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Dorit Gäbler – „Ich habe mein Herz auf die Bühne geschmissen“

Wann sagte sie das? Es ist mehr als fünfzehn Jahre her. Ich interviewte sie damals für die SUPERillu. Sie hatte gerade ihr neues Programm „Starke Frauen“ kreiert. Wir kamen auf ihren wahnsinnigen Erfolg zu sprechen, den sie 1967 als Eliza in „My fair Ladyauf der Opernbühne in Karl-Marx-Stadt hatte. Es war nach dem Abschluss der Schauspielschule ihr erstes Engagement. „Die Leute haben getrampelt vor Begeisterung. Ich hatte mein Herz auf die Bühne geschmissen und erreicht, dass man mir abnimmt, was ich spiele; dass aus einem kleinen, dreckigen Etwas eine Lady werden kann. Ich bin beschmiert, ohne angeklebte Wimpern auf die Bühne gegangen. Ich war so ordinär wie die Rolle es verlangte, aber auch verzweifelt bemüht, diesem Zustand zu entkommen.“

Dorit Gäbler als Mrs. Higgins 2019 mit Gunther Emmerlich als Oberst Pickering in der Chemnitzer Neuauflage des Musicals „My Fair Lady ©Theater Chemnitz/Nasser Hashemi

Ein Stück weit sah sich die 24jährige selbst in dieser Eliza, und sie versprach sich und dem lieben Gott angesichts des sich wiederholenden tosenden Applaus stets alles zu geben, um einen solchen Erfolg auch bei weniger spektakulären Rollen zu erreichen. „Das habe ich mein Leben lang befolgt und hart daran gearbeitet. Aber so eine Resonanz habe ich nie wieder erlebt. Annähernd vielleicht bei meinem Unterhaltungsprogramm Schauspielereien“, holte Dorit Gäbler über ein halbes Jahrhundert später noch einmal die Erinnerungen hervor. Inzwischen ist ein Rollenwechsel eingetreten. Jetzt wirft sie in der Neuinszenierung, die das Opernhaus Chemnitz zum 50jährigen Jubiläum 2017 auf die Bühne gebracht hat, als Mrs. Higgins kritische Blicke auf das ordinäre, aber sympathische Blumenmädchen Eliza.

Eliza, Susi und ich

Am 12. Januar hatte die Schauspielerin und Chansonnette ihren 80. Geburtstag. Dorit Gäbler sitzt zu Hause in Friedewalde in ihrem Büro. Es ist ein Dienstag, ihr Marketing-Tag. Wir unterhalten uns per Live-Video. „Weißt du“, sagt sie, „ich habe mir die Botschaft, die das Stück enthält, zu eigen gemacht. Es ist egal, wo du herkommst, ob du Geld oder Beziehungen hast. Du brauchst eine Vision, wohin du im Leben willst.“

Premiere ihres Programms „Momentaufnahmen“ war im Mai 2023 ©Karl-Heinz Bellmann

Das hört sich leichter an, als es für sie mitunter war. Was hinter ihr liegt, ergäbe ein spannendes Buch. „Nee“, sagt sie, „alle schreiben Bücher, ich nicht. Dazu habe ich einfach keine Lust und auch keine Zeit.“ Sie macht das anders. Auf der Bühne. „Momentaufnahmen – Dorit Gäbler wie sie leibt und lebt… und lacht… und singt“ heißt ihr aktuelles Programm. Zum ersten Mal erzählt sie ihrem Publikum direkt etwas von sich, ihrem durchwachsenen Lebensweg, der sie dahin geführt hat, wo sie heute ist. Es ist amüsant, ergreifend, spannend. Gleichwohl konnte man sich schon ein Bild machen, wenn man ihren Liedern genau zuhört.

Lach nur, heul nicht, bleib immer am Ball
Ständig was Neues und möglichst mit Knall
Lach nur, heul nicht, vertrau’ deinem Mut
Bau auf deine Freude und alles wird gut

Ihre aktuelle Solo-Platte „Lach nur – Heul nicht!“

Das Leben ist eine Rutschpartie
Wohin’s dich führt, weißt du vorher nie
Du rutschst in was rein
Es rutscht dir was raus
Mal rutschst du nach oben
Und mal rutschst du au
s

Lach nur, heul nicht, sei immer bereit
Wart‘ nicht schimpfend auf die bessere Zeit
Lach nur, heul nicht, auch wenn die Maske stört
Lebe im Jetzt, solang es dir gehört
Leben gibt‘s eine Ewigkeit

Und „früher“ war immer die bessere Zeit
Mal lebst du auf Pump
Mal lebst du mit Spaß
Mal lebst du wie’n Fürst
Und mal lebst du auf Nas
s

Für Dorit Gäbler galt immer: Geht nicht, gibt‘s nicht. Sie hat immer einen Weg gesucht und immer einen gefunden. Egal, wie verzweifelt sie auch war. Dieser starke Wille hat sie auf die Welt gebracht. Ihre Mutter ist die Treppen heruntergesprungen, als sie merkte, dass sie schwanger war. Sie wollte den Embryo in sich loswerden. Doch das kleine Etwas ließ sich nicht abschütteln, kämpfte, um wachsen und ins Leben zu dürfen. „Ich habe sogar verstanden, dass meine Mutter das Kind nicht wollte, nachdem ich von ihr erfahren hatte, dass mein ständig fremdgehender Vater glaubte, mit drei Kindern würde sie es nicht wagen, sich scheiden lassen“, erzählt die Tochter, die sich ihrer Mutter immer verbunden fühlte. „Ich hatte nie das Gefühl, ein ungewolltes Kind zu sein. Sie hat mich nicht weniger geliebt als meine Brüder.“

Sie schauen beide sehr gücklich aus, die anderthalbjährige Dorit und ihre Mutter Ria Gäbler © Gäbler/privat

1946, Dorit war drei Jahre, verließ Ria Gäbler samt Kindern ihren Mann. Plauen lag ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fast vollständig in Trümmern. Die meisten waren Wohnhäuser zerstört. Dorit Gäbler erinnert sich an ihrer Kinderzeit. „Wir waren arm. Das Geld, das meine geschiedene Mutter nun als Verkäuferin verdiente, reichte selbst mit dem Unterhalt von meinem Vater hinten und vorne nicht. Aber sie hat es geschafft, dass sich das nicht auf unsere Kindheit auswirkte. Und die war wunderschön. Ich weiß noch, wie wir im eiskalten Schlafzimmer im Bett saßen, und sie las uns, mit Handschuhen an den Händen, vor. Wenn sie vor Übermüdung einschlief, haben meine Brüder die Geschichte weitergesponnen…“ Es gab kein Weihnachten ohne Überraschung. Ria Gäbler hat mit den Kindern gebacken und an den Adventssonntagen wurde im Wohnzimmer musiziert. Die Gäbler-Jungs spielten Geige, Klavier und Flöte, ich spielte Gitarre. Die Nachbarn kamen zum Mitsingen vorbei. „Unsere Bude war immer voll.“

Das Gäbler-Trio wurde gern von Plauener Honoratioren zur musikalischen Untermalung ihrer Festivitäten eingeladen. Dorits Bruder Mäckie (l.) spielte Geige, Gunter Flöte und die hier zehnjährige Dorit sang zur Gitarre © Gäbler/privat

Das musikalische Trio war auf Geburtstagen, Hochzeiten und anderen Festivitäten Plauener Honoratioren gefragt. „Wir kamen immer mit großen Futter-Paketen nach Hause. Das reichte oft für eine ganze Woche“, erzählt Dorit, die auf diese Weise früh zu schätzen lernte, dass es nicht selbstverständlich ist, genug zu essen zu haben. Es gab nämlich oft Tage, da gingen die Drei ohne Pausenbrote zur Schule. „Ich hatte das Glück, neben der Tochter eines Fleischers zu sitzen. Die ließ ich abschreiben und bekam dafür ihr Wurstbrot.“ Statt es zu essen, nahm sie das Brot mit nach Hause, um es mit den Brüdern zu teilen. „Da war soviel Butter und Wurst drauf, dass es für drei Stullen reichte“, erinnert sie sich. An andere zu denken, nicht egoistisch zu sein, hat sie als Charaktereigenschaft gepflegt.

Das Mädchen musste schon früh Hausarbeiten übernehmen. „Es ging auch nicht anders. Meine Mutter hätte das allein auch nicht geschafft“, sagt sie und schaut auf ihre Hände. „Mit fünf habe ich schon Kartoffeln geschält, mit sechs, sieben die Treppen gewischt… Vielleicht habe ich deshalb so hässliche Hände.“ Ich will das so nicht stehen lassen und sage: „Finde ich nicht. Sie sind kräftig, aber nicht hässlich.“ Manchmal, da ging sie in die fünfte Klasse, tauchte sie aus dem Aschenputtel-Dasein ab. Sie schwang sich die Überdecke vom Bett um, stellte sich vor den großen dreiteiligen Spiegel und deklamierte aus Stücken von Schiller, Shakespeare und Kleist, die sie in Reclam-Heften las. „Ich habe die Frauenfiguren auswendig gelernt und versuchte zu verstehen, worum es ging.“ Vor dem Spiegel war sie die Luise Millerin aus Kabale und Liebe, das Gretchen aus „Faust“ oder die Eve aus dem „Zerbrochenen Krug“. Viele Jahre später sollte sie tatsächlich in dieser Rolle auf der Bühne stehen, im Staatsteater Dresden an der Seite von Rolf Hoppe als Dorfrichter Adam.

Das war natürlich nicht absehbar. Vorerst probierte sich Dorit in Schulinszenierungen aus, nahm an Rezitatoren-Wettbewerben teil. „Theater war für mich eine ungeheure Abenteuerwelt. Ich habe als Zehnjährige den „Freischütz“ gesehen und wochenlang davon geträumt. Ich wusste, da oben will ich mal stehen.“ Von dem wenigen Geld, das Ria Gäbler zur Verfügung stand, legte sie immer etwas für besondere Ausgaben zurück. War genug in dem Umschlag, ging sie mit ihrer Tochter ins Theater. Einmal spielte Dorits Bruder Mäckie in einem Weihnachtsmärchen als Erzähler mit. Sie lacht, als sie erzählt, dass sie während der Aufführung dachte: Das kann ich besser. Gesagt hat sie ihm das nie.

In der 8. Klasse gewann die 13jährige einen Rezitatoren-Wettbewerb und wurde eine Weile von Klaus Gendries betreut. Der spätere DEFA-Regisseur war damals Schauspieler am Vogtland-Theater. „Er wollte mir beibringen, Hochdeutsch zu sprechen, und ist schier verzweifelt“, erinnert sich Dorit. „Ich sollte Barbara saß nah am Abhang sagen. Aber mein A klang immer wie ein O. Ich konnte mich abmühen wie ich wollte, es klappte nicht.“ Klaus Gendries sprach ihr die Worte immer wieder vor, über Bor kam sie nicht hinaus. „Mir ging es wie Eliza Doolittle. Nur der Satz meines Lehrers: Jetzt hat sie’s!, fiel nie.“
Ihren sächsischen Dialekt ist Dorit Gäbler nie ganz losgeworden. „Ich hatte eine exzellente Sprecherzieherin an der Schauspielschule und habe vor dem Schauspielstudium zwei Jahre intensiv private Sprecherziehung genommen. Die Vokale spreche ich heute noch nicht sauber, der sächsische Einschlag ist in jeder Rolle zu hören.“

Szene aus dem Fernsehfilm „Gib acht auf Susi!“ Micha (Fred Lenz) und sein Freund Micky (Ronny Mudlaff) setzen alles daran, Susi (Dorit Gäbler) mit dem Tierpfleger Dieter (Kaspar Eichel) zu verkuppeln © DRA/MDR/Maria Steinfeldt

Diese kleine Episode verhalf ihr zehn Jahre später zur Titelrolle in Klaus Gendries’ turbulenter Sommergeschichte „Gib acht auf Susi!“. Wir machen einen Sprung ins Jahr 1966, Dorits letztem Studienjahr an der Schauspielschule in Berlin-Schöneweide. Klaus Gendries, inzwischen Filmregisseur, sah sich unter den Studentinnen nach einer „Susi“ um. Ein junges Ding von 17 Jahren, hübsch, sexy, ein bisschen leichtfertig, das mehr Interesse für das andere Geschlecht hat als für Hausarbeit.

Gendries hatte schon 200 Mädchen angesehen und vorsprechen lassen. Keins passte auf die Figur, wie er sie sich vorstellte. Da kam Dorit auf ihn zu, in knallenger roter Hose und einem üppigen Oberteil. „Ich sah ihn zufällig mit unseren Lehrern vor der Probebühne und sprach ihn an. Er guckte etwas irritiert. Fragte, woher ich ihn kennen würde. Ich sagte, wir hätten schon miteinander zu tun gehabt. Als er mich ungläubig ansah, begann ich: Borbora soß noh am Obhang… Er lachte schallend: ,Na klar, du bist die kleene Gäbler!‘, und ließ mich das alte Volkslied Ein Mops kam in die Küche… rezitieren. Dann ging mit unseren Lehrern zurück in den Probenraum. Als er wieder herauskam, strahlte er übers ganze Gesicht: ,Ja, das isse!‘ Damit hatte ich meine erste richtige Rolle. Im Sommer 1967, da hatte ich schon mein Engagement am Theater in Karl-Marx-Stadt, haben wir gedreht.“ Der Film wurde der TV-Weihnachtsknüller 1968.

Zurück ins Jahr 1957. Für Träume und Wünsche war bei den Gäblers nicht die Zeit. Ria Gäbler hatte gesundheitliche Probleme. Als Dorit ihrer Mutter verkündete, sie möchte Schauspiel studieren, kam ein kategorisches Nein. Sie habe nicht die Kraft, noch ein Studium zu finanzieren. Schlimmer noch. Die Mutter verlangte von ihrer Tochter, dass sie nach der 8. Klasse die Schule verlässt und einen Beruf erlernt. Für das lernbegierige Mädchen brach die Welt zusammen. Wie sollte sie mit einem Grundschulabschluss zu ihrem Traumberuf bekommen? Was sollte sie werden? Wie herauskommen aus dem Leben, das ihr zu klein war? Welcher Beruf könnte sie vielleicht doch noch ans Theater, auf die Bühne bringen? Wo traf sie vielleicht Menschen, die ihr helfen könnten, einen Weg zu finden, wie sie doch noch Schauspielerin werden könnte. Vieles wirbelte ihr im Kopf herum. „Ich habe dann eine dreijährige Lehre zum Facharbeiter für Gebrauchswerbung gemacht und abends an der Volkshochschule versucht, die 10. Klasse nachzuholen.“ Aber das schaffte sie nicht. Ihr fehlte die Zeit zum Lernen. „Ich musste mein Lehrlingsgeld bei meiner Mutter abgeben, durfte nur 5 Mark Taschengeld für mich behalten. Also habe ich nach Möglichkeiten gesucht, nebenher Geld zu verdienen“, sagt sie.

Dorit als 18jährige ©privat

Sie kämpfte gegen ihre Armut an, stellte sich als Haar-Modell zur Verfügung, führte auf Laufstegen, die sie als Dekorateur-Lehrling mit aufgebaut hatte, Alltagsmode Mode vor.
„Plauen war in den 50er Jahren nicht der Ort, in dem ich meinem Traum nachgehen konnte. Ich wusste, da muss ich weg“, erzählt sie. Dafür musste sie finanziell unabhängig sein. Dorit wollte kein Mannequin werden, aber ein gewisses Maß an Professionalität erlangen, um auch auf großen Modenschauen zu laufen, und absolvierte einen Lehrgang in der Mannequinschule des bekannten Modehauses Bormann in Magdeburg. „Die Damen-Konfektion der Marke „Original-Bormann-Mode“ war in der DDR sehr begehrt. Sie hatte Chic und war erschwinglich. Für Kundinnen mit mehr Geld im Portemonnaie boten besondere Geschäfte – Vorläufer der Exquisit-Läden – exklusive Bormann-Mode an. Heinz Bormann entwarf, das sei nur nebenbei erwähnt, Annekathrin Bürgers Kostüme für den DEFA-Film „Mit mir nicht, Madame!“.

Gurken, Radieschen und eine Leiche

Bei einer Modenschau auf der Leipziger Herbstmesse 1960 lernte Dorit das bildschöne und erfahrene Mannequin Sabine Lehmann kennen. „Sie hat mich bestärkt, unbedingt an meinem Traum festzuhalten, und bot mir ihre Unterstützung an.“ Im Januar 1961 wurde Dorit achtzehn. Damit war man in der DDR volljährig. „Ich hatte endlich die Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, was ich mache“, sagt sie. „Im Februar habe ich meiner Mutter eröffnet, dass ich ab jetzt meinen eigenen Weg gehen würde.“ An dessen nächstem Ende für sie der Beruf Schauspielerin stand. „Dass ich an mich geglaubt habe, war die eine Seite“, sagt sie. „Aber es gab Menschen wie Sabine, die mir halfen. Sie nahm mich bei sich auf, als ich mich aus Plauen davonmachte. Weil man mir die Provinz-Nulpe anmerkte, steckte sie mich in neue Klamotten und bereitete mich auf das Leben vor, in das ich wollte. Dafür bin ich ihr sehr, sehr dankbar. Wir hielten noch über viele Jahre Kontakt.“

Die erste Zeit nach ihrer „Flucht“ aus dem Kleinstadtmilieu von Plauen arbeitete Dorit als Dekorateurin bei der HO Potsdam Land und hatte gleich ihre Fühler zur DEFA nach Babelsberg ausgestreckt. „Sabine gab mir den Tipp, mich als Kleindarstellerin zu bewerben“, erzählt sie. Auf ihren ersten Einsatz musste die 18jährige nicht lange warten. Die DEFA verfilmte für das Fernsehen Wolfgang Schreyers Roman „Tempel des Satans“. Der dreiteilige Polit-Thriller dreht sich um die Machenschaften eines US-amerikanischen Zeitungskonzerns und seine Verstrickungen mit der Rüstungsindustrie. Reporter Pit Nordfors, ein ehemaliger Pilot, deckt die Hintergründe des desaströsen Fehlstarts einer mit Napalm bestückten amerikanischen Interkontinentalrakete auf und sticht in ein gefährliches Nest aus Machtgier, Korruption und politischer Manipulation. Der Handlung liegen wahre Vorkomnisse zugrunde.

Dorit Gäbler (r.) als Stewardess Mabel mit Sylva Schüler (l.) als Stewardess Georgia McCallister 1961 in Teil 2 des dreiteiligen Fernsehfilms „Tempel des Satans“ Screenshot © DFF/Edwin Anders

„Ich war eigentlich nur für einen Tag engagiert gewesen. Lustiger Weise aber“, erzählt Dorit Gäbler, „ist der Regisseur damals auf mich aufmerksam geworden. Er hatte gesehen, dass ich mich in die Rolle als Stewardess hineingedacht habe und richtig spielte, nicht nur den Text heruntersagte.“ Sie kamen ins Gespräch, und Dorit erzählte ihm, dass sie unbedingt Schauspielerin werden wolle. Georg Leopold sah ihr an, dass sie jeden Pfennig brauchen konnte und hat ihre Mitwirkung auf zwölf Drehtage erweitert. „1440 Mark habe ich verdient, 120 Mark am Tag! Das war so viel Geld! Davon habe ich Monate gelebt.“

Bald war sie so gut beschäftigt, dass sie viele Freistunden brauchte und ihre Aufträge als Dekorateurin nicht mehr zuverlässig erfüllen konnte. „Ich besaß keine Fahrerlaubnis, nicht einmal ein Fahrrad, um nach den Einsätzen bei der DEFA zu den Geschäften zu fahren, die ich dekorieren sollte.“ Die HO löste den Arbeitsvertrag auf. Wenngleich sie damit ihre finanzielle Basis verlor, kam ihr das entgegen. Nun musste sie nur noch eine eigene Bleibe finde. Und das war wenige Wochen nach der Grenzschließung am 13. August 1961. In der Stahnsdorfer Elisabethstraße entdeckte sie eine verwaiste Datsche. Die hat sie sich von der Gemeinde für 99 Mark Jahresmiete erkämpft. Es war eins der vielen Grundstücke, die zuvor Westberlinern gehört hatten.

„Die zuständige Sachbearbeiterin hatte riesige Fragezeichen in den Augen, als ich ihr erklärte, dass ich einen Wohnsitz suche und das Holzhäuschen mit Garten genau das Richtige sei.“ Hier könne sie sich ungestört auf ihr Schauspielstudium in Berlin vorbereiten und dass es nicht weit zur DEFA sei, waren wohl akzeptable Argumente. „Ich durfte für eine Probezeit einziehen und setzte natürlich alles daran, bleiben zu dürfen.“ Mit Geschmack und Stilgefühl hat sie innen und außen alles frisch gestrichen, Blumen-Motive der vorhandenen Bettwäsche an die frisch gestrichenen Fensterläden gepinselt und Gardinen aus Stoff mit dem gleichen Muster genäht. So fiel der Kontrollbesuch der Verwalterin auch positiv aus. Sie war voll des Lobes, wie schön die 18jährige alles hergerichtet hatte und argwöhnte nicht mehr, dass hier Sodom und Gomorrha stattfinden würden. Der Garten wurde Dorits Speisekammer. „Ich habe Kräuter gesät, Tomaten, Erdbeeren, Gurken, Radieschen und Kartoffeln angebaut, Bäume und Sträucher verschnitten.“ Beim Bauern gegenüber hat sie den Pferdestall ausgemistet, um Dung für ihre Beete zu bekommen. Hin und wieder schenkte ihr die Frau ein Netz Kartoffeln oder gab ihr einen Topf Suppe.

Wie romantisch, mag man im ersten Moment denken. Ja, das war es. Aber es war vor allem eine verdammt harte Zeit für Dorit. Ihre Honorare bei der DEFA fielen nicht immer so üppig aus. Als Kleindarsteller – Rollen ohne Text, aber mit Kamerapräsenz – bekam man einen Tagessatz von 50 bis 70 Mark. „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen“, scherzt die Schauspielerin, obwohl das damals für sie nicht witzig war. Im Frühjahr und Herbst trampte sie zu den Modewochen nach Leipzig. „Da hatte ich für eine Woche einen gut bezahlten Job als Mannequin.“ Den sie aber nicht um jeden Preis annahm. Ihre Würde ließ sie sich nicht nehmen. Als ihr ein Veranstalter vorhielt, dass ihr Lederolmantel, in dem sie zur Arbeit erschien, unpassend sei, die anderen Mannequins kämen in Pelzmänteln, knallte sie ihm an den Kopf: „Das Geld dafür habe ich mir ehrlich verdient und nicht erschlafen!“, und war weg. Ansonsten nahm sie ihre Gitarre und vertonte Kindergedichte, wenn die DEFA gerade nichts für sie zu tun hatte. „Ich stellte mir kleine Programme zusammen und trat damit in Kindergärten auf. Das brachte mir immerhin 20 Mark ein.“ Davon bezahlte sie ihre Sprecherzieherin, die sie in Kleinmachnow gefunden hatte.

Zwei Sommer und zwei Winter wohnte Dorit in ihrem Häuschen in der Stahnsdorfer Elisabethstraße 11. „Die Winterzeit habe ich in meinem Häuschen nur überstehen können, weil mir eine Familie in der Nachbarschaft an besonders kalten Tagen Asyl bot“, erzählt sie. „Wenn das Wasser in meiner Wärmflasche gefror, ließen sie mich bei sich schlafen.“ Im Frühjahr 1962 besuchte Ria Gäblerihre Tochter das erste Mal in Stahnsdorf. „Es war eine wunderschöne Zeit“, erinnert sich Dorit. „Mutti hatte sich sogar bei der DEFA als Kleindarstellerin registrieren lassen und in zwei oder drei Filmen mitgespielt. So kam noch etwas Geld rein, aber es hat ihr auch gefallen. Danach verbrachte sie häufig längere Zeit bei mir.“ Ria Gäbler bekam so eine kleine Ahnung davon, was die Ambition ihrer Tochter war, Schauspielerin zu werden. Es entwickelte sich eine neue, eine enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

Dorit Gäbler wollte nicht einfach nur Schauspielerin werden, vor allem wollte sie mal eine gute Schauspielerin sein. Daher nutzte jede Gelegenheit, um zu überprüfen, ob sie für sich auch wirklich für den Beruf eigne. Sie erzählt mir eine Episode. Bei den Dreharbeiten für den zweiteiligen Kriminalfilm „Mord in Gateway“ hatte sie den bekannten DEFA-Schauspieler Martin Flörchinger kennengelernt. Sie spielte das junge hübsche Fotomodell. „Ich hatte nur einen kurzen Auftritt, denn diese Helen wird gleich zu Beginn des Films ermordet“, erzählt sie.

