreh hieß es dann: Sie dürfen sich wieder ausziehen! Das war absurd. Wie surrealistische Malerei. Einige Szenen wurden im Studio gedreht, weil am Strand nicht das richtige Licht war. Dafür wurde tonnenweise Ostseesand ins Studio nach Babelsberg gebracht.
Nach diesem Film ging es für Sie Schlag auf Schlag weiter?
Ich bin in eine Zeit geraten, in der das Fernsehen explodiert ist. Mit Filmen wie „Papas neue Freundin“ und „Vielgeliebtes Sternchen“ entstand auch eine große Popularität.
Mit Erwin Geschonneck drehten Sie 1966 „Ein Lord am Alexanderplatz“.
Ich habe den Film wegen des Geldes gemacht. Am Theater, ich war damals am Berliner Enselmble, verdiente man nicht viel. Obwohl es die Weigel nicht gern sah – Film war für sie Afterkunst – wollte ich drehen. Das war mein Spielbein. Mein Standbein war das Theater. Immer. Mit Geschonneck zu spielen war ein großes Vergnügen. Ich hatte gehört, was für tolle Rollen er am BE gehabt hatte. Man bekommt – auch wenn man so jung ist schon mit – wer Gewicht hat. Privat war er sehr lustig. Geschonneck hatte stets Stullenpakete mit, Kaffee in einer Thermosflasche – und einen Klappstuhl. Darüber habe ich immer lachen müssen. Heute verstehe ich ihn. Eh‘ du fragst: Wo kann ich mich mal hinsetzen, sorgst du besser selbst für dich.
Sie wurden bejubelt und hoch geehrt. Was letztlich auch an Ihre Substanz ging.
Ja, kein Erfolg ohne Misserfog. Keine Lust ohne Schmerz. Ich weiß, dass mir der Beruf sehr viel gegeben hat. Durch ihn habe ich zur Literatur, zur Malerei, zur Architektur gefunden. Ich habe Menschen getroffen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Habe Länder gesehen, in die ich vielleicht nie gekommen wäre. Es ist ein ganz wunderbarer Beruf, und ich bin dem außergewöhnlichen Dudow dankbar, dass er mir das Tor dahin aufgemacht hat. Aber man muss auch mal loslassen können und mit der Biologie gehen. Mit über 70 ist doch klar, dass der größte Teil der Lebenszeit, in dem man gearbeitet und geliebt hat, mal oben, mal unten war, hinter einem liegt. Der Rest ist sehr kostbar. Ich nutze ihn nur noch für mich.