Die 19jährige Dorit Gäbler spielt das attraktive Fotomodell Helen McDuff, die nymphomanische Ehefrau des einflussreichen Politikers Kyle Theodore McDuff, die ermordet wird Quelle: Amazon © Werner Bergmann

Martin Flörchinger war der ermittelnde Detektiv, der dieses mit vielen Missverständnissen behaftete Verbrechen aufklärt. „Ich habe ihn in einer Drehpause gefragt, ob ich ihm mal etwas vorsprechen dürfte. Er war ein erfahrener Schauspieler, und ich hatte das Gefühl, dass er mich ernst nahm.“ Flörchinger willigte ein. Amüsiert erzählt Dorit, wie sie ihm eine Szene aus Schillers Jungfrau von Orléans vorspielte. „Ich saß auf einem Stuhl und geriet so in Euphorie, dass ich nach hinten überkippte und mein Schuh an die Decke flog. War mir das peinlich“, lacht sie. Der Schauspieler reagierte mit Humor. Er guckte nach oben, zeigte auf eine kleine Delle an der Decke, und meinte: „Wenn es nicht sehr viel Begabtere gibt, hast du eine Chance, Kleene.“

Im Juli 1963 erlebte die inzwischen 20jährige Dorit Gäbler ihren glücklichsten Tag. Sie hatte die Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin-Schöneweide bestanden. Den Moment, als sie den Brief in der Hand hielt, wird sie nicht vergessen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Zusage oder Absage, schoss es ihr durch ihren Kopf. Hatte sie die Prüfung geschafft oder war ihre Vision nicht mehr als ein Luftschloss? Nein! All die Mühen und Strapazen hatten sich gelohnt. Trotz ihres noch hörbaren Sächsisch konnte sie die Prüfungskommission überzeugen, dass in ihr das Zeug zur Schauspielerin steckt. „Ich habe die Heilige Johanna in drei Versionen vorgesprochen. Das eine war ein Monolog aus Schillers Jungfrau von Orléans, dann habe ich mir eine Szene aus Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe und aus Jean Anouilhs Jeanne oder Die Lerche ausgesucht.“

Die verbleibenden Wochen bis zum Studienbeginn im September arbeitete die angehende Schauspielstudentin als „Mädchen für alles“ bei der Produktion eines DEFA-Kinderfilm mit. „Ich wollte genauer wissen, wie das so läuft, wenn ein Film gedreht wird“, sagt sie. „Leider habe ich bei allen Dreharbeiten immer wieder festgestellt, wie herablassend sich manche Schauspieler den Leuten gegenüber verhielten, die viel weniger als sie verdienten, aber ohne die beim Film nichts laufen würde. Sie haben Respekt verdient.“ Ihr ist er nie abhandengekommen.

Im Sommer 2007 habe ich Dorit Gäbler zum ersten Mal interviewt. Ich besuchte sie in Friedewalde bei Moritzburg, wo sie seit 1978 mit ihrem Mann Karl-Heinz Bellmann wohnt. Sie hatte gerade ihre CD „Starke Frauen“ herausgebracht“ © Boris Trenkel/SUPERillu

Dass sie sich damals in den Kamera-Assistenten Ulrich Rohloff verliebt hatte, und beide 1965 für eine kurze Zeit verheiratet waren, erwähnt Dorit Gäbler nur nebenbei. „Wir hatten wenig Gelegenheit, zusammen zu sein, als ich studierte. Ich teilte mir mit Hermann Beyer, einem Kommilitonen aus meiner Klasse, eine Studentenwohnung in der Ernst-Schneller-Straße. In unserer gemeinsamen Küche lag immer ein Vier-Pfund-Brot, daneben stand eine Schüssel mit Griebenschmalz, das ich spendierte. Nach abendlichen Szenen-Studien trafen sich bei uns Studenten und Schauspieler, die uns unterrichteten.“ Das war nicht Ulrich Rohloffs Welt. Er fühlte sich als fünftes Rad am Wagen. Sie trennten sich. Die Scheidung ging ohne Probleme über die Bühne. Ulrich Rohloff drehte von 1966 bis 1981 als Kameramann Kurz- und Dokumentarfilme beim Filmstudio der NVA in Potsdam.

Taschen, Pullover und Hootenanny

An ihre Studienzeit denkt Dorit Gäbler mit gemischten Gefühlen zurück. Sie liebte das Fechttraining, schwärmt noch heute von den Szenenstudien mit Regisseur Friedo Solter. „Ich sog alles auf, wollte so viel wie möglich lernen.“ Sie litt unter ihrem Bildungsdefizit. „Alle hatten Abitur, wussten mehr über Geschichte und Literatur, konnten ihre Eltern fragen, die Schauspieler, Regisseure oder Dramaturgen waren, wenn es um Film und Theater oder Rollengestaltung ging.“
Diese Überlegenheit ließen ihre Kommilitonen Dorit auch spüren, die den Gedanken abwehrte, nicht dorthin zu gehören. „Ich habe gelesen und gelesen, bin ins Theater gegangen, wenn die anderen Party machten.“ Sie nennt Namen von prominenten DDR-Schauspielern, die sich damals menschlich nicht von ihrer besten Seite gezeigt haben. „Ihr Urteil über mich: Wissbegierig, aber dumm, die Gäbler.“

Bei einem Fototermin an der Schauspielschule lernte sie die Fotografin Barbara Meffert und ihren Mann, den Journalisten Dieter Heimlich, kennen. „Die beiden nahmen mich unter ihre Fittiche und halfen mir, meine Bildungslücken zu reduzieren. Sie schenkten mir Bücher, unter anderem Peter Hacks‘ Kindergedichte Der Flohmarkt“, von denen ich viele vertont habe.“

Alles nachzuholen war ihr nicht möglich. Der Tag hatte nur 24 Stunden und im Gegensatz zu ihren Mitstudenten musste sie zu den 180 Mark Stipendium noch Geld dazuverdienen. Während sie Texte lernte, strickte und häkelte Dorit modische Pullover, Kleider, Umhängetaschen – die waren damals der Renner. Und sie trat mit ihrer Gitarre auf. „Für eine Veranstaltung bekam ich jetzt immerhin 50 Mark“, erinnert sie sich. „Komponieren und eigene Lieder schreiben ist immer meine Leidenschaft geblieben und die Basis für meine musikalische Karriere geworden.“

Eine wichtige Person wurde für diesen Teil ihres Talents Chris Baumgarten, eine seinerzeit bekannte Berliner Komponistin und Gesangslehrerin. Einmal im Jahr konnten sich Studenten der Schauspielschule um einen Platz in ihrem Chanson-Studio bewerben. „Diesen Platz habe ich mir 1964 erkämpft“, erzählt Dorit.

Cover des Amiga Samplers „Songs, Chansons und neue Lieder“ von 1966. Der kanadische Sänger Perry Friedman brachte 1960 die Hootenanny-Bewegung in die DDR © discogs.com

Eins kam dann zum anderen. Der kanadische Folksänger Perry Friedman war 1959 in die DDR übergesiedelt und hat 1960 die Hootenanny-Bewegung initiiert – ungezwungene Konzerte auf offener Bühne, bei denen jeder mitmachen konnte. Berlins Jugend sang, komponierte und schrieb Lieder. Chris Baumgarten ermutigte Dorit, bei den Hootenannys mitzumachen. „Ihr gefielen besonders meine Kinderlieder mit Texten von Peter Hacks.“ Bei den Hootenanny-Veranstaltungen traf sie Künstler wie Rainer Schöne, Perry Friedmann und Lutz Kirchenwitz, den Mitbegründer des Oktoberklubs. „Rainer Schöne war ganz angetan. Es sei so schön, wie ich meine Kinderlieder singe“, erzählt sie. „Da steckte auch meine ganz ehrliche Naivität drin, die ich als junges Mädchen hatte. Ich habe alles mit großer Liebe und Inbrunst gemacht, da war nichts aufgesetzt.“ Keiner sah hier von oben auf sie herab. Im Gegenteil. Dorit genoss alsbald ein Standing als Liedermacherin.

Gleich 1964 bei den ersten Konzerten, die die Berliner FDJ und der Jugendsender DT 64 in der Volksbühne organisierten, war auch Dorit Gäbler als Sängerin dabei und begeisterte das Publikum. „Ich musste bei meinem ersten Auftritt mein Lied zweimal singen, die Leute hörten gar nicht auf zu klatschen.“ Sie singt ins Telefon: „Ick möcht ma mitn Finger in Himmel pieken, ob dit wohl jeht? Ick möcht inne Sonne liegen und seh’n wie ’ne Wolke zerjeht… Wie’s weitergeht, weiß ich nicht mehr.“
Lachend erzählt sie dann von einer Veranstaltung beim DDR-Wachregiment in Berlin-Adlershof, die sie zusammen mit Frank Schöbel bestritt. „Ich erinnere mich noch gut, wie sauer er war, dass die kleene Schauspielstudentin als Sängerin angekündigt wurde und auch noch mehr Applaus als er bekam.“ Sie lacht: „Kunststück, sein Anzug hatte ja auch keinen Ausschnitt!“

1966 erschien der Amiga-Sampler „Songs, Chansons und neue Lieder“, auf der Dorit Gäbler auf der A-Seite mit ihren Hacks-Liedern vertreten ist

1966 nahm Amiga drei ihrer Lieder mit auf den Sampler „Songs, Chansons uns neue Lieder“. Ihr Engagement in der Singebewegung setzte Dorit Gäbler in Karl-Marx-Stadt fort. „Es ging ja darum, diese Bewegung in die Provinz zu tragen, vor allem die Arbeiterjugend zum gemeinsamen Singen zu bewegen. Ich war mit Leib und Seele dabei.“ Im Fritz-Heckert-Werk, dem Großbetrieb der Stadt, fand sie junge Leute, die sich auch dafür begeisterten. Mit Unterstützung des SED-Parteisekretärs des Werkes riefen sie den Singeklub 67 ins Leben. Der FDJ-Zentralrat der DDR hatte das Konzept der Hootenanny-Bewegung aufgegriffen und 1966 einen „Beschluss zur Entwicklung einer breiten sozialistischen Singebewegung unter der Jugend“ gefasst. „Dem Theater hat meine zeitaufwendige Beschäftigung nicht geschmeckt. Misstrauisch wurden unsere zahlreichen Aktivitäten beäugt.“ Als das ZDF 1967 in seiner Sendung „Kennzeichen D“ über den Klub und die aufstrebende junge Künstlerin berichtete, kostete sie das beinahe ihr Engagement. „Sie schlachteten die Zeile „…so viele Kilometer Steine liegen zwischen dir und mir…“ aus dem Liebeslied, das ich sang, als Protestsong gegen die Mauer aus. Was natürlich völliger Quatsch war. Dass ich nicht entlassen wurde, verdanke ich dem Parteisekretär des Heckert-Werkes, ein großartiger Mensch. Er hat sich sehr für mich eingesetzt“, erinnert sie sich.

Eve, Eurydike und ein Beutesohn

Ihre Stärke, sich nicht unterkriegen zu lassen, brachte die Achtklässlerin zum erfolgreichen Abschluss ihres Schauspielstudiums. Nach dem Intendanten-Vorsprechen im letzten Studienjahr hatte sie Vorverträge von der Volksbühne Berlin, vom Bergarbeiter Theater in Senftenberg und vom Stadttheater Karl-Marx-Stadt. Sie entschied sich für Karl-Marx-Stadt. „Nach meinem Gespräch mit dem Intendanten Hans Dieter Mäde sah ich dort die beste Chance, wirklich Rollen zu bekommen und spielen zu dürfen.“ Zu ihrem Leidwesen wurde Mäde noch vor Antritt ihres Engagements im September 1966 ans Staatsschauspiel Dresden beordert. Das schien alles über den Haufen zu werfen. „Ich wusste ja nicht, ob der neue Intendant mich auch spielen ließ.“

Da es nicht ihre Art war, sich auf den Zufall zu verlassen, trampte sie umgehend von der Schauspielschule ans Theater nach Karl-Marx-Stadt und setzte sich in den Zuschauersaal. Es war gerade eine Probe, der Gerhard Meyer zusah. Kaum war sie beendet, „überfiel“ ihn Dorit und erklärte: „Herr Meyer, ich habe einen Zweijahresvertrag für Ihr Theater. Weil Sie mich nicht kennen, möchte ich Ihnen vorsprechen. Ich muss wissen, ob ich in ihr Konzept passe und Rollen bekomme. Denn ich will spielen und nicht herumsitzen.“

Wohl etwas verblüfft ob ihrer Kessheit, aber schmunzelnd, meinte er: „Na, dann ab auf die Bühne.“ Die Schauspieler, die eben gehen wollten, blieben. „Alle waren gespannt, es war ja schon ziemlich gewagt von mir, ohne Anmeldung da aufzutauchen und ein Vorsprechen zu fordern.“ Wissen sollte man, dass Gerhard Meyer während seiner Intendanz bis 1990 viele junge Regisseure und Schauspieler entdeckte und förderte. Eine davon wurde mit Beginn der Spielzeit 1966/67 Dorit Gäbler.

Dorit Gäbler 1974 im „Polizeiruf 110: Fehlrechnung“. Helga, Buchhalterin eines Tiefbaubetriebes, fällt auf, dass Kollegen aus dem Fahrdienst Tankkreditscheine für längst abgemeldete Fahrzeuge abgerechnen. Auch ihr Freund © DRA/MDR, Herbert Thomas

Als ihr Absolventenvertrag 1968 auslief, wechselte sie von Karl-Marx-Stadt nach Dresden ans Staatsschauspiel. Chefregisseur und Generalintendant Hans Dieter Mäde stand zu seiner Zusage von 1966, sie zu engagieren.

Ihre Jahre am Theater in Dresden rekapituliert Dorit Gäbler als eine Zeit, in der sie sich erfolgreich freispielte. „Ich war universell einsetzbar, spielte Junge und Alte, Ladies, Diven und Mädchen, Geliebte ohne Ende. Ich bekam sogar lesbische Angebote, weil ich ein paar Weiberrollen in Stücken von Peter Hacks hingelegt habe, dass ich interessant für diese Klientel wurde. Meine Mutter allerdings, die inzwischen bei mir wohnte, wollte zu derartigen Premieren eingeladen werden.“
Aber es gab auch die Kehrseite der Medaille. In dem Moment, wo eine Umbesetzung stattfand, und mehr von Dorit Gäbler in der Rolle die Rede war als von der Vorgängerin, waren die Damen nicht mehr fein. „Da ist die Freundlichkeit hin, du wirst verleumdet, bist plötzlich eine Hure, eine Schlampe, die sich die Rollen erschläft. Das hat mich fast dazu getrieben, aus dem Fenster zu springen.“
Diese schwachen Momente überwand sie. „In mir kam die Eliza hoch. Die hat gekämpft. Und ich hatte mir ja geschworen, eine gute Schauspielerin zu werden. Das Publikum gab mir Halt. Und an den üblen Nachreden in der Kantine, dass dieses ungebildete Volk ja überhaupt nicht schätzen kann, was wirklich gut oder schlecht ist, habe ich mich nicht beteiligt.“ Sie konzentrierte sich wieder ganz auf sich, auf das, was sie wollte, und ging, wenn die anderen kamen. Manchmal vermisste sie die Gemeinsamkeit des Ensembles, die das Theaterleben erst vollständig machen. „Aber Gott sei Dank“, sagt sie, „waren nicht alle Schauspieler mit dieser dümmlichen Arroganz behaftet.“

Dorit Gäbler und Rolf Hoppe bei den 13. Merseburger DEFA-Filmtagen im März 2018. Im November 2018 verstarb der großartige Mime. „Wir sind über all die Jahre in Kontakt geblieben, haben einiges zusammen gespielt“, sagt Dorit. © Karl-Heinz Bellmann

Einer, zu dem sie aufschaute, der sie ernst nahm, war der Schauspieler Rolf Hoppe. Mit ihm spielte sie 1969/70 in Heinrich von Kleists Komödie Der zerbrochene Krug“. Sie war die Eve, er der Dorfrichter Adam. „Es war herrlich, ihm zuzusehen, wie er seine Körperlichkeit einsetzte. Rolf hat sich die Rollen immer auf den Leib gezogen, da blieb für seine Mitspieler nicht viel Platz.“ Aber Dorit verschaffte ihn sich. Es war eine Schlüsselszene, in der er sie überspielte. Adam saß am Tisch und aß. Und das spielte Rolf brachial. Kein Mensch hätte die neben ihm stehende Eve wahrgenommen, die im Begriff ist, ihre Ehre zu verteidigen. „Ich habe Rolf gesagt, dass dies ein wichtiger Moment in meiner Rolle ist. Er hat sofort verstanden, dass er mir Raum geben musste. Wir haben später oft noch nach den Vorstellungen zusammen auf der Probe-Bühne des Theaters schauspielerische Haltungen ausprobiert. Wunderbar! Manchmal sah uns seine Frau Friederike zu.“

Dorit Gäbler 1972 als attraktive und intelligente Dr. Schwalbe mit dem tschechischen Musical- und Operettenstar Karel Fiala als Bürgermeister von Sonnethal in der Filmkomödie „Nicht schummeln, Liebling!“ © DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

Neben ihrer Theaterarbeit hat Dorit Gäbler immer wieder in Filmproduktionen der DEFA und des Fernsehens mitgewirkt. „Es waren gute Rollen und welche, die ich fast vergessen habe“, rekapituliert sie im Gespräch. Nicht vergessen hat sie – und auch das DDR-Kinopublikum nicht – die Fachschuldirektorin Dr. Barbara Schwalbe in dem heiteren DEFA-Sommermusical „Nicht schummeln, Liebling!“ mit Chris Doerk und Frank Schöbel in den Hauptrollen. Es geht um Fußball kontra Kultur, ein bisschen um die Machtkämpfe zwischen den Geschlechtern und natürlich Liebe. „Die Dreharbeiten in Quedlinburg und die Rolle an sich machten mir großen Spaß.“ Das Publikum liebte das Spektakel.

Die liebeshungrige Eurydike (Dorit Gäbler) wird von Pluto, dem Herrn der Finsternis, in den Hades verschleppt. © DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Ihre erotische Ausstrahlung und das sexy Erscheinungsbild empfand Dorit als junge Schauspielerin eher als Fluch denn als Segen. „Ich steckte in dieser Schublade der halbseidenen Rollen, und habe viel zu viele davon gespielt. Das bereue ich heute.“ Doch in einer dieser Rollen hat sie es 1973 auf das 8. Internationale Moskauer Filmfestival geschafft. „Nein, die bereue ich keineswegs. Die war einfach unglaublich schön.“

Jupiter (Rolf Hoppe) verspricht Eurydike, sie aus Plutos Gefängnis zu befreien und zu Orpheus zurückzuführen. Doch er findet einen Trick, sie als Bachantin für sich zu behalten ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Das war Dorit Gäbler als Eurydike in der DEFA-Adaption von Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“, in der sie das Objekt der Begierde des lüsternen Göttervaters Jupiter ist. „Regisseur Horst Bonnet hat das sinnliche Verlangen und die Lebenslust schon sehr hervorgehoben“, erzählt sie. „Prüde durfte man da nicht sein.“ Sie lacht. „Die Rolle habe ich wahrscheinlich bekommen, weil ich den schönsten Busen hatte. Die haben ein richtiges Weib gesucht. Ich hatte meinen Sohn noch nicht geboren und einen schönen Körper.“ Sie meint das nicht ironisch und auch nicht kokettierend. Nicht nur die Männer fanden die Gäbler erotisch, sinnlich und schön.

Helga Piur als Diana, Göttin der Jagd und Jupiters aufmüpfige Tochter ©DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Barbusig, in durchsichtige Gewänder aus Tüll gehüllt, tollen die Göttinnen durch den Olymp. „Als ich die Entwürfe sah, war ich zuerst erschrocken. Aber angezogen fühlten sich die Kleider auf dem Körper wie eine zweite Haut an. Sie lagen so eng an, dass man nicht einmal einen Slip tragen konnte. Der Maskenbildner hat uns am Körper alles abrasiert, was es abzurasieren gab“, erinnert sich Helga Piur – Jupiters Tochter Diana. „Alles war so grazil und diffizil. Wir liefen wie auf Wolken, wenn wir die wunderschöne Dekoration betraten. Horst Bonnet hat es verstanden, eine Atmosphäre zu zaubern, in der nichts Unanständiges aufkam. Keiner kam auf die Idee, etwas Unzüchtiges zu tun oder zu denken.“ Grienend erinnerte sich der kraftvolle Rolf Hoppe 2008, als ich die Drei auf Schloss Wackerbarth interviewte: „Ein Göttervater hat edel und moralisch zu sein. Was natürlich stinklangweilig ist.“

Dorit Gäbler1973 mit Regisseur Horst Seemann (r.) beim 8. Internationalen Filmfestival in Moskau. Seemanns (r.) wurde für seinen DEFA-Film „Reife Kirschen“ mit Filmpreis in Gold ausgezeichnet © Gäbler

Die Kritiker waren sich einig: „Ein Film der Komödianten“, schrieb die Berliner Zeitung. „Herrliche Farben, zeitbezogene kabarettistische Dialoge, sparsame Kostüme“, lobte „Kino-Eule“ Renate Holland-Moritz. „Wir haben für unseren Film 1973 in Moskau keinen Preis bekommen. Aber uns hat das Publikum stürmisch gefeiert“, erinnert sich Dorit. Die DEFA-Stiftung hat den 1972 gedrehten Film inzwischen digital aufgefrischt. Eine Augenweide und ein großer Spaß.

Hermann Wardin (Joachim Siebenschuh) ist zu schwach, um sich gegen seinen Vater durchzusetzen. Lilli trennt sich von ihm Screenshot © DFF/DRA, Peter Süring

Im Jahr 1973 entstand unter der Regie von Helmut Krätzig die dreiteilige Familienchronik „Die Frauen der Wardins“. Über vier Generationen wird die Geschichte einer märkischen Bauernfamilie erzählt, die sechs Jahrzehnte lang um ihren Hof, um ihre Existenz kämpfen musste, bis ihre Bemühungen schließlich in der sozialistischen Landwirtschaft zum Erfolg führten. Im Mittelpunkt stehen dabei das Leben, die Liebe und das Schicksal der Frauen in ihrer Zeit. Neben Angelika Waller als Anna Schlomka, Katharina Thalbach als Maria Wardin und Monika Woytowicz als Irmgard Wardin liefert Dorit Gäbler in der Rolle der reichen und selbstbestimmten Schießbudenbesitzerin Lilli Watzek eine reife Leistung.

Hochzeit, Scheidung, neuer Anfang

Dresden war neben Berlin ein Zentrum der Singebewegung. Dorit betreute junge Liedermacher an der TU Dresden und lernte dabei den Mathematikstudenten und alleinerziehenden Vater Jochen Kramer kennen. „Er schrieb gute Texte. Wir haben eng zusammengearbeitet. Zu unseren Treffen brachte er meist seinen vierjährigen Sohn Marcus mit. Ich wollte endlich meinen Plan, nicht kinderlos zu bleiben, angehen. Ich borgte mir oft Marcus aus, unternahm etwas mit ihm. Eines Tages fragte er mich, ob ich nicht seine Mama sein möchte. Ich sagte ihm, sofort, dein Papa muss mich aber heiraten.“ Die Frage des Vater kam prompt. Jochen Kramer war gutaussehend, sehr charmant und klug. Einer zum Verlieben. Eigentlich stand Dorit nach ihrer ersten Erfahrung nicht der Sinn danach, aber Marcus bettelte: „Heirate Papa“, und da hat sie es getan. Ein Glücksgriff war das auch nicht, obwohl sie sich liebten.

Zu ihren schönsten Liedern, die Jochen Kramer für Dorit Gäbler textete, gehören die Titel auf ihrer Langspielplatte „Das ist mein Café“, die Amiga 1988 herausbrachte ©Amiga

Als sie 1974 schwanger wurde, und es ihrem Mann strahlend mitteilte, erschütterte sie seine Reaktion. „Das lässt du wegmachen! Wir haben schon ein Kind.“ Den Schock musste die 31jährige erst einmal verdauen. Dann stand für sie fest: „Das Kind bekomme ich, auf den Vater kann ich verzichten.“ Sie ließ sich scheiden. Für ihren Stiefsohn Marcus blieb sie seine „Beute-Mama“. Er wohnt ganz in der Nähe und ist ein wunderbarer Mensch geworden, sagt sie. „Trotzdem schätze ich Jochen Kramer als einen der besten Texter im Land und habe einiger seiner Texte vertont. Es sind meine schönsten Lieder.“ Im Februar 1975 kam ihr Sohn Peter zur Welt. Sein Vater wollte ihn nicht einmal sehen. „Ich habe den Jungen allein großgezogen, ich wollte auch keinen Unterhalt von seinem Vater. Für meinen Sohn existiert er bis heute nicht.“

Das Jahr 1974 brachte Dorit Gäbler auch beruflich zu neuen Entscheidungen. Sie hatte die Aussicht, die Hauptrolle in Joachim Kunerts Verfilmung von Anna Seghers Roman „Das Schilfrohr“ zu bekommen. „Joachim Kunert hat mich im Theater spielen sehen und fand, ich hätte die Urwüchsigkeit dieser Bäuerin, die er sich vorstellte. Meine äußerliche Verwandlung hatte er schon genau im Kopf. Mit aufgelegten Implantaten sollte mein Gesicht verbreitert, mit Haarwuchsmitteln buschige Augenbrauen gezüchtet werden. Ich übte sogar schon den festen, bäuerischen Gang. Obwohl meine Bühnenrolle doppelt besetzt war, ließ mich das Theater nicht gehen. Kunert hat alles versucht.“ Statt endlich sich mal in einer wirklich anspruchsvollen Figur beweisen zu können, hüpfte sie auf der Bühne als Stripteasetänzerin herum. Das hat sie dem Theater nicht verzeihen können. „Ich bekam in dem Film als Trost eine kleine Nebenrolle.“ Sie ist sich sicher, dass ihre Karriere anders gelaufen wäre, wenn sie die Rolle der Marta hätte spielen dürfen. „Ich war innerlich fertig mit dem Theater und wollte nur noch weg.“

Dorit Gäbler und Leon Niemczyk 1975 als Ehepaar Inge und Paul Petzold in der Polizeiruf 110-Folge „Zwischen den Gleisen“. Beide sind in Diebstähle wertvoller Konsumgüter aus Frachtwaggons verwickelt © rbb/mdr/dra, Heinz-Jürgen Wagner
DVD ©Amazon

Ihr Entschluss stand fest. Sie hatte sich sich bei Film und Fernsehen eine gute Basis erarbeitet, und konnte es wagen, sich eine Solokarriere als freischaffende Künstlerin aufzubauen. Sie kündigte ihr Festengagement am Theater. „Meine Mutter unterstützte mich bei der Betreuung meines Sohnes sehr. So konnte ich mich voll auf mein Ziel konzentrieren.“ 1975 und 1977 drehte sie zwei „Polizeiruf 110“Filme, 1976 den Episodenfilm „DEFA Disko 77“ mit Sketchen und Geschichten aus der DDR-Musikszene mit Chris Doerk, Veronika Fischer, der Gruppe Karat, Rainhard Lakomy, Angelika Mann und Schauspielern wie Marianne Wünscher, Ursula Staack, Ingeborg Krabbe, Lutz Stückrath, Rolf Herricht und Fred Delmare. Musiker und Schauspieler von Rang und Namen. Insofern ist der Film auch noch bemerkenswert, weil er das Lebensgefühl der 70er und 80er Jahre in der DDR spiegelt. Dorit Gäbler tritt am Schluss des Films im Duett mit Wolfgang Wallroth und dem Titel Es wird bald Frühling sein“ auf.

Eine wunderbare Chance für eine anspruchsvolle, große Rolle bot sich ihr 1977. Günter Reisch wollte sie mit der Hauptrolle in seiner DEFA-Komödie Anton, der Zauberer“ besetzen. Sie sagte nein, in völliger Verkennung der Handlung. „Ich hatte Angst, es würde wieder so eine halbseidene Figur sein. Das wollte ich nicht mehr spielen und habe alles, was ich in dieser Richtung vermutete, abgelehnt. Und da hatte ich mich in dem Fall gründlich geirrt. Es ist eine richtig gute Filmkomödie geworden, mit dem großartigen Ulrich Thein und der wundervollen Barbara Dittus in den Hauptrollen.“ Dass sie sich da so geirrt hat, bedauert Dorit Gäbler im Nachhinein noch.

Nach ihrer Kündigung stellte Dorit Gäbler einige Weichen. Sie nahm Gesangsunterricht bei der renommierten Gesangslehrerin Eleonore Gendries. Anfangs trat sie mit ihrer Gitarre solistisch auf. „Ich bekam Aufträge über die Konzert- und Gastspieldirektion Dresden und die Künstler-Agentur in Berlin . Das waren drei, vier Lieder bei Großveranstaltungen und einstündige Programme in Clubs.“ 1977 konnte sie die bekannte Dresdner Band „Ebbe und Flut“ unter Leitung des Komponisten Michael Fuchs für eine Zusammenarbeit gewinnen.

1978 nahm Dorit Gäbler ihre erste LP bei Amiga auf @ privat

Mit der Zeit merkte man sich den Namen Sängerin Dorit Gäbler sowohl in der Musikszene als auch unter den Freunden des Chansons, Jazz und Blues. Der Komponist und Rundfunk-Musikredakteur Martin Hattwig entdeckte die singende Schauspielerin 1978 und ließ sie mit dem bekannten Tanzorchester Siegfried Mai Das Schwispslied“ aufnehmen. Das klappte gleich auf Anhieb, so dass er noch den TitelClown sein“ hinterher schob. „Im gleichen Jahr produzierte ich bei Amiga meine erste eigene Langspielplatte“, erzählt Dorit Gäbler.

Der Mann von der „Linie 6“

In Dresden hatte sich inzwischen Karl-Heinz Bellmann mit seinem Kult-Lokal Linie 6etabliert. Es ist eine lange Geschichte, mit vielen schwierigen Phasen, die sich zwischen ihm und Dorit Gäbler entwickelte. Der heute 76jährige hatte sehr jung in dem Geschäft begonnen. „Gastronomie in der DDR war langweilig. Ich wollte meinen Gästen etwas Besonderes bieten“, erzählte er mir 2008, als er einen Nachfolger für die „Linie 6“ suchte. Er hatte das Lokal im Ambiente einer Straßenbahn 1977 eröffnet. Neben gutem Essen servierte er auch niveauvolle Unterhaltung, Musik und launige Gespräche. Bellmann, ein Naturtalent als Conférencier, holte Künstler, Schauspieler, Sportler, Politiker in seine hauseigene Talkshow „Zwischen Tür und Angel“.

Dorit Gäbler 1978 als Unterhaltungsgast bei Karl-Heinz Bellmann in der „Linie 6“. Der Beginn ihrer nunmehr 45jährigen Beziehung, davon sind sie 40 Jahre verheiratet ©privat/Gäbler

Am 10. April 1978 sprang Dorit Gäbler, die er lange schon im Visier hatte, kurzfristig als Talkgast in seiner Show ein. Es war für ihn die Gelegenheit, an sie heranzukommen, denn sie hatte andere Prioritäten: ihren Sohn Peter und ihren Beruf, in dem sie vorwärtskommen wollte. Und die „Linie 6“ hatte bis dahin erst einmal nicht auf ihrem Weg gelegen. Sie arbeitete daran, als Schauspielerin und Sängerin festen Fuß beim Fernsehen und in der Unterhaltung zu fassen. Karl-Heinz Bellmanns Interesse an ihr ging aber weiter, als mit ihr nur in seiner Talkshow zu plaudern. Er hatte sich in sie verliebt. „Er war mir ja nicht unsympathisch, hatte Charme und Witz. Er bemühte sich wirklich sehr um mich.“ Vor besagtem Auftritt tippten sie in seinem Büro noch fix Konzeptzettelchen und kamen sich dabei sehr nah. Es lag ein Knistern in der Luft.

Dorit Gäbler und Karl-Heinz Bellmann mit ihrer Tochter Peggy Bellmann ©privat/Bellmann, Gäbler

Seine Liebe und seine Ausdauer, diese Frau nicht aufzugeben, führte die beiden am 22. November 1983 aufs Standesamt. Zwei Jahre später kam ihre Tochter Peggy zur Welt, die von ihren Eltern sehr geliebt wird. „Wir hatten eine glückliche Zeit damals“, erinnert sich Dorit Gäbler. Das blieb nicht so. Hat man das Paar zusammen im Interview, wird schnell gewiss, dass sie Feuer und Wasser sind. „Keine geniale Verbindung“, sagt Bellmann. Der Gedanke an Trennung beschäftigte die Schauspielerin immer wieder. Doch das Haus, das sie gebaut hatten, war groß genug. Jeder konnte da seiner Wege gehen.

Die Sendepause zwischen ihnen bedrückten Karl-Heinz Bellmann sehr. Er wusste, dass er sich ändern musste, wenn sie wieder zueinander finden wollten. 1997 erkrankte er schwer an Borreliose und litt danach an Depressionen. „Ich habe das nicht erkannt“, gesteht Dorit Gäbler. „Einer, der immer in vorderster Reihe zu finden war, sollte plötzlich Depressionen haben??“

Lange Reise nach Neuseeland und Indien halfen ihrem Mann, viel über sich zu erfahren, auch, wie man Depressionen und Krankheiten bewältigt. Und was für das Gleichgewicht seiner Gefühlwelt wichtig ist. „Ich habe Yoga und Meditation gelernt und erkannt, dass Dorit meine Familie ist. Dass sie ihren Beruf über alles liebt. Dass er es ist, der sie frisch und fit an Körper, Geist und Seele hält. Ich begriff, dass sie Erfüllung in ihrer Arbeit findet und nicht darin, mich zu hofieren. Ich habe mein Ego zurückgenommen, weil ich sie glücklich sehen will.“

Dorit Gäbler und ihr Mann Karl-Heinz Bellmann sind wieder glücklich miteinander. Die Urlaubsinsel Teneriffa ist ihr Erholungsdomizil geworden ©Kaheibell

Karl-Heinz Bellmann verbrachte immer wieder Zeit in Indien, lehrt inzwischen selbst Yoga, chinesische Astrologie und Meditation. Über ihre Beziehung sagt Dorit Gäbler: „Es gab richtig schwere Krisen, ich habe mit mir gekämpft, ob ich ihn verlasse. Er sagte mir, ich liebe dich. Was nun? Wir haben geredet und uns so arrangiert, dass er mir Luft zum Atmen lässt. Mittlerweile freue ich mich, wenn ich abends nach Hause komme und ganz lieb empfangen werde mit einem Nachtsnack oder einem Schluck Sekt. Wenn er mir eine Blume unterwegs geklaut hat oder mir eine gekaufte mit fröhlichem Grinden überreicht. Es ist doch so, dass niemand gern allein bleibt. Und wer ist schon vollkommen?!“

Als sie 60 wurde, rückte sie mit ihrem Mann nach Indien aus. Sie wollte nicht gefeiert, nicht daran erinnert werden, wie viele Jahre schon hinter ihr liegen, wie knapp die Zeit vor ihr noch sein könnte. „Ich hatte Angst vor der Gewissheit, nun alt zu werden.“ Diese Grenze zu überschreiten tat weh. Karl-Heinz Bellmann machte mit seiner Frau genau aus dieser Erkenntnis heraus eine Reise nach Bangalore zu den berühmten Palmblattbibliotheken. „Sie beherbergen die Niederschriften eines der 7 großen Weisen und Seher des alten Indien auf Palmblättern. Fast jeder, der hierherkommt, findet unter den unzähligen Palmblättern sein persönliches Blatt“, erklärt mir Doris. Sie hat ihres gefunden. „Das war ein unglaubliches Erlebnis, eine großartige mentale Erfahrung“, erinnert sie sich. Das Paar hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht.

Abends ins Rampenlicht

Mit Beginn der 80er Jahre etablierte sich Dorit Gäbler auf dem Bildschir, als Schauspielerin in Filmen und Serien, als Sängerin und Kabarettistin in Unterhaltungssendungen. Die Verschiedenartigkeit ihrer Rollen und Auftritte hob sie aus der Schublade des Frauentyps erotisch, sexy, leichtgewichtig heraus. Es kam zwar vor, dass sie das auch spielte, wie das mondäne Fräulein Barbara in Erwin Strankas Filmkomödie „Automärchen“.

Das mondäne Fräulein Barbara ist schon ein Blickfang. Dorit Gäbler hatte 1982, als die DEFA-Filmkomödie gedreht wurde, noch keine Fahrerlaubnis © DEFA-Stiftung, Helmut Bergmann

„Diese Rolle habe ich gern angenommen, weil ich Auto fahren durfte. Ohne Fahrerlaubnis!“, lacht sie, die inzwischen Tausende Kilometer auf den Straßen dieses Landes unter den Rädern hat. „Ich saß für die Szene mit einem riesigen Krempenhut in einem Sportflitzer, kam angerast und drängelte mich an der Tankstelle frech an den wartenden Autofahrern vorbei.“ Der Film wurde 1982 gedreht und kam im Juni 1983 in die Kinos. 1985 lief er erstmals im Fernsehen.

Zu den Straßenfegern im DDR-Fernsehen gehörten die Familienserien, die sich um das Alltagsleben und die Probleme der Menschen drehten. In dem Mehrteiler „Hochhausgeschichten“ spielt Dorit Gäbler die attraktive Anne Seiler. Die 30jährige wird von zwei Männern umworben. Der eine, ein 20jähriger Monteur, der andere, sein gut situierter Chef. „Sie hat eine gescheiterte Beziehung hinter sich, will Sicherheit für ihr Leben. Deshalb heiratet sie den zehn Jahre Älteren. Das entsprach zwar nicht dem Familienbild, wie man es für die sozialistische Gesellschaft proklamierte, aber es entsprach dem wahren Leben. Liebe, Glück und ein sorgenfreies Leben gingen nicht immer zusammen, da machten auch Frauen in der DDR Kompromisse.“

Dorit Gäbler (l.) war als Frau Dr. Ursula Müller 1982 in der Serie „Geschichten übern Gartenzaun“ wenig beliebt. Die versierte Krankenschwester Claudia Hoffmann (Monika Woytowicz), eine ehemalige Mitschülerin, fühlt sich unter ihrer Leitung minderwertig Screenshot @mdr/Siegfried Peters

In den heiter-besinnlichen „Geschichten übern Gartenzaun mit Herbert Köfer und Helga Göring in den Hauptrollen, hatte Dorit Gäbler als Frau Dr. Müller keinen guten Stand bei den Zuschauern. „Ich bekam nur negative Reaktionen. Diese Dr. Müller ist eine egoistische Person, wenn es um ihre Karriere geht, arrogant ihren Mitarbeitern gegenüber. Die Zuschauer haben mich mit meiner Rolle identifiziert und geglaubt, ich bin jemand, der nur nach seinem eigenen Vorteil strebt.“ Aber das ist lange her, sie hat sich ihr Publikum längst zurückerobert. „Die Leute wissen, dass ich kein egoistischer Mensch bin. Ich bekomme viel Dank dafür, dass ich ihnen mit meinen Liedern und Programmen Freude bringe.“ Wo sie kann, hilft sie auch jungen Kollegen auf die Sprünge. So hat sie die junge Dresdner Schauspielerin Kristin Baumgartl animiert und dabei unterstützt, ein mobiles Kindertheater zu gründen.

Eva (Dorit Gäbler, l.) und ihre Schwestern Ruth (Ursula Karusseit), Gerda (Karin Düwel) und Nanny (Petra Blossey) auf dem Weg zu ihrem kranken Vater. „Die Stunde der Töchter“ wurde 1980 von DEFA-Regisseur Erwin Stranka gedreht ©DEFA-Stiftung/Klaus Zähler
Die Lehrerin Eva Winkler (Dorit Gäbler) ordnet sich ihrem Mann, dem Hirnchirurgen Dr. Lutz Winkler (Michael Gwisdek) bis zur Selbstaufgabe unter. „Die Stunde der Töchter“, 1980 ©DEFA-Stiftung/Frank Bredow

Mit Erwin Stranka drehte Dorit Gäbler einen Film, auf den sie besonders stolz ist, „Die Stunde der Töchter“. Im Mittelpunkt der Handlung stehen vier Schwestern, die ganz unterschiedlich mit dem Leben zurechtkommen. Eine schöne Herausforderung für Dorit Gäbler, die den Verfall einer Lehrerin und Gattin eines Hirnchirurgen zur Alkoholikerin zeigt. „Diese Frau ist verzweifelt. Sie hat ihren Lehrerberuf gekündigt, weil sie keine Freistellung bekommt, um ihren todkranken Vater im Krankenhaus zu besuchen. Dann kommt obendrauf, dass ihr Mann vom Besuch eines Kongresses in der BRD nicht in die DDR zurückkehrt. Man muss schon stark sein, um das durchzustehen. Sie ist es nicht und ergibt sie sich dem Alkohol. Ich bin auf diesen Film und meine Rolle stolz, weil das Leben der Frauen in der DDR nicht durch die rosarote Brille gesehen wird. Es wurde viel getan für uns“, sagt die Schauspielerin, „aber es ging nicht ohne eigenes Zutun. Von den Rechten, die wir hatten, ist nach der Wende nichts mehr geblieben. Und wenn eine kleine Minderheit meint, das Gendern würde Gleichberechtigung bringen, kann ich nur sagen. Da werden falsche Signale gesendet.“

Sie (Dorit Gäbler) versucht ihn (Rolf Herricht) in einer Hotelbar anzumachen . Sketch aus der Revue „Abends im Rampenlicht“ 1981 Screenshot@DRA

Bereits 1973, bei den Dreharbeiten für das DEFA-Musical „Nicht schummeln, Liebling“, arbeitete Dorit Gäbler mit Rolf Herricht zusammen. Bei den Geschichten übern Gartenzaun“ waren sie sich wiederbegegnet. Herricht bereitete gerade seine Revue Abends im Rampenlicht“ vor. Ihm fehlte noch die geeignete Partnerin für die Sketche und amourösen Spielszenen. Er bot Dorit Gäbler die Rollen an. „Es war herrlich, mit ihm zu spielen und zu improvisieren. Das Drehbuch ließ uns viel Raum. Und weil ich jemand bin, der gern weiterentwickelt, wurde es von Mal zu Mal besser“, erzählt sie. Nach der Premiere im Mai 1981 schlug er ihr vor, dass weiterhin zusammenarbeiten, mit eigenen Sketchen. „Er hatte es satt, den Punchingball von Hans-Joachim Preil zu geben. Leider ist daraus nichts geworden. Rolf erlag drei Monate später einem Herzinfarkt.“

Unterhaltungsstar und ein abruptes Ende

Die Show wurde im Fernsehen ausgestrahlt und war Dorit Gäblers Einstieg in die Fernsehunterhaltung. Sie gehörte bald zu beliebten Gästen mancher Show. Ihre Auftritte in der beliebtesten Unterhaltungssendung des DDR-Fernsehens „Ein Kessel Buntes“ und die Moderation derselben, brachten sie auf den Höhepunkt ihrer Karriere. „Mit Liedern oder Sketchen mitzuwirken, war schon wunderbar. Aber diese Show zu präsentieren, und das gleich dreimal, 1983, 1986 und 1988, das hatte schon etwas von einem Ritterschlag“, gibt sie ihr Gefühl wieder. Die Zuschauer erlebten sie mit einer Boa Constrictor tanzend, hoch zu Ross moderierte sie eine Artistik-Nummer an. Einen für sie unvergesslichen Auftritt hatte Dorit Gäbler mit ihrem Sohn Peter. „Wir haben zusammen das Lied ,Und dann klettern wir zusammen auf die Bäume‘ gesungen, für das uns sein Vater Jochen Kramer den Text geschrieben hat.“

Die Künstlerin hatte nun zwei feste Standbeine. Ihre Bekanntheit brachte ihr als Sängerin mit eigenem Programm einen vollen Terminkalender, Amiga nahm mit ihr zwei Solo-Langspielplatten auf. „Meine Veranstaltungsverträge habe ich allerdings immer mit der Klausel versehen, dass ich raus kann, wenn Fernsehangebote kommen.“

Dorit Gäbler spielte 1981 in dem Episodenfilm „Engel im Taxi“ eine Artistin, Heinz Rennhack den hilfsbereiten Taxifahrer Engel Foto: Screenshot ©DFF/MDR

Die ließen nicht auf sich warten. Sie drehte hinter einander weg. Mit Heinz Rennhack in der Titelrolle drehte sie den Episodenfilm „Engel im Taxi“, nach „Automärchen“ den Kinderfilm Moritz in der Litfaßsäule“, den Agententhriller „Front ohne Gnade“. Und dann, 1986, ihre Tochter Peggy war gerade drei Monate alt, kam ein Anruf von Klaus Gendries. Mitten in den Dreharbeiten für seinen Film „Claire Berolina war die Darstellerin von Goebbels Geliebter Alice ausgefallen. „Er fragte mich, ob ich die Rolle übernehmen kann. Ich sagte, das ginge nicht, ich habe ein Baby. Naja, wie das so ist bei Schauspielern, habe ich doch zugesagt und bin mit der Kleinen nach Berlin. Der Film reizte mich, obwohl Goebbels Geliebte ja keine so sympathische Figur war.“ Die ganze Crew kümmerte sich rührend um die Kleine, wenn sie in ihrem Körbchen auf die Mama wartete. Das Pendeln zwischen Muttersein und Drehen war so anstrengend, dass sich Dorit Gäbler nicht einmal das Gesicht ihres Filmgeliebten Uwe Karpa gemerkt hat. Was sich viele Jahre später herausstellte, als sie zusammen in „Köfers Komödiantenbühne“ die Theaterversion von Rentner haben niemals Zeit“ spielten.

Dann kam 1990 der Riesenumbruch, und auf die Schauspielerin rollte etwas zu, das sie aus der Bahn zu werfen drohte. „Ich hätte das alles nicht überstanden, wäre ich innerlich nicht so stark gewesen“, resümiert sie rückblickend. Das Land DDR wurde als Staat getilgt. Nur die Menschen waren noch da, die nach dem 3. Oktober 1990 als BRD-Bürger aufwachten. Ob sie wollten oder nicht. Welche Konsequenzen diese „Übernahme“ nach sich zog, konnten viele damals nicht ermessen. Mit der Zeit ist es jedem klar geworden. „Plötzlich standen auch wir DDR-Künstler vor dem Nichts. Die vielen Möglichkeiten, Filme zu drehen, Hörspiele und Platten aufzunehmen, gab es für uns nicht mehr.“

Dorit Gäbler hielt sich an ihr Lebensmotto, dass sich immer ein Weg findet, auf dem es weitergeht, wenn man nur will. Und die damals 57jährige wollte sich ihren Beruf nicht nehmen lassen. Durch niemanden und nichts. „Meine Arbeit ist das, was mich am Leben hält“, betont sie immer wieder. Und so hat sie sich auch damals nicht fallen lassen. Sie scheute sich nicht davor, Klinken zu putzen, sammelte Absagen ein, und schaffte es schließlich wieder auf die Bühnen zurück. „Ich habe mich auf das konzentriert, worauf ich mich verlassen konnte.“ Das war sie selbst mit ihren Fähigkeiten als Schauspielerin und Sängerin, ihrem Talent, Lieder zu schreiben. Sie begann, sich neue Unterhaltungsprogramme aufzubauen, nahm dafür im Studio die Musik mit dem Trio „swinging-friends“ auf, um kostengünstig mit Halb-play-backs arbeiten zu können. Heute, wenn die Veranstalter das nötige Honorar aufbringen können, ist sie noch manchmal mit dem Trio live zu erleben.

Man hörte von Dorit Gäbler kein Gejammer. Sie hat die Widrigkeiten des Lebens immer in den Griff bekommen. Einiges riss ihr damals erst einmal den Boden unter den Füßen weg. Die Aussicht auf eine Rolle in der ARD-Daily-Soap „Verbotene Liebe“, in die man auch bekannte DDR-Schauspieler wie Gojko Mitic, Jürgen Zartmann und Peter Zintner holte, ging ihr 1995 verlustig. Das Casting lief perfekt. Das Engagement scheiterte daran, dass der Chefredakteur „eine aus dem Osten“ nicht mit der Hauptrolle besetzen wollte.

Schön, erotisch, eine Künstlerin, die ihr Publikum zu begeistern weiß. Dorit Gäbler bei einem Auftritt 2022 © Kaheibell

Manches in dieser Zeit machte sie, um das sprichwörtliche Brot zu verdienen. Sie testete Antifalten-Cremes, ließ sich für eine MDR-Dokumentation die Augenlider liften. „Das ist fast 25 Jahre her. Heute würde ich das nicht wieder machen“, sagt die 80jährige, „aber es half mir, den Blick in den Spiegel zu ertragen, nachdem ich 60 geworden war. Inzwischen weiß ich, es gibt auch jenseits der sechsten Null ein erfülltes Leben. Natürlich sollten dabei Sex und Erotik nicht außen vor bleiben. Auch sehr reife Frauen dürfen sich sexy und erotisch fühlen. Sie müssen es nur zulassen“, meint sie. Ihr Programm „Ein bisschen Sex muss sein“ ist ein Zuruf an die Frauen, dass Sex auch im reifen Alter noch Spaß machen kann. „Ich möchte ihnen die Ressentiments nehmen. Sex muss nicht immer zielführend sein. Wenn man zusammensitzt, sich ankuschelt, ein Schluck Wein mit dem Mund weitergibt, ist das eine sexuelle Handlung, verdammt noch mal!“

Marlene, Hildegard und starke Lieder

Seit 1992 präsentiert Dorit Gäbler Songs von Marlene Dietrich in einer stilechten Robe © Karl-Heinz Bellmann

1992 entwickelte Dorit Gäbler ihren ersten Marlene-Dietrich-Abend, der bis heute zu ihren erfolgreichsten Programmen gehört. „Ich habe die Dietrich immer als Künstlerin und Menschen bewundert. Sie war diszipliniert wie keine bei der Arbeit war, immer auf das Team bedacht, mit dem sie gerade arbeitete. Sie war auch eine Diva, aber souverän im Umgang mit Bewunderung und Macht. Sie hat sich 1936 nicht bestechen lassen, aus den USA in das faschistische Deutschland zurückzukehren und dort wieder Filme zu drehen. So ein Rückgrat wünsche ich heute Politikern und so manchem Prominenten.“ Vergnügt erzählt mir Dorit, wie sie sich bei einem Besuch in Paris mit der Gitarre vor das Haus in der Avenue Montaigne 12 gestellt hat, wo Marlene Dietrich bis zu ihrem Tod im Mai 1992 in einem Appartement lebte, und ein paar ihrer Lieder sang. „Die Leute schauten verwundert aus den Fenstern, dann applaudierten sie. Die Dietrich ist trotz Tablettensucht eine starke Frau geblieben.“

2001 entstand ihr Album „Dorit Gäbler präsentiert Marlene Dietrich“, aufgenommen im Studio ihres Kollegen Wilfried Peetz

Mittlerweile schlüpft Dorit Gäbler seit 31 Jahren immer wieder erfolgreich in die Rolle des Weltstars. Über drei Ecken bekam sie ihre erste Bühnenrobe dafür von Georg Preuße, der als Travestiekünstler „Mary“ berühmt wurde. „Er hat seine Bühnengarderobe anfangs selbst genäht und später verkauft“, erzählt Dorit. Inzwischen musste sie die edle Strass-Robe einmal nachschneidern lassen. Die 2001 produzierte Platte Dorit Gäbler präsentiert Marlene Dietrich“ machte sie deutschlandweit bekannt. 2004 war sie mit dem Album in der Schweizer Hitprade. 2009 trat sie anlässlich einer Marlene-Dietrich-Gala mit Liedern aus ihrer „Hommage an Marlene Dietrich“ in dem Nachbarland auf und hat das Publikum auch dort begeistert.

Wo immer auch Dorit Gäbler auf der Bühne steht, ist sie authentisch in dem was, sie tut. „Ich will die Menschen berühren, ihnen etwas geben, aus dem sie Kraft für sich ziehen können, das sie aufbaut und ihnen Freude bringt, wenn sie der Alltag erschöpft.“ Ihre Lieder drehen sich fast alle um das weibliche Wesen, seine Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen, um Liebe und Verlassensein, um das zu sich selbst finden.

Dorit Gäbler ist seit fast zwei Jahrzehnten mit ihrem Bühnen-Porträt „Ein Abend mit Hildegard Knef“ von Mecklenburg-Vorpommern bis Sachsen erfolgreich ©Karl-Heinz Bellmann

In der Zeit, als sich Dorit Gäbler als Schauspielerin und Sängerin zurückkämpfte, fiel ihr Hildegard Knefs autobiografischer Roman „Der geschenkte Gaul in die Hand. „Das Schicksal hat sie sooft aus dem Sattel geworfen, und sie kam immer wieder in Trab. Sie konnte wunderbare, so prägnante Texte schreiben. Ihr komprimierter Schreibstil begeisterte mich. Allerdings war ihr Umgang mit der Zeit des Faschismus fragwürdig. Ich habe lange gezögert, ihre Lieder zu singen.“

Nach dem Tod der Knef Tod 2002 nahm die Dresdnerin eine CD mit fünf Knef-Liedern auf. Diese Platte „Aber schön war es doch“ gab sie Paul von Schell zur „Begutachtung“ mit der Anfrage, ob sie ein zweistündiges Programm daraus machen dürfe. „Ihm gefiel, wie ich die Lieder seiner Frau interpretierte, und er gab mir sein Okay.“
Mit Songs und Texten aus dem Geschenkten Gaul“ entwickelte Dorit Gäbler ein literarisch-musikalisches Bühnenporträt. Ein anspruchsvoller und zugleich unterhaltsamer Abend, der mittlerweile ihr zweiter Dauerbrenner ist. Es wäre der singenden Schauspielerin ein Leichtes, dank ihrer Erscheinung und ihrer Stimme als Hildegard Knef auf der Bühne zu stehen. Aber sie lässt Abstand für ihre Eigenständigkeit als interpretierende Schauspielerin. „Das Premieren-Kostüm hat mir Jürgen Hartmann geschneidert, der in den letzten Jahren auch Hildegard Knefs Bühnengarderobe entwarf und nähte.

Dorit Gäbler und ich 2007 vor ihrer Show „Starke Frauen“ im Dresdner Terassenrestauran Marcolini. Manchmal braucht Frau auch Hilfe @Boris Trenkel

Unterdessen, so fand sie, sei es Zeit für eine CD mit eigenen Texten und Kompositionen. 2005 spielte sie im Studio von Adagio Records Hamburg mit dem „Juri Lamorski Quintett“‚ ihre CD „Starke Frauen“ ein, die die Basis für ihre ebenso erfolgreiche Unterhaltungsshow wurden. Zum Vergnügen der weiblichen wie männlichen Zuhörer ventiliert Dorit Gäbler in lauten und leisen Liedern und Versen die Fragen des Lebens. Ist die Zeit der unverstandenen Frau, des Weibchens in Haus, Küche und Bett vorbei? Erotische Szenen wechseln sich ab mit Nachdenken über Fehler, die man erkannt hat und doch immer wieder macht. Die Quintessenz des Abends: Männer müssen vor starken Frauen keine Angst haben. Sie müssen sie nur lieben. Ich habe einen dieser Abende im Dresdner Terrassenrestaurant Marcolini genüsslich miterlebt.

Ein Solo auf dem Silbertablett

Mitte der 90erJahre adaptierte Dorit Gäbler für sich die Idee der DDR-Fernsehreihe „Schauspielereien“. Heitere und kuriose Kurzgeschichten für einen oder zwei Protagonisten. Wunderbar geeignet für die Schauspielerin, ihre Wandlungsfähigkeit, ihren Facettenreichtum auszuspielen.

Die Schauspielerin ist nicht nur Sängerin, sonden auch eine begnadete Kabarettistin, wie sie in ihrem Programm „Schauspielereien“ locker unter Beweis stellt © Karl-Heinz Bellmann

Mit Musik, Erotik und Witz gestaltet Dorit Gäbler in unterschiedlichsten Rollen vergnügliche anderthalbstündige Theaterabende. „Die Zwischenmusiken schrieb mir mein Bruder Mäckie Gäbler, und bei der Regie hat mich Jürgen Mai unterstützt. Der Szenenwechsel muss ja genau getaktet sein. Meine Garderobe steht auf der Bühne, das Publikum erlebt meine Verkleidungen mit.“ Die „Schauspielereien“ waren bei den DDR-Fernsehzuschauern sehr beliebt. Zwölf Jahre – von 1978 bis 1990 – gaben sich prominente Schauspieler wie Herbert Köfer, Helga Piur, Uta Schorn, Walter Plathe, Helga Göring oder Rolf Ludwig hier einmal im Monat ein einstündiges Stelldichein. Dorit Gäblers Bitte an den MDR, das Format wieder aufzunehmen, wurzelte die Redaktionsleiterin Jana Brandt, die Tochter des DEFA-Regisseurs Horst E. Brandt, ab. „Die Zeiten, dass wir so einen Mist senden, sind Gott sei Dank vorbei, Frau Gäbler.“
Ganz so ein Mist kann es ja nicht gewesen sein, denn mehrere Folgen liefen auch in einigen Dritten Programmen der ARD. Jana Brandt war übrigens von 1988 bis zum Ende des DDR-Fernsehens 1991 Redakteurin in der für die „Schauspielereien“ zuständigen Abteilung Spielfilm/Serie des DDR-Fernsehens.

Dorit Gäbler in ihren „Schauspielereien“ als verkappter Detektiv © Karl-Heinz Bellmann

„Das hat mich damals tief getroffen, weil wieder etwas getilgt wurde, das zu unserem Leben gehört hat“, erinnert sich Dorit Gäbler. Fast möchte man es Trotz nennen. Sie entwarf ihr Bühnenprogramm und ging viele Jahre mit eigenen „Schauspielereien“ auf Tour. Natürlich gab es immer wieder Neuauflagen. „Das war mein größtes und bestes Programm“, findet sie. Nicht zu Unrecht wie sich in Kulturspalten verschiedener Tageszeitungen nachlesen lässt. Beifallsstürme im Kunstschloss Hermsdorf, Fußgetrappel und Bravo-Rufe in Kröpelin. In Greifswald und Dresden forderten die Zuschauer Zugaben, Begeisterung in Wittenberg. Mittlerweile hat sie dieses erfolgreiche Programm aufgegeben. „Die Kostümwechsel fanden auf offener Bühne statt, auf ein fließendes Spagetti-Trägerkleid zog ich Blusen und Jacken. Aber meinen so sichtbaren Oberkörper will ich keinem Zuschauer mehr zeigen“, gesteht die immer noch attraktive 80jährige.

Winfried Glatzeder als Elwood P., der einen unsichtbaren Hasen namens Harvey hat, und Dorit Gäbler als Elwoods Schwester 2000 im Theater am Kurfüstendamm in der Komödie „Mein Freund Harvey“ © Programmheft/Theater am Ku’damm

Auf wundersame Weise, wie sie es nennt, bekam sie Ende der 90er Jahre Gast-Engagements an der Westberliner Komödie am Kurfürstendamm. „Ich spielte vier Inszenierungen in Berlin und Hamburg“, erinnert sie sich. Mit Winfried Glatzeder und Elisabeth stand sie in Mary Chase Komödie „Mein Freund Harvey“ auf der Bühne, an der Partnerbühne Comödie Dresden spielte sie mit Herbert Köfer, Hans-Jürgen Schatz und Jürgen Mai in dem Kästner-Stück „Drei Männer im Schnee“. Fast zehn Jahre ging sie ab 2008 mit Köfers Komödiantenbühne auf Tour, besonders erfolgreich in der Theaterversion von „Rentner haben niemals Zeit“, die auch in der Dresdner Comödie auf dem Spielplan stand. Von 2017 bis 2020 gehörte Dorit Gäbler als Mutter zur Besetzung in der Nikolaikirche Potsdam zur Besetzung des „Jedermann“-Inszenierungen.

Dorit Gäbler 2017 in ihrer Garderobe im Cottbuser TheaterNative“ Sie hat sich für die Premiere ihres Solo-Programms „Verliebt, verlobt, verschwunden“ fertig gemacht. ©Karl-Heinz Bellmann

Ihr großer Traum aber war ein Solo-Stück. Jahrelang hatte sie danach gesucht. Bei einer Vorstellung von Rentner haben niemals Zeit“ mit Herbert Köfers Komödiantenbühne 2015 im TheaterNative C in Cottbus wurde es ihr auf dem Silbertablett geliefert. „Verliebt, verlobt, verschwunden“, eine One-Woman-Revue des österreichischen Theaterautoren Stefan Vögel. Gerhard Printschitsch, der Intendant des Theaters, drückte ihr das Stück in die Hand. Er hatte es für eine 60jährige Schauspielerin seines Ensembles schreiben lassen. Sie traute es sich nicht zu. Für die Komödiantin Dorit Gäbler, die ihr Publikum problemlos zwei Stunden allein unterhält, eine Paraderolle. Und inhaltlich ein gefundenes Fressen für sie, die in Sachen Beziehungen auch nicht auf Rosen gebettet war.
Nach 18 Jahren Alleinseins mit zwei Kinder verspricht ein Mann einer Frau, er würde ihr den Himmel zu Füßen legen, wenn sie ihn heiratet. Doch am Hochzeitstag findet sie statt Rosen drei Worte auf einen Zettel gekritzelt: Ich kann nicht… Sie ist verletzt, wütend, verzweifelt, wie sie nur so blöd sein konnte, schon wieder auf einen Mann hereinzufallen. Im Laufe des Stücks findet sie zu sich selbst, analysiert das Wesen Mann. Sie flucht und singt sich in Rage, hadert mit Gott, der den Mann geschaffen hat. Sie warnt vor Typen, mit denen man sich nicht einlassen darf und parodiert ihren Exmann.

Herbert Köfer beglückwünscht Dorit Gäbler nach der bravourösen Premiere im Cottbusser TheaterNativeC 2016 ©Karl-Heinz Bellmann

„Printschitsch hat das Stück bearbeitet und für die emanzipierte Frau im Osten zugeschnitten“, sagt Dorit Gäbler, die mit ihrem witzig frechen Spiel nicht nur bei den Frauen Lacher erntete. Das Schöne daran war für sie, dass sie nicht nur als Schauspielerin ihr Können zeigen konnte. „Ich durfte mir meine eigene Begleitmusik schreiben, weil ich die dazu vorhandende zu belanglos fand. Nun stand sie also die Schauspielerin mit der Songtexterin und der Komponistin in persona auf der Bühne. Ein solches Finale hatte ich mir immer erträumt!!!“

Allerdings lief das nicht so reibungslos ab, wie sie es jetzt erzählt. Ein Jahr hatte sie neben ihren anderen Verpflichtungen daran gearbeitet. Vier Tage vor der Premiere im Juni 2016 bekam sie einen Schwächeanfall. Die Generalprobe für die Revue in Cottbus musste abgebrochen werden. Die Premiere am 11. Juli und die nachfolgenden Vorstellungen meisterte die 73jährige bravourös. Inzwischen steht sie mit diesem Stück auch anderswo auf der Bühne, wie im Boulevardtheater Dresden, der Kleinen Komödie Warnemünde und dem Theater Adlershof.

Mittlerweile hat Dorit Gäbler 13 Programme, mit denen sie unterwegs ist. Früher waren es so um die 160 Veranstaltungen im Jahr. Jetzt möchte sie etwas kürzertreten, aber ihr Terminkalender ist voll. Zehn, zwölf Veranstaltungen hat sie doch immer noch im Monat.

Pias Schwester Ursula kommt unverhofft nach Leipzig. Sie will ihren Vater besuchen. Später erfährt Pia, dass Ursula nicht mehr lange zu leben hat. Dorit Gäbler und Hendrikje Fitz 1999 in Folge 27 ©MDR

Gedreht hat sie seit der Wende nur wenig. Da waren 1998 die turbulenten Geschichten „Leinen los für MS Königstein“, in denen sie zwei Folgen mitspielte. 1999/2000 war sie in der Serie „In aller Freundschaft“ als Pia Heilmanns Schwester Ursula in drei Folgen zu sehen. „Die Überlegung, mich dauerhaft einzubauen, lief ins Nichts. Ich passe nicht ins Ensemble, wurde mir gesagt. Naja, so war das eben. Ich habe mir andere Ziele gesetzt.“

Dorit Gäbler als resolute Mutter des jungen Rechtsanwalts Markus Immel (Pierre Besson) 2003 in „Mein Weg zu Dir“, Screenshot© MovieMaxxTV/Michael Bertl

2003 sah man sie in der Romanze „Mein Weg zu dir“ mit Pierre Besson. Nichts Weltbewegendes, aber die Rolle ließ sie als resolute Grand Dame glänzen. Eine sehr hübsche Rolle hatte Dorit Gäbler als schrullige Gärtnerin in der phantastischen Kinderserie „Das Geheimnis der Sagala“. Ihre Mitwirkung als Frau Zwirn in der Kinderserie „Schloss Einstein“ 2007/2008 waren ihre letzten Filmrollen.

Junge gegen Alte

Ich frage sie, ob es nicht Zeit wäre, sich aus dem Show-Geschäft zurückzuziehen. Nach intensiven, schönen 57 Jahren, in denen sie ihre Träume gelebt hat. „So etwas habe ich gerade auf Facebook gelesen. Da schrieb ein junger Mann, die alten Künstler sollten endlich die Bühne für die jüngeren freimachen. Das war nicht direkt an mich adressiert. Er bezog sich auf eine TV-Sendung. Ich habe ihm geantwortet, er möge doch mal herumfragen, ob junge Künstler in Kliniken und Pflegeheimen auftreten. Das glaube ich kaum. Das sind keine Bühnen, um bekannt zu werden, oder wo man viel Geld verdient. Das ist doch heute für junge Leute das Wichtigste. Da guckst du auch nicht in schöne, fröhliche Gesichter.“

Dorit Gäbler bei einer Weihnachtsfeier in einem Seniorenheim © Karl-Heinz Bellmann

Sie erzählt mir von einem Auftritt in einem Heim für Demenzkranke. „Ich habe Volkslieder zur Gitarre gesungen und sah in Gesichter, deren ausdruckslose Augen ins Nirgendwo blickten. Mit einem Mal aber kehrten die Lebensgeister in diese Menschen zurück. Sie sangen mit, ganz textsicher. Dass ich diesen Moment in meiner langen Karriere noch entdeckt habe, hat mich glücklich gemacht.“ Ich kann auf dem Laptop sehen, wie sehr sie dieses Erlebnis im Nachhinein noch berührt. Die Frage, ob sie schon darüber nachgedacht hat, wann sie sich von ihrem Bühnenleben zurückziehen will, erübrigt sich eigentlich. Sie ist noch lange nicht soweit, die Bühne aufzugeben. „Ich habe immer noch wahnsinnig viel Freude an der Arbeit und bin mit meinem Personality-Programm „Momentaufnahmen“, Geschichten aus meinem Leben, gut gebucht“, sagt sie. „Ich bleibe, solange das Publikum meine Veranstaltungen mit einem entspannten, freundlichen Gesicht verlässt, und ich höre, dass es ihnen gefallen hat. Fallen die Worte: Naja, Frau Gäbler, das war ganz nett, höre ich auf. Dann bin ich weg.“ Sie lacht und schränkt ein: „Aber ich lasse mich auch nicht wie Johannes Heesters auf die Bühne führen, wenn die Beine nicht mehr wollen.“ Eine klare Ansage.

Sie tut viel dafür, dass niemand ihre Veranstaltungen mit dem Gefühl verlässt: War ja ganz nett. Dorit Gäbler schöpft ihre künstlerische Vielseitigkeit als Schauspielerin, Sängerin und Texterin aus. „Ich möchte mein Publikum exklusiv unterhalten. Dafür steht der Name Dorit Gäbler.“ Der Erfolg ihrer zahlreichen Unterhaltungs- und Kabarettprogramme spricht dafür. „Es geht immer noch weiter“, sagt sie zum Abschied unseres Videointerviews.

Es sei hier gesagt, Feierabend ist für Dorit Gäbler noch lange nicht. Ein paar Tourdaten gefällig? https://www.dorit-gaebler.de/tourdaten/ Foto: Karl-Heinz Bellmann

Chris Doerk – Acht Jahrzehnte auf dem Rad der Zeit

Das Rad der Zeit, es dreht und dreht und dreht
Und wir sind sprachlos
Dass die Zeit so schnell vergeht
Wenn man’s bemerkt
Ist es dann meistens schon zu spät
Träume bleiben Träume
Wehmut bleibt
Und schneller, immer schneller dreht das Rad der Zeit.

Wo ist die Zeit, die schöne, wo ist sie geblieben
Wir wollten soviel tun und ewig lieben
Wollten die Welt ein bisschen besser machen
gab wenig zu weinen, viel zu lachen
Doch die Zeit hat mit der Zeit davon so viel zerstört
was sind unsere Werte heut’ noch wert?

Das Rad der Zeit, es dreht und dreht und dreht…

Ein Blick auf das Bild und unweigerlich frage ich mich: Diese Frau will 80 sein? Aber Fakt ist Fakt. Am 24. Februar hat Chris Doerk ihr achtes Lebensjahrzehnt vollendet. Das Foto entstand vergangenen Sommer in Suhl auf dem Südthüringer SOS-Festival. „Es war unglaublich, wie sie das Publikum begeisterte. Und das waren nicht nur Fans, die sie von früher kannten“, schwärmte Fotograf Michael Reichel geradezu, als ich ihn um die Aufnahme bat. Die Sängerin war als Stargast eingeladen worden, denn man zeigte das DEFA-Musical „Heißer Sommer“. Wohl jeder, der in der DDR zu dieser Zeit Jugendlicher war, kennt die humorvolle Liebesgeschichte zwischen Stupsi und Kai aus dem Jahr 1968. Das Musical avancierte zum Kultfilm, nicht zuletzt wegen der Hauptdarsteller Chris Doerk und Frank Schöbel. Millionen DDR-Bürger schwärmten für das Gesangsduo, manche mehr für sie, manche mehr für ihn, und zusammen galten sie als das Traumpaar. Das spielten wir auf der Bühne auch noch, als die Liebe und unsere Ehe schon längst Risse hatte. Und das tat weh“, gibt Chris heute zu.

Chris Doerk und Frank Schöbel im DEFA-Filmmusical „Heißer Sommer“ 1967/68 © DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss

Lang ist es her. Das Rad der Zeit, es dreht und dreht und dreht, und wir drehen uns mit. Wenn man jung ist, sieht man keinen Grund, sich nach hinten umzuschauen, innezuhalten und zu reflektieren, was denn alles so passiert ist. Das ändert sich, je weiter man sich vom Anfang seines Lebens entfernt. Vor fünf Jahren erklärte mir Chris Doerk noch, dass sie nicht zur Nostalgie neigt, als ich sie fragte, ob sie denn ab und zu an ihre Kindheit und Jugend denke. Also ließen wir es damals sein, nachzugraben. Die Zeit dafür war für sie noch nicht gekommen. Als uns die Corona-Pandemie heimsuchte und Auftritte und Konzerte auch für Chris Doerk ausfielen, stellten sich die Rückblicke von selbst ein. „Da tauchten mit einem Mal Bilder aus Kinder- und Jugendjahren in meinen Träumen auf, Dinge, die ich längst vergessen glaubte“, sagt Chris. Sie begann an einem neuem Album zu arbeiten. Ein paar Tage vor ihrem 80. Geburtstag meldete sie sich bei mir – wie so oft – per What’sApp. „Ich habe die CD endlich fertig. Hör mal rein und sag mir, wie sie dir gefällt“, bat sie und schickte mir die Platte.

„Das Rad der Zeit“, Musik, Text und Gesang Chris Doerk

Es sind wunderbare Lieder, lyrisch, temperamentvoll, fröhlich und nachdenklich wie Chris selbst, voller Vitalität. Bis auf die kubanischen Lieder singt sie eigene Texte. Jeder für sich eine kleine Reminizenz an ihr Leben wie „Das Rad der Zeit“ oder „Träume mit gebrochenen Flügeln“.

Chris Doerk beim Internationalen Chansonfestival 1970 in Varadero Foto: privat

Ich erinnere mich, wie sie mir von dem internationalen Chanson-Festival 1970 in Kuba erzählt hat. Ihrem ersten Aufenthalt auf der Insel, die für viele DDR-Bürger ein Sehnsuchtsort war. Man konnte Reisen dorthin über das DDR-Reisebüro zwar buchen, doch sie waren sehr teuer. Wenn ich mich richtig erinnere, kostete ein zweiwöchiger Urlaub 6.000,00 DDR-Mark. Dafür hätte ich ein paar Jahre sparen müssen. So groß war der Reiz dann doch nicht, dass ich mir das gönnte. Chris ist damals von der Künstleragentur der DDR zu diesem Festival in Varadero delegiert worden. Sie schwärmt noch immer davon. „Das Schöne daran war, dass es nicht um Preise ging, sondern um den reinen Spaß am Musikmachen. Das wunderbare Land und seine Menschen haben mich seitdem nicht mehr losgelassen. Ihre Herzlichkeit, ihre Lebenslust, mit der sie ihr nicht gerade leichtes Leben führen, sind mir so wesensnahe.“

Es gab für sie in den folgenden 16 Jahren immer wieder Gelegenheiten, ein paar Wochen auf Kuba zu verbringen. Die Insel und die Freunde, die sie dort fand, machten sie glücklich. Sie taten ihr gut, als ihre Ehe mit Frank Schöbel zerbröckelte. „Kuba war meine zweite Heimat geworden. Ein Zufluchtsort, an dem ich meine Gefühle ordnen konnte. 1973 musste ich eine Entscheidung für mich treffen, mir klar werden, ob ich mit Frank weiterleben will.“ Sie entschied sich, wie bekannt, für die Scheidung.

Chris und „Papa“ Gregorio Fuentes 1975 in Cojimar © Klaus. D. Schwarz

Einen Menschen auf Kuba hatte sie besonders ins Herz geschlossen. Das war Papa Gregorio, wie sie den berühmten Bootsmann von Hemingways Yacht Pilar nennt. Sie erzählt mir, wie es dazu kam. Ende 1974 war Chris zu Fernsehaufnahmen in Havanna. Der Fotograf und Bildjournalist Klaus D. Schwarz, ihr neuer Mann und Manager, begleitete sie. Nachdem alles abgedreht war, blieben noch einige Tage, um Freunde zu besuchen, herumzufahren und das Land zu entdecken. „Wir trafen uns mit meiner Freundin Mirta. Sie erzählte uns, dass in Cojímar, einem kleinen Fischerdörfchen östlich von Havanna, Hemingways Yacht Pilar liegt und sein Bootsmann Gregorio Fuentes lebt. Den wollten wir unbedingt kennenlernen. Mirta fuhr mit uns nach Cojìmar, und wir haben den alten Fischer wirklich gefunden. Als wir uns nach Stunden von Gregorio verabschiedeten, umarmte er mich und sagte, ich wäre jetzt seine fünfte Tochter.“ Klaus D. Schwarz hat später einen Dokumentarfilm über „Papa“ Gregorio gedreht.

Ganz links im Bild steht Chris am Zaun des Häuschens in Cojimar, das ihr Freunde für ihre Kuba-Aufenthalte überließen Foto: privat

Wenn Chris nach Kuba reiste, bekam sie von Bekannten immer einen Packen Briefe mit, die sie dann als Postillion verteilte. „So lernten Klaus und ich einen Architekten und seinen Freund kennen. Zwei kluge junge Männer“, erzählt sie. Irgendwann erwähnte sie beiläufig, dass sie die Hotels satt habe. Sie würde lieber mitten unter Kubanern wohnen. „Die Beiden lachten und meinten: Den Wunsch können wir dir erfüllen, wir haben eine Casita in Cojímar. Da kannst du wohnen. Damit war mein Glück perfekt. „La Casita“ für die „La Alemanita“, die kleine Deutsche, sagten die Leute, wenn Chris kam. Ein kubanisches Sprichwort heißt: Hast du Freunde, hast du Zuckerfabrik. Lachend erzählt Chris eine hübsche Anekdote über die Casita.

Blick auf den Korallenstrand, vor dem die Casita stand. Ein Jahrhundertsturm hat das Häuschen samt Hof dem Erdboden gleichgemacht. Übriggeblieben ist nur das Mäuerchen auf dem der Zaun stand Foto: privat

„Die Jungs hatten den steinigen Hof hinter dem Haus mit Sand bedeckt, den sie vom Strand hochgekarrt haben. Das sah wirklich schön aus. Dann erlebte ich den ersten Sturm. Er peitschte die Wellen hoch ins Dorf bis an meine Veranda. Sie leckten an den Fenstern, das fühlte sich abenteuerlich an. Auf ihrem Rückweg ins Meer nahmen sie den Sand vom Hof mit, der sich wie eine Zunge auf der Straße ausbreitete. Dann passierte etwas Komisches. Von allen Seiten kam die Dorfbewohner mit ihren Eimern und mausten meinen Sand. Ich fragte mich, was die damit wollen. Gregorio erklärte mir, dass die Leute den Sand zum Bauen brauchen. Ihn von der Straße zu schippen ist natürlich bequemer als ihn kilometerweit vom Strand herzuholen. Von da an hatte ich neben der Tür für den Fall, dass wieder ein Sturm kommt, eine Schaufel bereit stehen. Und die Stürme kamen oft. War’n sie vorbei, schippte ich flink wie der kleine Maulwurf den Sand zurück in den Hof, um möglichst viel vor den „Bauherren“ zu retten.“

Chris’ Freundin America (in der blauen Bluse), die Lieblingsenkelin von Hemingways Kapitän Gregorio Fuentes. So sieht die Straße aus, in der sich die Casita befand, heute aus Foto privat

Im Frühjahr 1989 besuchten Chris und ihr Mann Kuba noch einmal. Es sollte das letzte Mal sein. „Ich wollte nach zwei Jahren Pause wegen einer Stimmbandentzündung meinen Seelen-Akku aufladen und wieder loslegen.“ Das Meer und die Casita in Cojímar waren genau das, was sie brauchte. Natürlich besuchte sie auch ihren „Papa“ Gregorio. Er war inzwischen schon 90 Jahre alt. „Papa Gregorio plauderte immer noch gern über die Zeiten, als er mit Ernest Hemingway aufs Meer fuhr oder mit ihm vor seiner Casa saß. Nur manchmal wirkte er ein bisschen müde, schaltete ab und hing seinen Gedanken nach. Seine Töchter schrieben mir 2002, dass er seine Ruhe gefunden hat. Er ist 105 Jahre geworden.“

Das Buch, das 2002 erschien, ist über Amazon erhältlich Foto: Klaus. D. Schwarz

Über Papa Gregorio und viele andere Menschen, die zu Freunden geworden sind, erzählt Chris in ihrem Buch „La Casita – Geschichten aus Cuba“. Die Lieder auf ihrer neuen CD sind eine Hommage an ihre zweite Heimat, die Kuba für sie geblieben ist. Heute als Tourist nach Kuba reisen will sie jedoch nicht. Jedenfalls noch nicht. „Ich würde die Armut nicht ertragen. In den Geschäften gibt es heute fast alles, Brot, Gemüse, aber durch die Inflation ist es so teuer, dass die Bevölkerung das kaum bezahlen kann.“ Wehmut schwingt mit, als sie davon erzählt.
Die Casita in Cojímar wurde 1993 von einem Jahrhundertsturm dem Erdboden gleichgemacht. „Was du auf dem Foto siehst, ist das Mäuerchen auf dem der Zaun stand“, sagt Chris. Ihre Freundin America, die Enkelin von Papa Gregorio, hat ihr das Foto heute geschickt.

Zurück ins Heute, zum neuen Album von Chris. Als ich sie frage, mit wem sie „Maria Isabel“ singt, erfahre ich eine verrückte Geschichte. Lars Sens von der AC/DC Coverband „Dr. Kinski“ hat den kubanischen Sommerhit von 1969 mit ihr aufgenommen. Übrigens einst auch ein Doerk/Schöbel-Hit. Lachend erzählt Chris von ihrer ersten Begegnung mit „Dr. Kinski“. Es passierte bei einem „hautnah“-Konzert mit Frank Schöbel im Tierpark. „Da saß in der fünften Reihe ein großer Mensch in schwarzen Klamotten, die Haare nach hinten gegelt. Er passte überhaupt nichts ins Bild“, erzählt Chris und lacht laut. Sie hielt ihn für einen Westmanager, der wegen Schöbel gekommen war. Großer Irrtum. „In einer Auftrittspause kam er hinter die Bühne, stellte sich vor und erklärte, sein größter Wunsch sei es, einmal mit mir Highway to Hell zu singen. Ich kannte weder ihn noch die Band und dachte: Ist nicht meine Musik, macht aber vielleicht Spaß. Und dass ein Rocker Chris-Fan ist, fand ich lustig.“

Chris Doerk und Lars Sens interpretieren den
kubanischen Sommerhit von 1969 „Maria Isabel“

Sie sagte zu und rockte kurze Zeit darauf mit „Dr. Kinkski“ im legendären Müggelheimer Strandhotel „Neu Helgoland“ vor einem Publikum, dass sich fast nicht mehr einkriegte. „Unsere Begegnung hatte was Schicksalhaftes“, sagt Chris. „Lars verdanke ich, dass ich 2011 mein Album ,Nur eine Sommerliebe‘ produzieren konnte, nach über 20 Jahren das erste wieder mit neuen Liedern. Bis auf einen Titel habe ich alle selbst geschrieben. Ein Text ist von Lars. Leider gibt es seine Band nicht mehr“, bedauert sie.

Lars Sens alias Dr. Kinski ist seit vielen Jahren ein Fan von Chris Doerk Quelle: Deutsche Mugge.de/Frank Iffert

Beim Recherchieren über Lars Sens und „Dr. Kinski“ – ich hatte wie Chris damals nie zuvor von der Band gehört – fand ich ein Interview mit ihm auf Deutsche Mugge.de. Darin konstatiert er: „Persönlich gefiel mir die Zusammenarbeit mit Chris Doerk am meisten. Ich durfte mit einer Schlager-Diva, die viele Menschen aus ihrer Jugend kennen, auf einer Bühne stehen und AC/DC-Nummern singen. Diese Konstellation war sehr schräg und schön. Chris besitzt eine Bühnenpräsenz und eine Ausstrahlung, die nur ganz wenige haben. Ich sang mit ihr das alte Schöbel-Doerk-Duett Links von mir, rechts von mir, da hab ich fast geheult vor Glück.“ Als ich ihr das vorlese, ist sie erst einmal einen Moment still. „Was ist?“, frage ich. „Ich bin ganz baff, verrückt!“, lacht sie dann.

Chris Doerk mit mir am Teltowkanal 2006 beim Interview © Jürgen Weyrich

Fast zwei Jahrzehnte bin ich mit der Sängerin befreundet. Unser erstes Interview führten wir zu eben jenem DEFA-Musical „Heißer Sommer“. Ich ließ mir von Chris erzählen, was so am Rande der Dreharbeiten geschah. Wir erinnern uns beide gern an jenen Junitag 2006, an den Spaziergang am Teltow-Kanal, an die lustigen Fotos, die Jürgen Weyrich schoss. Ich habe bei meinen Interviews selten so viel gelacht.

Ich glaube, ich habe Chris noch nie in schlechter Stimmung oder resignierend erlebt. Und wenn wir über weniger gute bis schlimme Zeiten gesprochen haben, behielt sie trotzdem ihre Heiterkeit. „Lachen war immer mein Rettungsanker. Es ist mein Plus, um mich nicht niederbeuteln zu lassen.“ Es half ihr, wenn sie nicht wusste, wie es weitergeht. Wie nach ihrer Scheidung und dem damit einhergehenden Zerfall des Duos Doerk/Schöbel 1974. Um ihre Karriere allein fortsetzen zu können, ging sie damals auf Konzertreisen ins Ausland. Zu Hause hielt Frank Schöbel das musikalische Unterhaltungsterrain besetzt. Chris machte zwangsläufig einen Strich unter diesen Teil ihres Lebens. „Ich hatte keine Chance in seinem Dunstkreis, meine Karriere fortzusetzen.“
Die DDR-Plattenfirma Amiga kündigte merkwürdigerweise kurz nach der Trennung ihren Vertrag, obwohl ihre Soloplatten erfolgreich liefen. Wechsel in der Chefetage, und der Neue mochte keine Schlager. So ist es Chris im Gedächtnis. Vielleicht aber lag es auch daran, dass sie plötzlich kein Star mehr war, wenngleich dieser Begriff in der DDR nicht verwandt wurde. „Mir war der Boden unter den Füßen weggezogen.

Peter Bause, Frank Schöbel und Chris Doerk 1972 bei Dreharbeitn für die DEFA-Komödie „Nicht schummeln, Liebling!“ ©DEFA-Stiftung/Klaus Goldmann

Ohne Klaus hätte ich dieses Tief nicht durchgestanden“, erklärt Chris. Der Fotograf Klaus D. Schwarz, den sie 1972 bei den Dreharbeiten zur DEFA-Komödie „Nicht schummeln, Liebling“ kennenlernte, als er für das Jugendmagazin „Neues Leben“ fotografierte, wurde ein Freund. Er nahm sich Zeit, ihr zuzuhören, baute sie auf, wenn sie am Verzweifeln war. „Dass Klaus in mich verliebt war, ahnte ich nicht. Er machte mit mir Fotos für das Jugendmagazin und dabei haben wir viel geredet. Mir war klar, dass ich mich nicht abdrängen lassen durfte. War nur die Frage, was tun? Klaus meinte, ich müsse auf Tournee gehen, müsse raus aus der DDR, weg von dem Klüngel um Amiga und Fernsehen.“

1974 drehte das polnische Fernsehen mit Chris eine Musiksendung. Hier bespricht der polnische Regisseur mit ihr Einstellungen Foto: privat © Klaus D. Schwarz

Der namhafte DDR-Bildjournalist ließ seine Profession ruhen, übernahm für Chris das Management und verschaffte ihr wieder Boden unter den Füßen. Ihre freundschaftliche Zuneigung für ihn schlug allmählich in Liebe um. „Klaus war aber nicht der Grund, dass ich mich 1974 scheiden ließ, was gern mal erzählt wird. Meine Ehe mit Frank Schöbel bestand ja schon seit 1973 nur noch auf dem Papier“, hebt Chris hervor. Seit 48 Jahren sind sie und Klaus D. Schwarz nun schon ein Paar. Ihr Mann begleitete sie auf fast allen Tourneen. Durch seine Arbeit als Bildjournalist hatte er viele Kontakte in der ČSSR, in Polen, Bulgarien und so rissen die Einladungen für die beliebte Sängerin nicht ab. Anderthalb Jahre war sie mit der Uve Schikora Combo unterwegs, bis der Bandleader 1976 von einer Kuba-Reise nicht in die DDR zurückkehrte. Von da an hieß es in den Veranstaltungsprogrammen „Chris & ihre Musikanten“ treten auf. „Die Menschen waren unheimlich gastfreundlich. Bei den Konzerten haben sie uns gefeiert. Es war ihnen egal, dass sie noch nie von uns gehört hatten.“

Mit solchen Bussen waren die Künstler unterweg. Foto aus der mdr Doku „Stars an der Trasse“

Die Glücksgefühle von damals spürt Chris beim Erzählen wieder. Wunderbare Erinnerungen hat Chris an ihre Konzerte in der Sowjetunion. „Die Tourneen waren der Hammer! Wir haben 1986 sieben Wochen das Land bereist. Ob in Armenien, Kasachstan oder in Irkutsk hoch oben im sibirischen Norden, ich habe selten eine solche Begeisterung erfahren. Besonders, wenn ich russisch gesungen habe.“ Sie macht eine Denkpause. „Meine erste Konzertreise in die SU war im Juni 1977 mit der Gruppe Express. Wir hatten eine Einladung in die Ukraine, nach Winnyzia. Bei der Reisevorbereitung sagte man uns, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in Winnyzia furchtbare Massaker verübt hatten, und ich bin mit einem mulmigen Gefühl dorthin gefahren. Meines Wissens waren wir die ersten deutschen Künstler, die nach dem Krieg dort aufgetreten sind. Aber die Leute waren zauberhaft, egal, wohin wir kamen.“ Sie macht eine Pause. „Wo es friedlich war, ist jetzt Krieg.“ Wir beschließen, das sich aufdrängende Thema beiseite zu schieben. Es nimmt uns die Luft.

„Opa mussten wir zurücklassen“

Ihre ersten drei Lebensjahre verbrachte Chris mit ihrer Mutter bei den Großeltern in dieser Straße. Opa Schmolinski war Werkmeister in einer Stellmacherei, die Oma Schneiderin Fotoquelle: wikimedia.org

Dennoch kommen wir nicht ganz daran vorbei, wenn wir über Bilder ihrer Kindheit sprechen wollen. Deutschland machte sich das dritte Jahr mit verheerenden Eroberungs- und Vernichtungsfeldzügen über die Welt her, als Christa Maria Doerk im Februar 1942 in Königberg, dem heutigen russischen Kaliningrad, geboren wird. Ein niedliches Mädchen mit dunklen Haaren, der Liebling ihres Opas. „Er war Werkmeister in einer großen Königsberger Stellmacherei und hat für mich eine wunderschöne Wiege gebaut. Opa muss ein toller Mann gewesen sein. So ein ganz Sanftmütiger, eine Seele von Mensch“, schwärmt Chris von ihm. Die Mutter erzählte ihr, wie der Opa einem Kutscher die Peitsche aus der Hand riss, als der auf sein Pferd eindrosch. „Opa war sehr tierlieb und konnte wohl richtig böse werden, wenn er so etwas sah.“
In der Familie Schmolinski hatte die Oma quasi die Hosen an. Sie war herzensgut, aber streng, und an Opa hatte sie immer etwas auszusetzen.“ Chris lacht: „Wurde ihm ihre Nörgelei zuviel, brubbelte er in seinen Bart: Halt di Mul!, und machte die Tür von draußen zu. Trotzdem haben sich beide sehr geliebt.“

Der Opa ist in ihrem Bewusstsein ganz präsent mit einem Kindergedicht, das er ihr beibrachte, kaum dass sie sprechen konnte. „Ich war zwei, da hat er mir das aufgedrückt“, lacht sie und sagt den Vers auf:

Mit elf Monaten stand Chris zum ersten Mal in ihrem Bettchen und schaut neugierig in Opas Fotoapparat. Das Kleidchen hat die Oma genäht. Foto: © privat

Es war einmal ein hübsches Ding von Farben und Gestalt,
ein kleiner bunter Schmetterling, kaum wenig’ Stunden alt.
Zu jeder Blüte flog er hin und rief, stolz im Gesicht:
Ei, seht doch mal, wie hübsch ich bin!
Bewundert ihr mich nicht?

Und wenn es hieß: „Bewundert ihr mich nicht“, zog sich die kleine Chris an der Tischkante hoch und stahlte alle an. Natürlich haben alle das süße Ding bewundert, das so klein schon so schön ein Gedicht aufsagen konnte. „Ich bedauere so sehr, dass ich Opi nicht erleben konnte, als ich älter war. Er musste in Königsberg bleiben, als wir 1945 evakuiert wurden. Wir kamen mit dem letzten Zug aus der Stadt, es durften nur Frauen und Kinder mitfahren.“

Chris’ Mutter wohnte mit ihrem Baby bei ihren Eltern. Sie hatten eine Wohnung in einem großen Stadthaus in der Tragheimer Kirchenstraße. Sie war vierundzwanzig, als Chris zur Welt kam, ihr Mann Hermann Doerk schon zwei Jahre im Krieg. An eine eigene Wohnung hatte das Paar noch gar nicht denken können. „Meine Eltern kannten sich schon vor dem Krieg. Wann sie geheiratet haben, weiß ich nicht“, sagt Chris. Auf dem Foto, das sie gefunden hat, steht kein Datum. Es spielte im Leben von Hildegard und Hermann Doerk auch keine Rolle. Sie führten ein etwas anderes Leben, wie Chris es ausdrückt. Ihren Hochzeitstag haben sie nie gefeiert und vielleicht selbst vergessen. „Papa war gleich zu Kriegsbeginn einberufen worden. Die Hochzeit muss danach gewesen sein. Auf dem Hochzeitsfoto trägt er Uniform. Ein hübscher Kerl“, beschreibt ihn Chris, „alle Mädchen haben ihm Avancen gemacht. Da wurde meine Mutter richtig eifersüchtig. Was total grundlos war. Papa hat sie nie betrogen, nicht einmal, als sich ihm in einem Pariser Bordell die Gelegenheit bot. Er war ihr absolut treu.“

Chris’ Vater, der Friseurmeister Hermann Doerk aus Tapiau mit 27 Jahren, als er sich in die hübsche 20jährige Hildegard Schmolinski verliebte Foto: privat

Der Krieg hatte den Wehrmachtssoldaten Hermann Doerk nach Italien verschlagen. Hier geriet er bald nach seiner Rückkehr aus dem Fronturlaub 1944 in amerikanische Gefangenschaft. Man kann es als Glück bezeichnen, denn der Italienfeldzug der Alliierten kostete zigtausend Soldaten das Leben. Auf beiden Seiten. „1947 wurde Papa aus der Gefangenschaft entlassen und machte sich mit einigen Kameraden zu Fuß auf den Weg nach Deutschland. Als sie in Paris ankamen“, gibt Chris die Erzählung ihres Vaters wieder, „wollten die Männer unbedingt mal in einen Puff. Papa reizte das nicht. Doch die anderen schleppten ihn mit und schubsten ihn zu einer Nutte ins Zimmer. Da saß er angezogen auf dem Bett, und als sich die Dame vor ihm frisch machte, kriegte er einen solchen Lachanfall, dass sie ihn mit einem Fußtritt nach draußen beföderte.“ Chris feixt. „Damit war er aus dem Schneider ohne sich eine Blöße zu geben.“

Ihre Art, über alles lachen zu können, hat Chris Doerk von ihrem Vater geerbt. Ihre Mutter mochte Albereien nicht so. „Sie kam da nach ihrer Mutter“, sagt Chris und erzählt von einem Brief der Oma an ihre Eltern. „Ich war 15 und durfte noch in den Westen fahren. Oma lebte bei Hamburg über einer Sargtischlerei. Wenn man zu ihr in die Wohnung wollte, musste man durch die Werkstatt, und dann ging es eine Stiege hoch. Ich fand das gruselig. Einmal gab sie mir 20 Mark, damit ich mir Hamburg ansehen konnte. Ich kam nur bis zum Alsterhaus, das am Bahnhof lag. Stundenlang bin ich in dem riesigen Kaufhaus die Rolltreppen rauf und runter gefahren. Ich hatte vorher noch nie eine Rolltreppe gesehen. Gekauft habe ich mir zwei große saftige Pfirsiche. Oma wollte wissen, was ich Schönes gemacht habe. Ich erzählte ihr von meinem Rolltreppenabenteuer. An meine Eltern schrieb sie dann: Euer Kind weiß sich zu amüsieren. Meine Mutter war in Sachen Humor noch ein bisschen verschärfter. Papa hat mir mal erzählt, dass sie gern von Königsberg an die Ostsee gefahren sind. Da wuchsen am Strand Haselnusssträucher. Als er ihr eine Handvoll Nüsse brachte, hat sie ihm die einfach aus der Hand gekloppt und fand es komisch. Meine Mutter war schon speziell.“

Chris 1943 Jahren auf dem Schoß ihrer Mama in der Küche der Königsberger Wohnung ihrer Großeltern Foto: ©Privat.

Was den Krieg betraf, waren Chris’ Eltern nicht sehr mitteilsam. Sie hatten einen Strich unter diese Zeit gezogen, wie die meisten Menschen, und fingen ihr Leben neu an. Chris hat ihren Vater nicht nach dem gefragt, was er erlebt hatte. „Wenn er mal etwas erzählte, war es etwas Lustiges“, sagt sie. Wie eben die Sache in dem Puff. Wann und wo die Liebesgeschichte von Hildegard und Hermann Doerk begann, kann ihre Tochter nur vermuten. „Das spielte in unseren Gesprächen nie eine Rolle, und es hat mich auch nicht so brennend interessiert. Du bist die Erste, die mich danach fragt.“ Vielleicht sind sie sich zum ersten Mal am Strand begegnet, wohin die Jugend der Gegend im Sommer zum Baden fuhr oder beim Tanz. Hildegard Smolinski wirkte sehr anziehend. „Sie trug immer schicke Kleider, die Oma ihr schneiderte.“ So, wie sie auch für die kleine Chris Kleidchen, Jacken und Blüschen nähte. Die Oma hat ihre Enkelin auch später noch verwöhnt und ausstaffiert. „Sie nähte mir für die Konfirmation ein Kleid aus schwarzem Taft mit weißen Blüten. Kein anderes Mädchen hatte so ein schönes Kleid.“ Besonders geliebt hat Chris ein weißes Sommerkleid aus Seide mit rosa Tupfen, Puffärmelchen und einem großen Ausschnitt. „Es hatte einen Tellerrock mit aufgesetzten Rüschen! Wenn ich mich drehte, flog er ganz hoch. Darin kam ich mir vor wie eine sein.“

Blick von der Promenade über den Schlossteich zum Schloss. Es waren wohl diese Absperrungen, die Chris in ihren Kinderträumen sah. Quelle: wikipedia.org

Zurück nach Königsberg. Die Stadt nordöstlich des Frischen Haffs an der Danziger Bucht war von jeher ein Verkehrsknotenpunkt, ein wirtschaftliches und geistig-kulturelles Zentrum mit Universitäten, Hochschulen, Theatern, Museen. Ein merkwürdiges Bild tauchte in Chris’ Kinderträumen immer wieder auf. „Ich sah dicke Ketten, die zwischen Säulen hingen und fragte meine Mutter, was das sein könnte. Sie meinte, das müssten die Ketten zwischen den Pollern an der Promenade rund um den Schlossteich sein, wo sie mit mir gern spazieren ging. Die Ketten hätte ich wohl aus dem Kinderwagen gesehen.“ Viel mehr findet Chris von der Stadt in der Pregelniederung nicht in ihrem Gedächtnis.

Der Krieg schien an Königsberg vorüberzugehen. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 flog die sowjetische Luftwaffe einige Bombenangriffe, die der Stadt aber keinen großen Schaden zufügten. Die Menschen lebten mit der Illusion, der Krieg im Großen würde sie verschonen. Niemand glaubte, dass noch eine Katastrophe hereinbrechen würde. Man ging seiner Arbeit nach, gönnte sich einen schönen Feierabend in den Terrassencafés am Schlossteich. Oper und Theater spielten noch.
Im Frühjahr 1944 hatte Hermann Doerk Heimaturlaub bekommen. „Für meine Mama waren das glückliche Tage. Ich habe keine Erinnerung daran“, sagt Chris. Sie hat ein Foto gefunden, dass das kleine Familienglück zeigt. „Ich war etwas über zwei Jahre, als es aufgenommen wurde.“ Ihr Vater steckte es ins Portemonnaie, als er sich zu seinem Standort in Italien verabschiedete. Es sollte drei Jahre dauern, ehe er seine Frau und seine kleine Tochter wiedersehen würde.

Königsberg nach den beiden Luftangriffen der Royal Air Force im August 1944 Quelle: Wikipedia/© gemeinfrei Fritz Krauskopf

Im Sommer 1944 brach über Königsberg die Hölle los. Ende August zerriss Sirenengeheul die stillen Nächte. Fliegeralarm. Chris’ Mutter packte ihr Kind in Kissen und rannte zusammen mit der Oma in den Keller. Britische Bomber legten fast die gesamte Stadt in Schutt und Asche. Ziel waren zivile Einrichtungen, Wohngebäude, Schulen, Kirchen, der Dom, die Krankenhäuser, die Universitäten, das Schloss – es brannte tagelang. Militärische Objekte, Hafen und Bahnanlange blieben unversehrt. Die Strategie der Briten war, die Bevölkerung zu demoralisieren. Die Aktion „Blenny“ forderte 5.000 Tote, 200.000 Königsberger wurden obdachlos.

Auch der Stadtteil Tragheim wurde getroffen. Das Haus, in dem Chris’ Großeltern mit Tochter und Enkelin wohnten, bekam zum Glück nichts ab. So schlussfolgert Chris. „Meine Mama hat nie erzählt, dass wir irgendwo unterkommen mussten. Wirklich ruhig geschlafen haben sie danach nicht mehr.“ Angst machte sich unter den Bevölkerung breit, als durchdrang, dass an der Ostfront die Heerestruppe Mitte von der Sowjetarmee zerschlagen worden war und die „Russen“ nach Ostpreußen einrückten. Überall packten die Leute zusammen, was sie tragen konnten und machten sich auf den Weg nach Westen, in das scheinbar sichere Deutschland. Chris’ Großeltern hatten bis zum Schluss die Hoffnung, das Kriegsende zu Hause erwarten zu können. Als die Rote Armee im Januar 1945 dicht vor Königsberg stand, beschlossen auch sie, wegzugehen. Bleiben war zu gefährlich. „Opa hat uns zum Bahnhof gebracht. Es war der letzte Zug aus Königsberg heraus, bevor die Stadt eingekesselt und zur Festung wurde. Opa hat mich auf den Arm genommen und gesagt: ,Mach’s gut mein Süßchen. Ich werde dich sicher nicht wiedersehen, und das tut sehr weh’. Dabei liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Die Männer mussten zurückbleiben. Wir haben nie erfahren, was mit Opi passiert ist.“

„Wir waren nicht willkommen“

Chris mit ihrer Mama und ihrem Papa bei dessen Fronturlaub 1944 in Königsberg Foto: © privat

An der deutschen Grenze war für die Flüchtlinge Endstation. Danach mussten alle sehen, wie sie weiterkommen. „Oma schlug sich nach Hamburg durch zu meiner Tante. Mama flüchtete mit mir quer durchs Erzgebirge. Ich habe noch die vage Erinnerung, dass wir in schrecklichen Unterkünften übernachteten, die wir uns mit Soldaten teilten. Von denen haben wir uns die Krätze geholt, denn es gab nur wenige Handtücher. Es hat mich überall gejuckt.“ Irgendwann erreichten Mutter und Tochter Meißen. Hildegard Doerk versuchte auf dem Amt eine Wohnung zu bekommen. Man wies sie harsch ab, es gäbe keine freie Wohnung, und sie solle doch die Landstraße zurückgehen, die sie hergekommen war. „Uns hat keiner mit offenen Armen empfangen“, erinnert sich Chris.

Der Krieg hatte die Menschen hart gemacht. Man sah sie nicht gern, die Flüchtlinge, die Habenichtse, die Eindringlinge in das eigene Dasein, in dem man selbst zu kämpfen hatte. Nun muss man gerecht sein. Das traf nicht auf alle Meißner zu. Hildegard Doerk und ihre dreijähige Tochter kamen bei einer Frau und ihrer erwachsenen Tochter unter. In einem Durchgangszimmer. Chris hat es noch so einigermaßen vor Augen: Tisch, Bett, Kommode, zwei Stühle, ein Hängeregal für Tassen und Schüsseln. „Die Tochter des Hauses musste bei uns durch, wenn sie in ihr Zimmer wollte. Eines Tages brachte sie einen Russen mit. Der hat sich gleich in mich verguckt. Von ihm bekam meine Mutter Milch für mich und etwas zu essen. Einmal hat sie das Brot, das er mitgebrachte, gewaschen, weil es so nach Benzin roch. Als es wieder trocken war, haben wir es gegessen. Kein Witz. Das waren schlimme Zeiten mit viel Hunger.“

Fast zwei Jahre lebten sie in Meißen. Hildegard Doerk hangelte sich so durch mit Gelegenheitsarbeiten, Kartoffelnstoppeln, Rübenziehen, und manchmal klaute sie Kohlen für den Ofen im Zimmer. Oft musste sie ihre Tochter allein lassen. „Ich war ein braves Kind. Bin nie weggelaufen. Wenn sie mich vor einem Laden setzte, blieb ich dort, bis sie wieder kam.“ Chris war vier, als ihre Mutter in Krankenhaus musste und sie für zwei Wochen zu einer fremden Familie gab. „Das waren sehr nette Leute. Sonntags gab es Kuchen, Bisquitschnitte mit Erdbeermarmelade. So was Schönes hatte ich noch nie gegessen. Das war für mich das Paradies.“ Angst hatte sie nicht, dass die Mutter sie nicht wieder abholen würde. Denn sie war ja immer wiedergekommen. „Es ging mir gut. Ich erinnere mich, wie ich mit anderen Kindern auf dem benachbarten Schulhof gespielt habe. Da gab es einen Maulbeerbaum. Die Kinder sammelten die Früchte auf und haben sie gegessen. Ich habe sie gleich wieder ausgespuckt. Die schmeckten eklig.“ Chris schüttelt sich bei dem Gedanken daran.

Inzwischen war das Jahr 1947 erreicht. Es sollte eine Zeitenwende in Chris’ Leben werden. Ihr Vater kehrte zurück. Für sie ein unbekannter Mann, der ihr gleich den Hintern versohlte. Lachend erzählt sie, wie es dazu kam. Sie war allein zu Haus, saß am Tisch und malte, bis ihr langweilig wurde. „Ich guckte, was ich noch machen könnte und fand Mamas Schere. Ich setzte mich vor den Spiegel schnitt mir die Haare.“ Damit war die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter immer noch nicht überbrückt. Auf dem Wandregal entdeckte Chris den Topf mit Sirup, den ihre Mutter aus gestoppelten Zuckerrüben gekocht hatte. Den Sirup gab es morgens aufs Brot. Darauf kriegte die Fünfjährige Appetit. Das kleine Wesen reckte sich, machte sich so groß, wie es nur ging, und angelte mit den Fingerspitzen nach dem Topf. „Dabei ist er natürlich umgekippt. Der Sirup kleckerte mir auf die Haare und auf den Fußboden. Mama hat mit mir ziemlich geschimpft, als sie das Malheur sah.“
Eigentlich wäre der Vorfall für beide erledigt gewesen. Doch diesmal nicht. Chris weiß noch ganz genau, was passierte. „Am nächsten Tag stand ein wildfremder Mann mit Bart vor unserer Tür. Mama fiel ihm um den Hals. Sie lachte und weinte und erzählte ihm gleich, was ich gemacht hatte. Warum tut sie das, dachte ich. Da hatte er mich auch schon übers Knie gelegt und gab mir was auf den Po. Ja, das war Papas Einstieg in mein Leben.“

„In Böhla blieben wir die Zugezogenen“

Kurz nach der Rückkehr des Vaters zog die Familie nach Böhla Bahnhof, damals ein Ortsteil von Böhla, heute von Priestewitz. Eine ländliche Idylle mit Feldern, Wiesen, Wald und Gehöften zwischen Meißen und Großenhain. So hat Chris ihre Kindheitswelt im Kopf. „Ein bisschen ab vom Schuss“, erinnert sie sich. „Die Bauern bestellten ihre Felder, bewirtschafteten ihre Höfe mit Kühen, Schweinen, Hühnern, Gänsen… Was in Berlin, der Hauptstadt, passierte, war für sie weit weg. Politik spielte nur eine Rolle, wenn es sie selbst betraf. Die landwirtschaftliche Kollektivierung, der Zusammenschluss der Einzelbauern zu Produktionsgenossenschaften, war in den 50er Jahren so ein Thema. Darüber wurde dann beim Haareschneiden oder Lockendrehen im Friseurgeschäft meines Vaters geredet.“
Hermann Doerk hatte vor dem Krieg in seiner Heimatstadt Tapiau, 35 Kilometer östlich von Königsberg, als Friseur gearbeitet. Fleißig und sparsam wie er war, hatte er viel auf die „hohe Kante“ legen können. „12.000 Reichsmark“, weiß Chris. Für den Neuanfang hatte er ein eigenes Geschäft gesucht und in Böhla Bahnhof gefunden. Eine Friseurmeisterin ging in Rente und verkaufte ihm ihren Laden. Und eine Wohnung für seine Familie fand er auch in dem Dorf. Gleich gegenüber vom Gasthof, der eine wichtige Rolle in Chris’ Leben spielen sollte.

Für die Dorfbewohner blieben die Doerks lange die „Zugezogenen“, die Fremden. „Sie haben zwar den Salon nach einer Weile angenommen, schätzten meinen Vater, der nicht nur ein guter Friseur war, sondern auch ein zugänglicher, freundlicher und kluger Mensch. Aber wenn ich zurückdenke, waren wir eigentlich nur gelitten. Trotzdem hatte ich eine schöne Kindheit“, sagt sie. Das burschikose Mädchen spielte lieber mit den Jungs als mit den Mädchen in ihrem Alter. „Das waren so richtige Susen, die bei jedem Kratzer heulten. Es gab sowieso nur zwei in meinem Alter, und die Jungs haben mich irgendwann akzeptiert.“ Was heißt das genau, will ich wissen.

Die Grundschule, in die Chris bis zur 2. Klassen ging, war in Baßlitz. Die blaue Linie markiert den Weg über die Felder, den die Kinder zur Abkürzung nahmen. Kartendaten ©2022 GeoBasis-DE/BKG (©2009), Google

„Die Dorfjungs waren ziemlich fies zu mir. Im Winter haben sie meine Kapuze voll Schnee gepackt. Ich habe mich nicht getraut, mich zu widersetzen. Die waren größer als ich und gingen schon in die zweite Klasse. Also habe ich den Schnee bis zu Schule geschleppt. Zwanzig Minuten querfeld ein. Da steckte ich Murkel bis zum Schritt im Schnee, wenn es doll geschneit hat.“ Heute würde die Kinder sie Opfer nennen. Aber Chris war kein Opfer. Sie hat sich ziemlich bald nichts mehr gefallen lassen und zeigte den Bengels, dass sie sich wehren kann. Ihr fallen noch die Namen der beiden Lehrer ein, die sie in Baßlitz hatte: Fräulein Schwabhäuser und Herr Mittelstädt. „Es gab in der alten Dorfschule nur zwei Klassen, die erste und die zweite. Danach mussten wir für die nächsten zwei Jahre in die Schule nach Lenz. Ab der 5. Klasse bin ich in Großenhain zu Schule gegangen.“ Gern ist sie nicht zur Schule gegangen. „Ich hatte keine Lust zum Lernen, war auch nur eine mittelmäßige Schülerin. Lernen war für mich Zwang, und das hasste ich.“

Der Baßlitzer Dorfteich im Januar 2022. Die alte Schule gibt es wohl nicht mehr. Quelle: google maps /© Philip Lange

Am liebsten stromerte Chris durch die Wiesen und den Wald, beobachtete das Treiben der Ameisen, die Habichte und Bussarde, die über den Feldern kreisten. „In Baßlitz gab es einen Teich in der Nähe unserer Zweiklassenschule, in dem man leider nicht baden durfte, weil die Kühe da reingingen. Die Versuchung war groß, wenn im Sommer die Sonne glühte.“ Kühe mochte Chris, von Weitem! Sie saß gern auf der Weide und sah ihnen zu. Ganz besonders, wenn sie Kälbchen hatten. Manchmal hatte sie ihren Zeichenblock dabei und malte. Die Bauern schimpften und scheuchten das unvernünftige Kind weg. „Die Tiere können dich umrennen, warnten sie mich. Es ist mir nie etwas passiert.“

Chris mit ihrer Schulfreundin Margot Mißbach, 1953 Foto: privat

Chris’ Böhlaer Kindheitswelt ist voller Abenteuer. Jeden zweiten Abend schickte die Mutter sie zum Beispiel mit einer Kanne zum Milchholen nach Geißlitz. „Der Bauernhof war etwas über einen Kilometer entfernt. An dem Weg stand dichtes Gebüsch. Im Winter, wenn es so früh dunkel wurde, war das schlimm. Hinter jedem Strauch habe ich jemanden vermutet. Aus Angst habe ich mit ganz tiefer Stimme gesungen und lief mit schwerem Schritt, als wäre ich ein Mann.“ Manchmal gab ihr die Bäuerin gleich etwas von der frischen Kuhmilch zu trinken. Niemand machte sich damals Gedanken darüber, dass es ungesund sein könnte. „Hast du schon mal frischgelegte warme Eier geschlürft?“ fragt mich Chris. „Schmecken wie weichgekochte. An eine Salmonellengefahr dachte da auch noch keiner. Uns hat als Kinder nicht so schnell etwas umgeworfen. Wir hatten noch genug Abwehrstoffe.“ Sie erzählt, wie sie in den großen Ferien im Sommer bei einem Bauern auf dem Hof half. „Ich habe den Stall ausgemistet, Schweine und Kühe gefüttert, mit auf dem Feld gearbeitet. Gehackt, Unkraut gejätet. Das machte mir alles Spaß. Ich werde nie vergessen, wie wir mit Erde an den Fingern frische Schmalzbrote aßen, dazu Muckefuck tranken. Wir saßen am Feldrand, die Luft flirrte in der Mittagshitze, eine herrliche Zeit.“

Chris im Feruar 2017 in den Kleinmachnower Kibitzbergen, nur wenig Schritte von ihrem Haus © Nicola Kuzmanić

Auch als Erwachsene ist Chris ein Naturmensch geblieben. Mit den Händen in der Erde wühlen, pflanzen – das macht sie glücklich. Ihr Garten am Haus in Kleinmachnow ist ein wildes Pflanzenparadies. Überall wachsen Kräuter, die sie selber zieht oder die einfach so da sind, weil der Wind ihre Samen von irgendwo hergetragen hat. Chris ist eine „Kräuterhexe“, die weiß, was wofür gut ist, woraus man Tee oder Cremes und Salben machen kann. „Die alten Frauen aus unserem Dorf haben auf den Wiesen und im Wald Blätter, Kräuter und Blüten gesammelt. Mit denen bin ich mitgegangen und fand das unheimlich spannend. Sie haben mir gezeigt, was die Natur alles an Nützlichem birgt. Aus Scharfgabe, jungem Löwenzahn und fetter Henne, die bei uns am Straßenrand wuchsen, habe ich mir mit Honig und Zitrone Salat gemacht. Auf dem Weg zur Schule nach Baßlitz wuchs auf der Wiese erstaunlicher Weise Kümmel, den ich für zu Hause holte. Meine Mutter hat immer den Kopf geschüttelt, woher ich das alles weiß.“

„Meine Mutter wollte keine Tochter“

Zuneigung, Herzlichkeit und Wärme zu zeigen, fiel der Generation unserer Eltern schwer. Sie hatten den Krieg miterlebt und selbst eine Kindheit mit mehr oder weniger harter Strenge erfahren. „Mein Papa hat mich streng erzogen, ließ mir aber viele Freiheiten. Er verlangte nur, dass sich Mama und er auf mich verlassen können. Da gab es öfter mal eins hinten drauf, wenn ich nicht pünktlich nach Hause kam. Auch noch, als ich schon ein junges Mädchen war, tolerierte Papa nicht mal drei Minuten Verspätung. Er machte sich eben Sorgen und wollte nicht, dass mir etwas passiert.“ So sieht sie das heute. „Und geschadet hat’s mir auch nicht. Wenn ich sehe, wie Eltern heute mit ihren Dreijährigen diskutieren, wundert mich nichts mehr.“

Hermann Doerk war ein fröhlicher Mensch, der gern Späße machte und gern lachte. Das hat er seiner Tochter vererbt Foto: privat

Chris’ Vater war ein echter Spaßvogel. Eines Tages entdeckte sie auf dem Schrank im Laden einen Karton, auf dem „Mondos“ stand. Sie wollte wissen, was das ist. „Papa sagte, es seien kleine Bücher.“ Nun hatten Doerks kurz darauf eine kleine Feier zu Hause und Chris beobachtete, wie der Vater aus dem Karton ein paar der „Bücher“ nahm und verteilte. „Und dann sah ich, wie die Erwachsenen kleine Luftballons aus den Büchern holten und unter Gejohle aufbliesen.“ Die Pointe dieser Geschichte ist aber eine andere.

Eines Sonntags kam die Achtjährige ganz stolz mit solchen Luftballons nach Hause. Chris amüsiert sich noch immer darüber. „Unser Haus stand gegenüber dem Gasthof, wo samstags Bands zum Tanz spielten. Die Jugend aus der ganzen Umgebung vergnügte sich da. Auf der Wiese gleich daneben stand ein Apfelbaum, der trug große rotbäckige Äpfel. Keine Ahnung, welche Sorte das war, aber die schmeckten so gut, dass ich mir immer welche aufsammelte. Der Wirt hatte es mir erlaubt. Nach so einem Tanzabend im Sommer lagen zwischen den Äpfeln lauter Luftballons, also was ich dafür hielt. Die habe ich auch noch eingesammelt und wollte sie meinem Papa geben. Ich habe noch sein entsetztes Gesicht vor Augen. Verdattert musste ich die schönen Luftballons wegwerfen.“ Warum sie das sollte, erklärte der Vater nicht. „Später kam ich selbst hinter den Sinn der Luftballons.“

Das Verhältnis der Mutter zu ihrer Tochter fühlte sich für Chris lieblos an. Da fehlten Herzlichkeit und Wärme wie sie der Vater hatte. Nur einmal spürte Chris so etwas wie Verbundenheit. „Mama und ich haben zur gleichen Zeit Radfahren gelernt. Auf so einem alten Schinken von Mamas Freundin. Wir hatten echt Spaß dabei, wie wir herumwackelten, uns gegenseitig hielten und zigmal im Straßengraben landeten, ehe wir den Bogen raus hatten.“

Vor ihrem Unfall 2013 hat die passionierte Radlerin am Prominenten-Radrennen im Berliner Velodrom teilgenommen. Hier steht Chris zwischen den Tandemweltmeistern Werner Otto (l.) und Jürgen Geschke Foto: privat

Mit vierzehn bekam Chris ein eigenes Fahrrad. Nicht irgendeins, sondern ein goldfarbenes Sportrad mit Alufelgen, Gangschaltung und Freilauf. Hermann Doerk belohnte seine Tochter für den guten Abschluss der Grundschule – die endete damals mit der 8. Klasse. Ihren Zehnklassenabschluss machte Chris dann 1958 an der Mittelschule in Großenhain. Das Rad war ein Geschenk fürs Leben. Sie hat es mit nach Berlin genommen. Dort blieb es als „Schmerzensgeld“ bei Frank Schöbel zurück, als Chris nach der Scheidung 1974 aus der gemeinsamen Wohnung im Berliner Allende-Viertel auszog. Später kaufte sie sich ein neues. „Ich bin liebend gern Rad gefahren. Seit ich nach einem Unfall 2013 am Knie operiert werden musste, geht das nicht mehr so gut. Ich bin im Bus mit dem Knie gegen eine Haltestange geknallt, weil der Fahrer so abrupt gebremst hat.“ Zum Einkaufen steigt sie dennoch auf ihren Drahtesel. Kleinmachnow hat glatte Straßen, keine Berge. Und mit dem Bus kommt man nicht überall hin. Vor ihrem Unfall hat sie sogar beim Prominenten-Rennen im Berliner Velodrom mitgemacht. „Ich bin fuhr Tandem mit Jürgen Geschke.“

Die Erinnerungen an ihre Mutter sind für Chris ein schwieriges Kapitel. Heute noch. „Mama ließ mich immer spüren, dass ich nicht das Kind geworden bin, das sie wollte. Sie hat Dinge gesagt, die keine Mutter ihrem Kind sagen sollte.“ Da ist die tragische Geschichte mit ihrem Bruder Bernhard. Chris war neun, als er zur Welt kam. „Er starb bei der Geburt. Die Nabelschnur hatte sich um seinen Körper und den Hals geschlungen. Die Hebamme konnte das Baby nicht befreien und der Arzt, den sie rechtzeitig gerufen hatte, kam viel zu spät.“ Eine Verknüpfung unglücklicher Umstände.
Das Bild des Babys, das wie schlafend in einem kleinen Holztrog liegt, hat Chris im Gedächtnis behalten. „Ich sehe den Kleinen noch vor mir. Ein süßes Kind mit schwarzen Locken und langen dunklen Wimpern. Ein Traumkind. Es tat mir so leid, dass der Kleine nicht lebte. Mama mich furchtbar beschimpft, ich sei Schuld am Tod ihres Kindes, weil ich immer Kreuze gemalt habe. Tatsächlich hatte ich kurz zuvor Bilder mit Engeln und Kreuzen gemalt. Aber ich verstand nicht, was sie mit dem Tod des Babys zu tun hatten und habe geweint. Im Rückblick kann ich meiner Mutter das nicht übelnehmen. Sie war todunglücklich und sich vielleicht nicht bewusst, was sie mir mit dieser Schuldzuweisung angetan hat.“ Der Alltag ließ Chris das vergessen. Und sie liebte ihre Mutter ja auch.

Chris mit ihrem fünfjährigen Bruder Andreas vor dem Friseurladen ihres Vaters in Böhla Bahnhof. Die 16jährige hatte sich gerade eine Dauerwelle machen lassen Foto: privat

Zwei Jahre später kam dann endlich der langersehnte Junge zur Welt. „Für dieses Kind hat meine Mutter viel auf sich genommen. Sie lag drei Monate im Krankenhaus. Andreas kam im 7. Monat zur Welt“, erinnert sich Chris. Das damals elfjährige Mädchen freute sich auf den Bruder, weil er ihre Mutter glücklich machte. „Ich ahnte ja nicht, dass ich nun bei Mama abgeschrieben war. Für sie gab es nur noch ihren Jungen. Eine wahre Affenliebe war das“, beschreibt Chris den Zustand. Sie war alles andere als glücklich. Die Mutter machte die große Schwester für alles verantwortlich, was dem Kleinen passierte, wenn er sich wehtat, sich eine Schramme holte oder hinfiel. Chris litt unter der Ungerechtigkeit. „Deshalb konnte auch kein normales Schwester-Bruder-Verhältnis zwischen Andreas und mir entstehen, obwohl ich ihn mochte.“
Zum Glück gab es ja den Vater mit seiner ansteckenden Fröhlichkeit, der seine Tochter in den Arm nahm und ihr zeigte, dass er sie lieb hat. Bei ihm durfte sie schon mal den alten Männern aus dem Dorf mit der Haarschneidemaschine die Glatze scheren. „Die waren immer zufrieden und gaben mir ein paar Groschen für die Sparbüchse.“ Die Mutter, die im Damensalon den Frauen die Dauerwellen eindrehte, sah das gar nicht gern. Der Vater lachte dazu nur.

Chris war nicht eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder, der ihr sogar manchmal leidtat, weil die Mutter ihn so überbehütete. Den Begriff Helicopter-Mama gab es noch nicht. Aber Chris fragte sich, warum die Mutter sie nicht so lieb hat wie Andreas, was falsch an ihr ist. „Mir gingen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Vielleicht irrte ich mich ja, ich war die Große und er der Kleine, der schon deshalb mehr Aufmerksamkeit brauchte. Oder ob das vielleicht mit meiner Geburt zu tun hatte“, reflektiert sie, was sie sich als Kind so dachte. „Ich muss Mama zugute halten, dass sie mich nie abgewiesen hat, wenn ich etwas wissen wollte. Das waren die vertraulichen Moment zwischen uns, die es ja auch gab. Sonntags nach dem Mittagessen beim Abwaschen in der Küche zum Beispiel. Wir haben zusammen gesungen. Mama hatte eine schöne Stimme, sie war in Königsberg im Schulchor.“
An so einem Sonntag fragte Chris ihre Mutter, wie das war, als sie zur Welt kam. „Ich wollte wissen, ob sie es mit mir auch so schwer hatte wie mit den Jungs.“ Nein, das hatte sie nicht. In aller Arglosigkeit erzählte Hildegard Doerk ihrer Tochter, dass sie eigentlich einen Jungen wollte, kein Mädchen. „Als ihr die Hebamme dann nach meiner Geburt zu einem gesunden Mädchen gratulierte, brach für sie eine Welt zusammen. Sie wollte mich nicht haben. Die brauchen sie mir gar nicht zu bringen, raunzte sie die Hebamme an. Ich saß wie versteinert da, als Mama das erzählte. Das ging mir durch Mark und Bein. In meinem Kopf setzte sich fest, ich war für sie ein falsches Kind.“ Aus dieser Perspektive erklärt sich für die heute 80jährige, warum die Mutter nie eine liebevolle Bindung zu ihr hatte.

„Mein erster Bühnenauftritt war in einem geborgten Perlonkleid“

Die Kindheit geht fließend über in die Jugend. Chris ging nun auf die Mittelschule in Großenhain. Wenn sie am Bahnhof in den Zug stieg, fiel ihr manchmal ein, wie sie sich als Kind in dem Gebüsch davor versteckt und die Leute beobachtet hat, die ankamen oder wegfuhren. „Alle rannten an mir vorbei und keiner sah mich. Wie so ein kleiner Waldgeist saß ich da. Es war ein himmlisches Gefühl, unsichtbar zu sein. Manchmal“, sie macht einen Zeitsprung, „träume ich noch von dem Bahnhof. Wie ich mir eine Fahrkarte kaufe und in den Zug nach Großenhain steige.“ Es wundert mich nicht. Hier änderte sich ihr Leben. Hier entschied sich ihre Zukunft.
Die Stadt ist anders als das Dorf. Eine Binsenweisheit, die Chris erst erfahren musste. Großenhain ist eine Kleinstadt, in der es in den 50er Jahren noch recht gemütlich zuging. In der Schule schäkerten die Mädchen mit den Jungs. Chris hatte noch nichts übrig für Händchenhalten und Knutschen. „An mir war auch nichts dran, das einen Jungen reizen konnte.“ Sie hatte damit zu tun, keine schlechten Noten zu bekommen. „Mathe und Chemie waren ein Grauen für mich.“

Die 18jährige Chris mit ihrer kessen Kurzhaarfrisur, die übrigens eine Folge der Dauerwelle ist, mit der sie sich nicht im Spiegel sehen konnte. Das Kleid hat ihr die Oma genäht. Foto: privat

Deutsch machte ihr Spaß. Und Musik. Es muss Anfang der 10. Klasse gewesen sein, als Chris auf die Frage ihres Deutschlehrers, wer „Das Heidenröslein“ kenne, den Finger hob. „Ich habe das Lied oft mit meiner Mutter gesungen, nicht das Volkslied, sondern die klassische Version von Schubert“, erinnert sie sich. Der Lehrer bat sie, vorzusingen. Das Ende vom Lied: Die Klasse war begeistert. Und sie ließ sich von ihren Schulfreundinnen breitschlagen, beim „Treffen Junger Talente“ aufzutreten, zu dem die Großenhainer FDJ aufgerufen hatte. „Allerdings gab es ein Problem: Ich hatte kein passendes Bühnenoutfit, weil ich wie heute auch am liebsten Jeans trug. Und so schnell konnte mir Oma kein Kleid schicken.“ Chris besaß zwar selbst Geschick beim Nähen – als 13jährige hatte sie sich mit der Hand ihr erstes Kostüm geschneidert–, aber ein schickes Kleid? Das hatte sie noch nicht drauf, obwohl sie inzwischen eine eigene Nähmaschine besaß. „Meine Mutter hatte mir so eine alte mit Schwungrad zum Treten besorgt“, erklärt sie. Später hat sie sich vieles selbst genäht, auch ihr Bühnenoutfit. Nach Schnitten aus Modezeitschriften.

Chris in einem schicken Cordkostüm von Gera Wernitz. Zur kessen Frisur die passende Kappe, ein Accessoire, das ihr Markenzeichen wurde Foto: privat/©Deutsches Mode-Institut Berlin

Apropos Modezeitschrift. Wir blicken auf dem Rad der Zeit mal ein Stück voraus, machen einen kleinen Einschub in die Kindheitserinnerungen. Fast anderthalb Jahre führte Chris DDR-Jugendmode vor. 1967 stand sie als Mannequin für das Sonderheft „jung & chic Jugendmode“ der Modezeitschrift „saison“ vor der Kamera. Die Designerin Gera Wernitz vom Deutschen Modeinstitut in Berlin hatte sie auf der Straße angesprochen. „Wir begegneten uns zufällig Unter den Linden. Keine Ahnung warum, aber Gera Wernitz wollte mich unbedingt für eine Fotostrecke. Ich und Mannequin“, Chris lacht, „das fand ich peinlich. Gera Wernitz hat ganz schön daran gearbeitet, mich vor die Kamera zu kriegen. Sie tat mir dann schon fast leid, und ich dachte: Warum nicht. Die Fototermine waren sehr lustig. Wenn ich mir die Fotos ansehe, finde ich die Sachen immer noch total schick. Und die Stoffe waren richtig toll.“ Als Gebrauchswerberin muss sie das ja wissen.

Chris Doerk auf dem Titelblatt des Jugendmode-Sonderheftes der DDR-Modezeitschrift Saison von 1967 Quelle: Modezeitschrift Saison 1967/© Verlag für die Frau Leipzig-Berlin
Beim Pfingsttreffen der FDJ im Mai 1967 in Karl-Marx-Stadt kam Chris aus dem Autogrammschreiben gar nicht mehr raus. Sie wird von FDJlerinnen umlagert Foto: ©ddrbildarchiv/Manfred Uhlenhut

Für viele junge Mädchen wurde Chris, inzwischen nicht mehr unbekannt, so etwas wie eine modische Trendsetterin. Frisch, fröhlich und ein bisschen frech war ihr Stil. Mit ihrem kessen Kurzhaarschnitt fiel sie aus dem Rahmen. Lange Haare, Hochsteckfrisuren, Außenrolle, sogenannte Schüttelfrisuren á la Beatles waren in den 60ern angesagt.
Als sich Chris die musikalische Bühne eroberte mit Titeln wie „Häng den Mond in Bäume“ und „Männer, die noch keine sind“ aus dem Film „Heißer Sommer“, erschienen plötzlich lauter frech geschnittene „Bubiköpfe“ auf den Straßen. Chris: „Alle ließen sich plötzlich die Haare kurz und fransig schneiden. Bei mir war das ja aus einer Verzweiflung geboren. Ich hatte mir mit sechzehn eine Dauerwelle verpassen lassen und sah damit aus wie meine eigene Mutter. Nur Papa zu Liebe habe ich sie damals eine Weile getragen.“ Mit zwei Spiegeln und der Friseurschere vom Vater machte sie dem Elend schließlich ein Ende. „Ich hatte in einer Zeitschrift eine französische Schauspielerin mit raspelkurzen Haaren entdeckt. Das fand ich klasse. Mein Vater kriegte sich fast nicht mehr ein, als er mich so sah.“

Doch zurück ins Jahr 1958 und zu der Frage, was Chris für ihren Auftritt beim „Treffen Junger Talente“ anziehen soll. Die Rettung kam von ihrer Mitschülerin Gisela Pillgrimm. Sie borgte Chris ein knallblaues Perlonkleid mit riesigen Puffärmeln. „Ich sah sehr komisch aus, aber ich bin damit auf die Bühne.“ Tapfer, mit zitternden Knien interpretierte sie den Schlager „Alle kleinen entzückenden Mädchen träumen nur von Paris, von alten verschwiegenen Bäumen…“ und belegte den 1. Platz. „Wäre das nicht passiert, hätte mich keine zehn Pferde wieder auf eine Bühne gebracht.“

Bei Amazon habe ich das „Single Songbook“ des Schlagers von Helmut Nier und Hans Großer gefunden. Er erschien im DDR-Verlag Lied der Zeit

Bis dahin sollte es gar nicht mehr so lange dauern. Chris schloss die 10. Klasse ab und suchte sich einen Beruf, in dem sie nicht tagtäglich die gleiche Arbeit verrichten musste. „Das war mir ein Grauen, jeden Tag im Büro zu sitzen oder in der Produktion am Band zu stehen.“ Modezeichnerin wäre sie gern geworden. Als Kind entwarf sie auf ihrem Zeichenblock die schönsten Prinzessinnenkleider. Der Beruf der Gebrauchswerberin tat es dann auch. „Ich bin mehr fürs Praktische. Studieren war nicht so mein Ding“, lacht sie. Sie machte ihre Facharbeiterausbildung bei der HO in Großenhain. „Wir lernten Schaufenster zu gestalten, Dekorationen zu entwerfen, Plakate und Transparente zu beschriften, Holzarbeiten anzufertigen, hatten in der Brufsschule in Dresden Material- und Warenkunde. Das fand ich interessant, und es passte auch zu mir.“

„Das Schicksal hat mich da einfach so reingeschubst“

Chris hatte aufgehört, ein Kind zu sein. Sie war ein junges Mädchen mit Zukunftsträumen geworden, die aber erst einmal nichts mit Gesang zu tun hatten. Sie nahm ihre Ausbildung zur Gebrauchswerberin ernst. Gänzlich ohne Wirkung ist ihr Auftritt beim „Treffen jungen Talente“ dennoch nicht geblieben. Es war in den Sommerferien nach dem Schulabschluss, als die Eltern sie zum Tanz in den Gasthof mitnahmen. Eine damals bekannte Band aus Meißen spielte. „Frag mich nicht, was mich geritten hat“, sagt sie lachend. „Ich bin hinter die Bühne und habe gefragt, ob ich nicht mal singen darf. Du kannst dir ja vorstellen, wie die Musiker reagiert haben. Breites Grinsen. Die haben eine Lachnummer erwartet.“ Den Musikern blieb aber der Mund offen stehen. Kess stellte sich Chris ans Mikrophon und schmetterte: „Winni, winni, wanna, wanna, die Trommel ruft zum Tanz“, ein Hit der Tahiti Tamourés, der im Westradio rauf und runter lief. Chris: „Ich hörte alle möglichen Sender, auf denen Schlager liefen. Wir nahmen das zu Hause nicht so genau, ob das nun ein DDR- oder Westsender war. Übrigens“, flicht sie ein, „war das nicht mein erstes Singen in dem Saal. Als Kind stand ich da mal auf einem Tisch, mir zu Füßen ein Zitherspieler, der mir unter den Peticoat lugte, und ich sang den Schneeschuhfahrermarsch von Anton Günther auf erzgebirgisch.“

1967 nahm Chris Doerk bei Amiga ihre erste Schallplatte auf, eine EP Quelle RYM

Wenngleich Chris das noch nicht so sah, doch jener Auftritt beim Tanzabend im Böhlaer Gasthof 1958 deutete schon auf die Zukunft der Friseurstochter hin. Außer ihrer Mutter, der das peinlich war, hatte die 16jährige alle begeistert. Die Jungs von der ABC-Band boten ihr an, sie als Sängerin aufzunehmen. Die Zustimmung der Eltern vorausgesetzt. Es kostete Chris keinen Kampf, die Einwillung der Eltern zu bekommen. „Die Auftritte fanden ja alle in der Nähe statt.“ Die Mutter wies sie nur daraufhin, aufzupassen, sich nicht mit irgendwem einzulassen. Chris nahm sich das zu Herzen. Außerdem wüßte sie sich schon zu wehren. Es ging nämlich das Gerücht, dass an der alten Kiesgrube, an der sie von ihren Auftritten auf dem Weg nach Hause vorbei musste, gern mal jungen Mädchen aufgelauert würde. Für einen solchen Fall hatte sie „vorgesorgt“. Lachend erzählt sie, dass ihr eine Nachbarin geraten hatte, als „Waffe“ Pfeffer in einer Hand bereitzuhalten. „Ich trat auf dem Nachhauseweg im Dunkeln aber so schnell in die Pedalen, dass ich völlig durchgeschwitzt war, wenn ich an der Grube vorbeifuhr, und der Pfeffer in meiner Hand festklebte. Da wäre kein Krümel geflogen.“

Eines der seltenen
Fotos, die Chris aus ihren Anfängen als Sängerin gefunden hat. Hier hatte sie in Großenhain 1963 oder ’64 einen Auftritt mit einer Band der NVA Foto: privat

Mit der ABC-Band zog sie über die umliegenden Dörfer zwischen Meißen und Großenhain. Fünf Mark bekam die Amateursängerin pro Abend für ihre Auftritte in Tanzlokalen, Scheunen und auf Dorffesten. Sie hatte die gängigsten Schlager 50er Jahre in petto. Manchmal fuhr sie der Vater mit seinem Motorroller zu den Veranstaltungen und wartete. „Er saß dann ganz stolz hinten in einer Ecke“, erzählt Chris, „und wenn ich gesungen habe Papa, du bist so reizend, so schick und elegant, Papa, wenn ich nur wüßte, wo Mama dich einmal fand, strahlte er übers ganze Gesicht.“ Der Titel war ein Hit von Julia Axen.

„Ich hatte nie vor, Sängerin zu werden, aber das Schicksal hat mich da einfach so reingeschubst. Was ich dem Schicksal sehr danke“, zieht Chris ein kurzes Resümee. Sie wäre wohl die singende Gebrauchswerberin geblieben, hätte sie nicht einen Aufruf für die Talentshow „Herzklopfen kostenlos“ gesehen. Heinz Quermann hatte die Unterhaltungssendung 1958 ins Leben gerufen und suchte regelmäßig junge Nachwuchskünstler. Die Veranstaltung fand in Großenhain statt. „Ich wollte unbedingt da hin“, erzählt Chris. Allein traute sie sich aber nicht. Also fragte sie eine Freundin, ob sie mitkommen wolle. „Wir traten mit Winni, winni, wanna, wanna auf“, erinnert sich Chris. „Karin“, sage ich, „du warst mit Karin dort.“ Die Überraschung ist perfekt. „Woher weißt du das“, fragt Chris. Ich erzähle ihr, dass Karin ZSGL-Sekretärin der FDJ an meiner EOS in Kleinmachnow war.

Bei ihrem zweiten Auftritt in der Talentshow „Herzklopfen kostenlos“ 1963 sang Chris „Summertime“ aus dem Musical „Porgy & Bess“. Foto: Screenshot/mdrMeine Schlagerwelt“

Das Duo Chris & Karin klang nicht ganz harmonisch, aber Chris fiel auf. „Ich war gerade 19 geworden, als ein Telegramm von Perikles Fotopoulos kam.“ Sie hatte den bekannten griechischen Sänger schon im Radio gehört. Er suchte für sein Programm noch Sängerinnen und lud sie zum Vorsingen nach Berlin ein. „Ich hatte keine Ahnung, wie er auf mich gekommen ist, aber ich bin hingefahren.“ Sie wurde eine der drei „Ponys“, mit denen Perikles Fotopoulos ab 1963 durch das Land tourte. Bis dahin sang Chris noch weiter bei der ABC-Band, radelte einmal in der Woche 30 Kilometer zum Gesangsunterricht nach Dresden zu Herrn Poike. Er war Dozent an der Musikhochschule. Durch ihn kam sie zu Günter Hörig, dem Leiter der Dresdner Tanzsinfoniker. Er holte Chris 1962 als Sängerin in seine Swing- und Jazz-Bigband. „Ein phantastisches Orchester. Diese Zeit war für mich eine sehr gute Schule.“ Sie beginnt zu swingen: „Bei mir bist du scheen, please let me explain…“ Das geht ins Blut.

Die Andrew Sisters waren eine amerikanische Girlgroup. Die Schwestern tourten ab 1932 durch die USA. Mit dem jiddischen Song „Bei mir bist du Scheen“ wurden sie international berühmt Quelle: wiki.org ©Universal Pictures

Ich mache an dieser Stelle mal einen Abstecher in die Geschichte des Liedes, weil ich das sehr wissenswert finde. Dieser weltweit populäre Song, mit dem die Andrew Sisters 1937 eine Goldene Schallplatte gewannen, hat eine traurige Geschichte. Er entstand 1932 als Duett für ein jiddisches Musical. Komponiert hatte die Melodie Sholom Secunda, ein russischer Kantor, der in die USA eingewandert war. Das Musical lief nur eine Spielzeit in einem jüdischen Theater im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Nach seiner Absetzung verkaufte der Komponist das Lied einem Verlag für 30 Dollar, die er sich mit dem TexterJacob Jacobs teilte. Das Musical verschwand in der Versenkung, das Lied nahm über das Radio einen Lauf um die Welt. Als die Nationalsozialisten den Ursprung des Erfolgsschlagers entdeckten, tilgten sie ihn aus den deutschsprachigen Radioprogrammen, die Platte verschwand vom Markt.

Im April 1968 wurde Chris’ Sohn Alexander Schöbel geboren Foto: privat
Blick auf einen Teil von Alexanders Farm in Tiraumea auf Neuseeland. Er ist 2004 hierher ausgewandert. Nach den Prinzipien der Permakultur von Kaukau-a-Tara Organics hat er in Tiraumea einen Kiefernwald in eine Obst- und Gemüse-Plantage verwandelt. Er lebt hier mit seiner Frau und den beiden Söhnen Foto: privat

1963 zog Chris von Böhla nach Berlin. Perikles Fotopoulos hatte den Mädels seines „Pony“-Trios eine kleine Dachgeschosswohnung in Grünau besorgt. Chris war einundzwanzig und die Kindheit nun endgültig vorbei. Mit ihrem zweiten Auftritt bei „Herzklopfen kostenlos“ 1963, diesmal in der Fernsehsendung, wo Millionen Zuschauer die zierliche junge Frau mit der kessen Ausstrahlung sahen und hörten. Ihre Interpretation des Songs „Summertime“ aus dem Musical „Porgy & Bess“ hinterließ sie einen tiefen Eindruck. Unter anderem bei dem schon etwas bekannten Sänger Frank Schöbel. Ihr Kennenlernen wurde oft erzählt, ihre gemeinsamen Erfolge konnte die DDR-Nation miterleben. „Es kam etwas in Gang, was kein Manager so hätte planen können“, konstatiert Chris. Beruflich wie privat erlebte sie wundervolle Zeiten, doch, wie inzwischen hinlänglich bekannt, auch schmerzvolle. Ihr Leben war öffentlich geworden. Vieles wurde geschrieben und gesagt, vieles ist noch nicht erzählt. Ob das eine neue Geschichte wird, bleibt offen.

Nina Lizell: „Es ist schön, dass die Menschen mich noch hören wollen.“

Manches im Leben kommt einem gar nicht in den Sinn. Es passiert unverhofft. So erging es mir im April. Ja, das ist eine Weile her. Da hatte ich die schwedische Sängerin Nina Lizell für ein Interview bei mir zu Gast, das dann in der SUPERillu erschienen ist. Nina hatte am Abend ein Konzert aus Anlass ihres 50. Bühnenjubiläums, und sie wollte sich für das Gespräch Zeit nehmen. Da war es praktisch, bei mir den Zwischenstopp zu machen. Ich wohne in der Nähe des Flughafens Tegel. Also erwartete ich sie mit Kaffee und einem selbstgebackenen Marmorkuchen – den mag sie besonders wusste ich. Warum ich das erzähle? Seitdem verbindet uns eine schöne Freundschaft. Wir verstanden uns auf Anhieb, es gab kein Fremdeln. Am 1. September ist Nina 73 Jahre alt geworden. „Ich wurde sehr verwöhnt, es war ein wunderschöner Tag und deine Glückwünsche, liebe Bärbel, haben mich fröhlich gemacht“, schrieb sie mir in einer Mail.

Nina Lizell in der ZDF-Hitparade
Nina Lizell 1969 in der ZDF-Hitparade ©HUIPress

Nina Lizell – das ist „Der Mann mit dem Panamahut“, „Rauchen im Wald ist verboten“ oder „Frech geküsst ist halb gewonnen“ – Ohrwürmer, mit denen das Temperamentbündel aus Schweden in den 70ern das Publikum begeisterte – und es bis heute immer wieder tut. Vor zwei Jahren war nicht sicher, ob sie nach einer schweren Rückoperation auf die Bühne zurückkehren wird. Sie erzählte mir: „Ich habe meinen ganzen Willen zusammengenommen und mir jeden Tag gesagt: Ich muss das schaffen, ich werde das schaffen, wieder auf der Bühne zu stehen.“ Sie konnte nicht stehen, schon gar nicht laufen und hat sich über die Schmerzen gekämpft. „Es ist wirklich wie ein Wunder, dass ich wieder auftreten kann. Ganz komme ich von den Schmerzen nicht los. Aber ich kann sie bewältigen. Ich fokussiere mich auf das Publikum oder jetzt auf das Gespräch, dann merke ich das kaum“, sagte sie und strahlte soviel Freude am Leben aus. „Es ist meine Philosophie, das Positive im Leben zu sehen und zu nehmen. Ich freue mich über jeden Morgen, den ich aufwache.“

Nina Lizell im Arbeitszimmer bei den Vorbereitungen für eine Ve
In Ninas Arbeitszimmer gibt es viele Erinnerungen an Auftritte ©HUIPress

Es fällt nicht schwer, die Sängerin zu mögen. Ihre Freundlichkeit, ihre Liebenswürdigkeit, ihr Lächeln – nichts wirkt aufgesetzt. Sie ist in allem, was sie tut, authentisch. Genau deswegen haben sie Millionen Schlagerfans ins Herz geschlossen. Ihre Karriere begann vor genau 50 Jahren in Deutschland. Im Frühjahr 1967 stand die damals 22-Jährige vor der wichtigsten Weggabelung ihres Lebens. Der eine Pfad führte in die Lüfte, der andere auf die Bühne. „Ich war nach Deutschland gekommen, um bei der Lufthansa Stewardess zu werden, hatte aber nebenher aus Spaß an einem Talentwettbewerb in Wiesbaden teilgenommen, bei dem mich Freundinnen angemeldet hatten – und ich habe gewonnen.

Nina Lizell 1969
Sie bezauberte mit ihrer Stimme, ihrem Temperament und ihrer Natürlichkeit ©HUIPress

Beim Finale in Berlin wurde ich zwar nur dritte, aber im Saal saß Günter Henner, der Produzent von Siw Malmkvist. Er kam zu mir in die Garderobe und lud mich in sein Studio ein. Ich war misstrauisch und fragte, ob ich meinen Vater mitbringen darf. Günter Henner hatte nichts dagegen, und so sind wir am nächsten Tag ins Studio gefahren. Nach den Probeaufnahmen bot er mir einen Schallplattenvertrag an“, erinnerte sie sich in unserem Gespräch. „Ich musste mich entscheiden, denn ich war schon für die Ausbildung zur Stewardess in Frankfurt am Main schon angenommen worden. Und ich habe richtig gewählt!.“ Am 26. August 1967 war Nina Lizell Stargast in der Sendung „Gala-Abend der Schallplatte“, mit der die ARD ihr Farbfernsehprogramm eröffnete. Weltweit sahen 140 Millionen Zuschauer ihren Auftritt. Sie hatte da bereits mit dem Titel „Du gehst vorbei“ ihre erste Schallplatte aufgenommen.

Nina Lizell mit Horst Köbbert bei "Klock 8, achtern Strom"
Nina Lizell mit „Seebär“ Horst Köbbert in der DDR-Fernsehshow „Klock acht, achtern Strom“ 25 Mal  war sie hier zu Gast ©HUIPress

Danach ließ der Erfolg nicht auf sich warten. „Ich habe einen großen Teil davon in der DDR erlebt. Das zu erwähnen ist mir sehr wichtig. Ich habe mich bei euch sehr wohlgefühlt, viele Freunde gefunden. Mit Frank Schöbel habe ich noch eine ganz enge Verbindung. Er hat die Musik für meinen Jubiläums-Titel ,Dankeschön‘ geschrieben.“ Ihren ersten Auftritt hatte sie in Görlitz. Die DDR-Fernsehzuschauer erlebten das temperamentvolle Schwedenmädel zum ersten Mal in der Silvestersendung 1967/68. „Ich habe Tausende von Erinnerungen an diese Zeit“, sagt sie und schwärmt von den Konzerten im Friedrichstadtpalast, den Musiksendungen „Mit Lutz und Liebe“, „Klock 8, achtern Strom“ und „Ein Kessel Buntes“, in denen sie oft zu Gast war. Sie hatte sogar eine Fernsehshow, „Guten Abend, Nina Lizell“, und durfte als einzige Sängerin aus dem Westen eine LP in der DDR produzieren. Bekannte DDR-Schlagerkomponisten wie Arndt, Bause, Rudi Werion und Gerhard Siebholz komponierten für sie, Heinz Quermann und Dieter Schneider schrieben die Texte für ihre Hits. „Das war etwas sehr Schönes und Besonderes.“ Nina Lizell wird vom Publikum in Ost und West geliebt. „Ich bin vor allem durch Osteuropa getourt, war in der Sowjetunion, in Polen, in der CSSR und der DDR natürlich. In Bulgarien bin ich beim Schlagerwettbewerb Goldener Orpheus aufgetreten“, erzählt sie. Im Laufe der Jahre hat sie 90 Schallplatten aufgenommen, ist in 280 TV-Show aufgetreten und hat über 200 Radioaufnahmen produziert.

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Zu Hause in Stockholm ©HUIPress

Man sieht der zierlichen Frau nicht an, wieviel Kraft in ihr steckt. Nach den Erfolgen kam eine schwere Zeit für die Sängerin. Nach ihrer Hochzeit mit einem isländischen Komponisten folgte sie ihm 1979 in die USA. Der Anfang vom Ende ihrer Ehe. 1981 kehrte sie mit den zwei Kindern Christian und Karina nach Schweden zurück. „Ich war als Sängerin weg vom Fenster. Niemand kannte mich mehr, als ich mich beim Fernsehen in Stockholm zurückmeldete. Aber ich musste arbeiten, um für meine Kinder zu sorgen.“ Musikredakteur verschaffte ihr Auftritte im Folketspark. Die Zeitungen schrieben über sie, und es ging langsam wieder los. „Aber davon konnte ich nicht leben und meine Kinder ernähren.“ Sie bekam die Chance, als Moderatorin beim Radio zu arbeiten. Nebenher machte sie eine Journalistenausbildung. „Ich habe mich bis zu Programmchefin hochgearbeitet“, erzählt Nina Lizell.

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Wenn sie Gäste erwartet, backt Nina gern selbst einen Rührkuchen ©HUIPress

Sie hat 1994 ihre Firma Lizell Media Voice gegründet und startete 1996 in Deutschland ein erfolgreiches Comeback. Sie trat in Fernsehsendungen wie „Riverboat“ und „Musik liegt in der Luft“ auf. Shows und Galas führten sie in die Niederlande und in die Schweiz. Und immer wieder gern kommt sie in ihre „zweite Heimat“ im Osten Deutschlands, in der ihr die Menschen sehr nahe sind. „Sie bringen mir eine große Herzlichkeit entgegen, sind offen und interessiert an meinem Leben. Es ist ein anderes Publikum als im Westen“, erzählt mit viel Wärme in der Stimme. Kürzlich erst war sie musikalischer Gast der „600. Kofferradio“-Sendung von Siggi Trzoß.  „Ich nehme es nicht für selbstverständlich, dass mich die Leute noch hören möchten ist ein großartiges Geschenk. Man muss sich entwickeln.“ In ihren neuen Liedern, Chansons und Balladen, spiegeln sich ihre Lebenserfahrungen.

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Die Musik ist noch ein wichtiger Teil ihres Lebens. Aber glücklich machte sie vor allem ihre Familie. „Ich habe einen wunderbaren Sohn und eine ebenso wundervolle Tochter und fünf Enkelinder und bin eine sehr stolze Oma. Allein das ist zu schätzen.“ Für ihre Enkel hat sie eine Platte mit Kinderliedern aufgenommen. Seit einem knappen halben Jahr ist sie zudem verliebt. „Er ist Schwedens bester Manger und hat mir sehr geholfen. Wir hatten im Juli eine wunderbare Woche auf Mallorca. Er fängt alles erst an…“

Chris Doerk – Was in den 43 Jahren nach der Scheidung passiert ist

Nach dem Interview mit Chris Doerk in der SUPERillu 09/2017 ging ein Sturm von Beschimpfungen los. Sogar Schriftstellerin Gisela Steineckert schließt sich dem in einer Mail an, die Frank Schöbel auf seiner Webseite veröffentlicht hat. Doch was für ein Lapsus ist ihr da unterlaufen! Ungewollt bestätigt sie, dass Frank seine Frau Chris betrogen hat, indem sie schreibt: „Meinen Respekt an Frank, der – wie alle – nur zur Untreue fähig, wenn man ihm Grund dafür gibt“. Welchen Grund gibt es, seine Frau zu betrügen, ihr so weh zu tun, wenn man sie aus Liebe geheiratet hat? Warum setzte er den Ehering gleich nach der Trauung ab und nie wieder auf? Weil er kneift?? Oder weil er signalisieren will: Ich bin nicht vergeben?

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Interview mit Chris am 6. Februar 2017 im „La Piazza“ in Berlin Zehlendorf ©Nikola Kuzmanic

Deshalb muss ich mich als Autorin des Interviews mit Chris Doerk jetzt zu Wort melden. Die Leserbriefe, die ich seit Tagen bekomme, bringen mich auf die Palme. Alle bashen Chris. Was wissen die Fans von Frank eigentlich wirklich, zum Beispiel über das Zustandekommen der gemeinsamen „Hautnah“-Konzerte? Franks Solotourneen liefen nicht mehr so gut. Deshalb schlug Veranstalter Marcel Block vor, Chris mit ins Boot zu holen. Nach Jahren wieder das Traumpaar zusammen auf der Bühne – das zog, wie der Erfolg der Tournee, die dann sogar verlängert wurde, zeigt. Und Chris? Sie war natürlich happy. Sie hatte kaum Auftritte. Über das Warum sollten die Fans Frank befragen.

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Album 2012

Chris hat seit der Scheidung mit Anfeindungen zu tun. Sie hat das alles weggesteckt. Mit ihrem jetzigen Mann, dem Fotografen Klaus D. Schwarz, hatte sie damals einen Freund zur Seite, der ihr Halt und Hilfe wurde. Sie hat ab 1974 mit der Uve Schikora Band gesungen. Nachdem Schikora bei einer Konzerttournee auf Kuba die Möglichkeit eines Zwischenstopps in Gander zur Flucht genutzt hatte und nicht mehr in die DDR zurückgekehrt war, gründete sie die Band „Chris Doerk und ihre Musikanten“.

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Chris Doerk am 6. Februar 2017 ©Nikola Kuzmanic

Sie erinnert sich: „Wir sind sehr oft in der CSSR aufgetreten, waren zum Schlager- und Volksmusikfestival nach Villach eingeladen.“ Dort lernte sie den holländischen Musikmanager Frans van Klingeren kennen, der sie Ende der 70-er mit ihrer Band nach Amsterdam ins Fernsehen holte. „Ich sei die erste Sängerin aus der DDR, die im niederländischen Fernsehen auftritt, sagte mir van Klingeren. Dann gab es noch eine Radiosendung mit mir, in der ich eine halbe Stunde live mit der Band The Ramblers gesungen habe und eine halbe Stunde liefen Titel von meiner LP Chris Doerk – Die größten Erfolge“, erzählt die Sängerin. 1982 wurden prominente Musiker aus der DDR zum Friedensmarsch nach Paris delegiert. Chris und ihre Band waren dabei. „Wir haben ein Straßenkonzert gegeben, das war unglaublich ergreifend“, erinnert sie sich. Gefeiert und geliebt wurde sie besonders in Kuba.  17 Mal war sie dort und machte dann 1986 eine siebenwöchige Tour durch die Sowjetunion. Immer weit weg, weil sich die Konzertveranstalter in der DDR inzwischen lieber an Frank hielten. Er könnte ja absagen, wenn sie im Programm ist. Auf Grund stimmlicher Probleme löste Chris 1986 ihre Band auf. Sie hatte auf der Konzerttournee durch die Sowjetunion ihre Stimme kaputt gesungen und musste zwei Jahre „schweigen“. Sie hielt sich streng an die Weisungen des Arztes. Und es war nicht abzusehen, ob ihre Stimme wieder zurückkommt.
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Als sie wieder bei Stimme war, änderte die Wende das Leben in der DDR. Das Musikgeschäft war für Chris lange Zeit passé. Sie eröffnete eine kleine Boutique in Kleinmachnow, und weil die Menschen sie kannten und schätzten, redeten sie sich bei ihr die Sorgen von der Seele. „Ich war die Kummerkasten-Tante für die Menschen, die plötzlich ihre Existenz verloren hatten.“ Dabei ging es ihr selbst nicht gut. Nach zwei Jahren gab sie den Laden auf, er rentierte sich nicht. Sie begann zu fotografieren und zu malen, zeigte ihre Bilder in Ausstellungen, und hat immer wieder Lieder geschrieben und Platten aufgenommen. 1998 erschien die CD Meine großen ErfolgeVielleicht hat  der eine oder andere Chris Doerk in der TV-Serie Verbotene Liebe gesehen (1996), in der East Side Story (1997) oder 2004 in Live Movie – Feuer in der Nacht. 2002 veröffentlichte sie ihr autobiografisches Buch „La Casita – Geschichten aus Kuba“mit dem sie noch zu Lesungen unterwegs ist. 2012 erschien ihr Album Nur eine Sommerliebe für das sie die Texte selbst geschrieben hat. Im vergangenen Jahr brachte Dos Santos Entertainment als Auskopplungen die Titel „Sei ein Clown“, „Liebeslied für eineKatze“, „Sommerwind“ und „Ferien, Sommer – Sommerferien“ heraus.
Nach jahrelanger Sendepause zwischen Chris und ihrem Ex-Mann Frank Schöbel trat sie 2008 als Gast in seinen Konzerten anlässlich seines 45. Bühnenjubiläums auf. „Es war Wahnsinn, wie die Fans reagiert haben“, erinnert sie sich noch immer staunend. Auf der Bühne waren Chris Doerk und Frank Schöbel  in den Augen des Publikums immer noch das Traumpaar. Eingedenk dessen kam dann drei Jahre später eben jenes Angebot für die „Hautnah“-Konzerte. „Willst du dir das wirklich antun?“ fragte ihr Mann Klaus sie damals. Ja, sie wollte. „Ich bin Live-Sängerin und die Chance, wieder einmal in so vielen Konzerten auf der Bühne zu stehen, konnte ich mir nicht entgehen lassen“, sagt sie ehrlich.

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Chris & Frank auf dem Hautnah“-Konzert in Meißen 2012 ©André Kowalski

Aus einer Tournee wurden vier. In den Wintern 2011, 2012 und 2013 sangen sie ihre Duette in nahezu 200 Orten vor fast überall ausverkauften Sälen. Die Abschiedstour gab es im Frühjahr 2015. Danach war ruhiges um sie geworden. Nun sollte es eine Fernsehsendung zu ihrem 75. Geburtstag geben. Nein, machen wir doch nicht, wurde ihrem Agenten von dem betreffenden Sender mitgeteilt. Warum?
Das SUPERillu-Interview:

Vera Schneidenbach „Die Musik ist mein Leben“

Später Vormittag. Sonnenschein. Stille, unterbrochen nur von Vogelgezwitscher. Hier, in Berlin-Hohenschönhausen am Malchower Weg ist Vera Schneidenbach zu Hause. Einfamilienhäuser zu Füßen von 10-Geschossern, die auf brachem Land vor dem Dorf Wartenberg Mitte der 80-er Jahre entstanden. Eine grüne Zone mit alten Bäumen und Kleingärten trennt die zwei Welten und bringt zugleich Harmonie in das Bild.

Vera Schneidenbach erwartet mich am Gartentor vor ihrem Häuschen. Wir kennen uns seit langem, bisher aber nur vom Telefon. In meiner Erinnerung habe ich von diversen Auftritten in Unterhaltungsshows des DDR-Fernsehens in den 70ern eine Blondine, schlank mit ebenmäßigen zarten Gesichtszügen, strahlend blauen Augen und einem langen wippenden lockigen Pferdeschwanz. Inzwischen sind ein paar Jahrzehnte ins Land gegangen. Am 22. August wurde sie 74. Ein Alter, das man ihr nur schwer glaubt. Auch wenn die Zeit ihre Zeichen gesetzt hat. Eine frauliche Frisur umrahmt das nun rundliche Gesicht.  Die Zeit ihrer langen blonden Locken ist passé. „Früher war ich jung und schlank. Heute strecken lange Röcke die Figur. Das Alter lässt keinen aus.“ Ihre Begrüßung ist herzlich, fühlt sich vertraut an. Es gibt keine Schwelle, die erst zu überspringen wäre, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Die Sängerin und Schauspielerin Vera Schneidenbach lebt in Berlin-Hohenschönhausen

Vera Iris Olga Schneidenbach von Jascheroff, so ihr voller Name, bittet ins Haus und fragt sogleich, ob man Zeit mitgebracht hat. Ihr Leben böte jede Menge Gesprächsstoff. Allein die Familiengeschichte würde ein Buch füllen. Sie gibt eine Kurzfassung, die erklärt, was es mit ihrem russischen Adelstitel auf sich hat und warum sie ihn verschweigt. Ihr Vater war der Sohn des russischen Großfürsten Nikolai von Jascheroff und der Tochter des sächsischen Gesandten in Petersburg. „Meine Großmutter hieß Schneidenbach und bestand auf einem Doppelnamen.“ Der Großvater wurde 1917 während der Großen sozialistischen Oktoberrevolution in Russland umgebracht. Veras Großmutter und ihren Sohn schickte man für vier Jahre in die Verbannung und wies sie dann nach Deutschland aus.  „Tolstoi hätte über so eine Geschichte gejubelt“, erzählt Vera Schneidenbach. Sie hat auf den Adelstitel keinen Wert gelegt. Er steht nur in ihrer Geburtsurkunde. In der DDR war er auch eher hinderlich. Ihre drei Brüder hielten es ebenso. Der Sohn ihres Bruders Peter machte es nach der Wende umgekehrt. Dass Vera Schneidenbach die Großtante der Schauspieler Felix und Constantin von Jascheroff ist, wissen nur Eingeweihte.

Motorradsalto
Motorradsalto bei der Fernsehshow „Nacht der Prominenten“ 1970

Die DDR hatte nicht viele Weltstars. Vera Schneidenbach war einer. In 32 Ländern auf vier Kontinenten feierte sie triumphale Erfolge mit Welthits, russischen und deutschen Volksliedern, Evergreens, Musical-Songs und nicht mit zuletzt maritimen Titeln. Sie sind eine Hommage an Warnemünde, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Während sie erzählt, dabei viel lacht, läuft eine ihre neuen CDs. Gerade ist „Ganz Paris träumt von der Liebe“ zu hören. Es könnte Caterina Valente sein, ist aber Vera Schneidenbach. Sie besitzt die gleiche voluminöse Stimme wie ihr großes Vorbild. „Ich habe Caterina Valente bewundert und 1985 bei einem Auftritt im Friedrichstadtpalast kennengelernt. Eine kurze, aber unvergessliche Begegnung“, schwärmt sie. Beide haben noch etwas gemeinsam: Das heitere beschwingte Auftreten, mit dem sie jedes Publikum gewinnen.

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18 Tourneen führten die Sängerin durch die Sowjetunion. Ihre Langspielplatte mit russischen und deutschen Volkslieder wurde 12 Mio. Mal verkauft

Ihre Bühnen standen in der Hitze Afrikas, in der Eiseskälte mittelasiatischer Steppen und in der Schwüle des vietnamesischen Dschungels. Für ihren Mut, dort ein Konzert zu geben, während US-amerikanische Bomber das Gebiet überflogen, wurde sie mit dem Orden „Heldin von Quang-Bingh“ ausgezeichnet. Es war ihre Art der Solidarität mit dem Volk, das um seine Freiheit kämpfte. Eine besonders große Affinität hatten die Menschen in der Sowjetunion zu dem schönen Showstar. Allein 18 Tourneen führten Vera Schneidenbach durch das Land. Um sie zu hören, legten Fans auch mal 800 Flugkilometer zurück, von Semipalatinsk zum Konzert nach Alma Ata. Die Stimme der Frontfrau der Dresdener Reinhard-Stockmann-Band reichte über drei Oktaven. „Unser schönster Exportschlager“ wurde sie von den DDR-Kulturverantwortlichen oft schmeichelhaft genannt. Worte, nicht mehr. „Ach“, sagt sie, „ich war glücklich, mir die Welt ansehen zu können. Es ging mir gut. Der Gedanken, wegzubleiben kam mir nie. Warum auch.“

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Doch die DDR hatte Angst, dass sie dieses Aushängeschild verlieren könnten. Als die US-amerikanische Filmproduktion Goldwyn & Mayer die Schauspielerin, die damals dem Schönheitsideal der Amerikaner entsprach, in einem Unterwasserfilm besetzen wollte, lehnte die Konzert- und Gastspiel-Direktion der DDR das Angebot ab. Genauso wie das Engagement des Konzerthauses Wien, wo Vera Schneidenbach in einem DDR-Musical singen sollte.

Wie heißt es doch: Der Prophet ist im eigenen Land nichts wert. Noch bevor 1987 ihre ersten Langspielplatte „Mein Leben ist die Musik“ in der DDR gepresst wurde, erschien in der Sowjetunion eine LP mit russischen und deutschen Liedern, die sich zwölf Millionen Mal verkaufte. In diesem Land, wo ihre Wurzeln liegen, wurde die sympathische Sängerin hoch verehrt. „Nach einem Auftritt in der Sowjetunion vergaß ich mal ein Haarteil im Hotel. Es wurde mir mit Pilotenpost durch drei Sowjetrepubliken nachgeschickt“, erinnert sie sich und ein versonnenes Lächeln gleitet über ihr Gesicht. Natürlich hat sie auch das ehemalige Gut ihrer Großeltern bei Moskau besucht, besser: gesucht. „Das Gutshaus und alles andere hatte man abgerissen, es gab nichts mehr auf dem Land, nur Bäume und Wiese.“

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1963 hing Vera ihren Beruf als Konstrukteurin an den Nagel und begann ihre Karriere als Sängerin

Im nächsten Jahr blickt Vera Schneidenbach auf 55 Berufsjahre zurück, während der sie eine Million Flugkilometer, ebenso viele im Auto und 30 000 Seemeilen zurücklegte. Den Titel ihrer ersten Langspielplatte „Mein Leben ist die Musik“ hat sie mit Bedacht gewählt. „Das ist so seit ich sechs bin“, sagt sie und erzählt von ihrer Kindheit. Der Vater, übrigens ein leidenschaftlicher Balalaikaspieler, war 1943 im Kaukasus gefallen. Die Mutter zog Vera und ihre Brüder allein auf. „Das war auch in der DDR kein Zuckerschlecken. Trotzdem schickte mich meine Mutter zum Klavier- und  Ballettunterricht.“ Kleine Rollen am Theater in Rostock wurden Veras erste Erfolge. Dennoch trat sie nach dem Abitur zunächst in die Fußstapfen ihres Vaters und studierte Flugzeugbau, lernte Segelfliegen, trat aber nebenher mit der bekannten Dresdner Keller Band im Altmarkt Keller auf.   Das wäre vielleicht so geblieben. Denn sie hatte Spaß an ihrem Beruf.  Doch ein Jahr nach dem Abschluss meines Studium wurde der Flugzeugbau in der DDR eingestellt und ich landete im Forschungs- und Projektierungsbüro Erzbergbau. Wenn ich aus dem Fenster in den Himmel sah, dachte ich: Das kann dich jetzt nicht dein Leben sein.“

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Die Sängerin 2010

Sollte es auch nicht. 1963 wurde sie für eine erkrankte Sängerin zu einem Konzertengagement nach Budapest geschickt. Kurz zuvor hatte sie ihren Berufsausweis als Sängerin erhalten. Ohne den in der DDR auf der Profischiene nichts lief. Danach folgten Engagements in Prag, Sofia, Mamaia, Varna. In Bukarest drehte sie ihren ersten Film, „Das sechste Gebot“. Sie spielte eine Barsängerin, die gleichzeitig Spionin war. „So eine Art Mata Hari, der Film lief auf dem Filmfestival in Constanza, wurde aber nie in der DDR gezeigt.“ Nach Abschluss ihres Studiums für Unterhaltungskunst beim Fernsehen 1968, begannen ihre Tourneen um die Welt. „Wir hatten eine strenge Ausbildung mit 12 Fächern, darunter Klavier, Ballett, Schauspiel, Gesang, Sprecherziehung. Ich gehörte zu den fünf Besten, die ins Fernsehensemble aufgenommen wurde. Es ist schade, dass es so etwas nicht mehr gibt. Heute“,  ereifert sie sich, „schickt man junge Leute von der Straße auf die Bühne, macht sie zu sogenannten Superstars. Das ist doch schlimm.“

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Hochzeit mit dem Verkehrsplaner Dr. Axel Rackow im April 1979

Hochzeit Vera Schneidenbach

Fast wäre in ihrem umtriebigen Leben die Liebe zu kurz gekommen. Doch bei einem Tankstellenstop im April 1979 trieb ihr Amor den Verkehrsplaner Dr. Axel Rackow in die Arme. Ein Vierteljahr später sagten sie auf dem Standesamt „Ja! “ Ihre Liebe hielt den langen Trennungen stand. Anfang der 90er endeten die Auslandstourneen. Es gab keinen, der sie finanzierte. „Eigentlich war ich auch froh darüber. Seit ich nicht mehr unterwegs bin, haben Axel und ich endlich Zeit für uns, und das genießen wir.“

Nach dem Zusammenbruch der DDR lernte die Sängerin, sich zu bescheiden. „Es bringt doch nichts, sich Luftschlösser zu bauen“, sagt sie. Noch einmal nahm sie am „Festival der Freundschaft“ in der Mongolei teil, wo sich Interpreten des Ostens seit 1975 trafen und errang wieder einen der Preise. „Der Jahreswechsel 1990/91 ist mir besonders in Erinnerung“,  lässt sie die Gedanken schweifen. Zehn Wochen hatte sie auf dem Kreuzfahrtschiff „Arkona“ gearbeitet. „Als wir zurückkamen hatte der Veranstalter  Insolvenz angemeldet und wir Künstler bekamen erst nach endlosen Rechtsstreitigkeiten von der Treuhand 13 Jahre später unsere Gage ausgezahlt.“  

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Vera Schneidenbach liebt barocke Gemütlichkeit. In ihren Wohnzimmer finden sich Mitbringsel aus aller Welt

Vera, die immer mit wachem Blick und Gespür die gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR verfolgt hat, sah voraus, dass kein staatliches Archiv vor Veränderungen und Verlusten sicher ist. Deshalb legte sie ihr ein eignes Archiv an. So konnte sie aus ihren über Jahrzehnte gesammelten Rundfunkmit-schnitten und Fernsehaufzeich-nungen 1998 ihre ersten

Plakatvier CDs produzieren und nahm bis heute acht neue Alben auf. Ganz aktuell ist ihre CD mit Liedern von Schubert, Brahms und Mozart. Mit eigenen Programmen tritt sie in  Freizeitstätten auf und umrahmt Feste zu allen Jahreszeiten in ihrem Stadtbezirk und Seniorenheimen.  „So lange ich die Kraft habe, die Zuhörer zu fangen, werde ich das tun.“ Und noch etwas will, muss sie tun: Die Bilder ihrer Reisen aus den Schubladen holen und ein Buch über ihr buntes, turbulentes Lebens schreiben.